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Über eine zwölfstufige Freitreppe von der Place du Congrès zur Rue Royale emporsteigend und auf dieser dann in südlicher Richtung entlang schreitend bis zu der an der Nordseite der städtischen Schloßparkanlagen nach links abbiegenden Rue de la Loi, gelangen wir zu einer imposanten Gebäudegruppe, die, den letztgenannten Straßenzug flankierend und das gesamte Baugelände zwischen diesem und den mit ihm gleichzeitig entstandenen Straßenzügen der Rue Ducale, der Rue de Louvain und der Rue Royale einnehmend, eine der Hauptzierden des architektonischen Stadtbildes Brüssels bildet.
Trotz der Gleichförmigkeit seiner stilistischen Gesamtkonzeption wirkt der gewaltige Baukomplex doch keineswegs monoton. Seinen Grundstock bildet das in den Jahren 1778-1783 von Barnabé Guimard und Phil. Guill. Sandrié erbaute Mittelpalais (das »Palais de la Nation«), das ursprünglich dem Brabanter Staatsrat als Regierungssitz diente und seit 1830 die gesetzgebenden Kammern des konstitutionellen Königreichs Belgien beherbergt. Mit den alsbald hinzugefügten mächtigen Flügelanbauten, die, obwohl sie keineswegs zu diesem Zwecke errichtet worden waren, im Jahre 1830 die sämtlichen Staatsministerien des neuen Königreiches in sich aufzunehmen vermochten, okkupierte der damit zu einer Frontlänge von 305 m gediehene Gebäudekörper dann die gesamte Nordfront der vor dem gegenüberliegenden Königspalais sich ausbreitenden Parkanlage.
Die architektonische Gesamtwirkung dieser Parkfront der Gebäudegruppe ist von eindrucksvollster Vornehmheit. Der das Ganze beherrschende Louis Seize-Stil ist hier frei von jeder Magerkeit der Detailbildung, großzügig in der Linienführung und kraftvoll in der Reliefgebung. Architektonisch besonders wertvoll sind die in die Parkfront der Gebäudereihe eingeschobenen Portiken mit ihren von Vasen und Ecktrophäen bekrönten Attiken. Die aus den Attributen der Wissenschaften und der Künste, des Friedens und des Krieges komponierten Ecktrophäen der Hauptportiken sind im distinguierten Geschmacke eines La Fosse gehalten und werden dem Lütticher Bildhauer H. Defrance zugeschrieben.
Die prächtige Fassade des Palais de la Nation wird durch acht 11 m hohe kannelierte jonische Säulen gegliedert und von einer Giebelbekrönung überragt, deren riesige Relieffüllung von Godecharle aus weißem Marmor herausgemeißelt wurde. Auf diesem schönen allegorischen Giebelrelief sieht man die zwischen ihren Ratgeberinnen, der Standhaftigkeit und der Religion, thronende Justitia dargestellt, wie sie der Tugend und der Weisheit den Ruhmespreis überreicht, während der Fanatismus und die Zwietracht von der Fortitudo in die Flucht gejagt werden. Demnach steht das Palais de la Nation auch hinsichtlich seines allegorischen Fassadenschmuckes vollkommen in Einklang mit seiner jetzigen, erst nachträglich ihm zugewiesenen Zufallsbestimmung. »Andere Reliefbildwerke analogen Charakters mögen« – so sagt einer der Kritiker dieses Giebelreliefs – »vielleicht mehr Ernst und Größe der Stilwirkung aufzuweisen haben, jedoch kein anderes in Brüssel zeigt in ähnlich hohem Maße den pittoresken Effekt mit charaktervoller Ausdruckskraft harmonisch vereinigt.« Übrigens ist dieses Reliefbild als eine der ersten und zugleich auch als eine der letzten Talentproben seines Schöpfers zu betrachten, da es vierzig Jahre nach seiner ersten Vollendung infolge seiner Zerstörung durch Feuersbrunst (1820) von Godecharle selbst restauriert werden mußte. Im Dezember 1883 nochmals durch eine Feuersbrunst schwer heimgesucht, erlebte der belgische Parlamentspalast zu dieser Zeit einen völligen Neuausbau seines Inneren; jedoch war Godecharles Giebelrelief diesmal vor Feuerschaden bewahrt geblieben.
