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Durch das Portal im Hintergrunde des Museumsplatzes betritt man die »Ancienne Cour« Karls von Lothringen, in deren Sälen neben den Königlichen Staatsarchiven vor allem die Sammlung neuzeitlicher Malwerke Unterkunft gefunden hat. Außerdem gelangt man durch das gleiche Portal auch zum Königlichen Kupferstichkabinet, das mitsamt der darunter gelegenen Handschriftensammlung den im vorigen Kapitel behandelten Flügelbau der »Ancienne Cour« einnimmt. Der Lesesaal der Handschriftenbibliothek ist bis heute noch mit Originalboiserien aus der Zeit des lothringischen Generalstatthalters ausgestattet.
Für ein Fürstenpalais fast etwas zu engräumig, ist die halbkreisförmig eingezogene Portalanlage, vom Museumsplatze aus gesehen, als Architekturstück gleichwohl von gefälligster Wirkung, die durch den reichen Dekor von Pilastern, Reliefs und Trophäen und durch die Bekrönung mit einem Standbilde der Kaiserin Maria Theresia (ihr zur Seite der belgische Wappenlöwe) eine Steigerung ins Vornehm-Großzügige erfährt. Zur Rechten führt einer der vier Eingänge dieser Halbrotunde in die ehemalige Hofkapelle, in der jetzt der protestantische Gottesdienst abgehalten wird. Erbaut im Jahre 1760 über einem von Karl von Lothringen eigenhändig gelegten Grundsteine, präsentiert sich diese Kapelle in ihrer Raumanlage als eine stark verkleinerte Nachbildung der Schloßkapelle von Versailles. Ihre weite, mit einem Gemälde von Heilbrouck geschmückte Deckenwölbung, ihre von Säulen getragenen Emporen und ihre prächtigen Stuckdekorationen ergeben ein Ganzes von elegantestem Gepräge, eine echte Fürstenkapelle des 18. Jahrhunderts.
Betritt man durch den Haupteingang zur Linken die einen ausgesprochen oesterreichischen Stilcharakter aufweisende Vestibülrotunde des Museums, so wird man zunächst durch die Kühnheit der ungewöhnlich flachen Deckenwölbung überrascht, der die vorspringenden dorischen Wandsäulen dieses Raumes keinerlei Stütze zu bieten vermögen. Als nach Beseitigung des stützenden Baugerüstes Zweifel hinsichtlich der Stabilität dieser Gewölbekonstruktion laut wurden, soll der Bauleiter selbst in die Mitte der Rotunde vorgetreten sein, um seinem vollen Vertrauen auf die tektonische Sicherheit seines Werkes Ausdruck zu geben, und in der Tat hat sein Rundgewölbe nunmehr schon länger als hundertundfünfzig Jahre selbst den härtesten Erprobungen gegenüber sieghaft standgehalten. Einen majestätischen Anblick bietet der 2,45 m breite, mit weißem Marmor bekleidete Treppenaufgang, dessen Rampe von einer marmornen Kolossalstatue des Herkules gestützt wird, einem im Jahre 1770 vollendeten Werke des Bildhauers Laurent Delvaux. Zu Füßen des aufrecht stehenden Halbgottes erblickt man den gefesselten Kalydonischen Eber und die besiegte Hydra, an seiner Keule neben dem mehrfach wiederholten Kreuz von Lothringen die Insignien des Deutschritter-Ordens, als dessen Großmeister Karl von Lothringen fungierte. Beachtung verdient auch die bronzene Treppenrampe mit ihren vom Lütticher Bildhauer E. Mignon (1847-1898) modellierten Reliefdarstellungen der Taten des Herkules. Die köstliche Stuckdekoration der Treppenhauswände mit ihren Darstellungen der Elemente soll von einem Italiener ausgeführt sein, dessen Name uns leider nicht bekannt ist. Die in ihrer Linienführung höchst elegante Deckenwölbung des Treppenhauses ist mit hübschen Darstellungen der Jahreszeiten von der Hand des Brüsseler Malers Joseph Stallaert (1825-1903) geschmückt.
Die grandiose Rotunde des Obergeschosses, in die der Treppenaufgang ausmündet, repräsentiert mit ihren acht reich umrahmten Türöffnungen, den damit abwechselnden mächtigen Fenstern und den beiden herrlichen Marmorkaminen einen der schönsten Rundräume, den ganz Belgien aufzuweisen hat. Im Mittelfelde der stolzen Deckenwölbung sieht man die von Verschoot gemalte, künstlerisch wenig bedeutende allegorische Darstellung eines Feldherren – ohne Zweifel Karl von Lothringen selbst –, der in den Tempel des Ruhmes aufgenommen wird. Der Bodenbelag dieser Rotunde besteht aus achtundzwanzig sternförmig zusammengefügten, den verschiedenen Marmorbrüchen Belgiens entnommenen Marmorplatten, deren jede mit der Namensinschrift ihres Herkunftortes versehen ist.
