Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als der alte Martin den Detektiv in sein Schlafzimmer geleitet und der Detektiv sich mit einem Brausebad erfrischt hatte, legte er sich nieder und schlief ein. Er besaß die für seinen Beruf beinahe unerläßliche Fähigkeit, den Schlaf zu kommandieren. Für ihn war der Schlummer ein Stärkungsmittel, mit dem er oft recht sparsam umgehen mußte, das er aber bei seiner einfachen Lebensweise auch voll zu nutzen verstand.
Der Detektiv träumte: Gertrud Reese unterhielt sich im Nebenzimmer mit jemand, dessen Stimme sich Splittericht vergeblich zu erkennen bemühte. Aber plötzlich stand die Sekretärin, der blitzhaften Umschaltung des Traumes folgend, neben ihm und bat weinend, er möge sie nicht verlassen. Ihr Bruder sei schwerkrank, aber sie wüßte das Wort nicht, das man dabei aussprechen mußte. Dann saßen die Weinende und Splittericht im Flugzeug, und er gab sich die erdenklichste Mühe, das Wort, das er suchte, zu finden, doch es wollte ihm nicht einfallen. Plötzlich sagte er so laut, daß er selbst es im Erwachen noch zu hören meinte:
»Der Mixer.«
Dabei richtete sich der Detektiv im Bette auf, sah nach seiner auf dem Nachttisch liegenden Leuchtuhr: es war eben drei. Er erhob sich sofort und dachte über den Traum nach. Nicht selten wuchsen aus scheinbar wirren Traumbildern Anregungen für ihn empor. Das waren meist nicht zu Ende gedachte Gedankenfolgen; Erinnerungsbilder, die, durch den Lärm des Tages unterdrückt, heftig an die Oberfläche des Bewußtseins strebten ... Aha! Jetzt leuchtete es in ihm auf. Das große rotwangige Mädchen in Herrn Lindströms Büro hatte unter anderem gesagt: sie ängstige sich um den Bruder, es könnte ihm doch etwas zugestoßen sein.
Und diesen Gedanken hatte bisher niemand verfolgt. Gewiß, es war ja garnicht unmöglich, daß Willi Reese einem Unglück zum Opfer gefallen war ... daß der geheimnisvolle Unhold, der in all den Dingen seine Hand im Spiele hatte, auch Willi Reese gefährlich wurde. Jedenfalls mußte man sich nach ihm umtun.
Der Verdacht bestand, daß Reese seinem Vater den Kassenschlüssel entwendet hatte. Aber verfolgt wurde der junge Mann deswegen wohl noch nicht. Herr Henderson nahm Rücksicht auf den Hauptkassierer, vielleicht auch auf den Konsul selbst. Jedenfalls war gestern noch nichts Positives in der Sache geschehen. Aber Splittericht wollte sich für alle Fälle Klarheit darüber verschaffen.
Er hatte sich während seiner Überlegung angekleidet. Nun nahm er das Telefonbuch und suchte die Privatnummer seines Freundes Barker heraus. Splittericht lächelte, es war gut, daß ein Kriminalbeamter zu jeder Zeit, am Telefon wenigstens, zu haben war.
Trotzdem dauerte es ein ganze Weile, ehe sich auf der anderen Seite des Drahtes eine verschlafene Stimme meldete.
