Wilhelm Jensen
Dietwald Werneken
Wilhelm Jensen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Noch bestand die alte Wegstraße zwischen Dorpat und Nowgorod, auf der Jahrhunderte hindurch die langen Wagenreihen hansischer Kaufleute gezogen, um im ›Kaufhof bei Sankt Peter zu Naugard‹ – dem deutschen Namen für Nowgorod – gegen gesalzene Fische, Wein, Bier und Eisengerät die Erzeugnisse des fernen Ostens, Leder, Talg, Hanf und Wachs, vor allem jedoch kostbares Buntwerk einzutauschen, das die Prunkgewandung nicht allein des vornehmen Patriziers, sondern auch des wohlhabenden niedrigeren Bürgers überall in den Städten des Westens begehrte. Vielleicht die unerschöpflichste Quelle des Reichtums und der Macht war dorther geflossen, aber seit einem Menschenalter lag der alte Handelsweg verödet, fast von keinem Fuß mehr betreten, von keinem Rad mehr durchfurcht. Im Jahre 1478 hatte die mächtige Stadt Nowgorod, welche über 400 000 Bewohner gezählt, durch einen Heeresüberfall des russischen Großfürsten Iwan des Dritten, Wassilijewisch, ihre Unabhängigkeit als Freistaat verloren und war zu einem Teil des moskowitischen Reiches geworden. Zwietracht der Bürger untereinander hatte den Fall der halbjahrtausendjährigen stolzen Republik herbeigeführt und der Eroberer mit unmenschlicher, grauenhafter Wut das Blut Tausender der angesehensten Stadtinsassen in wilder Schlächterei vergossen, um durch Schrecken seine neue Herrschaft zu befestigen. Doch sechzehn Jahre waren noch vergangen, in welchen die Hansen, wenn auch unter mancherlei Einschränkung, den alten Handel zu Nowgorod ungestört fortgesetzt und zu so viel tausend Köpfen die Gassen der weiten Stadt bevölkert gehabt, daß diese zum großen Teil fast als eine deutsche erschienen. Da war am Lambertustage des Jahres 1464 der Großfürst Iwan abermals hereingebrochen, hatte »alle deutschen Kaufleute, welche zu Naugarden lagen, ganz ungewarnt, wider alle Billigkeit greifen, ihnen Hosen und Schuhe ausziehen und sie in faule Türme werfen lassen«. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Angehörige der vornehmsten Geschlechter in Lübeck, Hamburg, Lüneburg, Münster, Dortmund, Duderstadt, Greifswald, Riga und Dorpat, und es war ein lauter Aufschrei über solche unerhörte Gewalttat zu sorgloser Friedenszeit durch alle Städte gegangen. Doch die Seemacht der Hanse stand dem, im tiefen Landinnern belegenen, auf keinem Wasserweg erreichbaren Nowgorod zur Abwehr unfähig gegenüber, und Iwan der Dritte verheerte straflos den deutschen Kaufhof, raubte alle hansischen Waren zu unermeßlichem Werte, Kirchengeräte, Glocken, Kleinodien, Gold- und Silbergeschirre, selbst die zinnernen Kannen und die Braupfannen von Sankt Peter, und schleppte seine Beute nach Moskau. Als Vorwand dafür ließ er höhnisch vermelden, die Hansen zu Reval hätten einen Russen nach lübischem Recht als Falschmünzer zu Tode gesotten, sowie einen andern, den sie auf unnatürlicher Tat ertappt, nach ›geistlichem‹ Rechte verbrannt, obzwar er die Auslieferung der beiden verlangt habe, worauf ihm jedoch die Antwort geworden, »sie wollten lieber alle Not erleiden, als sich in solche Dienstbarkeit der Russen begeben, auch den Zaren selber in gleicher Art bestrafen, falls sie ihn bei gleichen Lastern betrafen«. In Wirklichkeit jedoch hatten zügellose Habgier, Herrschsucht und Begehrlichkeit, die Freiheit der deutschen Kaufleute in Nowgorod zu vernichten, den Großfürsten zu seiner gewaltsamen Tat gestachelt, und es erwies sich in der Folge als mehr denn Mutmaßung, daß der dänische König den ersten Antrieb dazu eingeflüstert, um dem Handel der Hanse dadurch unersetzliche Schädigung zu bereiten und mit ihrem Reichtum zugleich ihre Seegewalt und Waffenmacht zu verringern. Die Städte aber mußten sich dergestalt einzig auf Unterhandlungen zur Losgebung der Eingekerkerten beschränken, welche erst nach dreien Jahren gegen hohen Entgelt zu einem Ergebnis führten. Doch es war keinem der Gefangenen beschieden, die Heimat wieder zu gewahren, denn als sie nach ihrer endlichen Freilassung von großer Volksmenge zu Reval festlich ›mit Pfeifen und Trummen‹ an Bord eines Schiffes geleitet worden, betraf sie auf offener See ein stürmisches Unwetter, in welchem ihr Fahrzeug mit Mann und Maus zugrunde ging. Seitdem hatte der deutsche Kaufhof zu Nowgorod verödet in Schutt und Trümmern gelegen und kaum dann und wann mehr eine Kunde von dorther den Westen erreicht, denn der Sohn und Nachfolger des Großfürsten Iwan war getreulich in die Fußstapfen seines Vaters getreten, keinerlei Handelsverbindung der Hanse mit seinen Untertanen zu dulden. Noch nun hatte vor Halbjahresfrist der Tod Iwan den Vierten nur mit der Hinterlassenschaft eines dreijährigen Knaben fortgerafft, für den dessen Mutter, die Großfürstin Helena Glinska, eine Tochter des Litauerlandes, das Vormundschaftsregiment führte und die Hoffnung erweckte, daß unter ihrer Herrschaft die Bedrückung der deutschen Abkömmlinge zu Nowgorod und der Verkehr mit dem Auslande wieder zu erfreulicher Besserung vorschreiten werde.

