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Die Fahrt gen Stralsund nahm nicht so günstigen Fortgang als der Beginn verheißen. Eh' das Schiff noch den Finnischen Meerbusen verlassen, machte der Winter rauh und wild seine lang verabsäumten Rechte geltend. Nebel fiel ein, und Nordsturm warf das starke Fahrzeug fast eine Woche lang in der Irre umher. Mit schweigsam ernstem Gesicht stand der Schiffer am Ruder und zuckte zu Dietwalds Frage, wo sie auf der Ostsee seien, die Schulter. »Nacht und Nebel sind gleich für Menschenaugen, Herr; Gott steuer's, daß wir nicht auf die schwedischen Schären rennen, denn wir sind weit nach West hinüber.« Wind und Wogengang wuchsen in der Nacht noch höher an, doch die Luft hellte sich mit dem Morgenlicht auf, und nun tauchte linkshin dunkles Land über den Wellenköpfen auf. »Was steigt drüben aus dem Wasser?« fragte der junge Kaufmann, kaum imstande, sich auf dem schwankenden Deck zu halten. Gespannten Blicks lugte der Schiffer eine Weile hinaus, dann rief er:
»Gotland ist's, vom Nord her: gebt acht, in einer Stunde schimmern die Kalkfelsen weiß auf. Wir müssen suchen, daß wir Wisby anlaufen, sonst füttern wir die Fische zur Nacht.« Seine Befürchtung traf ein, der Sturm schwoll von Stunde zu Stunde zum Orkan. Fast willenlos ward das Schiff von ihm fortgerissen, doch in der Richtung auf Gotland zu. Dann bewährte sich sein Führer in seiner Kunst, denn in gefahrvollem Augenblick ließ er die Segel wechseln und gewann dem Steuer die Gewalt über das Fahrzeug zurück. Mit der Leeseite fast in die gärenden Wellen hinuntergedrückt, flog es unter den weißen Kalkfelsen entlang, um ein vorspringendes Riff nun, und im Abendlicht hob sich Wisby aus seiner Bergeinsattelung empor. Als eine mächtige Stadt erschien es, ringshin auf den Höhen in weitem Bogen von vielgetürmter Ringmauer umwallt; zwischen ihrem Halbrund ragten zahlreiche gewaltige Kirchenbauten, am höchsten die doppeltürmige deutsche Marienkirche in die Luft. Doch wie alles näher herankam, unterschied der Blick hier und dort in den ungeheuren Steinmassen nur zerfallende, grasüberwachsene Trümmer, von weiten, häuserlos verödeten Plätzen umgeben; beinahe gemahnte die Anschau an Nowgorod, nur in verringertem Maße der meilenweit gedehnten Ruinenstadt an der Wolchow. Da und dort stand noch ein Haufen Dächer und hochgetreppter Giebel, aus stolzen Tagen der Hanse herübernickend; »als die Goten das Gold auf der Liespfundwage gewogen und die Frauen mit goldenen Spindeln gesponnen«. Dietwald Werneken und Elisabeth maßen stummen Blickes das Bild der versunkenen Größe, mastenlos lag der Hafen, nur einige Boote warfen die Wellen am Ufer hin und her. »Ein Dänenkönig soll einmal die Stadt zerstört haben,« sprach der Schiffer, »danach haben Seeräuber lang drin gehaust. Es ist nicht viel übrig von den silbernen Trögen, aus denen einstmals die Schweine bei ihnen gefressen, wie sie singen: sie sind froh, wenn sie in irdenen Schüsseln selber zu essen finden. Aber gut, daß wir drin sind, Herr, und die Fische nicht von uns schmausen, wenn wir uns auch lang drinnen verschlafen müssen. Denn der Winter läßt sich nicht spotten, er kommt uns weiß vom Russenlande her nach, ich spür' ihn im Gebein, und vor zweien Monden laufen wir ohne Eisschuh nicht wieder in die schwedische See.«
Der Winter war wirklich gekommen, wie es der Schiffer vorhergesagt. Als Dietwald am nächsten Morgen in der ärmlichen Herberge erwachte, darin sie Unterkunft gefunden, rieselte körniger Schnee, die Wasserlachen der öden Plätze zwischen den wenigen noch erhaltenen Gassen zeigten sich mit Eis bedeckt, und schon am Tage darauf schoß harter kristallener Spiegel unabsehbar auch vom Ufer in die See hinaus. Sinnend blickte der junge Kaufmann mit Elisabeth darüber in die Weite, dann schlug er um eine Stunde später, ohne seiner Gefährtin mitzuteilen, was er beabsichtige, den Weg zur Wohnung des evangelischen Pfarrers neben der Marienkirche ein, und um eine Woche nachher traten aus dieser Dietwald Werneken und Elisabeth hervor, ohne festliches Geleit und selbst ohne Kränze auf dem Scheitel, doch mit dem lenzfreudigen Antlitz und dem heimlichen Augenglanz eines eben vermählten Paares. Sie waren sich auch allein genug, und die dürftige Stube der Herberge ließ sie nichts an Raum und Herrlichkeit vermissen. Draußen um sie her lag Schnee wie zu Nowgorod; wenn sie hinausblickten, konnten sie wähnen, noch in dem Kaufhof zu weilen, den sich die stolzen Goten dieser Stadt einst vor Jahrhunderten im fernen Ostland erbaut. Nur saßen sie anders als dort am knatternden Feuer, bedurften nur eines Sitzes, denn Dietwald Werneken hielt sein junges Weib auf den Knien und küßte ihre Augen, die gleich zwei blauen Frühlingsblumen aus weichem, rötlich bestrahltem Schnee hervorsahen. Es war eine gar liebliche Blüte, die er aus dem Russenlande mit sich heimbrachte, oft staunte er, daß es die nämliche sei, die an jenem Maientage so wunderlich auf dem alten Baumstamme gehockt. Dann sprach er lächelnd: »Du bist's, doch mein weißes Lamm, bleibst du auch allzeit bis an unser Lebensziel, nur ist's so klug geworden, daß ich es fast nichts mehr lehren kann. Dein Unterricht war besser als meiner, ich lehrte dich im Buche lesen und auf ein Blatt schreiben, aber ich lernte von dir, in mir selber zu lesen, und du schriebst dich mir ins Herz hinein. So jung du bist, verstehst du dich gar meisterlich auf deine Wissenschaft: ich bin ein eifriger Schüler, laß deine Lippen mich weiter unterweisen, du liebe Lehrerin!«
