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Siebentes Kapitel.
Schlusswort

Erwägen wir nunmehr zum Schluss in kurzem an der Hand unseres geschichtlichen Ueberblicks, welche Schritte in der Richtung auf eine Erneuerung der Wirtschaftswissenschaft zur Zeit sowohl tunlich als dringend erscheinen.

I. Die wirtschaftliche Forschung war bis jetzt grösstenteils Rechtsgelehrten und Literaten, nicht einer echt wissenschaftlichen Klasse überlassen. Sodann mangelte es denen, welche dieser Forschung oblagen, im allgemeinen an jener gründlichen Vorbildung in den Wissenschaften der unbelebten und belebten Natur, die insofern notwendig ist, als sie entweder theoretische Grundlagen oder methodische Weisungen liefert. Ihre Erziehung war in der Regel eine metaphysische. Daher hat die Volkswirtschaftslehre an Form und Geist manches von dem bewahrt, was ihr im 17. und 18. Jahrhundert anhaftete, anstatt mit der Zeit vorwärts zu schreiten und einen wahrhaft positiven Charakter anzunehmen. Sie ist von gleicher Beschaffenheit wie die Schullogik, die abstrakte, ungeschichtliche Rechtswissenschaft, die aprioristische Staats- und Sittenlehre und andere ähnliche veralteten Gedankensysteme. Und man wird finden, dass jene, welche am stärksten auf der Erhaltung ihres herkömmlichen Charakters bestehen, ihre regelmässige Geistesnahrung aus jenen Gebieten obsoleter Spekulation beziehen. Wir begreifen daher die Haltung wahrer Männer der Wissenschaft diesem Forschungszweig gegenüber: sie betrachten ihn mit übelverhohlener Verachtung, und seinen Vertretern verweigern oder gewähren sie nur mit vielem Widerstreben einen Platz in ihrer Mitte.

Der Grundfehler dieses unwissenschaftlichen Charakters der Volkswirtschaftslehre liegt unseres Erachtens in dem allzu individuellen und subjektiven Gesichtspunkt, unter welchem sie behandelt worden ist. Man fasste den Reichtum als Mittel zur Befriedigung von Wünschen auf und liess ausser Acht, dass einige Dinge die genau bestimmbaren Eigenschaften besitzen, physische Kraft zu liefern und die physiologische Konstitution zu vervollkommnen. Alles wird nach dem Massstab subjektiver Vorstellungen und Wünsche bemessen. Jedes Verlangen wird als gleichberechtigt, und alles was unsere Wünsche befriedigt, ebenmässig als Reichtum angesehen. Den Wert betrachtet man als das Ergebnis einer rein gedanklichen Schätzung und übersieht den sozialen Wert der Dinge im Sinne ihrer objektiven Nützlichkeit, die häufig wissenschaftlich gemessen werden kann, und es wird ausschliesslich das Austauschverhältnis berücksichtigt. In Wahrheit muss aller wirtschaftlichen Forschung der Gedanke zugrunde liegen, dass der Reichtum zur Erhaltung und Entwickelung einer Gesellschaft bestimmt ist. Beachten wir dies nicht, so wird aus unserer Volkswirtschaftstheorie eher ein Spiel der Logik oder ein Handbuch für den Marktverkehr werden als ein Beitrag zur Gesellschaftswissenschaft; während sie den Anschein des Vollkommenen hat, wird sie in Wirklichkeit einseitig und oberflächlich sein. Die Wirtschaftswissenschaft ist etwas weit Umfassenderes als die Katallaktik, zu welcher sie einige erniedrigen wollten. Als ein besonderes Verdienst der Physiokraten erscheint uns ihre unbestimmte Wahrnehmung einer engen Verwandtschaft ihres Studiums mit jenem der äusseren Natur, und wir müssen insofern zu ihrem Standpunkt zurückkehren, als wir unsere Wirtschaftstheorie auf die Naturwissenschaft und Biologie gründen, wie sich diese in unserer Zeit entwickelt haben Diese Seite des Gegenstandes ist trefflich behandelt worden in den Beiträgen, welche der wohlbekannte Biologe P. Geddes zu den Arbeiten der Royal Society of Edinburgh aus verschiedenen Veranlassungen im Laufe des Jahres 1887 und später geliefert hat..

Ferner muss die Wissenschaft von all' den theologisch-metaphysischen Elementen oder Neigungen geläutert werden, welche sie noch immer belasten und verunstalten. Die Teleologie und der Optimismus einerseits und das Gerede von »natürlicher Freiheit« und »unveräusserlichen Rechten« andrerseits müssen ein für allemal aufgegeben werden.