So lag die alte Handelslandstraße, auf der Dietwald Werneken neben dem beladenen Wagen zu Roß ostwärts davonzog, in argem Zustand. Als eine schmale bandartige Lichtung wand sie sich noch durch Wald und Busch, doch nicht selten besser in der Luft als am Boden erkennbar. Seit bald vier Jahrzehnten war Kraut und Gras unbehindert darüber gewachsen, oft dicht verranktes Gestrüpp wie eine Querwand von Rand zu Rand gezogen, so daß die Knechte absteigen und erst mit Beilen den Weg notdürftig freisäubern mußten, ehe das Fuhrwerk Schritt um Schritt vorrücken konnte. Es war eine ansiedlungslose Wildnis, durch die sich der kleine Menschentrupp mühsam seine Bahn suchte. Tagelang trafen sie auf kein Anzeichen von Bewohnung des verödeten Landes, unabsehbare Erlen-, Birken- und Nadelholzwaldungen raubten ihnen jeden Vorblick; wenn die Stämme endlich wichen, breiteten sich, hundertfach wiederkehrend, von kreischendem Sumpfgevögel dicht überflatterte Wasserspiegel, und keuchend schleppten die Pferde nun das Räderwerk, bis an die Naben im Morast versunken, weiter. Beim Einbruch der Dämmerung strebten sie zur Nachtrast einen trocken-erhöhten, vor den zahlreichen Giftschlangen und dem Sumpfungeziefer geschützten Platz zu erreichen und schlugen dort ihr mitgeführtes Zelt auf. Die Knechte lagen bald, nachdem sie ihre schnell zubereitete Abendmahlzeit eingenommen, schnarchend im Schlaf, doch Dietwald saß gemeiniglich, etwas von ihnen abgesondert, noch lange draußen und blickte in das Zwitterlicht hinaus, dessen falbes Grau sich kaum um Mitternacht eine Stunde lang in wirkliches Dunkel verwandelte. Dann zogen seiner Einbildung schattenhaft die Gestalten vorüber, welche einstmals diesen toten Pfad belebt. Er hörte Peitschengeknall und vielstimmigen Zuruf, sah die langen Wagenzüge sich knarrend dahinwinden, schwergepanzerte Reiter klirrten als Bedeckung daneben. Fern der Heimat brachen sie hier durch die Wald- und Wasserwüste unter Drangsal und Entbehrung, aber der Gewinn lockte, und mit eisern zähem Mut drangen die ersten, bahnbrechend für die Nachkommen, ihrem Ziele entgegen. Es mußte ein gewaltiges, mannhaftes Geschlecht gewesen sein, Leute des Körperbaues und der trotzigen Kraft wie Jürgen Wullenweber und Marx Meyer sie heute noch unter einem schwächer gearteten Nachwuchs zur selten gewordenen Schau boten. Und doch, wo waren sie mit ihrer Stärke und Willenszähigkeit geblieben? Blutlose Schatten, über deren Fußstapfen das Gras verwildert, wie über dem Ansehen und der Handelsmacht der Hanse hier austilgend die wilden Völkerhorden des Ostens zusammengeschlagen. So schwanden Stolz und Größe des Einzelnen und ganzer Jahrhunderte, das Alte verging und Neues schritt unaufhaltsam herauf. Alles Lebens Endziel war die Vergessenheit, das Grab, auf dem ein später Enkel einmal saß und mit einem Hinüberdenken an das Gewesene das Gedächtnis eines namenlosen Schattenspieles forterhielt. Der Nachtwind schauerte frostig durch die Glieder des einsam Dasitzenden, vor seinen Sinnen zerrann der Gaukeltrug der Vorstellung verschollener Tage, leer und entseelt umbreitete ihn die heutige, menschenlose Wildnis. Nur Stimmen andern Lebens kamen durch die Dunkelheit, die hingelagerten Pferde schnoben dann und wann mit witternden Nüstern aus dem Schlaf, wenn das heulende Gebell umherstreifender Wölfe herüberscholl. Manchmal tönte auch das dumpfe Gebrumm eines Bären aus dem Dickicht, von übergelagertem Ast lugte das glimmende Augsterngefunkel eines Luchses herunter. Öfter als auf die roh zusammengefügten Lehm- und Baumstammhütten einer elenden Dorfschaft trafen die Reisenden auf Horden bis an den Hals im Schlamm eingewühlter Urochsen, die wildzottig unter den gewaltigen weißen Hörnern zornwütigen Blicks nach den Vorüberziehenden aufstierten, doch vor der unbekannten Erscheinung von Pferden und Menschen, ohne einen Angriff zu wagen, sich brüllend noch tiefer in den Sumpf eingruben. Dergestalt fast auf Schritt und Tritt in rascherem Vordringen behindert, legte der Wagen täglich nur eine verhältnismäßig geringfügige Strecke zurück, und obwohl die Entfernung von Dorpat bis Nowgorod kaum über vierzig Meilen betrug, waren beinahe zwei Wochen verronnen, ehe Dietwald Werneken nordwärts vom breiten Spiegel des Ilmensees den alten Kreml Naugards mit den mächtigen Türmen der Kathedralkirche der heiligen Sophia vor sich aufsteigen sah. Ihm kam unwillkürlich der Gedanke, wie vor lang versunkener Zeit der Blick der Kreuzfahrer fern im Süden so aus der Weite die heilige Grabesstätte zu Jerusalem begrüßt, und wie auch schon vor Jahrhunderten hier im Nordland die hohe Kirche drüben den ersten Hansen, irdischen Gewinn verheißend, entgegengewinkt. Gleichsam als ein Schattenüberrest, der das Trachten beider vereinigt, aber zog er heute, zugleich ein Vorkämpfer des Glaubens und ein Enkel der alten Hanse mit kaufmännisch-weltlicher Bedachtnahme in Nowgorod ein.

Es gab wohl unter den Lebenden westlich vom Dünafluß kaum jemanden mehr, der Naugard mit Augen gesehen, und Dietwald hatte sich aus keiner Schilderung eine Vorstellung davon zu entwerfen vermocht. Doch alles Aufgebot der Phantasie wäre auch nicht imstande gewesen, sich ein Bild zu gestalten, wie er es in der Wirklichkeit antraf. Aus der Ferne gewahrt, regte die Stadt noch den vollen Eindruck alter Größe und Herrlichkeit, weithin gelagert, ragten zahlreiche Kirchen, Klöster und Türme gegen den Horizont. Aber den hinankommenden empfingen endlose, verlassene Trümmer, von den Hunderttausenden der ehemaligen Bewohner konnte der zwanzigste Teil kaum verblieben sein und erstreckte seine Bevölkerung, in ärmlichen Behausungen zerstreut, über meilenweite Ausdehnung. Das unbeschreiblich herabgekommene Nowgorod stand im denkbar schroffsten Gegensatz zu einer deutschen, von sichernden Mauern umfriedigten, traulich zusammengerückten Stadt, es glich eher dem wüsten Lagerplatz flüchtig angesiedelter asiatischer Nomaden. Lange Gassen wiesen nichts als die stehengebliebenen Grundmauern der Häuser: Gras, Gesträuch und junge Bäume wuchsen aus den einstigen Stuben herauf. Zwischen einzelnen Stellen, an denen sich eine Gemeinschaft kleiner Gruppen bewohnter Gebäude erhalten, breiteten sich unwirtliche große Wüsten von Schutt und Gestein, hochwucherndem Unkraut und verranktem Gestrüpp, aus denen da und dort, verfallen und verödet, die mächtigen Quaderwände der nicht mehr benutzten Kirchen in die Luft stiegen. Marder lugten vom brandgeschwärzten Gebälk und Füchse hatten ihre Baustollen in den Boden gegraben, furchtlos hockten die Jungen vor ihren Höhlen, Krähenschwärme überkrächzten die weiten Trümmerstätten. Was noch an menschlichen Bewohnern zwischen diesen lebte, ward durch kein Band der Geselligkeit und Zusammengehörigkeit verknüpft, windverstreutem Pflanzensamen gleich wuchs es in der Wildnis weiter.

In der Umgegend der Kathedrale der heiligen Sophia, die mit ihrer hohen, kunstreich bildverzierten Bronzetür Zeugnis alter Herrlichkeit redete, da, wo der Wolchow-Fluß aus dem Ilmensee hervortrat, um seinen Lauf nordwärts zum Ladoga-See zu nehmen, hatte sich um die breite Steinbrücke noch der beträchtlichste Häuserüberrest in wenigstens halb bewohnbarem Zustande bewahrt. Es war das alte hansische Kaufmannsviertel, ehemals fast nur von deutschen Zungen durchtönt, doch der Anblick der jetzigen Bevölkerung sprach kaum irgendwo von germanischer Abstammung. Ein dumpfer Stumpfsinn lag auf den zumeist hohleingefallen gelblichen, schwarzumhaarten Gesichtern, gleichgültig gafften sie den herzureitenden Fremdling an. Sie schienen kaum eine klare Empfindung von der Gegenwart ihres Daseins zu besitzen, über das zur Zeit ihrer Väter Gewesene wußte niemand Auskunft zu geben, und es bedurfte vielfacher Umfrage, ehe einer sich erinnerte, daß er in seiner Kindheit von einem "gotischen" Hause gehört, und den Weg zu diesem wies.