»Ja, du bist jetzt lernbegierig, wie ich es war,« lachte sie, und ihre blühenden Frauenlippen erfüllten freudig sein Begehren. Oft redeten sie von dem alten Pechler im Walde mit gleichem Bedauern, daß sie ohne Abschied von ihm fortgemußt. »Ob er gleich für die evangelische Lehre nicht Verständnis besaß,« meinte die junge Frau, »einen Bessern, glaub' ich, werde ich auch in deinen hochgerühmten Hansestädten nicht antreffen. Er hat mich durch lange Jahre bewahrt, wie ich damals die Lerche ein kurzes Stündlein, und es wäre wohl ohne ihn, mehr noch als mein Leib, meine Seele im Schnee erstarrt. Das getröstet mich allein, er wird Kunde gewonnen haben, daß du mich mit dir fortgenommen und wir gerettet worden. Da weiß er mich glücklich, und er begehrt nicht andres für sich selber.«
Manchmal auch kam Dietwald auf Folka Wulflams seltsam plötzliches Scheiden zurück. Rätselhaft war's ihm, wie beim Anblick des Meeres das alte ungestüme Blut, das ihr von jenem seeräuberischen Wisimar als Erbteil gefallen schien, unwiderstehlich aufs neu' in ihr erwacht sei, um sie wieder in Wind und Welle hinaufzutreiben, gleichwie dieser abenteuerliche Drang sie auch nach Nowgorod geführt. Dann hörte Elisabeth schweigend zu. Einmal fragte er: »Glaubst du, daß sie bald von ihrem Sturmverlangen gesättigt sein und nach Hamburg kommen wird, um bei uns zu bleiben?« Da schüttelte Elisabeth Werneken stumm verneinend den Kopf. Doch so oft sie von Folka Wulflam redete, kamen die Worte ihr aus warmem Herzen herauf.
Es waren Wochen strengen, doch schönen, heitern Winterfrostes, in den oftmals glänzende Sonne leisen Anhauch einer Frühlingsahnung hineinwebte und mit ihr den kurzen Tag hindurch zum Aufenthalt ins Freie hinauszog. Hand in Hand wanderten die jungen Ehegatten alltäglich zwischen den schwermütigen Überbleibseln der einst reichsten und gepriesensten Stadt des Nordens umher. Weit klang in der klaren Luft jeder Schall, der Lachruf einer Möwe oder der scharfe Schrei eines kreisenden Seeadlers herüber, sonst herrschte gemeiniglich lautlose Ruhe ringsum. Nur eines Nachmittags scholl das Gelärm von Hacken- und Karsthieben durch die Stille und lockte die beiden Wandernden hinzu. An einer Stelle der Ringmauer war eine Anzahl von Männern beschäftigt, mit Eisenstangen und Äxten die Steine eines alten Turmes zu lockern und herauszubrechen; Dietwald fragte, zu welchem Zweck sie ihre Arbeit betrieben. »Wollen aus den nutzlosen Steinen Viehställe aufbauen, Herr.« Mit Teilnahme betrachtete der junge Kaufmann das starke, festen Widerstand leistende graue Gemäuer, ihm fiel auf, daß es keinen Zugang besaß, wie die benachbarten andern Warttürme, und er sprach Verwunderung darüber aus. »hat wohl auch einmal eine Tür gehabt, Herr,« versetzte einer, »sie heißen ihn den Jungfernturm, drin soll vor undenklicher Zeit eine Dirne, welche die Stadt an den Feind verraten, lebendig vermauert sein. Schauet, da sieht's aus, als wär's anderes Gefug.«
Er wies auf eine Stelle der Bresche, die sie hineingebrochen, die Lücke war so weit geworden, daß einer der Arbeiter ins Innere des Turmes hindurchkroch. Er mochte Schätze drinnen vermuten, doch kam bald enttäuschten Gesichts zurück. »Man erstickt drin vor fauler Luft,« sagte er, »kein Heller, nichts als Schutt, Gewürm und das da.«
Seine Hand hielt etwas; wie Dietwald unwillkürlich die seinige danach streckte, war es ein fast schneeweiß abgebleichter Totenschädel eines kleinen Menschenkopfes, die leeren Augenhöhlen boten den unvermeidlichen knochigstarren, unheimlichen Ausdruck, doch sonst besaß er in seiner schmächtigen Gestaltung beinah etwas zierlich Anmutvolles. Unverkennbar hatte er einem jungen Weibe angehört, selbst ein Teil der kleinen, bläulichweißen Zähne war noch erhalten. »Ein seltsames, namenloses Gedächtnis der Vergangenheit,« sagte Dietwald Werneken ernst. Er zog eine Geldmünze hervor und fügte hinzu: »Euer Fund ist für Euch wohl ohne sondern Wert, Freund; laßt mich ihn als ein Gedenken an Wisby und als einen beredten Mahner mitnehmen, daß alles Menschenlebens Lust oder Leid so endet.«
Der Finder gab bereitwillig das Verlangte hin, gleichgültig hinzufügend: »Es wird die Jungfer gewesen sein, die in dem Turm verhungert ist.« Elisabeth schauerte zusammen, mit Dietwald zurückschreitend flüsterte sie nach einer Weile: »Die Unselige – kannst du's dir denken, daß einmal rote Lippen über diesen Zähnen gelebt und wohl auch jemanden geliebt und geküßt haben?« Sie erschrak, denn bei ihrer deutenden Vorbewegung hatte das kleine Goldkreuz, das sie auf der Brust trug, hervorgleitend mit leise klingendem Ton den weißen Totenkopf gestreift, und hastig barg sie's unter ihr Gewand zurück.
