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Die letzten Reisen: Flucht in Feindesland und in den Tod

Zum Schrecken und Ärger seiner deutschen Gegner verkündigte List im Juli 1845, er sei aus Österreich zurück und nehme die Redaktion seines Blattes wieder auf. Man hatte schon triumphiert, er sei nach Österreich gegangen, weil er seine Rolle in Deutschland ausgespielt habe. Übrigens war er auch während seines Aufenthalts in Österreich der Rat- und Auskunftgeber geblieben, an den sich, wie an ein Zentralbureau, die Deutschen in allen wichtigen volkswirtschaftlichen Angelegenheiten wandten. Da der Zollkongreß von 1845 den bedrohten Industrien den geforderten Schutz nicht brachte, so stieg die Erbitterung der Süddeutschen gegen Preußen in dem Grabe, daß sie den Zollverein zu sprengen und sich an Österreich anzuschließen drohten. List bekämpfte die Trennungsgelüste; so dringend, führte er aus, inniger Anschluß Österreichs an Deutschland gewünscht werden müsse, so wenig sei bei der Rückständigkeit eines Teils der österreichischen Bevölkerung die völlige wirtschaftliche Verschmelzung angezeigt. Überdies war die politische Einigung Deutschlands sein Ziel, und er wußte, daß diese nur von Preußen ausgehen könne.

Einige Zeichen der Anerkennung erfreuten ihn um diese Zeit. Der böhmische Spinnverein übersandte ihn am 20. August 1845 Proben böhmischen Kunstfleißes als Ehrengeschenk nebst einer Dankadresse, und eine solche Adresse beschloß auch der Kongreß Deutscher Gewerbetreibender, der bei Gelegenheit der Michaelismesse in Leipzig abgehalten wurde. Und im Oktober des Jahres übersandten die rheinischen Eisenindustriellen auf Antrag Lossens, des Besitzers der Konkordiahütte bei Koblenz, ein Ehrengeschenk von tausend Thalern. In seinem Dankschreiben sagt er, um der Sache willen würde er gewünscht haben, das Geschenk ablehnen zu können; leider sei er dazu nicht in der Lage. Den Sechzig nahe und krank, sehe er mit Besorgnis in die Zukunft; »ich traue mir nicht einmal mehr die Kraft zu, zum zweitenmale nach Nordamerika auszuwandern, wohin mich meine dortigen Freunde rufen, und wo ich mich leicht in einigen Jahren wieder erholen könnte«.

Seine leibliche Gesundheit stellte das Bad Rippoldsau einigermaßen wieder her, und im Winter schrieb er jene Aufsätze, die Häusser unter der Überschrift »Die politisch-ökonomische Nationaleinheit der Deutschen« veröffentlicht hat. Die zukünftige Macht und Sicherheit Deutschlands, heißt es darin, beruhe auf den materiellen Kräften und auf der Stärke des Nationalgefühls seiner Völker; diese Grundlage aber sei nicht denkbar ohne nationale Handelseinheit und eine kräftige nationale Handelspolitik. Denn soll der Mensch im Leibe leben, so fordert er sein täglich Brot, sage der Dichter, und es sei eitel Thorheit, »von einem Volk, das nicht einmal der materiellen Wohlthaten einer großen Nationalität teilhaftig ist, die geringste Aufopferung und Begeisterung für die Verteidigung des Staates zu erwarten«. Die Aufgabe, das materielle Wohlsein aller Deutschen zu fördern, dadurch Liebe zum gemeinsamen Vaterlande zu erwecken, die Provinzialinteressen zu einem Gesamtinteresse zu verschmelzen und so den Nationalstaat vorzubereiten, habe der Zollverein übernommen. Auf das tiefste bedauert List, daß durch die Rückschritte Preußens in der Zollpolitik soviel schöne Zeit für Deutschland und soviel Popularität für Preußen verloren gehe. Die Sehnsucht nach nationaler Einigung habe schon als Haupttriebfeder zur Zolleinigung gewirkt. Das erkenne sogar England an. Im Märzheft 1845 des Westminster Review sei zu lesen: wie mächtig auch die materiellen Interessen des Volkes und das Finanzinteresse der Regierungen zusammengewirkt haben möchten, »schwerlich würden sie hingereicht haben, den Zollverein ins Leben zu rufen, ohne den gewaltigen Drang der im ganzen deutschen Volke lebendig gewordenen enthusiastischen Sehnsucht nach einer handgreiflichen deutschen Nationalität.« Auch Richelot (der später Lists Buch ins Französische übersetzt hat) spreche in seinem Werke über den Zollverein diese Ansicht aus und füge bei: »Die Deutschen sind des Philosophierens müde und haben die Abstraktionen satt; sie werden böse, mag der Fremde sie als Theoretiker loben oder als Träumer tadeln; sie dürsten nach praktischer Wirksamkeit.«