Der Kriminalrat wurde sich auch zuerst gar nicht klar, wer ihn mit solcher Inbrunst weckte:
»Ach, Sie sind es, Splittericht, verrücktes Huhn Sie! Nun sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von mir, Sie von allen guten Geistern verlassenes Ungeheuer! ... Ich diene dem Staat, aber nicht Ihnen! Und ich muß Sie bitten, sich sofort wieder in Ihre Baba zu legen und mich in Ruhe zu lassen!«
Splittericht blieb stehen. Er ließ den anderen sich austoben. Plötzlich sagte er:
»Ich will wissen, was geschehen ist, nachdem heute mittag Konsul Lindström oder aber auch die Kriminalpolizei bei der Zentrale Willi Reese als vermißt gemeldet hat.«
»In diesem Falle hat die Zentrale die üblichen Laufzettel herausgehen lassen, vielleicht auch telefonische Anfragen an die einzelnen Polizeireviere und eventuell sogar an die städtischen Rettungswachen gerichtet.«
»Sie meinen also, Barker, die Möglichkeit eines Unglücksfalles ist schon ins Auge gefaßt worden?«
»Das nehme ich an, Splittericht. Aber ... es ist ja nicht absolut notwendig, daß der junge Mann, wenn ihm etwas zugestoßen ist, gerade in eine Rettungswache eingeliefert worden ist. Er könnte ebensogut auch in ein Krankenhaus geschafft worden sein.«
»Und Sie glauben, daß die Zentrale ihre Nachforschungen auf die Krankenhäuser nicht ohne weiteres ausdehnt?«
»Sie können einem wirklich ein Loch in den Bauch fragen, Doktor. Und das nachts um drei! ... Ich glaube, am besten wäre es, wenn man Sie selbst in eine Rettungswache einliefern würde. Ich weigere mich ganz entschieden, Sie weiter zu empfangen. Bei mir sind Sie auf lange Zeit abgemeldet!«
Splittericht hatte vorsichtig den Hörer auf die Gabel gelegt. Mochte der Freund ruhig weiterschimpfen, er selber hatte bis sechs Uhr wahrscheinlich noch sehr viel zu erledigen.
Er ließ sich sofort die zweite Nachtverbindung geben, und zwar mit dem Virchow-Krankenhaus. Hier war seine Erkundigung umsonst. Aber beim Anruf in der Charité hörte er das, was er erwartet hatte:
In der Nacht vom Sonntag zum Montag, etwa gegen ein Uhr, war ein junger Mann dort von einem Droschkenschofför eingeliefert worden, in schwarzem Frackanzug, einen stumpfen, niedrigen Zylinder auf dem Kopf, aber ohne Mantel oder Pelz. Seine Taschen waren gründlich geleert, durch nichts ließen sich seine Personalien feststellen.
Der Detektiv hatte sich genau über Willi Reese erkundigt, er wußte, daß es ein hübscher, gut gewachsener und großer Mann von achtundzwanzig Jahren war mit hellem, gewelltem Haar und einer blühenden Gesichtsfarbe. Das Äußere traf, wie der wachthabende Arzt in der Charité angab, zu. Er stellte außerdem fest, daß im Seidenfutter des Zylinderhutes zwei kleine silberne Buchstaben: »W.R.« ziemlich versteckt eingekniffen waren.
Zwei Minuten später telefonierte Splittericht nach einer Autotaxe und mit der Schnelligkeit, die einer in jedem Zuge überlegten Handlungsweise entsprach, war der Doktor-Kommissar in der Charité, fand den Arzt, der ihm am Telefon Auskunft gegeben hatte, und sah den Patienten.
Willi Reese lag seit der Sonntagnacht ohne Bewußtsein in dem weißen Bett des schmalen Einzelzimmers.
Der Arzt richtete den Schein der von grünem Porzellan abgedeckten Lampe voll auf das entblutete Gesicht des Kranken. Er zog mit dem kleinen Finger das Lid des rechten Auges zurück, und man sah die, wie bei Sterbenden manchmal, hochgeschobene, nach oben verschwindende Pupille:
»Er ist mit einem Rauschgift betäubt worden ... ob er es sich selber beigebracht hat? ...« Der Arzt zuckte die Achseln. »Das kann man ja nie sagen. Anzunehmen ist es nicht ... Wir vermuten nämlich, daß es sich um Skopolamin handelt. Es wechseln leichte, kaum wahrnehmbare Erregungszustände von kurzer Dauer mit tiefen Absenzen. Und mehr als einmal habe ich schon geglaubt, daß dieses Dämmern in die große Nacht übergehen würde. Wenn der Patient nicht ein so fabelhaftes Herz besäße – er wäre längst hinüber.«
»Haben Sie Hoffnung, ihn durchzubringen, Herr Doktor?«
Der Mediziner in seinem weißen Kittel ließ sich am Bettrand nieder, er nahm das linke Handgelenk des Kranken:
»Der Puls ist ganz klein und spitz, aber schneller, als man annehmen sollte ... ich möchte glauben, er zieht's durch.«
»Wissen Sie, Herr Doktor«, Splittericht blickte nachdenklich ins Licht, »halten Sie es für möglich, daß man während eines solchen Zustandes einen Menschen von seinen Leidenschaften, z.B. vom Spielteufel, kurieren könnte?«
Der Arzt lächelte:
»Das ist eine interessante Frage, und das Experiment wäre noch interessanter ... wir haben übrigens eine Schwester hier, eine ausgesprochene Somnambule, die ich selbst schon hin und wieder als Medium verwendet habe ... Ich werde mal mit Schwester Natalie sprechen. Aber Sie besuchen uns ja wieder, Herr Doktor, Sie nehmen doch anscheinend ein großes Interesse an dem Patienten?«
Splittericht nickte: »Ich möchte, daß er noch mal ein ordentlicher, braver Mensch wird.«
»Was wir dazu tun können, soll gewiß geschehen!«
Splittericht dankte dem jungen Mediziner und empfahl sich.
