Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Vorrede zur zweiten Auflage

Man gibt mit Liebe und Achtung den Lesern und Leserinnen die zweite Auflage einer Erziehlehre, wenn man das Vergreifen der ersten als einen Beweis ansieht, daß, während die kriegerischen Vesuve und Ätna ihre Feuer und Donner ineinanderspielten, doch das deutsche Vater- und Mutterherz Ruhe, Sorgfalt und Liebe genug behalten, um sich mit den geistigen Angelegenheiten der Kinderwelt abzugeben, so wie die Eltern diese zuerst etwan aus Feuer und Wasser rettend auf die Arme nehmen.

Möge nur die Levana dieser Teilnahme der elterlichen Liebe recht würdig gewesen sein!

Diese Auflage enthält außer den kleinen Verbesserungen und außer den großen ortmäßigen Einschaltungen einiger in zwei Zeitschriften verstreueten und anderer, auch ungedruckter Erziehbeiträge noch manche nähere Bestimmungen, zu welchen ich mich durch die Urteile eines und des andern freundlichen Richters, besonders des jenaischen und hallischen, aufgefodert fand.

Denn kein Tadel ist wohl mehr zu erwägen als der von Freundlichgesinnten und Gleichgestimmten; nicht einmal das Lob der Feinde wiegt so entschieden vor – da es ebensooft Falle als Fallschirm sein kann –; auch will man vor einem wohlwollenden Tadler weder eignes Ja noch Nein, sondern nur die Sache beschützen.

Nur einem kritischen Urteilverfasser hab' ich nichts zu sagen, weil er selber nichts gesagt; wiewohl schon die Äußerung ihm zu viel ehrend sagen würde, hätt' er sein Urteil nicht unter die Göttingschen gelehrten Anzeigen gemischt, welche noch immer durch gelehrte den Ruhm ihres Reichtums ebenso fortbewähren, als sie durch ästhetische und philosophische die Anhänge der nach langem Einschläfern eingeschlafnen Nicolais-Bibliothek so täuschend fortliefern, daß sogar ein eingeschränkter Kopf mit diesen allgemein-deutsch-bibliothekarischen Nachzüglern schon zufrieden sein kann.

Übrigens reift der Verfasser dieses weniger an fremden Verfassern als an eignen Kindern weiter. Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d. h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten. Indes Erfahrungen können, da ihre Anzahl nie bis zur Kraft beweisender Allgemeinheit zu erschöpfen ist, etwas nur durch ein Gemüt aussagen, das ihnen das Geistige und Allgemeine aus sich selber unterlegt und ablernt. Daher können Erziehlehren bei der Unerschöpflichkeit der Regeln und der Schwierigkeiten ihrer jedesmaligen Auswahl nur durch Anregung und Erwärmen elterlicher Liebe und eigentümlicher Kraft beglückend und schaffend helfen. Jede wahre Kraft, es sei des Herzens oder des Kopfes, kann bei Kinderliebe, auch in der Ferne gewöhnlicher Methoden, mit Segen erziehen.

Die Menge und der Abgang der Erziehschriften erklären sich aus dem Umstande, daß unter allen Ämtern das erziehende am stärksten mit Amtinhabern besetzt ist, unter allen von beiden Geschlechtern zugleich, von den Eltern, ja sogar von denen, welche keine gewesen, so daß folglich der Erziehlehrer nicht etwan wie ein Gottes-, Rechts- und sonstiger Gelehrter für sein Fach, sondern für alle Fächer aller Leute schreibt. – Wir Deutschen aber besonders tun teils aus Überfluß an Menschenliebe, teils aus Mangel an Geld, teils aus Mangel an zusammenhaltenden Mitgliedern für Kinder schreibend auf dem Papier eben das geistig, was körperlich in Paris das Kinderspital les enfants malades und in Madrid der Hülf-Klub für die auf den Gassen verlaufenen Kinder versuchen: wir wollen ihre Seelen heilen und belehren.