Beinahe mit ungläubigem Erstaunen fand Dietwald Werneken inmitten einer völlig leblosen, halb von zusammengestürzten Mauern verschütteten Gasse die Bestätigung der ersten Briefmitteilung Herrn Goswin Wulflams, daß der Bau des alten "gotischen Kaufhofes" noch erhalten geblieben sein solle. Ein weitläufiges unbewohntes Gebäude sah ihm aus dem Trümmerwerk umher entgegen, das niemandem zugehörte, keiner erhob Anspruch darauf und wehrte ihm, Besitz davon zu ergreifen, denn nicht die Menschen zu Nowgorod litten Mangel an Wohnstätten, sondern die Häuser an Insassen. So trat der Ankömmling in den leeren Raum, der nach längerm Umhersuchen noch zwei in leidlichem Zustand befindliche Stuben aufwies. Die einstigen Einrichtungsgegenstände waren freilich im Gang der Jahrzehnte von Bedürftigen sämtlich verschleppt worden und nichts als die kahlen Wände boten Unterkunft, doch vorsorglich hatte der junge Reisende die Erfordernisse einer guten Lagerstatt mit sich geführt, und unter seiner Anleitung fertigten die Knechte in den nächsten Tagen einige Tische, Bänke, einen Schrein und sonstiges Hausgerät an, das, ob auch nur mit geringem Kunstgeschick aus rohem Holz zusammengefügt, immerhin die beiden Gemächer für anspruchsloseste Notdurft des Lebens ausstattete. Dietwald selbst ergänzte, was ihm an unumgänglichen Besitzstücken zur Führung einer Hauswirtschaft gebrach, durch Einkauf in einigen armseligen Handelsläden an der Wolchowbrücke und nahm ein dort gleichfalls aufgefundenes altes Weib in seinen Dienst, um sich von ihr die Mahlzeiten bereiten zu lassen. Unter solchen Vorkehrungen verging eine Woche, in der die livländischen Knechte ihn oftmals mit befremdlichen Blicken maßen, ob es in seinem Kopf richtig bestellt sei, daß er hier in dem öden Hause des verwildert, wie ausgestorben umherliegenden Ortes wirklich zurückbleiben wolle. Noch verwunderter sahen sie auf den hohen, ihre Forderung weit übertreffenden Lohn, den er ihnen beim Abschied auszahlte, und auch er schaute den gen Dorpat Heimkehrenden mit einer seltsamen Empfindung nach, als ob Freunde von ihm gegangen und er zum letztenmal mit Menschen seiner Art geredet habe. Dann saß Dietwald Werneken, der reiche, an die Behaglichkeit, Schönheit und den Überfluß des Lebens gewöhnte Hamburger Kaufmann, allein in der ärmlichsten Dürftigkeit eines halbverfallenen Hauses zu Nowgorod.

Doch sein Sinn war heiter, er hatte es so gewollt, befand sich an seinem Ziel. Zwecklos hätte er an der Elbe nur unter schmerzlich verzehrender Erinnerung seine Tage weiter verlebt, hier lag eine gewaltige Arbeit auf wüst versandetem Felde vor ihm, ihn zur Tatkraft zu spornen, seiner Seele durch innerliche Befriedigung eine neue Daseinsfreudigkeit zu gewinnen. Rasch begab er sich an den Anfang der Aufgabe, die er sich gesetzt, und strebte eifrig vom Morgen bis zum Abend, sich mit den Verhältnissen Nowgorods und seiner Bewohner vertraut zu machen. Von öffentlichen Zuständen ließ sich indes im Sinne eines städtischen Gemeinwesens nicht reden. Eine Obrigkeit zur Erhaltung der Ordnung war kaum vorhanden, nur ein moskowitischer Vogt saß auf dem Kreml, ohne sich um weiteres als die strenge Eintreibung der Steuergefälle zu bekümmern; verwahrlost lag alles andere dem Fortwuchern der Gewohnheit anheimgegeben. Die Bewohnerschaft schied sich in russische Einwanderer, welche als die Gebieter eines unterjochten Landes auftraten, und in die Nachkommen der einstmaligen Bevölkerung des alten Freistaates. Stumpf in ihr Schicksal ergeben, verarmt an leiblichem und geistigem Gut, schleppten die letztern ihr Dasein dahin. Im Beginn erschien es Dietwald, als ob zwischen diesen beiden Bestandteilen asiatischer Abkunft sich kaum deutsches Blut forterhalten habe. Nur da und dort gewahrte er selten einmal blondes Haar und hellfarbige Augen, und erst allmählich erkannte er, daß die ungeheure Ausdehnung der Trümmerstadt mehr von solcher Art umschloß, als seine Nachforschung in den ersten Wochen zu entdecken vermocht. Wie verkrüppelte Pflänzchen eines steinigten Ackers fanden sich weit zersprengt, zumeist ohne Zusammenhang und kaum voneinander wissend, Überreste der frühen hansischen Gewerksleute und Händler, so daß ihre Gesamtzahl wohl mehrere Hunderte betrug. Sie fristeten gleichfalls in kümmerlichster Armut ihr Leben, manche hatten sich mit den Eingeborenen vermischt und ihre Kinder waren fremdländisch geworden. Die Mehrheit indes bewahrte Erinnerung an die bessern Tage ihrer Väter, redete noch deutsch und empfing den fremden Herrn, der sie in ihrer Sprache begrüßte, mit freudigem Erstaunen. Alle hingen der römischen Kirche an; mit vereinzelten Andeutungen war wohl die Lehre Martin Luthers herübergeklungen, und bei seiner Namensnennung zeigte sich die Regung des protestantischen deutschen Blutes in manchem Blick der Hörer. Allein Dietwald Werneken nahm bald gewahr, daß der schonungslos wütende Ingrimm, vermittelst dessen der letzte moskowitische Großfürst dem Eindringen des neuen ›hansischen‹ Glaubens in sein Reich gewehrt und jeden Bekenner desselben ausgerottet hatte, allen Gemütern ängstliche Furcht einflößte, Hinneigung zur evangelischen Lehre zu verraten. Und in kluger Bedachtsamkeit, um sie nicht mit Scheu vor seiner Annäherung zu erfüllen, stand er vorerst von jedem Versuche religiöser Belehrung und Bekehrung bei ihnen ab. Er sagte sich, daß zunächst nur eine Besserung ihrer bedrückten irdischen Lage den Menschen ein Begehren und Fähigkeit zu freierem Aufschwung des Gedankens verleihen könne, und richtete sein Augenmerk umsichtig und tatkräftig auf eine günstige Umänderung ihrer leiblichen Zustände. Dazu aber boten besonders die zoologischen Verhältnisse der Umgegend vollausreichende Handhabe. Seit dem völligen Aufhören alles Handelsbetriebes hatte sich die Zahl der wilden, mit kostbaren Fellen begabten Tiere, von niemand mehr gefährdet, um Nowgorod ins Ungeheure vermehrt. Kurze Gänge in die benachbarten endlosen Wälder belehrten Dietwald von einer unglaublichen Fülle an grauen sibirischen Füchsen, Edelmardern und Hermelinwieseln, die Wasserläufe zeigten sich vielfältig von Biberscharen und Fischottern belebt, Wolf, Bär und Luchs streiften bei Nacht furchtlos über die Schutthalden bis in die Nähe der bewohnten Häuser. So gab der junge Kaufmann sich bei den Deutschen der Stadt als Abgesandten eines großen hansischen Handelshauses aus, der beauftragt worden, für dieses Buntwerk zu erwerben, und reichliche Vergütung für die Einlieferung wertvoller Pelzarten entrichte. Die Erinnerung an das ehemals mit so hohem Gewinn betriebene Geschäft war den zum größten Teil von kärglichem Ackerbau oder Fischfang lebenden Hüttenbewohnern dergestalt abgekommen, daß sie anfänglich ungläubig die Köpfe dazu schüttelten, da ihnen ein zottiges, als Mantel verwendbares Schafsfell weitaus den Wert eines nutzlosen Hermelinvlieses zu übertreffen schien. Erst als Dietwald einmal für ein solches in der Tat einen erheblichen Preis ausgezahlt hatte, folgten mehrere, allmählich andere nach sich ziehend, seinem Antriebe, auf die bisher gering geachtete Beute Jagd zu machen und sie ihm in seine Behausung zu überbringen. Der klingende Lohn, den sie dafür einernteten, spornte sie sichtbar aus der dumpfen Gleichgültigkeit, in der sie hingelebt, zu größerer körperlicher wie geistiger Regsamkeit auf; mit zuwartender Befriedigung aber nahm Dietwald Werneken gewahr, daß darin nicht der wesentlichste Erfolg seiner Anstrengungen beruhte, sondern daß er sich durch diese mehr und mehr auch einen Zugang zu den Gemütern seiner geistig verarmten Landsleute eröffnete. Täglich kehrte er, weite Strecken zwischen den zerstreuten Wohnungen durchmessend, in einer Anzahl ihrer Häuser ein und gab Unterweisung, die erbeuteten Felle selbständig zur Aufbewahrung zuzubereiten, weckte ihre Verstandestätigkeit und ihr Vertrauen in sich selbst und teilte ihnen während der Arbeit bald dieses, bald jenes aus den Städten des Westens mit, wobei er in kluger Weise, gleich regelmäßig wiederkehrendem Tropfenfall, die Grundzüge der evangelischen Lehre und den Aufschwung, den die Armen und Bedrückten des niedern Volkes durch sie in Deutschland gewonnen, einfließen ließ. Umherstehend horchten die Weiber und Kinder, deren Zutrauen er sich durch fröhlichen Scherz, nützliche Ratschläge und manche Hülfsleistung in Not- und Krankheitsfällen eintrug. Vorwiegend bei den jungen Männern fand er unter der rohen Hülle der Unwissenheit und träger Gewöhnung natürliche, nur der Aufweckung bedürftige Geistesgaben verborgen, und Schritt um Schritt erzielte er zwei gleichmäßig von ihm angestrebte Wirkungen, daß unvermerkt die Gedanken seiner Zuhörer sich mit einem Verständnis des gereinigten Glaubens erfüllten und ein Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit als deutscher Abkömmlinge in ihnen wach wurde, das den Wunsch eines festern Aneinanderhaltes sowohl zu weltlicher als gemütlicher Förderung bei ihnen regte. Um derartige wechselseitige Annäherung und Befreundung zu nähren, forderte Dietwald zu einer wöchentlichen Zusammenkunft am Sonntagnachmittage in seinem Hause auf, wo der alte großgeräumige Schütting aus hansischer Glanzzeit des »Kaufhofs bei Sankt Peter« die Eintreffenden aufnahm, und bald war es zum steten Brauch geworden, daß der junge Bewohner dort einem halben Hundert aufmerksam zuhörender Gäste beim Beginn der Versammlung einige geeignet von ihm ausgewählte Abschnitte der niederdeutschen Bugenhagischen Bibelübersetzung verlas, um danach belehrendes Wechselgespräch an das Vernommene anzuknüpfen. Wenn Dietwald Werneken aber so sein Sonn- und Werkeltagewerk vollbracht, warf er sich am Abend ermüdet und befriedigt auf sein Lager und fiel sogleich bis zum Morgen in traumlos-festen, wohltätig ihn zu neuer Wirksamkeit rüstenden Schlaf.