Zur einen Hälfte der Abgeordnetenkammer, zur anderen dem Senate zugewiesen, bietet die Innenanlage des Palais de la Nation – abgesehen von der von den beiden Endpunkten der Erdgeschoßhalle zum Obergeschosse emporführenden, mit rotem Marmor bekleideten Treppenanlage – in architektonischer Hinsicht nicht besonders viel Interesse, um so mehr dagegen hinsichtlich ihrer künstlerischen Schmuckausstattung.
So manches künstlerisch wertvolle und historisch interessante Schaustück befindet sich zunächst in der Galerie der gemalten Porträts der Präsidenten beider Kammern und der plastischen Bildnisbüsten der Präsidenten des Ministerrates, sowie fernerhin auch unter den zahlreichen Kunstobjekten, die überall in den Räumen des Parlamentspalastes verteilt sind. Besonders beachtenswert ist eine Porträtbüste Wilhelms I., Königs der Niederlande, die von François Rude während seines belgischen Aufenthaltes in den Jahren 1816 bis 1827 – also noch vor der Trennung Belgiens von Holland – geschaffen wurde. Außer dieser in den Memoiren des Meisters ausdrücklich erwähnten Büste betrachtet man als dessen Werk auch die beiden Reliefgenien am Kamine des Lesesaales der Parlamentarier.
Der Sitzungssaal des Senates kontrastiert mit der ernsten Schlichtheit des halbkreisförmigen Sitzungsraumes der vom Volke gewählten Abgeordneten in auffälliger Weise durch den Luxus seiner Vergoldungen, seiner Boiserien und seines malerischen Schmuckes. Unterhalb der für das Zuhörerpublikum reservierten Tribünen zieht sich rings um diesen Senatssaal eine fortlaufende Reihe von Bildnissen der hervorragendsten Feldherren und Gesetzgeber sowie der bedeutendsten Förderer der Wissenschaften und der Künste, die in der Geschichte des Landes bis zur Zeit der Maria Theresia eine Rolle gespielt haben. Nach dem Vorbilde der Fürstenporträts im Londoner Parlamentspalaste heben sich diese von Louis Gallait gemalten lebensgroßen Bildfiguren von einem matten Altgoldgrunde ab. Ohne Zweifel würden sie noch günstiger wirken, wenn sie an den Oberwänden des Saales angebracht worden wären; immerhin ist der durch sie hervorgerufene dekorative Gesamteindruck wahrhaft glanzvoll. Oberhalb der Präsidententribüne dieses Senatssaales hat schließlich Graf Jacques de Lalaing auf drei großen dekorativen Wandbildern in poesievollen Kompositionen die Hauptphasen der belgischen Landesgeschichte zur Darstellung gebracht: Die Entstehung der Städtekommunen und ihre Auflehnung gegen die tyrannische Fremdherrschaft, die burgundische Periode, die Schreckensherrschaft des Herzogs von Alba, die Kriege Ludwigs XIV., die Zeit der österreichischen Generalstatthalter, sowie endlich der Sturz des Napoleonischen Kaisertums.
Ehedem stand an der Stelle des Palais de la Nation das kleine Haus, das Kaiser Karl V. in den Monaten vor und nach seiner Abdankung bewohnt hatte.
Den Parkwinkel gegenüber dem östlichen Ministerienflügel der Rue de la Loi nimmt das im Jahre 1782 erbaute und von Karl von Lothringen protegierte, architektonisch wenig bemerkenswerte kleine »Théâtre du Parc« ein, auf dessen Bühne Talma seinerzeit vor Napoleon I. auftrat, sowie das gleichzeitig errichtete Gebäude des ehemaligen »Concert Noble«, des jetzigen »Cercle artistique et littéraire«; im Festsaale des letzteren Gebäudes neben hübschen Stuckdekorationen prächtige, als Träger des Deckengewölbes dienende Tribünenkaryatiden von der Hand François Rude's.
Die einen Teil des Leopoldviertels durchquerende östliche Verlängerung der Rue de la Loi ist von langen Reihen aristokratischer Wohnpaläste umsäumt, in deren Prunkfassaden die bedeutendsten Brüsseler Architekten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen durften.