Ebensowenig dürfen wir als allgemeingültige Prämissen, von denen volkswirtschaftliche Wahrheiten auf deduktivem Wege abzuleiten wären, die bequemen Formeln annehmen, welche in der Regel Anwendung gefunden haben, wie z. B. jene, dass alle Menschen nach Reichtum trachten und jeder Anstrengung abhold seien. Diese unklaren Sätze, welche die gesellschaftswissenschaftliche Erfahrung vorwegnehmen und überflüssig machen wollen und notwendig das Absolute dort einführen, wo Relativität herrschen sollte, müssen wir beiseite lassen. Die Gesetze des Reichtums sind (in Umkehrung einer Wendung Buckle's) von den Tatsachen des Reichtums und nicht von dem Postulat der menschlichen Selbstsucht abzuleiten. Wir müssen uns einer ernstlichen, unmittelbaren Erforschung der Art und Weise unterziehen, in welcher sich die Gesellschaft in Wirklichkeit ihre eigene Erhaltung und Entwickelung mittelst der Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse hat angelegen sein lassen und zur Zeit angelegen sein lässt. Welche Organe sie zu diesem Zwecke entfaltet hat, wie sie sich betätigen, auf welche Weise sie sowohl durch das Medium, in dem sie wirken, als durch gleichzeitig vorhandene, anderen Zwecken dienstbare Organe beeinflusst werden, wie sie wiederum auf diese letzteren zurückwirken, welchen stufenweisen Veränderungen sie und ihre Verrichtungen im Laufe der Zeit unterliegen – alle diese Probleme, ob statisch oder dynamisch, sind tatsächliche Fragen, die ebenso mittelst Beobachtung und Geschichte erforscht werden können wie das Wesen und Fortschreiten der menschlichen Sprache oder Religion oder irgend eine andere Gruppe gesellschaftlicher Erscheinungen. Ein derartiges Studium wird selbstverständlich eine fortgesetzte »gedankliche Zergliederung« der Beobachtungsergebnisse erfordern, und unter Abweisung aller voreiligen Annahmen werden wir uns festgestellter Wahrheiten über die menschliche Natur als Führer in der Untersuchung und als Hilfsmittel zur Auslegung von Tatsachen bedienen. Auch die Anwendung wohlerwogener Hypothesen wird berechtigt sein, jedoch nur als gelegentlicher logischer Behelf.

II. Die Wirtschaftstheorie ist stets nur als eine Abteilung der umfassenderen Wissenschaft der Soziologie anzusehen, welche sowohl mit deren übrigen Abteilungen als mit der moralischen Synthese – der Krone des gesamten geistigen System's – in lebendiger Beziehung steht. Wir haben bereits zur Genüge die philosophischen Grundlagen des Satzes erörtert, dass die wirtschaftlichen Erscheinungen der Gesellschaft von den übrigen, ausgenommen zu vorläufigen Zwecken, nicht gesondert werden können, dass vielmehr all' die ursprünglichen gesellschaftlichen Elemente regelmässig unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und wechselseitigen Einwirkungen in's Auge zu fassen sind. Insbesondere müssen wir uns die höheren sittlichen Ziele vergegenwärtigen, denen die wirtschaftliche Bewegung dient, und bei deren Fehlen diese niemals in irgend welchem höheren Masse das Interesse hervorragender Denker oder wohlgesinnter Männer zu erregen oder zu fesseln vermöchte. Der individuelle Gesichtspunkt ist dem gesellschaftlichen unterzuordnen; jeder Einzelne ist als Organ sowohl der Gesellschaft, welcher er angehört, als der weiteren Gemeinschaft der Rasse zu betrachten. Die Berücksichtigung der Interessen muss, wie Georg Eliot treffend sagt, jener der Funktionen weichen. Die alte Theorie des Rechts, welche dem System der »natürlichen Freiheit« zugrunde lag, hat ihre vorübergehende Aufgabe erfüllt. An ihre Stelle muss eine Theorie der Pflicht treten, die auf positivem Boden das Wesen der Mitwirkung einer jeden Klasse und eines jeden Gliedes der Gemeinschaft an dem sozialen Werk bestimmt sowie die Ordnung festsetzt, welche deren richtige und förderliche Uebung zu regeln hat.