Darüber war der Rest des Sommers hingegangen, ohne daß er in seinem Eifer die herbstliche Veränderung der Natur wahrgenommen, dann jedoch hatte andere Verwandlung so gewaltsam in sein Tun und Treiben eingegriffen, daß sie sich ihm von Tag zu Tag gewichtiger bemerkbar gemacht. Es war keine von dem moskowitischen Vogt oder den in der Stadt angesiedelten russischen Eroberern ihm entgegengesetzte Behinderung, denn niemand von ihnen bekümmerte sich um seine Anwesenheit, so wenig wie die zur Herrschaft gelangte Großfürstin Helena ihr Augenmerk auf Nowgorod verwandte. Gerücht nur kam aus dem fernen Moskau herüber, daß sie dort, von heißer Leidenschaft für den Fürsten Obolenski, einen der mächtigsten Reichsbojaren, verzehrt, unter seinem Einfluß grausame Gewalttaten an ihren eigenen Verwandten geübt, Mord, Richtbeil und Verrat färbe die Straßen der Hauptstadt mit Blut, und Schrecken fülle sie obendrein von außen durch Aufsätzigkeit der wilden Tatarenstämme Kasans und der Krim gegen das moskowitische Joch, wie durch drohenden Kriegseinbruch eines polnischen Heeres. Von dem allem lag Nowgorod unberührt und unbeachtet in seiner öden Schweigsamkeit weit ab. Aber ein anderes Hemmnis war dem Fuße Dietwalds jetzt wörtlich in den Weg getreten: über den Ilmensee und die Wolchow spannten sich starre Eisbrücken, vom sibirischen Lande her schnob unausgesetzt der Wind, daß der Atem sich an die Lippen in stechende Nadeln verwandelte. Wochenlang trotzte der junge Kaufmann ihm und setzte seine täglichen Unterwanderungen fort, doch dann überzog sich eines Nachmittags der Himmel mit schwarzgrauer Decke und am Morgen stiebte dichtes Flockengewirbel daraus herab. Drei Tage und Nächte dauerte bei Schneefall fast ohne Unterlaß; als er geendet, lag alles, so weit das Auge sah, wie unter ein Leichentuch gebettet und in tiefen Todesschlaf versunken. Die Trümmerstätten waren gleichmäßig verschneit und verschwunden, bis über die Mitte der meisten Gebäude ragten die weißen Massen auf, es vergingen Tage, ehe Dietwald sich einen Zugang zu den nächsten bewohnten Häusern gebahnt, um seiner alten Wirtschafterin die Herbeiholung der nötigsten Lebensbedürfnisse zu ermöglichen. Ein Erreichen der weiter entlegenen deutschen Hütten war zur Undenkbarkeit geworden, die Einlieferung von Pelzen hörte auf, niemand kam mehr am Sonntagnachmittag zur Zwiesprache und gemeinsamem Anhören der Vorlesung. Stahlblau und wolkenlos wölbte sich der Himmel wieder, die Sonne glitzerte blendend auf dem unermeßlichen Schneemeer, aber schneidend pfiff der Nordost drüber, daß kaum die unmittelbare Nähe des Tag und Nacht lodernden Herdfeuers vor dem Erstarren der Glieder schützte. Und so kurz wie der Tag, so lang war die Nacht. Sie nahm kein Ende, und kaum ein paar Mittagsstunden von der schräg am Horizont hinschleichenden Sonne unterbrochen, begann sie aufs neue. Unsagbar langsam und einförmig verrann die sickernde Zeit fast nur beim Flackerlicht der dunstigen Lampe.

Die alte Haushälterin redete nicht Deutsch und Dietwald nur wenige russische Worte; an den Winter ihres unwirtlichen Vaterlandes von Kindesbeinen auf gewöhnt, saß sie zusammengehockt am Herd und stierte gedankenlos gleichgültig in die Flammen. Ihr Mitbewohner des einsamen Hauses las in der Bugenhagischen Bibel und dachte beim Heulen des Sturmes, wie die Wände um ihn einstmals vielstimmiges Gelärm zurückgehallt, als der »gotische Kaufhof« von den stolzen Hansen aus Wisby erfüllt gewesen, den Klang ihrer vollen Erzkannen und ihres rollenden Goldes vernommen. Nun lag alles in Todesstille, geisterhaft sahen die alten Mauern auf den eingezogenen sonderbaren Insassen herunter, der an einem Holzstab die kriechenden Tage einkerbte und Wochen, Monde daran zusammenzählte, ohne daß etwas innen und draußen um ihn her sich änderte. An den Winterschnee zu Nowgorod hatte er in Hamburg nicht gedacht; hätte er sich so hier sitzend gewahrt, wäre er vielleicht nicht zu seinem Entschluß gelangt. Gewißlich nicht – es ward ihm immer unzweifelhafter, und daß es unmöglich sei, einen zweiten Winter hier zu verbringen. Bis zum Ausgang des März setzte er seinem unterschiedlosen Zustande die Geduld der Hoffnung entgegen, allein als auch dann nichts an das Herannahen eines deutschen Frühlings gemahnte, begann die Fortdauer der ihm aufgenötigten Untätigkeit und geistig vollkommenen Vereinsamung ihn kraft- und mutlos zu machen. Verlassener und schwermütiger hätte sein Leben auch in dem ausgestorbenen Hause zu Hamburg nicht hinrinnen können; er sagte sich, daß er unsagbar töricht gehandelt, sich von aller menschlichen Kultur abgetrennt, nutzlos in dieser Schnee-Einöde zu vergraben. Fast allstündlich klangen ihm die Worte Herrn Goswin Wulflams im Gedächtnis, der Sommer bilde hier eben nur kurze Hochzeitsflitterwochen zwischen Himmel und Erde, denen kaltes Blut und lange Trübsal unter weißer Decke nachfolge. Wenn ein Bewohner Dorpats das schon bedrückend und schwer empfand, wie anders noch in dem leeren, frostigen, freudlosen Bau zu Nowgorod, mehr der Zufluchtshöhle eines Tieres als menschlichem Obdach ähnelnd. Dietwald Werneken fühlte, daß er warmes Blut in den Adern besaß, das von sehnsüchtigem Verlangen, nicht in solcher Kälte verharren und erstarren zu müssen, geschwellt ward. Er mußte sich den Gegensatz lebhaft gewärtigen, wenn er als Gast in dem behaglichen Hause zu Dorpat geblieben wäre, den Tag hindurch im Handelsgeschäfte seines Wirtes tätig nutzend, abends beim Becher und guter Zwiesprache mit dem verständigen, väterlich-wohlwollenden Freunde. Selbst ein Spiel auf der Pilkentafel würde er jetzt als hochwillkommene Unterbrechung der trostlosen Einförmigkeit, beinahe als eine geistige Erhebung begrüßen. Bei dieser Vorstellung sah er Folka Wulflams schlanke Gestalt sich zum Stoß vorbeugen, ihre Augen aufblitzen, nun in der Stube, nun am grünen Waldrand. Wie töricht war auch das von ihm gewesen, wenn er mit ihr geredet, sie gleich einem Informator durch Mahnungen zum Unmut und Zorn aufzureizen, daß er sie mit Widerwillen an sein Gedächtnis erfüllt! Säße sie dort am Fenster statt der stumpfsinnigen Alten, wie anders würde sie mit lebhafter Rede die traurig schleichenden Stunden verkürzen. Leibhaft stand sie vor seiner Einbildung in ihrer seltenen Schönheit da. Was hatte ihm eigentlich an ihr mißfallen? Daß ihr Wesen nicht dem Erdmute Warendorps geglichen? War es etwa nur ein Selbstbetrug der Eitelkeit gewesen, die kein Gefallen an ihr gefunden, weil sie unverhehlte Abneigung gegen ihn bewiesen? Er besaß viel Zeit zum Nachsinnen, und seine Gedanken brachten ihn von Tag zu Tag häufiger auf diese Frage zurück. Doch er gelangte zu keiner deutlichen Antwort darauf, nur zog es ihn oftmals, dabei aus der Lade die kleine Messingkapsel herauszunehmen, die Folka Wulflam ihm als Abschiedsmitgift eingehändigt. Warum hatte sie im Frühlicht auf der Treppe gewartet, um sie ihm mit auf den Weg zu geben? Und warum hatte sie sich jählings niedergebückt, die Blutstropfen von seiner Hand mit ihren Lippen fortzulöschen, da ihr Gemüt von Widerwillen gegen ihn erfüllt war?