Die acht Türöffnungen der Rotunde führen in die Säle des Kupferstichkabinets und der modernen Gemäldegalerie. Die vorher eine Zeit lang von der Königlichen Akademie der Wissenschaften und der Künste benutzten Räume der Kupferstichsammlung zeugen im vornehmen Reichtum ihrer künstlerischen Dekorierung noch heute von ihrer ursprünglichen Bestimmung; waren dies doch dereinst die Privatgemächer Karls von Lothringen, in denen auch Kaiser Joseph II. während seines denkwürdigen Brüsseler Aufenthaltes im Jahre 1781 Wohnung nahm. Daher also die außerordentliche Eleganz der Stuckverkleidungen, mit denen die Decken und die Wände dieser Räume verziert sind.
Das erst im Jahre 1856 gegründete und zwei Jahre später für das Publikum eröffnete Kupferstichkabinet genießt in Folge seines Reichtumes an Erzeugnissen der einheimischen Graphik mit vollem Recht europäischen Ruf. Das älteste Hauptstück der Sammlung ist der berühmte Druckabzug einer mit der Jahreszahl 1418 datierten Holzschnittplatte. Die Bilddarstellung dieses Holzschnittes (der also mehr als fünf Jahre früher entstanden ist als die nächstälteste der bisher bekannt gewordenen Holzschnittinkunabeln, die in der Sammlung Rylands zu Manchester befindliche Holzschnittdarstellung des hl. Christophorus) zeigt die von Heiligen und Engeln umgebene Mutter Maria, wie sie in völlig identischer Composition auch auf einem in der Stiftsbibliothek zu Sankt Gallen in der Schweiz aufbewahrten Holzschnittabzuge wiederzufinden ist. Lange Zeit heftig bestritten, ist die Datierung des Brüsseler Druckabzuges heute von der Mehrzahl der Fachkenner, die sie persönlich prüfen konnten, als vollgiltig anerkannt. Als Hauptargumente gegen die Richtigkeit dieser Datierung hat man den angeblich jüngeren Stilcharakter der Darstellung, den reichen und knitterigen Faltenwurf der Figurengewandung und anderes mehr ins Feld führen wollen. Wie ich jedoch an anderer Stelle ausführlich nachweisen konnte, eignen die gleichen Stilcharakteristika noch einer ganzen Reihe sicherlich gleichzeitiger wenn nicht gar noch älterer Holztafeldrucke, die mit dem strittigen Blatte zusammen in Mecheln in einer alten Truhe aufgefunden wurden. Übrigens ist unser Holzschnitt von 1418 trotz des belgischen Fundortes keineswegs mit Sicherheit als in den Niederlanden selbst entstanden zu betrachten, da keinerlei sonstige Indizien darauf hindeuten.
Ein weiteres Unicum besitzt das Brüsseler Kabinett in der kunstgeschichtlich nicht minder bedeutsamen Kupferstichdarstellung des »Großen Wappens Karls des Kühnen von Burgund«, als deren Entstehungszeit die Jahre 1467-68 anzunehmen sind. Der Schöpfer dieses ungemein frühen Kupferstiches soll nach Prof. Lehrs' Ansicht der von diesem Kunstforscher ausführlich behandelte niederländische Monogrammist » « gewesen sein, der, nach dem spezifischen Stoffkreise seines Kupferstichoeuvres zu urteilen, im Dienste des Burgundischen Hofes gearbeitet zu haben scheint.
Sämtliche öffentlich ausgestellten Stücke der Königlichen Kupferstichsammlung sind übrigens gewissenhaft etikettiert, sodaß der Besucher sich mit Leichtigkeit über die Bedeutung jedes Einzelblattes orientieren kann. Viele der Ausstellungsstücke besitzen nicht nur einen hohen Seltenheitswert sondern auch einen ebenso hohen stofflichen und künstlerischen Reiz und bieten somit für jedermann das mannigfaltigste Interesse.
In der Gemäldegalerie ist von der ursprünglichen Bauanlage des alten Fürstenpalais nur die allgemeine Raumanordnung beibehalten worden. Nur der innere Hof des Museumsgebäudes erinnert uns in einigen Details noch an die Fassaden der Hintergebäude der durch ihre fürstliche Pracht dereinst weit berühmten »Nassauer Hofburg«, über die Albrecht Dürer im Tagebuchberichte über seinen Brüsseler Aufenthalt vom Jahre 1520 mit so lebhaft bewundernden Worten sich ausspricht. Das Museum selbst präsentiert sich mit seinen mehr als fünfhundert fast ausnahmslos der belgischen Malerschule der Neuzeit angehörenden Öl- und Aquarellgemälden als eine Nationalgalerie im wahren Sinne des Wortes. Nur wenige Künstler, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu persönlicher Bedeutung gelangten, sind noch nicht in dieser Galerie vertreten. Dem Besucher dieser belgischen Nationalgalerie ist also die denkbar bequemste Gelegenheit geboten, sich über den Entwicklungsgang, den die Kunst im 19. Jahrhundert unter dem Einflusse der verschiedenen einander ablösenden Richtungen in den belgischen Provinzen verfolgt hat, aufs eingehendste zu unterrichten.
