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Wenn die Leute am Hause des Kaufmanns vorübergingen, konnten sie sehen, daß aus dem einen Fenster, welches auf den Garten hinausging, sich vorsichtig ein langer Flintenlauf hinausschob. Einige blieben verwundert stehn. Was mochte das wohl bedeuten, jetzt in der Dämmerung. Im Orte war es ganz still. Es war ein Abend im September.
Ein Schuß fiel. Mehrere Personen liefen da hinüber in den Garten, um zu sehn, was es gebe. Man sah den Kaufmann; er kam aus dem Starenhaus und hielt eine tote Eule am Flügel.
Niels Christian hatte sie geschossen. Er war erst vor kurzem von den Soldaten gekommen. Niels hatte geschickt geschossen; das meinten alle. Am Zaun hing ein Bauer mit einer lebenden Eule, die der Kaufmann im Starenhaus gefangen hatte. Sie hatte wohl da drinnen Schaden anrichten wollen, und darum hatte er sie in den Bauer gesteckt und Niels Christian beauftragt, sich mit der Büchse im Fenster in den Hinterhalt zu legen und dem Weibchen aufzupassen. Denn das würde wohl auch geflogen kommen.
»Nun haben wir einen bösen Vogel weniger,« sagte der Kaufmann und schleuderte die tote Eule aufs Pflaster.
»Soll'n mar nit de da a ins Jenseits schicken?« fragte Niels. »Jetz hat sie ja ihr Schuldigkeit tan.« Er steckte die Hand durch die kleine Tür in den Bauer und zog den Lockvogel heraus. Man besah sich einen Augenblick den Sünder, wie er im Halbdunkel die gelben Augen rollte und um sich zu hacken suchte. Niels zerschmetterte ihm den Kopf an der Ecke des Hauses.
Vier, fünf Knechte waren herbeigekommen, und da sie gerade beisammen waren, gab ein Wort das andre, bis die Unterhaltung im Gang war. Der Kaufmann ging in den Laden und kam bald zurück, volle Bierflaschen zwischen die Finger geklemmt – na freilich – man ließ sich nun in aller Gemütlichkeit am Grabenrand nieder.
»Na, 's Schießen hast aber wirklich rauß,« sagte Jörgen Pors zu Niels Christian und stieß mit ihm an. »Hast sie ja im Flug derwischt.« Niels nickte bescheiden.
»Ich glaub', die lassen meine Starenhäusle jetzt in Ruh,« meinte der Kaufmann.
Das Gespräch drehte sich bald um eins und 's andre, und so verging eine halbe Stunde. Ab und zu setzte man die Flasche an den Mund.
Plötzlich lachte Jakob, der Wirtsknecht, glucksend auf; es war ihm etwas eingefallen.
»I kann euch übrigens was Neug's derzählen: die Kirstina vom Peter Bak soll heiraten.«
»Ah, da schauts amal an,« rief Jörgen Pors, ganz erregt vor Neugier.
Der Jakob vom Wirt schaute aufmerksam auf Niels Christian, den die Neuigkeit ja ein wenig anging. Aber an Niels war nichts zu bemerken, er sagte kein Wort.
»Du bist ja a seinerzeit mit der Kirstina gangen,« fuhr Jakob fort.
Niels Christian nahm seine Flasche vom Boden auf, und erst ehe er sie an den Mund setzte, warf er ganz gelassen hin:
»Wer hat dir denn de G'schicht erzählt?« Niels trank und zog die Luft hörbar durch die Nase. Er trank seine Flasche aus.
»No also, für'n Narrn g'halt'n hat mi damit grad kaner,« versicherte Jakob etwas gereizt. »Sie soll ja den Paul Kjärsgaard heiraten. Die Leut sagen, er hat sie verführt. I kenn die G'schicht ganz genau.«
»A so a Schwindel!« lachte Jörgen Pors und tat das auch ein wenig für Niels Christian.
»Hab's auch g'hört,« ließ der Kaufmann fallen.
Hierauf schwiegen alle. Niels Christian blieb kein Zweifel mehr übrig. Er saß in großer Bedrängnis da; die Gedanken der andern drohten ihm wie offene Schlünde. Er wußte, daß man ihn nun hänseln würde – na, es war ja auch billig – es bedurfte nur eines kleinen Zeichens, und alle würden mit aller erdenklichen spottsüchtigen Heiterkeit über ihn herfallen. Er hatte nicht die Kraft, die Rede auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Aufstehn und gehn konnte er nicht – da hätten ja doch augenblicklich alle gelacht. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf und quälten ihn – noch schwiegen die andern. Was sollte er nur aufbringen, um ...