So saß er eines Nachmittags, und durch Ungeschick entglitt das Amulett seinen Fingern und fiel auf den Steinboden. Es gab einen klirrenden Ton dabei von sich, und wie er es aufhob, gewahrte er, daß von der Rückseite eine dünne Metallplatte abgesprungen war und eine Höhlung in der kleinen Kapsel freigelegt hatte. Verwundert sah er etwas darin enthalten, in der einbrechenden Dämmerung nicht gleich erkennbar. Doch als er es dem Fenster näherte, erwies es sich als eine braune Haarlocke, um einen wunderlich-rätselhaften Gegenstand geschlungen. Und nun erkannte er auch diesen; unzweifelhaft war es der zusammengedorrte, braunbeschildete, am obersten Halsgelenk abgetrennte Kopf einer Kreuzotter.

Geraume Weile hafteten Dietwald Wernekens Augen stumm auf dem durch Zufall offenbarten befremdlichen Inhalt des Amuletts. Dann murmelten seine Lippen halb unbewußt vor sich hin: »Wider bösen Blick solle es bewahren – sie sei abergläubisch an Gemüt, sprach der Alte –« und den Kopf langsam hebend, schaute er regungslos weit geöffneten Lides über die weiße Schneedecke in das tiefer einfallende Zwielicht hinaus. Da hatten die Kerbeinschnitte des Holzstabes gekündet, daß ein Jahr vergangen, seitdem ihm in seiner Bücherstube zu Hamburg nach dem Empfang des Schreibens aus Dorpat der Gedanke aufgekeimt, in die russische Fremde zu segeln, und die warme Maiensonne ihn wie an geheimen Strahlenfäden in die Weite gezogen. Es war wieder Mai geworden und die Sonne schien. Sie überkleidete die Erde nicht, wie es ihre Frühlingskraft jetzt an der Elbe tat, mit einem grünleuchtenden und rauschenden Freudengewand, doch im Verein mit lindem Anhauch von Süden her hatte sie seit etlichen Tagen zum erstenmal an den hohen weißen Überzug des Bodens gezehrt, seine harte Kruste aufgelöst und langsam in sich selber zum Zusammensinken gebracht. Mit einer unwiderstehlichen Sehnsucht trieb es heut um die Mittagsstunde Dietwald Werneken ins Freie. Schwierig und oftmals tief einbrechend, wand sich der Fuß über die noch nicht freigelegten Schuttfelder, doch nordwärts hinüber schimmerte aus der Ferne an einem Waldrand ein breiter, grün aus dem Weiß aufblickender Fleck. Dort mußten Sonne und Wind den Schnee früher als sonst ringsumher bezwungen haben; mühsam und weit war's bis zu der Stelle, aber das dürstende Verlangen in Dietwalds Brust, Leben der aufwachenden Erde, wenn auch nur in winzigen, frischsprießenden Hälmchen unter sich zu gewahren, ließ ihn das lange Straucheln über die dazwischen gebreiteten Hindernisse nicht scheuen.

Nun erreichte er sein Ziel, und nach vielen trostlosen Monden durchfloß ihn zum ersten Male wieder ein heimliches, warmes, eigenes Lebensgefühl. Die bewohnten Überreste der Stadt erstreckten sich nach andern Richtungen, hieher war er noch nie gekommen. Überall rieselten ihm kleine, hellblinkende Wasserläufe entgegen, dazwischen noch Schneeflecke, doch um sie her sproßte es schon dicht von saftgrünen Blättchen und Halmen, die sich flimmernd im Lufthauch bewegten. Warm und glanzvoll warf die Maisonne ein träumerisches Goldlicht über alles hin, das sich sehnsüchtig nach ihrem Blick aufzudrängen schien, als wachse es zusehends vor dem betrachtenden Auge höher empor. Die Natur hatte unter der Winterdecke nicht im Tode, nur im Schlaf gelegen, traumesstill des Augenblicks geharrt, in welchem ihr eingeborener, unauslöschlicher Lebensdrang über Schnee und Eis den Sieg erkämpfen würde. Nur ein ganz leises, schwermütiges Lächeln ihres lieblichen Kinderantlitzes war es noch, aber es lächelte und übte auch an der Rinde trüben Mißmuts in der Seele Dietwalds lind auftauende Wirkung. Er fühlte sich ermüdet, doch nicht wie sonst seit langer Zeit dumpfsinnig nach Schlafvergessenheit trachtend, sondern von einem freundlich wohltuenden Verlangen, kurze Ausrast zu halten, befallen, und schritt, umblickend, einem am Rande des noch völlig kahl-leblosen Waldes zu Boden gestürzten alten Baumstamme zu. Fast stand er schon im Begriff, sich darauf niederzulassen, als eine Bewegung am obern Ende desselben ihm den Kopf hob und er mit einiger Überraschung wahrnahm, daß sich dort schon jemand gleichen Sitz gewählt, denn keinerlei Regung hatte ihm bisher das Zugegensein eines menschlichen Wesens an dem lautlosen Forstsaum verraten. Zugleich indes erkannte er auch, daß sein Auge wohl achtlos über die sitzende Gestalt hingestreift sein mochte, ohne den Eindruck einer solchen zu empfangen. Sie hob sich aus kurzer Entfernung kaum von dem Hintergrunde der noch dicht den Wald anfüllenden Schneedecke ab, denn fast alles an ihr bot einen weißen Anblick. Es war ein junges Mädchen mit grobgefasertem Linnenhemde bekleidet, dessen bauschende Ärmel zum Handgelenk reichten. Darüber trug sie nichts als ein zottiges Schafsfellgewand vom Hals bis etwa handbreit über die Knie; die Füße sahen, in Holzschuhen steckend, nackt darunter hervor. Ein weißes Kopftuch nach der weiblichen Sommertracht der Landesgegend verdeckte fast ganz ihr Haar, nur eine lange, hellblonde Flechte fiel aus der Hülle über Nacken und Rücken herab, und auch die Farbe ihres Gesichtes unterschied sich wenig von der des Schnees hinter ihr. So hockte sie auf den ersten Anblick gleich einem wollig umzottelten Lamm auf dem Baumknorren; sie konnte höchstens sechzehn Jahre zählen, der Bau ihres Körpers verbarg sich allerdings durchaus unter dem rohen, sackartigen Bekleidungsstück, aber der Ausdruck ihres Gesichtes war völlig derjenige eines großgewachsenen Kindes. Eigentümlich hielt sie ihre beiden Hände hochaufgebogen, sorgfältig zusammengeschlossen auf dem Schoß und sah dem Herangekommenen ohne Laut, doch auch ohne Scheu ins Antlitz. Verwundert bemaß dieser einen Augenblick die fremde, unvermutete Erscheinung, dann entfuhr ihm beim Niedersehen auf ihre unbedeckten Füße die Frage:

»Friert es dich denn nicht?«

»Mich? Nein, aber sie friert.«

Das Mädchen hatte es in deutscher Sprache, doch mit starkem russischem Tonfall gesprochen, bückte den Kopf nieder und hauchte den Atem durch eine Fingerlücke zwischen die Hände hinein. Dietwald wußte sich ihre Antwort nicht zu deuten und erwiderte, näher an sie hinantretend:

»Wer friert, Kind?«

Sie versetzte: »Ich fand sie eben, sie lag auf dem Schnee; wollt Ihr sie sehen, Herr?«

»Was denn?«

»Eine Jaworonok.«

Er verstand das russische Wort nicht und fragte: »Was ist das?«

»Ich weiß ihren Namen nicht auf deutsch,« entgegnete sie kopfschüttelnd, während zugleich eine leichte Unruhe in ihren hellblauen Augen auftauchte. »Aber Ihr tut ihr nichts Böses an – versprecht Ihr's?«

Er lächelte: »Sehe ich dir denn so böse aus, Kind?« Nun schüttelte sie abermals das weiße Kopftuch und öffnete beruhigt vor seinen niedergebeugten Augen einige Finger der zusammengehaltenen Hände, aus deren Höhlung das graue Gefieder eines kleinen halb erstarrten Vogels hervorsah. Dietwald Werneken betrachtete ihn einen Augenblick, dann sagte er: »Es ist eine Lerche, die zu früh gekommen.«

Offenbar hatte das Mädchen aufmerksam auf den Klang des Wortes gehört, denn sie sprach ihn freudig nach:

»Eine Lerche – ja – nun weiß ich es wieder, ich hatte es vergessen.«

Behutsam streichelte sie mit dem Finger das Köpfchen des kleinen regungslosen Tieres; Dietwald fragte:

»Hast du denn die Lerchen so gern?«

»Ja, sie singen so schön, wenn der Frühling kommt.«

»Doch wie kommst du denn hierher?«

Sie nickte gegen den Wald. »Unser Haus steht da drinnen.«

»Deines Vaters Haus?«

Ihr Kopf machte eine zweifelhafte Bewegung zwischen Bejahen und Verneinen: »Des Pechlers.«

»Ist er ein Deutscher?«

Sie erwiderte nur: »Ich bin eine Deutsche, glaub' ich; seid Ihr es auch?«

Die Frage kam so wunderlich aus ihrem Munde, daß er lachen mußte. »Wer Deutsch redet, ist wohl ein Deutscher?«

Nun blickten ihre Augen sonderbar ernsthaft zu ihm auf: »Ich tät's gern, aber ich kann's nicht immer.«

Die Auffindung eines ihm noch unbekannt gebliebenen deutschen Überrestes um Nowgorod regte Dietwalds Teilnahme. »Ist es weit zu eurer Wohnung?« fragte er.

»Nein.«

»Willst du mich hinführen?«

Sie sah ihn verwundert an, doch antwortete »Gern«, stand auf und geleitete ihn durch einen schmalen Fußpfad, dessen Schnee niedergetreten war, zwischen die Stämme hinein. Er richtete allerhand Fragen an sie im Gehen, auf die sie, in verschiedener Weise stockend, Erwiderung gab, manchmal, weil ihr offenbar ein deutsches Wort zur Entgegnung gebrach, zu andern Malen, weil sie den Sinn einer Fragstellung sichtlich nicht aufzufassen vermochte. Ihr Wissen ging augenscheinlich nicht über die nächsten Dinge ihrer Waldumgebung und täglichen Anschauung hinaus, selbst von der Stadt Nowgorod besaß sie nur äußerst geringfügige Kenntnis; aber ihre Augen legten merkwürdige Achtsamkeit auf jeden Gegenstand um sie her an den Tag, man sah ihrem Blick an, daß er im Vorübergehen auch das Unscheinbarste aufnahm, als stehe sie zu jedem Stamm und Gezweig in einem freundschaftlichen Verhältnis und bemerke sogleich die leisesten Veränderungen an ihnen. Trotz den plumpen Holzschuhen war ihr Gang auffällig behend und geräuschlos: nach einigen Schritten hob sie stets wieder die Hände an den Mund und blies den von der Kälte des Schnees, auf den er entkräftet niedergefallen, starr gewordenen Vogel mit ihrem warmen Atem an. Nun verwandelte das noch unbelaubte Gehölz sich in dunklen Kiefern- und Tannenwald, und Dietwald gewahrte, daß besonders die Stämme der Lärchenbäume sämtlich ziemlich umfangreiche, zumeist mit einem Holzzapfen verstopfte Bohrlöcher zu zeigen begannen. Aus andern, offenstehenden rann eine klebrig-dicke, dunkle Masse hervor, unverkennbar zu einem Zwecke künstlich aus dem Stamm-Innern gelockt, und der junge Kaufmann fragte deutend: »Was ist das?« Erstaunt blickte seine Begleiterin ihn an und versetzte: »Kennt Ihr das Pech nicht? Ich glaubte, Ihr wüßtet alles.«

Er mußte über ihre Einfalt lächeln. »Du siehst, wie wenig ich weiß. Ich kenne nicht einmal das Pech und auch nicht einmal deinen Namen. Wie heißt du?«

»Elisaweta.«

Sie sprach den Namen mit völlig russischer Betonung, und Dietwald Werneken erwiderte:

»So hast du einen schönen Namen: den kenne ich, denn er lautet auf deutsch fast ebenso.«

Das Mädchen hielt den emporgehobenen Fuß an und fiel rasch fragend ein: »Wie heißt er denn auf deutsch?«

»Elisabeth.«

Sie wiederholte das Wort mit dem Klang und Tonfall seiner Stimme und nickte dazu. Ein brandiger Geruch hatte schon seit einer Weile die Luft erfüllt, jetzt quoll dicker Rauchqualm zwischen hochstämmigen Tannen hervor und gleich darauf glühte der Loderschein eines Feuers darunter auf. Er kam aus einem niedrigen Bau von gebranntem Lehm, dem ein kurzer, plumper Schlotrumpf entragte. Vor der Öffnung, aus der die Flammen lohten, stand gebückten Leibes ein grauhaariger Mann, mit einer langen Holzstange das Feuer schürend. Er trug kahnartige, noch zum Teil rindenbedeckte Holzschuhe an den Füßen und schwarze, fettig glänzende Lederhosen; vom Oberkörper dagegen hatte er trotz der kalten Waldluft den schmutzfarbigen Schafspelz auf einen Baumstamm geworfen, so daß sein mager-sehniger Gliederbau sich bis zum Gürtel völlig unbekleidet wies. Es war der Pechler und Pechsieder, von dem Elisaweta geredet; an den Siedofen stieß eine roh und notdürftig aus Fichtenstämmen gezimmerte Behausung, aus der Waldtiefe her kam ein Weib mit strähnig herabfallendem Haar und einer Reisigtraglast auf dem gekrümmten Rücken zur Unterhaltung des Brandes. Das Ganze erregte den Eindruck härtesten Arbeitringens in der Wildnis, um ein vereinsamt ärmlichstes Menschendasein zu fristen.