So schritten die Tage bis in den Aprilmond hinein, da brach die See das Eis im Hafen Wisbys, daß es in Schollen dahintrieb, und über das befreite Wasser kam, einer ersten Frühlingsschwalbe gleich, ein weißes Segel vom Süden herauf. Doch brachte es gar schlimmtönigen Gesang mit sich, als erste Kunde, welche Dietwald Werneken seit dem Briefe Jordan Warendorps von Lübeck und den Dingen des Westens empfing. Mit schmerzlichem Gedächtnis vernahm er zuvörderst abenteuerliche Botschaft, wie vor zweien Jahren der Ritter Marx Meyer, gefangen auf Wardbergschloß gehalten, sich durch einen kühnen Anschlag zum Herrn des letztern gemacht und sich darin Jahr und Tag so gewaltig verteidigt gehabt, daß er allein mit einer Handvoll unerschrockener Genossen den beendeten Krieg gegen die Könige von Dänemark und Schweden fortgesetzt und stets noch weiter geplant, mit Beihülfe König Heinrichs von England Christiern den Zweiten aus dem blauen Turm in Sonderburg zu befreien und auf den dänischen Thron zurückzubringen. Oftmals von den Führern des ihn umschließenden mächtigen Belagerungsheeres zur Übergabe aufgefordert, hatte er geantwortet, »lieber sich den Türken als den falschen Holsten zu unterwerfen«, und furchtlos die vom Feindesgeschütz in die Mauern seiner Burg gebrochenen Lücken mit Wollsäcken zugestopft. Doch zuletzt vom Hunger und dem Murren seiner lang unbesoldeten Knechte gezwungen, hatte er Wardbergschloß gegen Auszahlung einer Summe Goldes und Sicherung des Leibes und Lebens für sich und die Seinigen überliefern gemußt, solche ehrliche Zusage des deutschen Feldhauptmanns der Belagerer jedoch, der dänische und holsteinische Adel, treulos gebrochen und in unbändigem Haß sich des aus den zerschossenen Wällen Hervorschreitenden mit Gewalt bemächtigt, um ihn in die Hand König Christians des Dritten zu geben. Da war er in Eisen geschmiedet, auf der Folter ihm das Eingeständnis zahlreicher Verbrechen, die er begangen haben solle, abgerungen und Marx Meyer alsdann zu Helsingör enthauptet, sein Leib gevierteilt und aufs Rad gebunden worden. Das war bereits geschehen, als im verwichenen Jahre der kurze Sommer noch über Nowgorod gelegen, daß an einem offen-ehrlichen, tapfern deutschen Herzen nach Jordan Warendorps Wort wieder einmal »die Welt mit großer Falschheit umgegangen«.
Doch mit noch tieferer Betrübnis vernahm Dietwald Werneken eine zweite Kunde. Es hatte sich gegen den Herbstbeginn der Vogt von Bergedorf, Jürgen Wullenweber, von der Stadt Hamburg aus auf einer Reise ins Land Hadeln begeben, und wie es offenkundig geworden, sogleich geheim der wiedergekehrte Lübecker Burgemeister Nikolaus Brömse Sendboten an den Erzbischof Christoph von Bremen, einen der glaubenswütigsten Päpstlichen, geschickt, derselbe möge eilig den günstigen Anlaß wahrnehmen, den Feind der römischen Kirche, des dänischen Königs wie des Adels und der Geschlechterherrschaft in seine Gewalt zu bringen. Und auf dieses Anstiften hin war trotz dem kaiserlichen Landfrieden der Lübecker Amtmann von Bergedorf durch Knechte des Eizbischofs auf freier Straße ›als geleitlos‹ überfallen und in einen Kerker zu Rotenburg im Bistum Berben geworfen worden. Dort hatten sich , wie ein Rabenschwarm um den angeketteten Adler, alle Todfeinde des ehemaligen Burgemeisters versammelt, ihn durch ›Meister Kord‹, den Büttel von Bremen, mehrfach auf der Folter ziehen, renken und schrauben lassen und ihm, von namenlosem Schmerz überwältigt, ein Zugeständnis aller seiner ausgeführten und beabsichtigten Verbrechen abgenötigt. Als todeswürdigste derselben habe er bekannt, daß sein Plan gewesen, burgundische Truppen durch das Mühlentor nach Lübeck hineinzuschaffen, den Altburgemeister und alten Rat daselbst zu ermorden, sich zum obersten Regenten der Stadt zu machen und im Verein mit Johann von Leyden, dem ›Könige zu Münster‹, das Wiedertäufer-Unwesen dort einzuführen. Es seien diese ihm entpreßten Aussagen zwar so widersinnig und jedes Menschenverstandes bar, daß kein halbwegs Vernünftiger ihnen einen Glauben beimessen könne, doch geschickt aufgebracht, um den Haß des niedern Volkes durch Anschuldigung des beabsichtigten Verrates der Stadt gegen ihn zu reizen, und zumal flöße den Gedankenschwachen nichts besinnungsloseren Schreck ein, als eine Vorstellung, daß sie von gleichen Greueln, wie solche zu Münster geschehen, bedroht sein könnten. Das hätten auch alle Pfaffen, die lutherischen wie die päpstlichen, bald mit kluger Spürkunst herausgewittert und Herr Hermann Bonnus, der evangelische Superintendent, besonders mit tiefer christlicher Bedauernis öffentlich zu verstehen gegeben, daß »der von der Natur nicht ungeschickte, doch in seinem Vornehmen unbeständige Mann« nach seinem Dafürhalten schon seit langem heimlich ein Anabaptist gewesen, wie er es nunmehr auch unter der Pein zubekannt. Es sei das alles aber von Fürsten, Adel, Geschlechtern und Geistlichkeit nur ersonnen, den gewaltigen Mann, vor dem sie auch nach seinem Abscheiden vom Burgemeisterstuhl Lübecks in ständiger Furcht gelebt, um Hand und Hals zu bringen. Und da viel fremde Herren, selbst der englische König und die Königin Maria in den Niederlanden, sich eindringlich für den Beklagten verwandt und begehrt hätten, man solle den wider alles Recht unfrei Gemachten aus der Gefangenschaft lösen, so habe der Erzbischof von Bremen ihn seinem Bruder, dem Herzog Heinrich zu Braunschweig und Lüneburg, wohl dem hinterhältischsten und rachgierigsten unter allen deutschen Fürsten der Zeit, in die Hände geliefert, und sei Jürgen Wullenweber seit einiger Zeit aus dem Verlies von Rotenburg in einen erbärmlichen Kerker des Schlosses Steinbrügge, unfern der Stadt Wolfenbüttel, fortgeschleppt worden.