Um sechs Uhr saßen der Detektiv, der Konsul und dessen Schwiegersohn unter der gedämpften Deckenbeleuchtung am Frühstückstisch.
Staunend hörten Herr Lindström und von Wieland das Resultat von Splitterichts nächtlicher Tätigkeit:
»Und Sie sagten, Herr Doktor, Willi Reese wäre schon Sonntag nacht in die Charité eingeliefert worden? ... Ja, dann kommt er also für den Diebstahl der Schlüssel oder überhaupt für den Einbruch gar nicht in Frage?«
Splittericht neigte den Kopf. Er sprach sehr langsam:
»So ist es ... und ich will offen gestehen, daß dadurch meine bisherige Kalkulation vollständig umgeworfen wird. Es wäre trotzdem nicht ausgeschlossen, daß Reese seinem Vater die Schlüssel entwendet hätte, die ihm nachher der Raubmörder wieder gestohlen hat. Aber das ist eine Kombination, die wenig Wahrscheinlichkeit besitzt ... es müßte denn so sein, daß dieser geheimnisvolle Verbrecher den jungen Reese ebenso aus dem Wege räumen wollte wie nachher den Zalewski.
Und jetzt, Herr Konsul, komme ich auf meine Bitte von gestern zurück: sehr wahrscheinlich wird heute vormittag der Conrad Canist entlassen werden. Dann wird er sich natürlich vor allen Dingen Ihnen vorstellen, Herr Konsul. Und da möchte ich Sie nun wiederholt herzlich bitten, Ihre ja begreifliche Antipathie gegen Canist ganz zurückzustellen. Ich selbst werde vielleicht tagelang nicht hier sein und nichts in der Mordsache unternehmen können. Ob die Polizei einen Erfolg hat, das muß man abwarten. Aber wer die Sache zweifellos vorwärtsbringen wird, das ist, ich habe es schon einmal betont, Conrad Canist. An sich ist er ein tätiger und braver Mensch. Er hat nur diesen scheußlichen Tick, sich alle zwei Monate so gründlich die Nase zu begießen. Wenn er jetzt kommt, ist er absolut nüchtern. Keiner hat mehr Interesse als er, das Kapitalverbrechen aufzuklären! Seien Sie, bitte, so freundlich zu ihm, Herr Konsul, wie es Ihnen nur möglich ist! Unterstützen Sie ihn mit allen Mitteln! Es könnte sein, daß wir ohne ihn der Sache überhaupt nicht Herr werden!«
Der Konsul, sichtlich ergriffen, gab dem Detektiv über den Tisch seine Hand mit festem Druck:
»Was Sie wünschen, Herr Doktor, geschieht. Wir haben alle Veranlassung, uns ganz nach Ihren Anweisungen zu richten.«
Draußen begann es zu dämmern. Da erscholl der tiefe Ton einer Hupe.
»Der Germania-Wagen«, sagte der Konsul, stand auf und öffnete Vorhänge und Fenster. In der eben aufdämmernden Frühe stand blank und blitzend die dunkelgrüne Limousine. Die Lampen brannten in ihren geschliffenen Gläsern, und der Schofför ließ die mächtigen Scheinwerferlichter spielen.
»Das ist das, was Sie brauchen, lieber Doktor.«
Der Konsul ging mit dem Detektiv und seinem Schwiegersohn hinaus. Der alte Martin brachte Splitterichts Handtasche. Noch ein paar herzliche Abschiedsworte und Wünsche, und das glänzende Auto verschwand im Dunst des langsam erwachenden Tages.