F. J. Navez (1787-1869), der Schüler Davids und der erste führende Meister der Brüsseler Malerschule, – Gust. Wappers (1803-1874), der Bannerträger der romantischen Bewegung vom Jahre 1830 (man beachte sein großartiges Bild aus den damaligen Revolutionstagen), – Nic. De Keyser (1813-1887) und Ern. Slingeneyer (1820-1894), die schon gemäßigteren Schulnachfolger jenes Revolutionärs, – L. Gallait (1810-1887) mit seiner packenden »Abdankung Karls V.« (1841), seiner »Pest zu Tournai«, der Bekrönung seines Lebenswerkes, und seinen lebensgroßen Ganzfigurbildnissen König Leopolds II. und der Königin Marie Henriette, – Ed. de Biefve (1808-1882) mit seinem »Compromiss des niederländischen Adels im Jahre 1566«, – Eug. Verboeckhoven (1799-1881), der berühmteste Tiermaler seiner Zeit, – Hendrik Leys (1815-1869) mit seiner »Totenmesse für den Antwerpener Waffenschmied Berthal de Hase«, dem Sensationsstück der Weltausstellung vom Jahre 1855, – die Genremaler J. B. Madou (1796-1877) und Ferd. de Braekeleer (1792-1883), – sie alle verzeichnet die Kunstgeschichte als die Begründer der neuzeitlichen Malerschule Belgiens und als Pioniere des Weltrufes dieser Schule.
Dann sieht man diese neue Nationalschule in rapid wechselnden Etappen die Farben- und Formenpracht vergangener vlaemischer Kunstepochen wieder zurückerobern, bisher unbeobachtet gebliebene Horizonte neu enthüllen und schließlich Europa mit einer ebenso wirklichkeitsgetreuen wie technisch meisterhaften malerischen Übertragung der lebendigen Natur überraschen. Da ist Charles de Groux (1825-1870) mit seinen volkstümlichen und geschichtlichen Darstellungen, – Alfred Stevens (1823-1906) mit seinen zur höheren Kunst erhobenen Schilderungen aus der vornehmen Salonwelt, – Joseph Stevens (1819-1892) mit seinen kraftvollen Tierstücken, – Henri de Braekeleer (1820-1888) mit seinen intim-poesievollen Genrebildern; – da sind ferner die Portraitisten Liévin Dewinne (1821-1880), Alfr. Cluysenaar (1837-1902) und Emile Wauters, – letzterer außerdem mit seinem »Hugo von der Goes im Wahnsinn« (1872) und seinem »Sobieski vor Wien« (1883), – Ch. Hermans mit seinem »Tagesanbruch« (1875), Léon Frédéric mit seinen »Lebensaltern des Landmannes«, A. Struys mit seinem »Krankenbesuch« (1893) in hervorragender Weise in der Galerie vertreten; – ebenso der Tiermaler Alfred Verwée (1838-1895, genannt der »belgische Troyon«), die Landschafter Fourmois (1814-1871), Hippolyte Boulenger (1837-1874), J. Coosemans (1828 bis 1904), F. Courtens (geb. 1854), Gilsoul (geb. 1867), der Marinemaler P. J. Clays (1819-1899) und J. B. van Moer, der Maler von Stadtansichten. Sie alle und mit ihnen noch so mancher andere hier vertretene Künstler haben der jungbelgischen Malerschule zum Weltrufe verholfen.
Von den Fenstern der beiden kleinen Bildersäle Nr. X und XI am Ende des ersten Stockwerkes genießt man schließlich noch einige wundervolle Ausblicke auf die nach Südwesten zu gelegenen Stadt- und Vorortgelände Brüssels. Hier war es auch, wo Albrecht Dürer bei seinem Besuche des Nassauer-Palais die Erklärung abgab, er kenne keinen Fernblick, der sich mit dieser Fensteraussicht an Pracht des Eindruckes vergleichen ließe.
In den Erdgeschoßräumen des Museumsgebäudes sind die belgischen Staatsarchive untergebracht. Vom Hofe aus (der – wie gesagt – noch Reste der ursprünglichen inneren Fassaden aufweist) führt eine Treppenanlage zur »Montagne de la Cour« bezw. zu der an dieser Straße gelegenen, jetzt als Bücherdepot dienenden alten Hofkapelle des Nassauer-Palais hinab. Von der Straße aus erkennt man diese Kapelle an ihren spätgotischen Frontfenstern und an ihrem von einer Statuette des hl. Georg bekrönten Spitzbogenportale. Die hübschen Spitzbogenwölbungen im Inneren der kleinen Kapelle ruhen mit ihrem Netzrippenwerke auf dünnen zylindrischen Säulen; den Hintergrund des Innenraumes nimmt eine Empore ein mit spätgotischer Maßwerkbalustrade. Albrecht Dürer berichtet, in dieser Kapelle ein Gemälde vom »Meister Hugo« gesehen zu haben; offenbar war dies ein Werk des großen Altniederländers Hugo von der Goes.