Der Pechler drehte bei dem Herzutreten Dietwalds den Kopf und stützte sich, einen Augenblick ausrastend, auf seinen glimmenden Schürhaken. Er legte keine Überraschung an den Tag und machte keine Bewegung, seinem Bekleidungsmangel abzuhelfen; in den greisenhaften Zügen drückte sich nichts Unzufriedenes mit seinem Schicksalslos aus, eher ein einfacher, unverzagter und unverdrossener Gleichmut. Dieser bewährte sich an seiner Art, wie der junge Kaufmann ein Gespräch mit ihm anknüpfte. Er nannte sich Böske Westerling und redete ein schwer verständliches Deutsch, aber doch so, daß man es als seine Muttersprache erkannte, obgleich ihm wie dem Mädchen zuweilen ein Wort für eine Bezeichnung fehlte, das er dann durch ein russisches ersetzte. Fast solang er dachte, lebte er hier als Pechsieder im Walde, auch schon, wie Nowgorod noch als eine große, volkreiche Stadt drüben gestanden. Zu seiner Knabenzeit hatte er in ihr gewohnt, als eines deutschen Schusters Sohn, seine Mutter war eine Eingeborene des Landes gewesen, doch beide hatten bei einem Einbruch der Russen eines Tages mit zerschmetterten Schädeln vor ihm auf der Gasse gelegen. Danach war er allein geblieben, bis er herangewachsen und sich ein Weib genommen, eines Pechlers Tochter, gleichfalls von Nowgorodschem Stamm. Viel mehr konnte er über sein Leben nicht sagen. Selten nur verließ er für einen Tag den Wald, um seine Ware dem Händler in die Stadt zu bringen. So hatte er diese von Jahr zu Jahr mehr zerfallen sehen. »Wenn die Stämme zu hoch wachsen,« sprach er gleichmütig, »werden sie morsch und der Sturm bricht sie um.«

Dietwald hatte ihm mit eigenartiger Anteilnahme an seiner ruhig-knappen Redeweise zugehört und entgegnete nun:

»Wie lang gedenkt Ihr denn noch hier im Walde zu bleiben? Ihr werdet alt –«

»Ich bin noch rüstig, Herr,« versetzte der Pechler unbekümmert.

»Doch wenn Ihr es einmal nicht mehr seid, was soll dann in dieser Verlassenheit aus Euch werden?«

Der Alte zuckte gelassen die nackte Schulter. »Was wird aus den Tieren, Herr, auf der Erde und in der Luft, wenn sie sich nicht mehr nähren können? Sucht Ihr gut danach, da findet Ihr sie manchmal. Sie kriechen unter und sterben. Wir sind alle eins, und niemand kann darüber klagen, wenn's ihm so fällt, wie den andern.«

Er war nicht allein noch rüstig, er war auch gut gerüstet. Seine entblößte Brust umgab ein Panzer der Begehrlosigkeit, an dem die Armut, Not und Plage seines Daseins erlahmten. Er verlangte nicht mehr, als das Leben ihm notdürftigst zur Forterhaltung zugeworfen, die Welt außerhalb dieser Waldstämme ging ihn nicht an. Aber den engen Kreis, in den seine gleichmäßige Arbeitstätigkeit ihn gebannt hielt, hatte er mit Gedanken und Empfindungen bevölkert. Sie waren aus der Betrachtung der Natur um ihn her aufgewachsen, ohne vorbedachten Plan und ordnenden Zusammenhang gleich den verschiedenartigen Bäumen über ihm, doch festgewurzelt und ruhig dastehend, wie sie. Etwas, das ihm bisher unbekannt gewesen, trat Dietwald Werneken in dieser Bedürfnislosigkeit entgegen, die nicht aus Stumpfsinn, sondern neidloser Entsagung der Erdengüter erwuchs. Er setzte geraume Zeit noch die Unterredung fort und hörte mit Teilnahme auf die schlichten Antworten des Pechlers, denen er nirgendwo eine Berichtigung durch seine schriftgelehrten Kenntnisse entgegenzustellen vermochte. Nur zuletzt sprach er:

»Doch wenn Ihr Euch so genügt, Westerling, Eure Tochter ist noch jung, und ihr wird es schwerfallen.«

Der Alte drehte den Kopf nach der Seite, wo das Mädchen stand, und zum ersten Male ging ein Ausdruck der Unsicherheit durch seine Augen. Er nickte und wiederholte: »Ja, sie ist jung, und drinnen wird der Raum für sie enger.« Und nach kurzem Verstummen fügte er hinterdrein: »Sie ist nicht meine Tochter.«

»Wessen denn; und wie kommt sie zu Euch?« fragte Dietwald.

Auch darüber vermochte der Befragte nicht viel zu sagen. Mehrfach hatte sich, nach dem ersten Überfall der Hansen durch den Großfürsten Iwan, im Gang der Jahre an den Übrigverbliebenen russische Gewalttat wiederholt, ihnen zwar an Hab und Gut nichts mehr nehmen können, nur das Leben. In solcher Art war vermutlich auch der Vater des Mädchens umgekommen; der Pechler wußte nichts von ihm, allein von der Mutter, daß sie mit ihrem kaum vier Jahre alten Kinde in einer zerfallenen Hütte, hier gegen den Wald heraus, zwischen den Trümmern gelebt. So hatte er sie dann und wann gesehen; sie war eine schmächtige Frau von ›durchsichtigem‹ Antlitz gewesen und immer weißer an Gesicht und Händen geworden, vormals wohl an Reichtum und Überfluß gewöhnt. Ob er ihren Namen einmal gehört, wußte er nicht, jedenfalls konnte er sich nicht mehr darauf besinnen, nur daß sie das Kind Elisaweta gerufen. Dann habe sie eines Morgens, als er des Wegs gekommen, tot auf ihrer jämmerlichen Lagerstatt gelegen; er sei hineingeschritten, weil die Kleine vor der Tür gespielt und ihm weinend geklagt, sie hungere so sehr, denn die Mutter schlafe schon zwei Tage lang und wache nicht auf. Nach seinem Glauben sei sie auch wohl durch Hunger an der Abzehrung gestorben; da habe er das Mägdlein, das ohne Sippe und Freundschaft gewesen, mit sich in den Wald genommen, eingedenk, wie er auch einstmals als ein Waisenknabe verlassen auf der Gasse gestanden, und seine Frau, die selber nicht Kinder besessen, sei froh geworden, daß er ihr solchergestalt eins zugebracht. Und so sei sie bei ihnen aufgewachsen und von der frischen Luft im Forst kräftig an Gesundheit gediehen, nur die Farbe ihrer Stirn und Wangen gemahne noch immer an das durchsichtige Antlitz der Mutter, aber es habe keine kränkliche Bewandtnis damit bei ihr.

In die letzten Worte des Alten stieß plötzlich das Mädchen einen Freudenruf hinein: »Sie lebt! Seht, sie rührt sich!« und frohlockenden Gesichts herzutretend, zeigte sie behutsam die Lerche, die jetzt, von der Wärme der beiden Hände allmählich aus der Starre gelöst, die Lider von den kleinen, klugblickenden Augen aufgehoben. Doch schnell wandelte sich die beglückte Miene ihrer Beschützerin jetzt in nachdenkliche Sorgnis, und ihr Mund fügte niedergeschlagenen Tones drein: »Wohin soll ich sie tun? Wenn ich sie fortlasse, erfriert sie wieder.«

»So gib sie mir,« versetzte Dietwald freundlich, »ich will in meiner Stube Sorge für sie tragen, bis hier außen bessere Zeit für sie kommt.«

Das Mädchen stand halb erfreut, halb unschlüssig. »Wollt Ihr es wirklich, Herr?« Dietwald nahm Abschied von dem Alten, dessen pechklebrige Hand er schüttelte. »Wer nichts begehrt, braucht andere nicht; doch wenn ich Euch einmal nützen kann, Westerling, so sprecht's. Euer Name redet, daß Ihr vom Westen her stammt, wie ich, laßt uns gute Nachbarschaft hier im Ostlande halten, so lang ich noch drin weile. Es freut mich, daß mir die Sonne den Weg zu Euch gedeutet; der Wald ist schön, wenn der Schnee gegangen, verhoff' ich zu öftern Malen Eurem Betrieb zuzuschauen. – So gib mir das Vögelchen, Kind!«