Der ringsum von Schutzgittern umschlossene » Parc« umfaßt ein Rechteckgelände von 450 m Länge und 320 m Breite. Beim Eintritt durch das gegenüber dem Palais de la Nation sich öffnende Gittertor der Rue de la Loi gewahren wir zunächst eine ungewöhnlich mächtige, nicht weniger als 7 zu 3 m im Geviert messende Trottoirplatte, die größte, die in belgischen Steinbrüchen jemals gebrochen wurde; sie erhielt ihren Platz am 21. Juli des Jahres 1856 zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums König Leopolds I.
Die Parkanlagen selbst – ein Werk des österreichischen Architekten Anton Zinner, der schon mit dem Wiener Belvedere-Park sich als ein vorzüglicher Gartenkünstler bewährt hatte, – sind für die Bewohner Brüssels Gegenstand eines veritablen Kultes. Von jeher mit der Stadtgeschichte aufs engste verknüpft, bildeten sie namentlich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts den Schauplatz historischer Ereignisse, deren ausführliche Erzählung in einer Geschichte Brüssels für sich allein eines der interessantesten Kapitel ausfüllen würde. Die glänzendsten Feste wurden in diesem Schloßparke veranstaltet, und die alten Brüsseler Zeitungen wissen wahre Wunder zu berichten von den feenhaften Illuminationen, die während des Brüsseler Aufenthaltes Napoleons I. und der Kaiserin Marie Louise im Jahre 1811, und ebenso beim fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum König Leopolds I. im Jahre 1856 in den schattigen Alleen des Parkes aufleuchteten. Hinwiederum hatte dieser herrliche Lustgarten, der schon zur Zeit der großen französischen Revolution von schweren Verwüstungen heimgesucht worden war, während der Revolutionstage des Jahres 1830 die blutigsten Prüfungen zu bestehen, da seine Laubgänge und Ruheplätze damals den Widerhall jener Gewehrsalven erleben mußten, die von den dort kampierenden holländischen Truppen mehrere Tage lang in ununterbrochener Folge gegen die Brüsseler Bürgerschaft abgefeuert wurden. Endlich hat der Park, nachdem er schon von den zahlreichen Proskribierten der französischen Restaurationszeit als bevorzugter Versammlungsort benutzt worden war – eine seiner Alleen trägt noch heute den Namen Cambacérès', der mit David, Barère, Ramel und vielen anderen Napoleonisten dort lustwandelte, – im Jahre 1870-71 während der Belagerung von Paris einer derartigen Menge französischer Flüchtlinge mitsamt ihren Familien als tägliche Erholungsstätte gedient, daß man namentlich zur Zeit der alltäglich dort stattfindenden öffentlichen Musikaufführungen sich in den Pariser Tuileriengarten versetzt glaubte. Seitdem sind denn auch die öffentlichen Konzerte eine Alltagsinstitution des Brüsseler Schloßparkes geblieben. Jedenfalls werden seine herrlichen Promenadenalleen, deren Baumbestände ohne Unterlaß liebevoll erneut werden, auch für zukünftige Generationen ihren alten Reiz bewahren. Im Laufe der letzten Jahre hat man verschiedene Rasenplätze des Parkes mit Blumen bepflanzt und hat damit gewiß recht anmutige, aber mit dem Originalstile der Gartenanlagen leider nicht recht harmonierende Wirkungen erzielt. Weit beifälliger ist die Einführung der elektrischen Beleuchtung zu begrüßen, die infolge der ingeniösen Verteilung der Beleuchtungskörper die Rasen- und Ruheplätze des Parkes in den Abendstunden mit einem wahrhaft poetischen Stimmungszauber überflutet. Die dunklen Wipfelmassen der alten Baumriesen heben sich kraftvoll ab von den belichteten Teilen der Gartenanlagen, die Marmorbildwerke stehen gleich scharf umrissenen, weiß schimmernden Silhouettengestalten vor dem matten Grün der Laubhintergründe, und die breitbeschatteten Wandelgänge lassen in ihrem geheimnisvollen nächtlichen Schweigen die köstlichsten Illusionsgebilde vor den Blicken des Lustwandelnden erstehen.