Wenn wir uns nunmehr von der Frage der theoretischen Verfassung der Volkswirtschaftslehre abwenden und den Einfluss dieser Wissenschaft auf die staatliche Politik in's Auge fassen, so brauchen wir wohl heute keine Worte zu verschwenden, um den Gedanken zurückzuweisen, dass das »Nichtregieren« innerhalb der wirtschaftlichen Sphäre der normalen Ordnung der Dinge entspreche. Die Doktrin des »Gehenlassens«, welche uns von dem System der natürlichen Freiheit überkommen ist, war lange Zeit das grosse Losungswort der wirtschaftlichen Orthodoxie. Einer besonders günstigen Aufnahme und langen Dauer erfreute sie sich in England infolge des politischen Kampfes um die Abschaffung der Getreidegesetze, welcher Veranlassung war, dass sich die wirtschaftlichen Erörterungen in diesem Lande fast ausschliesslich um den Freihandel drehten – ein Zustand, der durch das Bestreben verlängert wurde, eine Aenderung der Schutzzollpolitik anderer Nationen herbeizuführen. Seit einiger Zeit hat sie indessen nunmehr den unverletzlichen Charakter eingebüsst, der sie früher umhüllte. Es ist dies nicht so sehr das Ergebnis wissenschaftlichen Denkens als des Druckes praktischer Notwendigkeiten – eine Ursache, welche die aufeinanderfolgenden Formen wirtschaftlicher Anschauungen stärker beeinflusst hat, als die Theoretiker im allgemeinen einzuräumen geneigt sind. Wie sehr auch die Staatsmänner abstrakten Formeln anhängen mögen, so werden doch soziale Forderungen ihnen die Hände führen, und die Politiker haben tatsächlich dem »Gehenlassen« den Rücken gekehrt. Der Staat hat mit ausgezeichnetem Erfolge eine beträchtliche Strecke des Weges zurückgelegt, der zur Kontrolle der Betätigung des Einzelinteresses zu Zwecken der sozialen Gerechtigkeit oder des öffentlichen Nutzens führt. Die Nationalökonomen selbst sind in dieser Frage grösstenteils anderer Meinung geworden, und unter den Theoretikern spielt Herbert Spencer fast die Rolle eines Predigers in der Wüste, wenn er seine Stimme gegen die »neue Sklaverei« der regierungsseitigen Einmischung erhebt. Er wird vergeblich protestieren, wenn er es sich angelegen sein lässt, die alte absolute Theorie von der Untätigkeit des Staates in wirtschaftlicher Hinsicht wieder zu Ehren zu bringen. Doch ist keineswegs ausgeschlossen, dass gerade durch die Stärke der Reaktion gegen diese Theorie eine übertriebene oder überstürzte Strömung nach der entgegengesetzten Richtung herbeigeführt wird. In England dürfte man vermutlich wenig geneigt sein, in das Getriebe der Produktion und des Austausches an sich einzugreifen. Allein die Gefahren und Unzuträglichkeiten, welche aus dem ungeordneten Zustand der Welt der Arbeit erwachsen, werden ohne Zweifel von Zeit zu Zeit hier wie anderwärts zu voreiligen Versuchen einer Regelung drängen. Abgesehen indessen von der Beseitigung von Missständen, welche den öffentlichen Frieden bedrohen, sowie von vorübergehenden oberflächlichen Massregeln zur Linderung des sozialen Drucks, ist es wohl das Richtige, wenn der Staat auf diesem Gebiete für jetzt eine Politik der Enthaltung beobachtet. Allerdings wird die industrielle Gesellschaft keinesfalls auf die Dauer ohne systematische Organisation bleiben. Der Widerstreit der Privatinteressen allein wird niemals ein wohlgeordnetes Gemeinwesen der Arbeit zu schaffen vermögen. »Freiheit ist keine Lösung«. Die Freiheit ist für die Gesellschaft wie für den Einzelnen insofern die notwendige Vorbedingung zur Lösung praktischer Aufgaben, als sie den natürlichen Kräften sich zu entwickeln gestattet und zugleich die ihnen innewohnenden Tendenzen zum Ausdruck bringt, aber sie ist an sich keine Lösung. Während man jedoch mit Sicherheit darauf rechnen kann, dass eine Organisation der wirtschaftlichen Welt im Laufe der Zeit erstehen wird, würde es doch einen grossen Fehlgriff bedeuten, wollte man eine solche zu improvisieren versuchen.