Die Angesprochene hob ihm unsicher die Hände entgegen, zögernd sprach sie halb stockend dazu:

»Es ist noch so schwach – darf ich's nicht in Euer Haus heimtragen?«

Bittend sah sie ihn dabei an. Offenbar fiel die schnelle Trennung von der geretteten Lerche ihr schwer, aber es redete auch noch ein anderer, heimlich-leiser Wunsch aus ihrem Blick. Dietwald nickte: »Wenn der Abschied dir noch zu schwer fällt, doch es ist wohl eine Stunde schlechten Wegs.«

»Den scheut sie nicht, Herr, sie ist an Übleres im Walddickicht gewöhnt,« schaltete der Pechler ein. »Ich seh's ihr an den Augen, sie tät's gern, gewährt's ihr! Aber schwatze nicht, daß dein Geleit dem Herrn nicht lästig fällt.«

In der Unterstützung der Bitte des Mädchens durch den Alten lag etwas Ungesprochenes, doch von dem Hörer Empfundenes. So wenig Böske Westerling für sich selbst ein Begehren trug, regte sich in ihm ein Antrieb, dem Ohr und Auge seines Pflegekindes wenigstens ein Weilchen das Zusammensein mit feinerer Sitte zu vergönnen, als der Tagesverlauf seines rauhen, groben Gewerks sie darbot. Nun schlugen die beiden den Weg zum Waldrand wieder ein; mit glücklicher Miene ging das Mädchen voran, doch sie sprach nicht, wie bei ihrer Herkunft. Auch Dietwald Werneken folgte ihr in stummen Gedanken, erst als sie den Saum der Holzung erreichten, fragte er:

»Weißt auch du den Namen deiner Eltern nicht?«

Sie schüttelte wortlos den Kopf, und er fuhr fort: »Warum redest du nicht?«

»Der Vater hat's ja verboten.«

Er lächelte: »Ich erlaube es dir, Elisaweta.«

Sie stand still und sah ihn ungewiß zaghaft an. »Was willst du?« fragte er.

»Darf ich etwas bitten?«

Er nickte, und sie fügte rasch drein: »Da heißet mich Elisabeth.«

»Warum?«

»Es ist mir gekommen, als ich's vorhin von Euch gehört, daß meine Mutter wohl auch so geheißen haben mag.«

»Aber welchen Namen sie sonst noch trug, weißt du nicht?«

Sie verneinte wie, zuvor. »Mir ist's, wenn mein Ohr ihn hörte, würd' es ihn kennen.« Doch nun war sie beredt geworden, gab nicht nur auf Fragen Antwort, sondern sprach selbst von Dingen, deren sie sich aus dem Hause ihrer Mutter noch erinnerte, daß ihr Begleiter halb verwundert fragte:

»Woher weißt du das jetzt? Mir schien's zuvor, du hättest gar kein Gedächtnis daran bewahrt.«

»Im Wald nicht,« erwiderte sie und setzte nach kurzem Innehalten hinzu: »Darf ich etwas Närrisches sagen?«

»Was meinst du damit, Elisabeth?«

Ein freudiger Blick ihrer Augen dankte ihm für den deutschen Namen, und sie entgegnete: »Mich deucht, ich wußt' es vorher nicht und hab's von Euch gelernt.«

»Das hast du wohl mit Recht einen närrischen Gedanken genannt, Kind, denn ich kann dich nicht lehren, was ich selbst nicht weiß.«

So setzten sie ihren Weg durch Schnee und Schuttgestein fort, es war erst um die Mitte des langen Mainachmittags, als sie im alten gotischen Kaufhofe eintrafen. Dietwald stellte geschickt mit einigen Holzplatten einen ziemlich geräumigen käfigartigen Verschlag her, in den er die Lerche hineintat; Elisabeth sah freudig zu, wie das Vögelchen ihm vorgestreutes Futter aufpickte. Dann schaute sie in der Stube umher, deren kärgliche Einrichtung ihr nach dem Ausdruck ihres Blickes in fürstlicher Herrlichkeit zu prangen schien. Mit einer scheuen Neugier befühlte sie den Teppich auf der Bank und ging um einen andern am Boden, auf dem ein Abenteuer des ›Reinke Voß‹ eingewirkt stand, herum, ohne den Fuß darauf zu setzen. Am aufmerksamsten betrachtete sie die geöffnet auf dem Tisch liegende Bibel und fragte nach einer Weile zaudernd: »Was ist das?«

»Kannst du nicht lesen?« erwiderte der junge Kaufmann.

Sie blickte auf und versetzte: »Was ist Lesen?« und er sagte sich, daß er eine törichte Frage gestellt, deren Beantwortung er sich selbst zu geben vermocht. Ihm entflog unwillkürlich: »Natürlich kannst du's nicht: wo hättest du es lernen sollen?« Ihr Behaben war schüchtern geworden, nach seiner letzten Äußerung stand sie wortlos, bewegte sich dann ungelenk gegen die Tür und fragte an der Schwelle, auf die Lerche hinüberdeutend, mit halblauter, befangener Stimme:

»Darf ich morgen noch einmal wiederkommen, um nach ihr zu sehen?«

»Gewiß, Kind, wann du willst,« gab er zerstreut, nur halb auf ihre Frage achtend, zur Antwort, und sie ging. Doch wie er aufsah, gewahrte er, daß der vorherige Frohsinn ihres Gesichts sich in eine betrübte Niedergeschlagenheit verwandelt hatte. Er mußte ihr, ohne es zu wollen, mit etwas weh getan haben, und rief ihr jetzt nach:

»Komm, Elisabeth, warte noch!«

Auf den Schrank zutretend, nahm er das Kästchen hervor, das er von Hamburg zur Aufbewahrung mancher Gedenkzeichen seiner Kindheit mitgeführt, und öffnete es vor dem Blick des zaghaft zurückgekommenen Mädchens. Es glitzerte von allerhand geringfügigen Metallsächelchen darin, Ringen, Kettchen und farbigen Steinchen, und er sprach freundlich: »In deinem Alter hat man ein buntes Schmuckstückchen gern, such' dir eines davon aus, das dir gefällt.«

Sie glaubte offenbar nicht, daß er es ernstlich meine, und er mußte seine Aufforderung wiederholen, ehe sie's wagte, derselben nachzukommen, und ihre Hand zögernd in das Kästchen hineinsteckte. Mit natürlicher Bescheidenheit hatte sie das Unscheinbarste ausgewählt, ein kleines, matt verblichenes Goldkreuz, dessen Vorderseite ein kaum mehr erkennbar um einen Buchstaben geschlungener Blätterkranz verzierte. Doch nun hielt die Hand Dietwald Wernekens ihre Finger und er sagte:

»Das nicht, Elisabeth, nimm jedes andere, welches du willst. Das Kreuzchen ist mir besonders lieb, meine Mutter trug es gern, und ich habe als Kind oftmals damit gespielt, wenn ich auf ihren Knien saß.«

Erschreckt ließ das Mädchen schnell das kleine Goldkreuz zurückfallen. Ihre Finger getrauten sich nicht mehr, etwas anderes zu erfassen, so nahm er selbst ein silbernes Kettchen, hängte es ihr um den Nacken und sprach dazu: »Also morgen schaust du nach, ob dein Vögelchen so kräftig geworden, daß wir ihm wieder die Freiheit schenken können.« Sie stand hochrot vor Stolz und freudiger Erregung aufgeglüht und konnte kein Wort hervorbringen. Dann sah er sie draußen ihren Rückweg einschlagen. Sie ließ die linke Hand nicht von ihrem Silberkettchen, bückte sich, zog die Holzschuhe aus und faßte sie in ihre Rechte. So lief sie barfüßig, wie ein glückselig-ausgelassenes Kind, davon. Dietwald blickte ihr lächelnd nach, die niedergehende Frühlingssonne färbte ihre lang herabfallende Haarflechte mit rötlichem Glanz. Als diese sich nicht mehr erkennen ließ, sah es aus, als ob ein großes, weißzottiges Schaf über den Schnee fortspringe.


 << zurück weiter >>