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I

Jugend

Friedrich List wurde am 6. August 1789 in Reutlingen geboren. Sein Vater, ein wohlhabender Weißgerber, »der dicke List« genannt, hatte, als Reutlingen noch Reichsstadt war, zeitweise die Ämter eines Vizebürgermeisters und Spitalpflegers bekleidet, und behielt, nachdem die Stadt württembergisch geworden, seinen Sitz im Magistrat und das Waldmeisteramt. Seine Mutter, eine geborene Schäfer, wird als wirtschaftlich tüchtige und dabei zartfühlende Frau geschildert. Friedrich besuchte die Lateinschule seiner Vaterstadt, ließ aber die lateinische Grammatik links liegen und las lieber Reisebeschreibungen; im deutschen Aufsatz zeichnete er sich aus. Muntere Laune und neckischer Witz machten ihn bei seinen Mitschülern beliebt. Mit 14 Jahren trat er in des Vaters Werkstatt ein; sein älterer Bruder – außer diesem hatte er noch sieben Schwestern – sollte ihn ausbilden. Allein das Felleschaben machte ihm noch weniger Spaß als die Grammatik. Er erklärte solche Arbeiten für überflüssig: sie könnten von Maschinen besorgt, und diese durch den vorüberfließenden Bach getrieben werden. Wandte der Bruder einmal die Augen von ihm ab, flugs war er verschwunden. Gewöhnlich fand man ihn dann im Garten unter einem Baume in ein Buch vertieft, oder auf dem Teiche, wo er eine Mulde als Ruderboot benutzte. Da er durch seinen Mutwillen den übrigen Lehrlingen und den Gesellen den Arbeiternst raubte, bat der Bruder den Vater, die Werkstatt von diesem Thunichtgut zu befreien. Eine Zeitlang bummelte der Junge, da er zu keinem Berufe Lust bezeugte; endlich beschloß man, ihn Schreiber werden zu lassen.

Diese Wahl schien von der Vorsehung dazu bestimmt, seine mit der Luft eingeatmete Abneigung gegen die Schreiberwirtschaft – denn ganz Reutlingen, das sich als Reichsstadt fühlte und an Selbstregierung gewöhnt war, schalt auf die württembergische Bureaukratie – zum Haß zu verstärken. Die ersten Jahre verliefen übrigens wider Erwarten erfolgreich. Nachdem er in Blaubeuren als »Inzipient« angelernt worden war, bestand er das Substitutenexamen, arbeitete zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten in Ulm, wurde mit 20 Jahren »Steuer- und Güterbuchkommissär« in Schelklingen bei Ulm und dann, 1813, an das Oberamt zu Tübingen versetzt. Hier benutzte er die Gelegenheit, an der Universität Vorlesungen zu hören und sich eine höhere Laufbahn zu erschließen, die ihn aus der geisttötenden Schreibstube hinausführte. Sehr fruchtbar wurde für ihn der Verkehr mit Schlayer, dem späteren Minister, der damals die Rechte studierte; die beiden jungen Leute tauschten täglich ihre Gedanken aus; List trug zu diesen Unterhaltungen neue Ideen, Schlayer positive Kenntnisse bei. Schlayer war der Lieblingsschüler des damals berühmten Malblanc. Lehrer und Schüler wohnten einander gegenüber, und für jenen gab es keinen süßeren Nachtisch und keine angenehmere Feierabendbeschäftigung, als mit Schlayer über die Straße hinüber zu disputieren und Feinheiten des römischen Rechts zu erörtern. Hatte Malblanc genug, so pflegte er das Fenster mit den Worten zu schließen: »Ich sehe es, Sie werden noch Justizminister, empfehle mich zu Gnaden, Exzellenz«, was den bescheidenen Jüngling schamrot machte. Eine weniger schmeichelhafte Meinung hegte der kluge Mann, der die Bedingungen des Erfolges im deutschen Vaterlande kannte, von List. »Ihr Freund da, der List,« sagte er einmal zu Schlayer, »treibt sich im Weiten herum, studiert und liest, was ihm gefällt, den Träumer Montesquieu, den Abraham Schmidt, den Johann Adam Say oder gar den tollen Schanschack (Jean Jacques) und dergleichen leichtsinniges Zeug; der hätte auch sein Geld sparen und zu Hause bleiben können.«