Wir befinden uns gegenwärtig in einer Uebergangsperiode. Unsere leitenden Gewalten tragen noch immer das Merkmal des Zweideutigen; sie stehen nicht in wirklichem Einklang mit dem wirtschaftlichen Leben und sind in jeder Beziehung nur unvollkommen von dem Geiste der Neuzeit durchdrungen. Zudem fehlt es noch an einem hinlänglichen Verständnis für die Bedingungen der neuen Ordnung. Die Einrichtungen der Zukunft müssen sich auf Gefühle und Gewohnheiten gründen, und diese wiederum müssen das sich langsam entwickelnde Erzeugnis des Denkens und der Erfahrung darstellen. Allerdings muss die Lösung jederzeit in hohem Masse einen sittlichen Charakter tragen; das natürliche Mittel zur Abhilfe und Linderung der meisten mit dem wirtschaftlichen Leben verknüpften Uebel ist eher die geistliche In dem Ausserachtlassen dieser Rücksicht und in der hieraus folgenden ungehörigen Erhebung der – obwohl berechtigten, so doch gänzlich unzureichenden – Tätigkeit des Staates liegt unseres Erachtens die Hauptgefahr, welcher die deutsche nationalökonomische Schule der Gegenwart ausgesetzt ist. Wenn Schmoller sagt: »Der Staat ist die grösste vorhandene ethische Institution zur Erziehung des Menschengeschlechts«, so überträgt er ihm die Funktionen der Kirche. Die erziehende Wirksamkeit des Staates darf in der Hauptsache nur eine mittelbare sein. als die zeitliche Gewalt. Wenn die Neigung besteht, den Staat im Interesse der sozialen Gerechtigkeit zur Ausdehnung der normalen Grenzen seiner Wirksamkeit anzutreiben – und wir dürfen wohl annehmen, dass eine derartige Neigung wirklich vorhanden ist oder in der Luft liegt –, so ist sie zweifellos in gewissem Grade der Tatsache zuzuschreiben, dass die wachsende Uneinigkeit in religiösen Dingen innerhalb der fortgeschrittensten Gemeinschaften das Ansehen der Kirche erschüttert und ihren Einfluss der sozialen Allgemeinheit beraubt hat.

Was jetzt am meisten not tut, ist nicht irgend welche erhebliche gesetzgeberische Einmischung in die wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern es gilt vor allem, in den höheren und niederen Regionen der Wirtschaftswelt feste Ueberzeugungen von sozialen Pflichten zu schaffen und um eine etwas wirksamere als die gegenwärtige Betätigung der Verbreitung, Erhaltung und Anwendung dieser Ueberzeugungen besorgt zu sein. Es ist dies ein Thema, auf welches wir hier nicht eingehen können. Aber es mag wenigstens gesagt sein, dass nur jene Parteien des öffentlichen Lebens der Gegenwart die Erfordernisse der Lage richtig zu begreifen oder entsprechend zu würdigen scheinen, welche einerseits die Wiederherstellung der alten geistlichen Gewalt oder andrerseits die Bildung einer neuen anstreben. Und dies führt zu dem Schlusse, dass es eine Art regierungsseitiger Einmischung gibt, welche die Anwälte des »Gehenlassen's« nicht immer gemissbilligt haben, und die doch mehr als irgend eine andere dazu beiträgt, das allmähliche und friedliche Erstehen eines neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems zu verhindern. Wir meinen die Einmischung in die geistige Freiheit, welche darin besteht, dass man offizielle Vorbilder philosophischer Theorien aufstellt und dem Ausdruck wie dem Austausch von Meinungen Schranken auferlegt.

Man wird bemerken, dass unsere wichtigste Folgerung rücksichtlich des wirtschaftlichen Handelns mit jener übereinstimmt, welche sich auf das theoretische Studium wirtschaftlicher Erscheinungen bezieht. Denn ebenso wie wir geltend machten, dass das letztere nur als ein, der umfassenderen Wissenschaft der Soziologie gehörig untergeordneter Zweig mit Erfolg gefördert werden könne, sind wir in praktischen menschlichen Angelegenheiten der Meinung, dass keine teilweise Ordnung möglich ist, dass vielmehr eine wirtschaftliche Reorganisation der Gesellschaft eine allgemeine Erneuerung – eine geistige und sittliche nicht minder als eine materielle – einschliesst. Die wirtschaftliche Umgestaltung, nach welcher das westliche Europa seufzt und stöhnt, und auf deren baldiges Eintreten so viele Anzeichen hinweisen (obwohl sie nur als die Frucht redlichen und ausdauernden Strebens kommen kann), wird keine vereinzelte Tatsache, sondern Teil einer angewandten Lebenskunst sein, welche unsere ganze Umgebung verändern, unsere ganze Kultur beeinflussen und unser ganzes Verhalten regeln – kurzum all' unser Können nach dem einen hohen Ziele der Erhaltung und Entwickelung der Menschheit hinlenken wird.

 

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