Jörgen Pors holte grade zu einem Biß aus – er hatte bereits eine tüchtige Portion Lachen in sich stecken – da fand Niels einen Ausweg. Hinter ihm stand die Flinte; er bog sich zurück, langte danach und legte sich die Waffe über die Knie. In dem einen Lauf war noch ein Schuß. Die Burschen schielten darauf hin. Niels Christian konnte sich noch beherrschen.
»Draußen auf unsrer Insel paß' i schon seit a paar Tag an Fuchs auf,« sagte er vollkommen ruhig. »I sag' adies!« Er erhob sich langsam; dann blieb er noch eine kleine Weile stehn, damit es nicht aussähe, als ob er sich aus dem Staub machte.
»Dank schön für'n Schuß.«
»Is scho recht!«
Niels ging – anfangs war es, als horchte er mit dem Rücken, so scharf hatte er's auf die da hinter ihm. Aber die lachten nicht, solang er's noch hören konnte.
Niels Christian schritt den Fußweg; er wollte sich selber nichts eingestehn. Aber indem er so nachdachte, gab eins das andere. Erst vor drei Tagen hatte er mit Kirstina gesprochen, und da hatte er gar nichts gemerkt. Nun ja, der andere hatte ihr natürlich im Sinn gelegen – während sie seinen sanften Worten zuhörte; mit dem Mund hatte sie ›Niels‹ und mit dem Herzen ›Paul‹ gesagt. Ob's aber auch wahr war, was sie gesagt hatten, das vom »Verführn«.
Niels schritt immer heftiger aus; es war ihm etwas eingefallen, was ihn ganz aus der Fassung brachte. Erst vor kurzem hatte er Kirstina um etwas angefleht – er sah alles noch ganz lebendig. Und sie hatte ihm gut zugeredet – so und so – und von achten und ehren – und was die Leute dazu sagen würden – und ... und Niels hatte sich gebeugt – es war ja alles so recht und vernünftig. Und dann sah er Paul Kjärsgaard vor sich – den dicken Kerl mit dem roten Gesicht – – das gab ihm einen Stich. Er rannte immer mehr, als wollte er der Qual entlaufen. Niels mußte dran denken, wie nun die Burschen am Grabenrand saßen und vor Lachen beinahe platzten – und dann sah er wieder Kirstina, wie sie immer weiter in der Richtung auf Paul Kjärsgaards Tor zuging. Und jedes Bild, das vor ihm aufstieg, empörte ihn, wie eine schlimme Person, die er nicht sehen wollte, die er immer wieder verscheuchte. Aber mehr und mehr wuchs das Gefühl seines Unglücks in ihm, je weiter er ging. Er folgte gedankenlos dem Weg und rannte sich in Schweiß.
Niels Christian war Knecht bei Anders vom Werderhof. Es war ein guter Platz, und Niels hatte sich auch bereits Achtung errungen. Bevor er auf den Werderhof kam, war er ja auch immer tüchtig auf seinem Posten gewesen – doch nicht mehr als jeder andre. Aber auf dem Werderhof in Ansehn kommen, das war was Besonderes. Man schätzte Christian sehr, und das machte sein ganzes Wesen gesitteter und gefügiger. In der letzten Zeit war er übrigens so vergnügt und zutunlich geworden, er hatte sich ja mit Kirstina geeinigt. Und jetzt war alles in Trümmer gegangen.
Niels ging quer übers Stoppelfeld, schlüpfte unter den Vordächern, dicht an die Mauer gepreßt, durch das schmale, dunkle Hofpförtchen und bog um die Stallecke. Er öffnete die Stalltüren, der warme, süße Pferdegeruch schlug ihm ins Gesicht. Die Pferde standen im Dunkeln und kauten eintönig. Daran, daß der einförmige Laut etwas stärker wurde, erkannte man, daß sie den Kopf nach ihm umwendeten. Als sie ihn erkannt hatten, steckten sie die Mäuler wieder ins Häcksel und schlugen sacht mit den Schwänzen.