Vorläufig schien sich die schlimme Prognose noch nicht erfüllen zu wollen; List wurde zum Sekretär im Ministerium, und 1816 zum Oberrevisor mit dem Titel Rechnungsrat befördert. Der Minister von Wangenheim lernte ihn schätzen und trat in näheren Verkehr mit ihm. Der ältere Mann stimmte mit dem jüngeren überein in der Abneigung gegen die Bureaukratie sowohl wie gegen das Ständewesen, und in dem Streben, aus Württemberg einen modernen Verfassungsstaat zu machen. Es wurde eine Kommission niedergesetzt, die die häufigen Beschwerden gegen bureaukratische Mißgriffe untersuchen und Reformvorschläge machen sollte. List ward ihr als Aktuar beigegeben und zog sich bald den Unwillen ihrer Mitglieder zu durch die Kühnheit, mit der er in die Verhandlungen eingriff und selbst Vorschläge machte. Die ihm anerzogene Abneigung gegen die Schreiberwirtschaft wurde durch amtliche Erfahrung zur klaren Überzeugung von ihrer Verderblichkeit, und war kurz vorher noch durch Familienereignisse verstärkt worden. Im Jahre 1813 war sein Vater gestorben. Der Beistand seiner Mutter hatte gegen eine unbedeutende Verordnung verstoßen, und dafür wurde die Frau von dem Beamten vor einer großen Menschenmenge brutal beschimpft: er wolle ihr den himmelsakramentischen reichsstädtischen Hochmut schon austreiben, sagte er unter anderem. Das kränkte sie so tief, daß sie nach Hause getragen werden mußte und wenige Wochen darauf starb. (1815.) Sein Bruder fiel ebenfalls den Launen der Bureaukratie zum Opfer. Zu seiner bevorstehenden Verheiratung bedurfte dieser seiner Militärverhältnisse wegen der obrigkeitlichen Erlaubnis; chikanierende Beamte hetzten ihn zwischen Reutlingen und Stuttgart hin und her, zur äußersten Eile gezwungen, ritt er im stärksten Galopp von Stuttgart nach Reutlingen, stürzte mit dem Pferde, verletzte sich schwer und gab nach 48 Stunden den Geist auf.

Besonders stark wirkte dann noch auf List, was er durch eines seiner Kommissorien erfuhr. Im Jahre 1817 entschlossen sich 700 Landleute der unteren Neckargegend zur Auswanderung. Als Ursache gaben sie an: den Steuerdruck, das Schreiberwesen und die Beamtenwillkür. List wurde beauftragt, sich nach Heilbronn zu begeben, die Leute zu Protokoll zu vernehmen und womöglich durch angemessene Belehrung von ihrem Vorhaben abzubringen. Am 29. April 1817 hielt List den Termin ab. Alle seine Vorstellungen blieben ohne Wirkung. Die Regierung hielt die vorhergegangene Mißernte für den Hauptgrund der Unzufriedenheit und bot Unterstützung an. Die Leute erklärten: Unterstützung wollten sie nicht, sie könnten arbeiten, aber der Steuer- und Beamtendruck sei unerträglich, sie wollten lieber in Amerika Sklaven, als im Amte Weinsberg Bürger sein; eine Menge Proben von Beamtenwillkür und Brutalität gaben sie zu Protokoll.

Aus der so gewonnenen Überzeugung heraus ward List ein eifriger Helfer Wangenheims, arbeitete Reformvorschläge aus und wirkte für ihre gemeinsame Sache auch schriftstellerisch; seine erste litterarische Leistung war ein Aufsatz »System der Gemeindewirtschaft« im »Württembergischen Archiv« mit dem Motto: »Das Dorf und die Stadt lerne unter der Aufsicht des Regenten sich selbst regieren.« Um die zukünftigen Staatsbeamten in guten Verwaltungsgrundsätzen zu erziehen, beschloß Wangenheim, in Tübingen einen Lehrstuhl für Staatswissenschaft zu errichten und List auf ihn zu berufen. Dieser begründete die Notwendigkeit eines solchen Unterrichts in einem Gutachten, das an der bestehenden Verwaltung scharfe Kritik übte. So z. B. heißt es darin, die Forderung, ein Jahresdefizit zu decken, werde von den Juristen, die den Staat regierten, für unerfüllbar erklärt, weil die Staatsrechnungen erst zehn Jahre nach Abschluß »abgehört« würden; daß die Rechnungen sofort revidiert werden könnten, falle den Herren nicht ein. Die Verwaltungsformen seien überhaupt so veraltet, daß ein Beamter des 17. Jahrhunderts, der aus dem Grabe auferstände, ohne weiteres wieder in Funktion treten könnte.

Seine Berufung nahm List nach einigem Sträuben an. Mehr das Ziel im Auge behaltend, hat er später geurteilt, »als meine Ausrüstung, ließ ich mich verleiten, eine Professur anzunehmen, für die ich noch lange nicht reif war«. Den Vorlesungen legte er eine Ausarbeitung zu Grunde, die er im nächsten Jahre, 1818, unter dem Titel: »Die Staatskunde und Staatspraxis Württembergs« drucken ließ. Wie scharf und klar er schon in seinen Anfängen die Natur wahrer, germanischer Volksfreiheit erkannt hat, bezeugen u. a. folgende Sätze seines Leitfadens:

»Unzweifelhaft ist es, daß die Korporationen, die Gemeinden mit derselben Verpflichtung, die der Einzelne mit dem Eintritt in ihren Verband übernommen, auch in die höhere Verbindung eingetreten sind, aber ebenso unzweifelhaft ist auch der Vorbehalt, daß die Korporationen insoweit selbständig zu handeln berechtigt seien, insoweit sie der Gesamthilfe nicht bedürfen und den Gesamtzweck nicht verletzen. Es war eine Lücke der bisherigen Staatswissenschaft, daß sie die Natur des Korporationen- oder Innungssystems nicht erkannt hat, denn durch dieses allein kann wahre Freiheit und vollkommene Ordnung erhalten werden. Eine große unteilbare Nation ohne Gliederung ist ein französisches Hirngespinnst, entweder eine Freiheitsfaselei oder ein Attentat, morgenländischen Despotismus einzuführen nach dem Satze: divide et impera.«

Seine Vorlesungen zielten darauf ab, die Studenten in das Wesen des modernen Verfassungsstaats einzuführen, und sowohl den alten Ständestaat wie den Beamtenstaat als nicht mehr zeitgemäße Formen des Staates darzustellen. Derselben Tendenz diente der von ihm und seinen Freunden Schübler und Keßler gegründete »Volksfreund aus Schwaben, ein Vaterlandsblatt für Sitte, Freiheit und Recht,« von dem er später in einem Briefe an Rotteck schreibt: »Durch den Volksfreund habe ich zuerst die Beamtenaristokratie zu humanisieren, die Altrechtler zu bekämpfen und richtige Begriffe vom Wesen der konstitutionellen Monarchie zu verbreiten gesucht.« Die Hauptforderungen, die darin erhoben wurden, waren: eine unverfälschte Volksvertretung, öffentliche Kontrolle der Staatsverwaltung, Selbstverwaltung der Gemeinden, Preßfreiheit, Geschworenengerichte; anfangs in Übereinstimmung mit der Regierung und dem Könige, der jedoch bald andern Einflüssen unterlag, so daß das Blatt einging, dem unter Wangenheim die talentvollen unter den jungen Beamten ihre Feder gewidmet hatten, und die drei Gründer nacheinander auf den Asperg wanderten. Nach Menzel, der die Verhältnisse und Personen genau kannte, ist es Metternich, der, unterstützt von der auswärtigen Diplomatie, den alle gleichzeitigen deutschen Monarchen an Geist und edler Gesinnung überragenden König Wilhelm gezwungen hat, die beschrittene liberal-konstitutionelle Bahn zu verlassen; ihm wird daher auch viel von dem auf Rechnung zu setzen sein, was List später zu erdulden hatte.

Aber freilich fand Metternich im Unverstand der Württemberger kräftigere Förderungsmittel seiner Pläne, als er erwartet haben mochte. Die ersten Schritte der Reform: Vorbereitung der Ablösung der Feudallasten, Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung, eine neue Gemeinde- und Kreisordnung riefen einen solchen Widerstand aller Privilegierten hervor, daß Wangenheim schon Ende 1817 ihrem Ansturm weichen mußte. Und die Freunde der reichsstädtischen Freiheit waren keineswegs, wie man hätte erwarten sollen, Anhänger der Reform, sondern traten unter dem Namen »Altrechtler« ihren Todfeinden, den Bureaukraten, als Bundesgenossen zur Seite, weil freilich der moderne Verfassungsstaat ständische Privilegien so wenig verträgt, wie bureaukratische Willkür. Dem »alten, guten Recht« hat der wackere, aber in diesem Punkte kurzsichtige Uhland bekanntlich 1816 eines seiner schönsten Lieder gewidmet. Diese beschränkten Patrioten nun verschrieen List wegen seiner Freundschaft mit Wangenheim als einen servilen Streber. Die Haltlosigkeit dieses Vorwurfs bewies er dadurch, daß er die Drehung des Hofwindes nicht mitmachte (wie übrigens auch Uhland seiner Überzeugung vierzehn Jahre später die ihm so liebe Professur geopfert hat, so daß auf seinen Charakter kein Schatten fällt). Schon im Mai 1818 sah List sich veranlaßt, in einer dem Könige eingereichten Denkschrift die Grundsätze zu rechtfertigen, nach denen er seine Lehrthätigkeit übte. In dem Bescheid, der darauf erfolgte, hieß es, Seine Majestät habe sich zwar überzeugt, daß der Professor List seinen Schülern keine mit dem Staatswohl unvereinbaren Grundsätze einzuflößen die Absicht habe; da aber junge Leute geneigt seien, theoretische Spekulationen sofort in die Wirklichkeit zu übertragen, wodurch leicht Schaden angerichtet werden könne, so sei ihm die äußerste Vorsicht anzuempfehlen. Heimlich aber befragte das Ministerium den akademischen Senat über die Lehrthätigkeit Lists, und da dieser, der gerüchtweise davon erfahren hatte, natürlich zu wissen wünschte, was seine Kollegen geantwortet hätten, so fanden die Herren sein Begehren »äußerst befremdend«. Eine andere Angelegenheit befreite ihn aus der peinlichen Lage.



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