In welch unlöslicher Wechselwirkung das Ökonomische mit dem Politischen stehe, sei ihm gleich nach seiner Rückkehr aus Amerika klar geworden, da man im Süden wie im Norden schon der politischen Zersplitterung wegen ein deutsches Eisenbahnsystem für unmöglich gehalten habe. Sei doch auch das materielle Elend Deutschlands, der Verlust seines Handels, seiner Schiffahrt, seines Reichtums, ebenso durch seinen politischen Zerfall verschuldet, wie die Schmach, daß es nicht allein von den Großmächten, sondern sogar von den Zwergen und Krüppeln unter den Nationen verachtet und verhöhnt werde. Habe doch ein solcher Zwerg, ein Sprößling des deutschen Volkes, eine eigene nationale Handelspolitik getrieben, Kolonien erworben, und halte (durch die Rheinzölle) das Mutterland in schmachvollen Banden gefangen. Er entwirft dann die Grundzüge einer nationalen Wirtschafts- und Handelspolitik, wie sie der (damals) gegenwärtigen Lage entspreche, die sogar einen Adam Smith, wenn er noch lebte, bestimmen würde, sein Buch noch einmal und ganz anders zu schreiben.

Daß die Deutschen nur zu wollen brauchen, um die erste Nation der Erde zu werden, davon überzeuge sofort ein Blick auf die Deutschen des Auslandes. Überall seien sie die tüchtigsten, die noch gedeihen, wo jeder andere zu Grunde geht. »Wenn man in Nordamerika eine große palastähnliche Scheune neben einem kleinen Wohnhäuschen, inmitten von regelmäßig umzäunten, aufs fleißigste angebauten Fruchtfeldern wahrnimmt, so weiß man: diese Farm gehört einem Deutschen. In Paris sind die Deutschen die fleißigsten Arbeiter und Handwerker, in Südamerika die beliebtesten Geschäftsführer großer englischer Häuser, überall sind sie die geschätztesten Matrosen, und das Oberelsaß, das sich vor allen anderen Gegenden Frankreichs durch seinen Gewerbefleiß auszeichnet, ist eine von Deutschen bewohnte Provinz.« Und er wirft Blicke in eine Zukunft, die wir heutigen seit etwa zwanzig Jahren Gegenwart werden sehen. In der Mitte des nächsten Jahrhunderts werde es nur noch zwei oder drei wirklich unabhängige Nationen geben. Damit müsse rechnen, wer ein wirklicher Staatsmann sein wolle. Es gebe Personen, die, wie der Wilde und der Berliner Eckensteher, nur für das Bedürfnis des Augenblicks, andere, die auf ein paar Wochen oder Monate hinaus, viele, die für ihre ganze eigene Lebenszeit und für den Unterhalt ihrer Kinder nach des Vaters Tode, manche, die für eine Reihe von zukünftigen Geschlechtern sorgten. So sei es mit den Völkern und Staaten. Nur große Nationen hätten ihre Zukunft in der Gewalt, und der Beruf des echten Staatsmanns – nicht des Gesetzgebers, nicht des Diplomaten – sei es, den Gang der Entwickelung vorauszusehen und mit Rücksicht darauf die Zukunft ihres Vaterlands zu sichern.