Niels Christian tappte sich vorwärts in die Burschenkammer. Puh, war das eine Bettdeckenatmosphäre. Anton, der Jungknecht, schlief und schöpfte umständlich den Atem durch den Mund; es waren neun kerngesunde Liespfund, die da unter der Bewußtlosigkeit vegetierten. Niels zog Streichhölzchen aus der Tasche, zündete die Laterne an und stellte sie auf den Tisch. Dann begann er sich auszuziehen; er hängte die Uhr an die Wand und legte das Halstuch aufs Fensterbrett. Als er bereits in Hemdärmeln war, besann er sich eines andern – es war doch zu früh, um ins Bett zu kriechen. Niels sah sich in der Kammer um.
Anton lag unter seiner Decke und schwitzte. Er sperrte den Mund auf und hielt ihn so hoch alsmöglich in die Luft und schnarchte wie eine Baggermaschine. In den halbdunkeln Ecken hingen Spinnweben, auf dem Boden lagen Schuhe mit Holzschäften und alte, klebrige Strohwische. Da war weiter nichts Ergötzliches dran.
Niels langte unter die Balkendecke und holte einen Ladstock herunter; der hatte einen Korkzieher an dem einen Ende. Er fischte erst die Ladung aus seiner Flinte und hing sie dann an ihren Platz. Was weiter? In seiner Untätigkeit fiel ihm der Verlust Kirstinens schwer ins Gemüt. Er machte eine Runde im Stall, leuchtete mit der Laterne in die Häckselkiste hinunter und schaute nach, was Anton geschnitten hatte und ging wieder in die Kammer zurück. Dort setzte er sich, die Hand unter der Wange, an den Tisch.
Ja, ja, die Hand unter der Wange. Ihm wurde so weh ums Herz. Die Empörung war vorbei, er fing an zu seufzen und zu kämpfen. Die Gefühle wogten in ihm auf und nieder, die Gedanken begannen zu schwingen, immer weiter und weiter. Er fühlte Lust und Erlösung und immer mehr bedrängte ihn der Rythmus. ›Du treuloses Diandle.‹ – dachte er und der Gedanke ging singend vorwärts, rückwärts – ›warum hast mi denn betrog'n‹ ...
Niels Christian schüttelte traurig den Kopf – ›In Straßburg lebt' ein Adelsmann‹ sang es in ihm, und die Weise arbeitete in ihm und beruhigte und labte ihm die Kehle, die Schmerz und Jammer umklammerten. Und wie von selbst entstanden zwei Verse in Christians bedrängter Seele. Sie berauschten ihn – er hatte noch niemals ein Gedicht gemacht – niemals.
Niels streifte die Holzschuhe von den Füßen und begann in der Kammer auf und ab zu gehn. Ein Wort fügte sich dem andern, Vers um Vers der Weise. Er gab sich ganz dem Rausche hin und ließ sich von den Tonwellen tragen. Als die Strophe fertig war, stand er tief verwundert. Sein innerer Reichtum machte ihn warm und versöhnlich. Er sang die Verse noch einmal und fand sie vortrefflich. Der Schmerz, den er hineingelegt, stieg ihm wieder in die Kehle, doch jetzt hatte er eine große Süßigkeit im Geleit.
Niels war immer heißer und unruhiger geworden; er fühlte es und besann sich auf sich selbst. Seine graue Stimmung kam wieder; er zog die Holzschuhe an und ging in den Hof. Er war durstig.
Nachdem er sich einen Eimer Wasser vom Brunnen geholt und seinen Durst gelöscht hatte, war für ein paar Minuten Gleichgewicht in seinem Gemüt. Aber dann sah er wieder Paul Kjärsgaard vor sich. Schäumender Haß wogte in seiner Seele auf, und auf dem Gipfel jeder Sturzwelle stand Satan und peitschte die Strömung. Niels schlich zurück in die Kammer und vielfaches Leid bedrängte ihn. Auf vielen Umwegen fand er den Zustand wieder, in dem das Bewußtsein schaukelte und wogte. Und seine Seele sang einen neuen Vers. Niels wiederholte beide Strophen, seufzte trotzig und hielt inne. Bald darauf perlten die Schmerzen wieder in ihm auf. Und so ging es immer fort.