Gleich den ursprünglichen Anpflanzungen des Parkes sind leider auch die zu seinem künstlerischen Schmucke aufgestellten alten Bildwerke nicht verschont geblieben von den zerstörenden Wirkungen der Zeit. Mehrere der alten Originalskulpturen mußten längst in den Museen geborgen und durch Kopien ersetzt werden. Dem mehrfach geäußerten Vorschlage, die Anzahl dieser Zierstatuen zu erhöhen, hat man bisher glücklicherweise keine weitere Folge gegeben; mit Ausnahme einer weiblichen Statue von Th. Vinçotte, die im Jahre 1881 zur Erinnerung an den Bildhauer Godecharle auf einem der Rundplätze des Parkes aufgestellt wurde, sowie einer 1901 errichteten und in mäßigen Dimensionen gehaltenen, anmutvollen bronzenen Brunnengruppe von Tombay, stammt vielmehr der gesamte Skulpturenschmuck des Parkes aus dessen eigener Entstehungszeit. Alle diese alten Statuen erhielten noch vom Gartenarchitekten Zinner selbst ihre Standorte angewiesen und müssen daher als unverrückbar angesehen werden. Im Vereine mit den mannigfaltigen Bosketts und Laubgängen der ursprünglichen Parkanlage bilden sie deren natürliche, von altertümlichem Reiz umwobene Sammelpunkte; durch etwaige Standveränderungen würden sie ebenso schwer in ihrer Wirkung beeinträchtigt werden, wie der Park selbst unter ihrer gänzlichen Beseitigung zu leiden hätte.
In seiner jetzigen Anlage reicht dieser prächtige Stadtpark, wie gesagt, nur bis in das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts, in seinem eigentlichen Ursprunge dagegen in weit ältere Vorzeiten zurück; ist er doch, wie ein Brüsseler Lokalhistoriker sehr richtig bemerkt hat, »älter als das Rathaus und sogar noch älter als die Stiftskirche St. Gudule«! In der Tat herausgerodet aus den mächtigen Waldgeländen, von denen das dereinst von den Herzögen von Brabant erbaute und später von den Fürsten des Hauses Österreich bewohnte Schloß ursprünglich umgeben war, durfte der Park bei seiner Umgestaltung durch Anton Zinner sich eines bereits mehrere Jahrhunderte alten Baumbestandes rühmen. Seine Plananlage ist bei aller geradlinigen Schlichtheit gleichwohl höchst wohlbedacht. Zwei große Hauptalleen konvergieren gegen das der Front des Palais de la Nation gegenüber gelegene Wasserbecken und verlaufen südwärts nach dem vor dem königlichen Palais sich hinziehenden freien Platze, an dessen Eckpunkten sie endigen. Außerdem wird der Park der Länge nach von einer Mittelallee, der Breite nach von zwei Queralleen durchschnitten, von deren erhöhten Scheitelpunkten aus man nach Westen zu köstliche, von grünen Laubmassen umrahmte Durchblicke genießt. Der eine dieser beiden Durchblicke führt uns den die Häuserviertel jenseits der Rue Royale hoch überragenden Helm des Rathausturmes in seinen schlanken Konturen aus der Ferne vor Augen, während im nächsten Vordergrunde das Standbild des Generals Belliard in voller Reliefwirkung aufragt. Als außerordentlicher Gesandter Frankreichs am belgischen Königshofe beglaubigt, hatte sich dieser im Jahre 1832 in Brüssel verstorbene Diplomat durch seine Mitarbeit an der Konsolidierung des aus der Revolution von 1830 hervorgegangenen neuen Regimes die dankbare Anerkennung der belgischen Nation mit vollem Rechte verdient. Sein Standbild gehört zu den vornehmsten Schöpfungen des Bildhauers Guill. Geefs und atmet die ganze edle Einfachheit, die der Kunst dieses belgischen Plastikers eigen ist. Zu der öffentlichen Beitragsammlung, aus deren Erlös dieses Denkmal errichtet wurde, haben sogar die einfachen Soldaten der belgischen Armee ihr Scherflein mit beigesteuert.