Tief erschüttert hörte Dietwald Werneken diese Botschaft, und trotz seinem jungen Eheglück vermochte er kaum eine leidvoll herzklopfende Ungeduld über die Tage zu zügeln, die er noch in Wisby zuwarten mußte, ehe das Schiff, welches die bösen Nachrichten überbracht, gen Lübeck zurückkehrte. Dann stiegen aus sonniger Luft, schon über den blauen See noch, fern und hoch die mächtigen Türme an der Trave vor ihm auf, doch unheimlich, fast gespensterhaft erschien ihm ihr weither winkender Gruß. Und als er nun mit Elisabeth durch die Gassen Lübecks hinschritt, da war's ihm, als wehe es mit einer Grabesluft aus den Häusern hervor, frostiger als der Eiswind zu Nowgorod, und als starrten entgeistert leere Augen aus all den Gesichtern, die sich gleichgültig unbekümmert in den Straßen drängten, redeten und lachten. Nur im Hause der Dankwardsgrube begrüßte warmer, herzensfreudiger Empfang der hochstaunenden Bewohner die unvermuteten Ankömmlinge, und es dauerte geraume Weile, bevor Jordan Warendorp und Frau Erdmute alles, was sie vernahmen, als glaubhaft vor Augen und Ohren stand, denn der Brief, den Dietwald von Nowgorod aus abgesandt, war nicht an sein Ziel gekommen. Immer aufs neu' faßte Erdmute Warendorp die Hände ihrer fremden, unter dem Schnee heraufgewachsenen Verwandten, hielt sie in den Armen und küßte sie und tauschte dazwischen mit Dietwald Werneken manchen freudvoll nickenden, lächelnd redenden Blick. Noch als zuletzt die jungen Frauen verschlungenen Arms das Gemach verlassen, um in die Kinderstube hinüber zu schlüpfen und dort traulich selbander Zwiesprache zu führen, da fiel rasch ein trüber Schatten über die beiden zurückgebliebenen Männer. Dietwald erfuhr jetzt, was im Verlaufe der letzten Wochen geschehen, daß die Verfolger Jürgen Wullenwebers lang unschlüssig umhergesonnen, wie sie einen Richterstuhl ausfindig machen könnten, der es auf sich nähme, einen Urteilsspruch über den ehemaligen Burgemeister Lübecks zu fällen. Die Klage wider ihn hätte vor den Hansetag oder das kaiserliche Reichskammergericht zu Speyer gehört, allein bei diesen beiden würde das heimliche Gewebe von Landfriedensbruch, Gehässigkeit, Unzuständigkeit und Gewalttat, die an dem Beklagten verübt, öffentlich bloßgelegt worden sein, und deshalb hatten seine Verderber ihn vor kurzem unter der verlogen schönredenden Vorgabe, ›das ehrliche Land richten zu lassen‹, vor ein niederes, völlig von Wink und Weisung der Räte Herzogs Heinrich von Braunschweig abhängiges Bauerngericht gestellt. Zwölf Bauern des Landes zwischen Wolfenbüttel und Hildesheim, nur gewöhnt, als Schöffen den Wahrspruch gegen gemeines Verbrechen an Hab und Gut zu finden, sollten auf die ›Urgicht‹ des insgeheim Gefolterten ein Urteil über das vormals gebietende Oberhaupt der deutschen Hanse sprechen. Und vor solchem Gericht traten König Christian der Dritte von Dänemark, der Adel Holsteins, der gegenwärtige Burgemeister und Rat der Stadt Lübeck, die römische Geistlichkeit wie die Gottesgelahrten der evangelischen Kirche in den Städten als Bekläger auf.
Wie Dietwald Werneken dies vernommen, reifte alsbald die Absicht, mit der er bereits in Lübeck eingetroffen, ihm zum Entschluß, sein junges Weib einstweilen unter der Obhut Jordan Warendorps und Frau Erdmutes zu belassen und noch am selben Tage eilfertigst zu Roß gegen Süden weiterzuziehen, den Mann, wider den sich soviel Todfeinde seiner hochfliegenden Gedanken zusammengeschworen, um ihn zu verderben, womöglich noch einmal auf Erden unter den Lebenden vorzufinden. Es war ihm wie ein Gelöbnis, das er damals beim Abschied Jürgen Wullenweber geleistet, ihm die Hand noch wieder zu reichen, und wie eine heilige Pflicht, dem von allen Verlassenen in letzter Stunde zur Seite zu sein. So ritt er mit bitterlichen Gedanken von dannen und kam nach einer Woche gen Steinbrügge ins Wolfenbüttler Land.