Der Verfasser erlaubt sich hier nur die Anführung von vier bedeutenden Erziehwerken, die er seit der Herausgabe des seinigen gelesen. – Die Lehre des Allgemeinen ohne die des Besonderen ist so gut wie die Lehre des Besonderen ohne Allgemeines ein Abweg von der richtigen Lehre, die beides verbindet; diese fruchtbringende Verbindung findet man aber in Schwarzens »Erziehungslehre«, besonders in den reichen Absonder-Reihen der Gemütarten (in der 1sten Abt. des 3ten Bandes). Solcher Blumenkatalogen von Kinderseelen kann man nicht zu viele bekommen; es sind gleichsam die kleinen linnéischen Nummernzettel an den Gewächsen einer Baum- und Blumenschule. Alle unsere Fachwerke der kindlichen Charaktere aber sind so geräumig und dadurch so wenig abteilend, als etwan ein hohes Büchergestell mit bloßen zwei Brettern wäre. Knospen-Zeichnungen künftiger Genies z. B. haben wir fast nicht, außer erst von diesen selber, wenn sie schon Blüten und Früchte getragen; allein ein fremdes frühes Beobachten derselben würde reicher und reiner darreichen als ihr eignes spätes Erinnern; nur schade, daß die Erzieher selten vorauswissen, welches Kind mehr wird als sie selber. Zwar werden durch diese Unwissenheit der Erzieher nicht eben an einem Genie die Kräfte des Geistes verwildern, verwachsen, erschlaffen – denn dasselbe (z. B. Winckelmann) bricht wie der Nachtschmetterling bei der Entpuppung durch die harte Erde aller Einengungen ohne Abnützung der zarten Flügel hindurch –; aber die Kräfte des Herzens, die es selber oft wenig zu regeln weiß, können von ungelenken Händen leicht in ewige Fehler umgebogen werden. Das Beste also wäre, daß ein Vater immer seine Kinder, wo nur möglich (und dies ist leicht, da er solche zu sehr wünscht), für genial ansähe und deshalb auf geradewohl Ernteregister ihrer Entwicklungen hielte.

Wie nun Schwarz in seiner Erziehlehre durch Vereinzelung in das Besondere und durch edle Gemütlichkeit mehr die Mütter anspricht: so wendet sich Niethammer im Streite des Philanthropinismus und Humanismus mehr den Vätern zu, indem er die formelle Bildung durch Sprache als die Bildung des Ganzen mit Recht der materiellen durch Sachen als der teilweisen vorschickt und vorzieht und den innern Menschen mehr durch geistiges Arbeiten als durch geistiges Füttern stärken und stählen will. Seiner schönen Feindschaft gegen die jetzige Zeit, welche durch Naturgeschichten, Bertuchische Bilderbücher und andere Sachregister des Auges die Lehrstuben zu Alpen macht, wo die Pflanze mager und klein und deren Blume übergroß getrieben wird, stimmte ich zu meiner Freude schon früher im 1sten und 2ten Kapitel des 7ten Bruchstücks vor und jetzo nach. Die Bildkraft der Philologie wird ihr eigner Beweis durch seine logischmeisterhafte Darstellung. Nur schließet er mit Unrecht, wie es scheint, von den Mitarbeitern am Weinberge formeller Bildung den tiefpflanzenden Pestalozzi aus, der vielleicht sogar unter die Vorarbeiter gehört. Da Pestalozzis anfängliche Ernten unscheinbar, nämlich nur Wurzeln sind, die man nicht zum Vorzeigen aufdecken kann: so unterscheidet sich sein formelles Bilden durch Mathematik von dem des Humanismus durch Philologie ja nur im Werkzeug. Beide Lehrer fahren in ihrem Erntewagen demselben Ziele zu, nur aber sehen beide, einander entgegensitzend, sich und entgegengesetzte Wege an.

Graser stellt in seinem Werke »Divinität der Menschenbildung« die vier großen Hinanbildungen zur Gottheit, gleichsam die vier Evangelien Gerechtigkeit, Liebe, Wahrheit und Kunst oder Schönheit, als die vier Erziehelemente auf. Freilich hätt' er statt der ebenso ausländischen als außerirdischen »Divinität« sprach- und lebenrichtiger »Gottähnlichkeit« gesagt, zumal da die beste Erziehung, als ein zweites Nachschaffen des göttlichen Ebenbildes im Menschen, uns alle doch nur als dunstige kalte Nebensonnen der ur-lebendigen Welt-Sonne zurücklassen kann, die nicht höher stehen als die Erdenwolken. Der Erziehgrundsatz der Divinität zwar lag schon in dem frühern der Humanität, da wir ja die Gottheit nur im Menschen als Gottmensch finden und kennen; aber der Glanz des in der reinen Ewigkeit wohnenden Ideals wirft uns das Licht auf unseren Richtsteig heller als die von der Zeit getrübte Menschen-Realität. – Übrigens überrascht der Verfasser, der dem Allgemeinsten das Bestimmte weniger ein- als anwebt, am Schlusse angenehm mit bestimmten Verkörperungen, nämlich mit so praktischen Anweisungen, daß man gern noch recht vielen durch Ausleeren früherer Transzendental-Bogen Platz und Spielraum gegeben hätte. Kann er aber nicht viele gewöhnliche weiße Bogen nehmen und uns auf ihnen eine so lange Fortsetzung seiner Unterricht-Praxis geben, als wir jetzo schon in Händen zu haben wünschten?