Anton schwitzte ruhig in seinem Bett, er ließ sich nicht beirren und schnarchte weiter; mit viel Umständen schob sich die Luft durch Nase und Schlund und wieder zurück. Die Pferde prusteten im Stalle; vom Viehstall her hörte man, wie die Kühe von Zeit zu Zeit ihre Ketten am Pflock hinaufzerrten. Über dem Hof aber lag die Stille der Nacht.
Als der Tag durch Fensterscheiben blinzelte, sah Niels Christian vom Tisch auf. Er war ganz freudig erstaunt über sich selbst. Er saß da, hatte die Tintenflasche vor sich und schrieb beim Schein der Laterne. Ja, das tat er wirklich. Die Tinte war hellblau, und Niels hatte elf Verse gedichtet und niedergeschrieben. Jetzt las er das ganze Gedicht durch, und als er damit fertig war, legte er den Kopf auf die Seite und lachte in sich hinein. So froh war er in seiner Einfalt. Er verwahrte das Lied in seiner Truhe und fand bei dieser Gelegenheit einen Spiegelscherben; da sah er sich drin. Endlich ging er zu Bett, mit dem Gefühl, etwas Entscheidendes erlebt zu haben.
In der folgenden Zeit blieb Niels Christian meist zu Hause. Und nachdem Kirstina und Paul Kjärsgaard verheiratet waren, vergaßen die Leute gar bald die verdächtige Geschichte zwischen Kirstina und Niels. Niemandem fiel es ein, sich über Niels Christians langes Gesicht lustig zu machen. Im Gegenteil, man hielt ihn in hohem Ansehn. Das Lied hatte seinen Weg gemacht. Erst hatte es Niels einigen ergebenen Freunden vorgesungen, von diesen war es dann weiter gewandert. Es war abgeschrieben worden, und jetzt konnten es fast alle singen.
Wenn junge Leute zusammenkamen, sangen sie das neue, traurige Lied. Und die Mädchen neigten die Köpfchen zur Seite und die Vorstellungen von Kummer und Seelensiechtum wurden in ihnen wach.
Niels Christian begann in der Phantasie der Leute in eine wunderliche Ferne zu rücken. Es war, als ob er erst recht gegenwärtig wäre, wenn er ferne war – und umgekehrt. Man dachte sich ihn mit einem stillen Gesicht und mit tiefen Augen.
Niels mochte wohl ahnen, mit was für Augen die Leute ihn betrachteten. Er wurde ein stiller Mensch mit einem milden, schwermütigen Blick. Niels hatte A gesagt, er sagte auch B und trug seinen Kummer von einem Jahr ins andre. Aber um seinen Mund grub sich ein neuer Zug. Als ob er sagen wollte, wie viel ihm die Welt schuldig geblieben war. Wenn Niels Christian in Gesellschaft von andern war, stand er immer ein wenig zur Seite; die Arme hingen ihm am Körper hinab, sein Gesicht leuchtete von jener Herzensgüte, die nur der offenbaren kann, der das eine hat: die Erkenntnis von jenem andern und der Steigerung des Daseins – und die Sehnsucht darnach. ›Ihr könnt mit mir tun, was ihr wollt,‹ sagten seine Augen. ›Aber laßt meinem Leibe nur eine 'höhere Bestimmung' auf dem Weg durchs Leben.‹
Einige baten Niels um die Abschrift des Liedes. Es war ihm dann recht peinlich, daß er keine hatte. Aber er entdeckte dann doch ein Exemplar, das er mit blauer Tinte geschrieben hatte. Das gab er ihnen.
Die Zeit verging, die andern Burschen verheirateten sich. Niels konnte sein Leid nie verwinden. Er netzte sein Haar und kämmte es über die Stirn hinauf nach rückwärts, im Sinne des Neuen Testaments. Mit den Jahren wurde Niels fett. Immer mehr prägten ihm der Friede und die Stille, die so teuer erkauften, ein neues Gesicht. Er war geboren in einem engen Winkel – was lag daran? Er hatte ja den Segen des Leidens und Entsagens kennen gelernt. Er sagte ruhig von sich selbst: »Bin halt auf der Schattseiten daham.«
Niels Christian ist jetzt Sendbote der innern Mission. Religiöse Sekte in Dänemark. (Anm. des Übers.)
Aber es ist trotzdem ganz gleich schwer zu erkennen, was echt, was unecht in seiner Entwicklung gewesen.