Dort hatte inzwischen das Bauerngericht auf die ihm vorgehaltene Urgicht des Gefolterten gar rasch seinen Spruch erkannt, »das ehrliche Land finde zu Recht, er möge es ohne Pein und Strafe nicht getan haben« und »der Scharfrichter möge ihm das Urteil finden«. Als Kläger des Lübecker Rates aber waren die Ratsherren Johann Krevet und Klaus Hermeling zugegen und hatten eifrig den Stadthauptmann von Wolfenbüttel ermahnt, »allen Fleiß anzuwenden, daß die bewußte Sache mit Wullenweber allda ihre Endschaft erreiche und der König von Dänemark zur peinlichen Verfolgung seine Gesandten mit den Lübischen zur Stätte schicke, damit ihnen die Sache nicht allein zugeschoben werde«. Zu seinem ungläubigen Staunen jedoch vernahm Dietwald Werneken, daß der Verurteilte vor dem Gericht seine Folteraussagen wiederholt bekannt habe, es sei in seinem Plan gewesen, sich der Stadt Lübeck mit burgundischer Beihülfe zu bemächtigen, dort Wiedertaufe und Güterverteilung auf offenem Markt unter Bedrohung mit Galgen und Rad einzuführen, sowie Herrn Nikolaus Brömse und dessen gesamten Anhang zu ermorden. Kaum traute der junge Kaufmann seinem Gehör bei dieser Mitteilung und sprach sich, es müsse auch dies fälschlich unterschobene Lüge sein. Es gelang ihm anfänglich nicht, Zutritt zu Wullenweber zu erreichen, denn dieser wollte in den letzten Stunden seines Lebens niemanden bei sich wissen, hatte auch einem lutherischen Pastoren, der ihn tröstlich auf den Tod zu bereiten gedachte, die Annahme geweigert. Doch als Dietwald seinen Namen auf ein Blättchen geschrieben und hineingesandt, ward ihm zur Antwort, der also heiße, sei willkommen.
So trat er in das enge, trüb erhellte, von zehn Fuß dicker Mauer umschlossene Kerkerverlies ein, darin sein Blick, aus der Sonne gekommen, zunächst fast nichts unterschied. Dann gewöhnte sein Auge sich an den ungewissen Tagesschein, und er stand, keiner Sprache mächtig, im Innersten erschüttert. Vor ihm auf einer Holzpritsche lag die Hünengestalt Jürgen Wullenwebers gebrochen ausgestreckt, nur notdürftig bekleidet, daß der Anblick den hereintretenden mit einem Schauer an die Nacht gemahnte, in welcher der Burgemeister Lübecks, von rotem Fackellicht blutig angestrahlt, im Schlafgewand auf die glimmernde Panzerrüstung des Ritters Marx Meyer gestützt, durch die Tür seines Hauses zurückgeschritten. Abgezehrt, ergrautes Haar und Bart um ein erdfahles Gesicht, richtete er sich jetzt empor, trat mühsam, sichtlich mit heftigem Schmerz die Herrschaft über seine schlotternden Glieder erzwingend, einen Schritt gegen den Ankömmling heran und sprach, die knochenhagere Rechte vorstreckend:
»Ich erkenne Euch, Werneken, meine Augen sind mir noch verblieben. Ist anders geworden, als wir damals beim Abschied gedacht, weiß noch wohl, was wir gesprochen, und hab' Euch im Gedächtnis bewahrt. Wäret bald zu spät gekommen, Eure Zusage zu erfüllen, mir noch einmal die Hand zu reichen – als Ihr ginget, kamen viele und trugen Begehr nach mir – ist sehr leer geworden von guten Freunden, Werneken. Verübelt's mir nicht, wenn ich Eurer Hand nicht festern Gruß biete, es sind in meiner nicht alle Knochen so verblieben, wie die Natur sie geschaffen, und verstattet mir, wieder zu sitzen. Wir saßen wohl einmal besser beisammen – hättet Ihr in der Nacht damals die Marder in meinem Hause nicht aufgestört, da läg' ich jetzt auch schon besser. Was redeten wir bei unserm Abschied – daß es nur Befriedigung werbe, sonder Eigensucht Kraft und Leben an ein Werk zu setzen, andrer Wohl zu fördern? Mir kommt's so, habe manchmal dran gedenken müssen – waren sehr jung damals, Werneken – waren wohl weintrunken, glaub' ich, daß wir für andere Sorge tragen wollten, für Blinde sehen und Tauben predigen. Habt auch das gleiche Geschäft betrieben im Schnee zu Nowgorod? Was war's? Wahrheit, Mut und Klugheit wollten wir aufrecht halten, sprach meine Zunge –«
Manchmal laut verständlich, zuweilen halb vor sich hinmurmelnd hatte er geredet, nun brach er mit einem bitterherben Auflachen ab. Der junge Hörer saß stumm, ihm preßte der Anblick noch wortlos das Herz, und der Gefangene wiederholte:
»Wahrheit und Mut – habt wohl vernommen, daß nur die Klugheit auf meiner Zunge übrig geblieben –« Dietwald entgegnete ohne Verständnis der letzten Worte, halb unbewußt: »Ich habe nur das Lügengerede vernommen, das über Euch ausgeht, Ihr hättet vor dem Gericht freiwillig –«
Er stockte vor dem auf ihn gerichteten geisterhaften Blick Wullenwebers. »Freiwillig –« sprach dieser wie ein dumpfes Echo nach – »ja –« und er schwieg. Erst nach einer Weile fügte er drein: »Strafet nicht Lügen, die es nicht verdienen.«
»Unmöglich – Ihr hättet?« und Dietwald starrte ihn wie betäubt an.