Auf der dem Palais de la Nation entgegengesetzten Südseite des Schloßparkes erhebt sich das Königspalais, dessen monumentale, erst im Jahre 1909 nach den Entwürfen des Architekten Maquet im Louis Seize-Stile vollendete Fassade eine dankenswerte Verschönerung der belgischen Hauptstadt bedeutet. Bestehend aus einem vorspringenden Mittelbaue, dessen Eckpavillons von vierseitigen Kuppeln bekrönt werden, und zwei Flügelbauten, deren Dächer stumpfe Pyramidenformen aufweisen, trägt der auf einem schweren Rustikasockel ruhende Frontbau des Palastes über zwei Obergeschossen, deren Fenster von korinthischen Pilastern umrahmt werden, eine durch Balustraden verkleidete und von Schlußstücken flankierte Attika. Über den acht Fassadensäulen des Mittelrisalites steigt ein dreieckiger Frontgiebel empor, dessen von Vinçotte modellierte Relieffüllung die Königsmacht darstellt, wie sie die Tribute der Wissenschaft, der Industrie, der Kunst, des Handels und des Ackerbaues entgegennimmt. Durch halbkreisförmige Arkaden wird der mit einem Terrassenvorbaue versehene Mittelbau des Schlosses mit den beiden in einfacherem Stil gehaltenen Flügelbauten verbunden, von denen derjenige an der Ecke der Rue Royale, dessen Hauptfassade jedoch gleichfalls noch dem großen Parke zugewendet ist, der Prinzessin Clementine von Belgien als Wohnsitz dient. Von den Innenräumen des Königspalastes verdient neben dem majestätischen Treppenhause die Beachtung der Besucher vor allem der große Ballsaal, der mitsamt seinem schlicht-geschmackvollen Louis Seize-Dekor nach den Entwürfen des Architekten Alph. Balat (1818-1895) ausgeführt wurde.
Das an der Ostseite der »Place des Palais« gelegene umfangreiche Gebäude trug eine Zeitlang den Namen »Palais Ducal«, weil es seinerzeit dem Herzog von Brabant – dem späteren König Leopold II. von Belgien – als Residenz angeboten worden war; jedoch ist es in der Tat von diesem Fürsten niemals bewohnt worden. Der Staat ließ dann zunächst die moderne Gemäldegalerie in diesem Palais unterbringen, um es schließlich den Akademien der Wissenschaften, der Literatur und der bildenden Künste sowie der Medizinischen Akademie als Sitzungsgebäude zu überweisen. Im Jahre 1823 durch den Architekten van der Straeten für den Prinzen von Oranien im Stile der italienischen Hochrenaissance erbaut, hatte dieses Palais bis zum Sturze der holländischen Regierung dem Thronfolger der vereinigten Niederlande – dem späteren König Wilhelm II. von Holland – als Wohnsitz gedient. Vor der auch diesem Palais vorgelagerten Terrassenanlage, auf deren Portalpfeilern Löwenfiguren des Bildhauers Félix Bouré lagern, erblickt man das von Fraikin modellierte Standbild des Astronomen Quetelet (1796 bis 1874), der bis zu seinem Tode als Sekretär der Akademie fungierte. In den das Akademiepalais umrahmenden prächtigen Gartenanlagen ist eine Anzahl wertvoller Bronzebildwerke zur Aufstellung gelangt. Zunächst finden wir hier eine hervorragende Arbeit des Bildhauers Math. Kessels (1784-1836), die Statue eines Diskuswerfers, deren Marmororiginal der Herzog von Devonshire für seine berühmte Kunstsammlung im Schlosse zu Chatsworth erwarb. Würdige Seitenstücke zu dieser Bronzefigur sind Louis Jéhotte's »Kain« und Jean Geefs' »Wettlaufsieger«. Am Fuße eines seitlichen Promenadenhügels ist Th. Vinçotte's Bildnisbüste des großen Chemikers Jean Stas (1813-1891) aufgestellt.
Im Inneren des Akademiepalais sind einige Räume in ihrem ursprünglichen Zustande belassen worden, so der nach dem Garten zu gelegene, früher als Ballsaal, jetzt dagegen als Sitzungsraum der Akademie der Wissenschaften dienende, in einem vornehm-ernsten Dekor gehaltene »Marmorsaal« mit schöner Kassettenwölbung, deren Anläufe bildnerischen Schmuck von der Hand Franç. Rude's aufweisen. Der große Festsaal – die akademische »Aula« – ist gleich der zu ihm emporführenden, sehr bescheiden ausgestatteten Treppenanlage erst später in das Palais eingebaut worden. Sein bildnerischer und malerischer Dekor stammt aus dem Jahre 1870. Karyatiden, deren eine von der Hand des zu jener Zeit noch so gut wie unbekannten Meisters Const. Meunier herrührt, tragen einen Relieffries, unterhalb dessen die Namen der berühmtesten Männer Belgiens inschriftlich angebracht wurden. Der von Ernest Slingenyer (1824-1894) ausgeführte Gemäldeschmuck des Saales verherrlicht die Hauptphasen der belgischen Landesgeschichte; und zwar ist auf den zwölf längsseitlichen Wandbildern die politische, militärische und geistige Entwickelung der Nation seit der Eroberung des Belgerlandes durch die Römer bis herab auf die Thronbesteigung König Leopolds I. (1831) zur Darstellung gebracht, während auf der die hintere Querwand des Saales einnehmenden Riesenleinwand Belgiens berühmte Männer in Bildnisfiguren zur malerischen Gruppe vereinigt sind. Leider sind sämtliche Gemälde zu niedrig plaziert, so daß namentlich die längsseitlichen nicht aus genügender Entfernung betrachtet werden können und sie somit ein gutes Teil der vom Künstler beabsichtigten Wirkung einbüßen müssen. – Die Sitzungssäle der verschiedenen akademischen Körperschaften sind mit den marmornen Bildnisbüsten verstorbener Akademiker geschmückt.