In der »allgemeinen Pädagogik« von Herbart kann die schöne, mit Lichtern und Reizen bestechende Sprache gleichwohl nicht den Wunsch abwenden, daß er das Titel-Vorrecht »allgemeine« nicht möchte so allgemein genutzt haben und durchgeführt, so daß der Leser die zu weiten Formen mit ergänzendem Inhalt füllen muß. An einem Philosophen findet man freilich, wenn er Erziehlehrer ist, oft genug nur den Polarstern, welcher zwar zu einer langen Reise um die Welt, aber zu keiner kurzen in der Welt gut anweiset; wie denn überhaupt Philosophen den jüdischen Propheten (oder auch den Wetterpropheten) gleichen, welche leichter ein Jahrhundert als ihren nächsten Todes-Tag wahrsagen, so wie – wenn ich mir ein zu starkes Gleichnis erlaube – in der Geschichte sich auch die Vorsehung nicht an Jahren, sondern an Jahrhunderten entschleiert, und an diesen kaum, da das enthüllende Jahrhundert wieder der Schleier des nächsten wird. – Wo aber Herbart die Muskel- und Bogen-Sehne des Charakters stärken und spannen will: da tritt er kräftig in das Besondere und Bestimmte hinein – und mit schönem Rechte, da sein Wort- und sein Gedankengang ihm selber einen zusprechen. Gewiß bleibt für die Erziehung der Charakter das wahre Elementarfeuer; hab' ihn nur der Erzieher, so wird dasselbe, wenn nicht anzünden, doch wärmen und Kräfte treiben. Das jetzige Jahrhundert – eine vulkanische Insel, welche glüht, treibt, zittert und erschüttert – sollte endlich vom politischen Kolosse, der jetzo auf den Ufern zweier Jahrhunderte steht, aus den Siegen über seine hin- und hertreibenden Walfischfahrer den Inhalt und Gehalt eines Charakters gelernt und ersehen haben; denn ein Charakter ist ein Fels, an welchem gestrandete Schiffer landen, und anstürmende scheitern. Keine glückliche Völker-Zukunft war überhaupt von jeher anders aufzubauen als von Händen, die aus Zeig- und Schreibfingern sich geistig zu Fäusten ballten. Dies spricht jetzo schon die steinalte Geschichte, sagt aber als eine geschwätzige Frau und Sibylle Jahr für Jahr immer mehr, und sie weiß gar nicht aufzuhören. – –

Dieser neueste, sogar mit Auslassung mancher anderer Einnahmen berechnete Reichtum an Erziehwerken erhebt unter den europäischen Völkern das deutsche zum erziehenden; und deutsche Schulen sollten, wie mehre Städte in Frankreich, den Ehrennamen »die guten« führen. Ja man könnte, so wie Lessing die unscheinbaren Juden die Erzieher des Menschengeschlechts nannte, an den Deutschen uns vielleicht die Erzieher der Zukunft versprechen. Liebe und Kraft, oder innere Harmonie und Tapferkeit sind die Pole der Erziehung; so erlernte Achilles vom Zentaur zugleich das Lyra-Spielen und das Bogen-Schießen.

Möchten wir doch überhaupt bedenken, ehe wir die Verwechslung der Seefahrer, welche oft Eisfelder für das Land ansahen, umkehren und das Land der Zukunft für ein Eisfeld halten, daß allen Völkern der Erde, sogar den knechtischen, geschweige freiern, die Kinderstube der Erziehung als ein Sonnenlehn und eine Freistatt der Freiheit verblieb, von Zeit und Verhältnis unerobert.

Unter allen geheimen Gesellschaften und Klubs, welche der Staat oft in bedenklichen Zeiten untersagt, werden doch die Familienklubs von so vielen Kindern, als man taufen ließ, unbedenklich geduldet. So laßt uns denn mit dem kurzen Kinderarm, d. h. mit dem langen Hebelarm die Zukunft bauen und bewegen und unverdrossen und tapfer das Gute der Zeit erhöhen helfen, und das Schlechte unterhöhlen. Ja sogar der, für dessen Kinder die Frucht-Lese zu lange ausbliebe, sage zu sich: »meine Engel sind ja auch Menschen« und säe fort.

Baireuth, den 21. Nov. 1811.

Jean Paul Fr. Richter


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