»Die Klugheit noch einmal wiedergefunden, Werneken, die ich lang genug eingebüßt, heißt's Feigheit – die Seele ist schwach, so lang sie am Fleisch klebt, hättet Ihr eine 'Reise' auf der Leiter gemacht wie ich, Ihr schautet mich nicht so an. Als sie mich zum drittenmal aufgezogen, sprach der Herzog dazu, wenn ich anders antworte, als gefragt worden, koste es mir das Leben in den Peinen.«
Kalt überschauert entgegnete der Hörer ungewiß: »Doch ohne Folterqual, redeten sie, hättet Ihr wiederholt –«
Jürgen Wullenweber hob ihm das weiße Gesicht entgegen: »Ja, ohne Folterqual. Nur sprach mir einer, es sei für den Wiedertäuferkönig zu Münster ein eiserner Käfig auf der Spitze des höchsten Turmes bereitet worden, in welchem er, bis an den Kopf eingeschlossen, lebendig den Raben als Atzung gedient, und sei schade drum gewesen, daß es die Winterzeit nicht zugelassen, um ihn mit Honig zu beschmieren, damit das Ungeziefer an seinen Leib gelockt werde. – Es ist Sommerszeit draußen, Werneken – und ich hab' ohne Folterqual vor dem ehrlichen Gericht ausgesagt, was man von mir begehrt.« Die mächtige Gestalt sank lautlos auf den Holzbrettern zusammen, es blieb grabesstill, auch Dietwald Wernekens Mund schwieg, von namenlosem Schmerz und Grauen verschnürt. Nach einer langen Pause murmelte Wullenweber nur halblaut: »So tut's das Schwert.«
Doch zugleich sprang er in alter Kraft von seinem harten Lager auf, ergriff eine Kohle und schrieb hastig mit großen Zügen an die Kerkerwand:
»Vor meines Heilands Richtstuhl: Ich war kein Dieb, kein Verräter, kein Wiedertäufer – dessen mög' er mir die Wahrheit bezeugen!«
»Da steht's, Werneken, redet's, wenn meine Zunge stumm geworden!«
Tief erschüttert streckte Dietwald ihm die Hand entgegen. »Ich will's – ich wußt's auch ohn' Euer Wort.« Zögernd hielt er einen Augenblick an, eh' er hinzusetzte: »Ihr gedenkt unseres Heilands – verlangt Ihr nicht nach einem Diener seines Wortes?«
Doch der Befragte erwiderte kopfschüttelnd: »Laßt sie draußen, sie sind Diener derer, welche die Macht auf Erden halten. Ich bedarf des Evangeliums, nicht ihrer, das trag' ich in mir. Nach des reinen Glaubens Obsieg hab' ich getrachtet und nach der Hanse altem Ansehen, Stolz und Herrlichkeit; von beiden wissen und wollen die Menschen nicht. Eine Schuld nehme ich mit mir hinüber vor die Barmherzigkeit Gottes; sie hat an meinem Leben gefressen und es aufgezehrt. Ihr seid Christ der reinen Lehre, Werneken, laßt mich Euch besser als einem Priester beichten, was allein mich in letzter Stunde anklagt.« Die gebrochene Kraft Wullenwebers hatte sich wundersam aufgerichtet, körperlich und geistig eine edle, ruhige Festigkeit zurückgewonnen. Die Hände ineinander faltend, fuhr er fort:
»Ihr seid ein Mensch und könnt mich nicht von meiner Schuld lösen, nur ihr reuiges Bekenntnis anhören und mit mir beten, daß sie mir vergeben werde. Ich habe die Treue gebrochen an König Christiern dem Zweiten. Obzwar ich meine Schrift nicht mit unter den Geleitsbrief gefügt, der ihn nach Kopenhagen verlockt, liegt mein Gewissen doch beschwert seit jenem Tag. Denn mein Mund riet König Friedrich, seinem Ohm, Eid und Wort nicht zu achten und Christiern gefangen zu setzen nach Holland. Des hab' ich schwer gebüßt auf Erden und vergeblich es auszusühnen getrachtet. Nun tu' ich's hienieden mit meinem Leben; möge der zu Sonderburg arg Gehaltene droben nicht wider mich klagen und die ewige Gerechtigkeit Gnade an mir üben. Amen!«
»Amen,« wiederholte Dietwald Werneken ernstbewegt. »Da ihr Eure Schuld bereuet, spricht unser Heilsglaube, wird sie Euch vergeben werden.«
Eine Erinnerung tauchte in Dietwald empor und aus dem Geständnis Wullenwebers fiel ihm plötzlich ein erhellender Blitz über ferne Stunde zurück. Unwillkürlich sprach er: »Einer wußt' es schon zuvor.«
»Nein, niemand als König Friedrich allein.«
»Dann vermutete es Euer Freund, als wir beisammen im Ratskeller saßen.«
Nun verwandelten sich die Züge des Gefangenen anders als vorher zu einem schmerzlichen Ausdruck. »Marx Meyer – ich hätt' ihn gern noch einmal gesehen.«
»Ihr habt nicht gehört –?«
Es war Dietwald entfahren; da er jäh anhielt, fragte Wullenweber: »Was?«
Im Ton des kurzen Wortes und im Blick, der ihn begleitete; lag etwas fest und unabweislich Verlangendes; einen Augenblick zauderte der junge Kaufmann noch, dann berichtete er stockend, was er zu Wisby vernommen. Während er sprach, setzte Jürgen Wullenweber sich langsam auf sein Holzlager zurück und legte die beiden hagern Hände vor sein Gesicht. Als Dietwald schwieg, kam nur nach einer Weile ein halb erstickter Ton zwischen den Fingern hervor:
»Marx –«
Dann sah der einstmalige Burgemeister Lübecks auf. »Durch Treubruch untergegangen, wie Christiern. Hat er meine Schuld so abbüßen gewollt? Es säh' ihm gleich–«
Eine große Träne fiel von seiner Wimper auf die Knie, und sein Kopf nickte: »Aus einer Welt gegangen, die für seine ehrliche Seele zu voller Falschheit war. Ich kenne ihn, er steht droben und wartet, bis ich komme, eh' er selber hineingeht. Wir hätten's auch auf Erden mitsammen gemacht, Marx, wenn die Väter noch gelebt!«