Die Rue Royale, die mit dem großen Schloßparke und den übrigen an ihn angrenzenden Straßenzügen das Zentrum des Brüsseler Aristokratenviertels bildet, mündet südwärts in die das Plateau des »Coudenberges« – alias den »Froidmont« – okkupierende Place Royale. Hier hatten die Herzöge von Brabant vor Zeiten einen Schloßbau errichtet, der so manchesmal Philipp dem Guten und seinen Nachfolgern als Residenz diente, und von dem aus so mancher herzogliche Jagdzug in die umliegenden wildreichen Wälder hinausstürmte. Darstellungen davon bieten einige alte Bildteppiche des Pariser Louvremuseums. Das späterhin kaiserliche Schloß wurde in der Nacht vom 3. zum 4. Februar des Jahres 1731, als die Erzherzogin Marie Elisabeth, Kaiser Karls VI. Schwester, daselbst residierte, durch eine Feuersbrunst zerstört. Seine Ruinen blieben bis zum Jahre 1775 aufrecht stehen. Daß das wohl mehrfach geplante Projekt, diese Ruinen wieder neu auszubauen, schließlich nicht mehr zur Ausführung gelangte, erklärt sich aus den veränderten Zeitverhältnissen; hätte doch der kostspielige Wiederaufbau einer mittelalterlichen Feudalburg im Zeitalter der Aufklärung einen wahren Anachronismus bedeutet! So entschloß man sich denn, die Ruinenstätte in den Stadtbesitz zu übernehmen und zum freien Platze – ursprünglich »Place de Lorraine«, jetzt »Place Royale« – umzugestalten.
Bei aller Modernität des Gesamteindruckes ist diesem Platze der charakteristische Stempel des 18. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag gewahrt geblieben, und unwillkürlich werden wir durch ihn an die Place Stanislas in Nancy erinnert, ebenso wie die architektonische Umgebung des Schloßparkes die Erinnerung an den Carrièreplatz dieser letzteren Stadt in uns wachruft. Wie Karl von Lothringen, der niederländische Generalstatthalter und Schwager der Kaiserin Maria Theresia, auf die Idee gekommen sein sollte, seine Residenzstadt Brüssel absichtlich zu einem Ebenbilde der Hauptstadt Stanislaus' von Polen zu machen, ist freilich nicht recht verständlich. Jedenfalls ist auf diese Weise einer der reizvollsten und elegantesten öffentlichen Plätze Brüssels und ganz Belgiens zustande gekommen.
Das inmitten dieses Platzes im Jahre 1848 errichtete prächtige Reiterstandbild Gottfrieds von Bouillon bedeutet einen Markstein in der Entwickelungsgeschichte der modernen belgischen Plastik, die damit einen ihrer ersten Versuche wagte, von den Traditionen der akademischen Routine sich loszuringen und eine freiere nationale Richtung einzuschlagen. Der Schöpfer dieses Monumentes, das zugleich das erste auf belgischem Boden entstandene Reiterstandbild darstellt, war der Bildhauer Eugène Simonis. Für das Schlachtroß nahm er sich jene einheimische Pferderasse zum Vorbilde, die im Laufe der Zeit zu einem so vornehmen und typischen Schlage herangezüchtet worden ist. Die Gestalt des Kreuzritters selbst ist kühn und kraftvoll bewegt und in Übereinstimmung mit Gottfrieds Kampfruf »Dieu li volt« sinnvoll aufgefaßt. Auf den erst im Jahre 1897 vom Bildhauer Guill. de Groot hinzugefügten Sockelreliefs ist die Belagerung und die Erstürmung Jerusalems zur Darstellung gebracht.