Einen Augenblick schlug ein alter, flammender Blitz zwischen Jürgen Wullenwebers Lidern hervor, doch schnell gewannen seine Augen ruhige Gelassenheit wieder. Er streckte die Hand aus und sprach:
»Habt Dank, Werneken; Ihr habt die letzte Last von mir genommen, daß ich sein argloses Herz nicht in solcher Welt zurückgelassen. Ihm hätt' kein Trunk mehr gemundet, nun geh' ich leicht. Laßt uns nicht mehr von mir reden, sondern von Euch, was Ihr im Schnee zu Nowgorod befahren.«
Es fiel Dietwald schwer, dem Geheiß nachzukommen, doch sichtlich entsprach er damit einem ernsthaft gemeinten Begehren des Gefangenen, der nicht wie ein zum nahen Tod Bereiteter, sondern mit lebendiger Anteilnahme und Aufmerksamkeit dem Bericht zuhörte, daß der Erzählende für Augenblicke fast vergaß, unter welchen schaurigen Umständen er spreche. Als er geendet, erwiderte Wullenweber: »Ihr habt wie Maria das bessere Teil erwählt, das ist auch noch eine Tröstigung für mich. Wäret zwar, wenn es möglich gewesen, besser mit Eurem jungen Weibe zu Naugard verblieben, statt in eine unserer Städte zu kehren. Doch Ihr habt das Glück gefunden, das dem Menschen in deutschen Landen wohl allein übrig bleibt, und werdet wissen, es zu bewahren. Bewahret auch mein Angedenken, und nun lasset mich allein, Werneken, denn der Tag geht zu End', und ich hab' noch einmal Rechnung mit mir selber abzutun. Nur sagt mir noch etwas im voraus mit Eurer Hand zu, ob es Euch schwerfallen mag: morgen früh nicht zu fehlen, daß mein letzter Blick eines Freundes Antlitz gewahrt; wird außer dem Eurigen kein zweites dabei sein. Gott befohlen, Freund; wir reichen uns diesmal zum letzten die Hand, aber wir sehen uns doch wieder, dessen haben wir gelebt und sterben wir. Es ist nicht schwer, Marx nachzugehen und Feierabend zu machen, denn das Leben bedünkt mich als eine Arbeit, die gar geringen Lohn trägt.« Es waren die nämlichen letzten Worte, welche Böske Westerling, der Pechler im Walde, einmal zu Dietwald Werneken gesprochen; zum gleichen Endergebnis wie jener gelangt, schloß Jürgen Wullenweber mit dem Leben ab. Schlaflos verbrachte nach dem Abschied der junge Kaufmann die Nacht, und doch erschien's ihm kurz, bis das Frühlicht anbrach und mit diesem tausendfältiges Stimmengetöse das Zuströmen einer ungeheuren Volksmasse von allen Seiten kundgab. Dann war's noch wenig erst vorgerückte Morgenstunde, als Dietwald Werneken auf der alten Malstätte ›am Tollenstein‹ unfern der Stadt Wolfenbüttel nach seinem Handgelöbnis dicht neben der Richtstatt stand und Jürgen Wullenweber hinter »Meister Hans« und seinen Schobanden durch die freie Gasse der Menge daherkommen sah. Sichern Schrittes und hochaufgerichteten Hauptes trat der Altburgemeister Lübecks herzu, als steige er zu einem Ehrensitz über den Köpfen empor. Dann bat er den Großvogt Herzogs Heinrich von Braunschweig um Verstattung eines letzten Wortes zu denen von Lübeck, die bei seinem Tode gewärtig seien. Ungewiß zögernd, folgten auf die Forderung des Vogtes die beiden Ratsherren Johannes Krevet und Klaus Hermeling aus einem Winkel hervor, in dem sie sich ungesehen verborgen, und der erstere schritt frech gegen die Richtstatt vor und fragte:
»Jörg, willst du mein was?«
Doch gleich darauf schlug er scheu die Lider herunter, denn noch einmal flammte aus dem gelassenen Antlitz Jürgen Wullenwebers jetzt ein machtvoller Strahl stolzer Verachtung auf und er rief mit weithinhallender Stimme: »Danach habt ihr, Klaus Hermeling und Johann Krevet, lange gestanden, wohl vor drei Jahren, daß ihr mir bei Nacht wolltet ins Haus fallen, mich zu fangen; allein Gott der Allmächtige wollte das nicht zulassen. Nun ist es euch doch geraten, das will ich Gott geben. Es ist mit mir hier eine geringe Zeit, lasset mir noch diese Worte, dann will ich gern sterben. Ich sage auch vor der ganzen Welt, daß nicht wahr ist, was ich geredet, daß ich kein Dieb, kein Wiedertäufer, kein Verräter gewesen, wie ihr wisset, daß ich es nur aus Marter und zur Rettung meines Lebens gesprochen. Nunmehr bin ich meines Gewissens und der Welt ledig und warte vor dem Angesicht des Ewigen bessern Gerichts.«
Damit kniete Jürgen Wullenweber, mit einem letzten ruhvoll verwandelten, Abschied grüßenden Blick das Gesicht Dietwald Wernekens suchend, nieder, und empfing regungslos den tödlichen Schwerthieb, von dem sein mächtiger Kopf zur Erde hinabstürzte. Stumpfsinnig und blöd sah die Masse des gaffenden Landvolkes drein, sie begriff nicht, was in dem Augenblick geschehen, daß ein hochgesinnter Freund des Volkes, ein großer deutscher Bürger, wie keiner wiederkehren sollte, dem vereinigten ingrimmigen Haß von Fürsten, Pfaffen und Junkern erlegen. Wohl mochte manchem von diesen das übertäubte Gewissen unruhig an die Brustwand hämmern, doch nur heimlich wagte ein Chronist an den Rand seines Berichtes über Jürgen Wullenwebers Tod ein rotflammendes Schwert zu malen und daneben zu schreiben: »Das hat er nicht verdient!« und hernach bei der Schilderung des gevierteilten Rumpfes beizufügen: »Das hatte Herzog Heinrich besser verdient!« Und nur ein Volkslied auf den Gassen Hub gar bald an zu singen:
Die von Lübeck mögen in allen Tagen
Den Tod Herrn Jörg Wullenwebers beklagen.
Dietwald Werneken aber sprach schweren Sinnes in sich hinein: »Das ist der deutschen Hanse Ausgang und End'.«
Und das sprach er sich zu wahr nur. Obwohl der Name noch ein Jahrhundert lang ein Scheinleben weiterführte, war's nur ein langes Zucken des Todeskampfes. Der letzte Mann war dahin, der die Zeit zurückführen gewollt, in welcher der deutsche Bürger ohne Beihülfe von Kaiser und Reich als Kaufmann durch Meere und Länder in die Ferne gezogen, mit seinem Wissen, seinem Mut und seinem Schwert dem deutschen Namen Achtung unter allen Völkern des Nordens zu erwerben. In hochfahrendem Trotz ihres Stolzes und ihrer Macht hatte die Hanse Wohl manchmal schweres Unrecht gehäuft, doch wenn ihr Niedergang eine Buße der Gerechtigkeit in der Menschengeschichte bildete, so erlitt sie das gesamte deutsche Volk. Wo Deutschland durch Jahrhunderte mit hansischen Koggen die nordischen Meere beherrscht, schalteten Engländer, Niederländer, Dänen und Schweden in ungebundener Willkür. Fürsten und Junker zertraten für andere kommende Jahrhunderte den letzten Rest freien deutschen Bürgertums auf dem Lande, und gleichgültig ließen sie den Fremden die Meeresherrschaft Deutschlands, die stolze Errungenschaft der ›Deutschen Hanse‹.
Dietwald Werneken sah Jürgen Wullenwebers Kopf in den blutbeströmten Sand niederrollen, weiter ging sein Gelöbnis und seine Kraft nicht. Ehe der Leib des heimtückisch Ermordeten nach dem Spruch des ›ehrlichen Gerichts‹ gevierteilt und auf vier Räder gebunden wurde, bestieg der junge Kaufmann sein Pferd und ritt in tiefernsten Gedanken gen Norden davon.
Er wandte sich gegen Hamburg, doch bog, ehe er dorthin gelangte, bei der Stadt Lüneburg von der Landstraße ab, so daß fast eine Woche verging, bevor er auf einem Umwege in seinem väterlichen Hause eintraf. Hier vollzog er mannigfaltige, wohlübersonnene Anordnungen, nahm auch das von ihm hinterlassene Testament aus dem Schrank, in welchem er für den Sterbefall seine Habe der Stadt Hamburg zur Besoldung eines lutherischen Predigers vermacht, und riß mit einem bittern Zucken um den Mund das Blatt entzwei. Dann ritt er weiter gen Lübeck, doch verweilte nicht lange dort, sondern zog nach herzlichem Abschied von Jordan und Erdmute Warendorp schon am folgenden Tage mit Elisabeth wieder gegen Süden hinab. Bei Oldesloe aber bog er von der Hamburger Straße zur Linken, übernachtete im Städtchen Lauenburg und setzte am nächsten Morgen früh mit einer Fähre über die Elbe. Von dieser aus ritten sie weiter durchs ebene Land, aus dem nach Stunden einige hohe Kirchen vor ihnen aufstiegen. Doch zwischen diesen breiteten sich seltsame leere, häuserlose Strecken, nur da und dort von etlichen zusammengehäuften Giebeln und Dächern überragt. Aber freundlich sah das Ganze aus schweigsamer grüner Umrahmung auf. Nun fragte Elisabeth verwundert: »Ist das Hamburg? Das hatte ich mir anders gedacht, mich deucht, es gemahnt fast an Nowgorod.«
Dietwald Werneken hielt an und faßte ihre Hand. »Drum dacht' ich, würde es dir auch lieb sein, Elisabeth. Du sagst's, es ist nicht Hamburg; mir ist's leid geworden in den Städten unter den Menschen unserer Tage zu wohnen, drum hab' ich da drüben auf meinem Rückweg von Wolfenbüttel ein Haus für uns angekauft, daß wir wie im gotischen Kaufhof, nur traulicher und ohne den langen Schnee, allein drin miteinander leben. Es ist unfern nach Hamburg hinüber, wenn dann und wann mein Handelsgeschäft mich beruft.«
Erstaunt noch, doch freudigen Blicks sah die junge Frau drein.
»Wie heißt denn unser Wohnort?«
»Du hast den Namen nie gehört, es war einstmals eine mächtige Stadt wie Nowgorod, sie heißt Bardewieck. Als Knabe war ich einmal dort mit meinem Vater, und sie zog mich seltsam an in ihrer heimlichen Stille, daß ich oft in Träumen ihr Bild vor mir gesehen. Wärest du lieber nach Hamburg gegangen?«
»Du weißt, wo du bist, ist meine Welt, Dietwald,« erwiderte die junge Frau mit glücklichem Augenaufschlag ihrer blauen Augen – »horch!«
Sie waren näher an ein altes Tor gekommen, das ihnen mit leerer Bogenwölbung aus den grünüberrankten Trümmerresten entgegensah. »Worauf?« fragte ihr Begleiter.
Lächelnd hob sie ihre Hand zum blauen Himmel über sich. »Liebern Ankunftsgruß hätt' ich uns nicht gewußt. Gedenkst du's noch? Eine Jaworonok –«
Sein Blick flog empor, und Lerchen standen trillernd über ihnen in der sonnigen Luft. Aber daß ihre Vorfahren einstmals gesehen, wie vor bald zwei Jahrhunderten an einem Maienmorgen Dietwald Wernekin aus diesem alten Torbogen in die sonnige Weite hervorgeritten, um aus der Heide bei Arensfeld aus der Hand der schönen Elisabeth von Holstein das kleine Goldkreuz zu nehmen, welches Elisabeth Werneken heut auf ihrer glücklich atmenden Brust gen Bardewieck heimtrug – das sang keine von den Lerchen dieses Tages.