Im Hintergrunde des Platzes sieht man die in klassizistischen Stilformen erbaute Kirche St. Jacques » sur Coudenberg« aufragen, die man mit ihrer fünfzehnstufigen Freitreppenanlage und ihrer aus sechs kannelierten korinthischen Säulen komponierten Portalvorhalle weit eher für einen Justiz- oder Parlamentspalast, für ein Museums- oder gar für ein Theatergebäude halten möchte als für ein Gotteshaus. Alles weist hier auf das 18. Jahrhundert als Entstehungszeit und auf französische Stileinflüsse hin, und in der Tat war es der französische Architekt A. Guimard, der im Jahre 1776 den Plan zur Fassade dieser Kirche entwarf. Das Hauptschiff wurde erst 1785 von Montoyer erbaut und noch später erst um seine Seitenschiffe erweitert. Der wenig graziöse Kuppelaufbau stammt sogar erst aus dem 19. Jahrhundert, ebenso auch das Freskogemälde des Frontgiebelfeldes. Gemalt im Jahre 1851 von Jean Portaels, präsentiert sich dieses jetzt kaum noch erkennbare Goldgrundfresko als eine der im damaligen Belgien ziemlich beliebten Nachahmungen jener Freskokunst, die zu jener Zeit in Deutschland und namentlich in München so eifrig gepflegt wurde. Die in der Säulenvorhalle aufgestellten Kolossalstatuen des Moses und des David sind Werke der Bildhauer Janssens und Phil. J. Aug. Ollivier. Der letztere, der laut Signatur einer der im Schloßparke aufgestellten dekorativen Statuen »aus Marseille« stammte, war auch der Schöpfer der den Einfluß Pugets bekundenden Fassadenreliefs der Kirche mit Darstellungen aus dem Leben des Apostels Jacobus. Die genannten Moses- und Davidstatuen waren im Zeitalter der französischen Republik, das aus der Kirche selbst zunächst einen »Tempel des Gesetzes« und später einen »Tempel der Vernunft« gemacht hatte, zu Statuen des »Lykurg« und des »Solon« umgetauft worden! Das Innere der Kirche, dessen basilikale Gesamtanlage schöne Maßverhältnisse aufweist, ist mit Skulpturen von G. L. Godecharle (1750-1825) geschmückt, und zwar mit Standbildern der Hauptpersonen des Alten und des Neuen Testamentes, sowie mit Reliefdarstellungen der Geburt Christi und des Heiligen Abendmahles. Die umfangreichen Seitenschiffgemälde von Jean Portaels sind Arbeiten aus den letzten Lebensjahren dieses Künstlers. Als Pfarrkirche des königlichen Schloßbezirkes ist St. Jacques ebenso wie die frühere Hofkirche des »Coudenberges« mit der obligaten Hofloge versehen. Auf einer vor dem Säulenportikus der Kirche errichteten Estrade hatte am 21. August des Jahres 1831 König Leopold I., der Begründer der belgischen Dynastie, auch den Eid auf die parlamentarische Staatsverfassung geleistet.
Unter den die Place Royale umgebenden Wohnpalästen dient der an der Nordostecke des Platzes gelegene »Pavillon de Belle-Vue« als Residenz der Prinzessin Clementine von Belgien, einer Tochter König Leopolds II. Ihm gegenüber liegt an der Südseite des Platzes das Palais der Gräfin von Flandern, der Mutter des jetzigen Königs Albert von Belgien. Die Säulenhallen an den vier Eckpunkten des Platzes erhöhen die heitere Vornehmheit seiner Gesamtwirkung.
Von dem das Denkmal Gottfrieds von Bouillon umgebenden Plateau aus genießt das Auge weite Fernblicke, und zwar nordwärts über den Schloßplatz und die Rue Royale, südwärts über die Rue de la Régence bis zum imposanten Hintergrundabschlusse des Justizpalastes, westwärts durch den Taleinschnitt der Rue de la Montagne de la Cour hinüber bis zu dem das Häusermeer überragenden schlanken Turme des Hôtel de Ville.