Während er diese großen Gedanken ausgestaltete, hatte er wieder ein Gezücht abzuwehren, das ihn in der Frankfurter Oberpostamtszeitung und anderwärts mit Verdächtigungen und Beschimpfungen quälte und ihn als das untergeordnete Werkzeug eines Häufleins von Fabrikanten abthun zu können glaubte. Zu einigem Troste gereichte es ihm, mit Robert von Mohl korrespondieren zu können, der damals von den württembergischen »Schreibern«, freilich viel gelinder als vormals List, gemaßregelt wurde. (Mohl hatte 1845 als Kandidat für die Kammer in einem Rundschreiben an die Wähler die Regierung scharf kritisiert. Das Schreiben wurde ohne sein Wissen und gegen seinen Willen durch die Presse veröffentlicht. Der Minister Schlayer enthob ihn seiner akademischen Lehrthätigkeit und versetzte ihn »wegen Unbotmäßigkeit« als Regierungsrat nach Ulm. Mohl verzichtete auf dieses Amt und folgte 1847 dem Ruf als Professor der Staatswissenschaften an die Universität Heidelberg.) Beide Männer stimmten in der Überzeugung überein, daß es infolge des Unverstandes der Regierungen zu einer Revolution kommen müsse.

Im Winter trat ein Ereignis ein, das ihn über die Misere des Haders mit Philistern emporhob und zu neuem Leben elektrisierte. Ende 1845 wagte es Sir Robert Peel, öffentlich anzuerkennen, was List seit Jahren als notwendig verkündigt hatte: es sei für England Zeit, die Krücken wegzuwerfen und zum Freihandel überzugehen. Die Stunde der Kornzölle habe nun geschlagen, heißt es in der Jahresschlußnummer seines Blattes; damit werde eine neue Ära der englischen Handelspolitik eröffnet; kein Staat werde davon so stark berührt wie Deutschland, keiner aber sei so wenig auf den großen Wandel vorbereitet, so stehe man denn vor neuen wichtigen Aufgaben. Und an Franz Pulszky schrieb er am 13. März 1846, er werde wahrscheinlich in München Vorlesungen über die Peelschen Maßregeln halten; außerdem bereite er eine neue Auflage seines Buches und zwei weitere Bände vor; der zweite Band solle die Politik der Zukunft entwickeln, der dritte die Wirkung der politischen Institutionen auf den Reichtum und die Macht der Nationen darlegen. Zugleich agitierte er für eine Eisenbahn von Hamburg nach Ostende, die das Komplement der neuen englischen Handelspolitik sei. Natürlich begeisterte diese Politik die deutschen Freihändler zu einem neuen Sturm auf die Zollschranken, und List beschloß, in diesem kritischen Augenblick nach England zu gehen und die Dinge in der Nähe zu beobachten. Die Mittel zur Reise gewährte ihm der Fabrikantenverein in der Form einer Subvention des Zollvereinsblattes, das damals aus dem Cottaschen in Lists eigenen Verlag überging.

Aus London schrieb er am 26. Juni: »Ich habe gestern Nacht im Parlamentshaus zwei wichtigen Ereignissen beigewohnt; im Oberhaus sah ich unter Akklamation Ihrer Lordschaften das Korngesetz Todes verbleichen, und einige Stunden später im Unterhaus dem Ministerium Peel den Todesstoß versetzen (durch die Verwerfung einer Zwangsbill für Irland). Der freundliche Lord Monteagle hatte die Güte, mir nicht nur alle die Peers und litterarischen Charaktere, die in unserer Nähe saßen, sondern auch die bedeutendsten Mitglieder des Unterhauses zu zeigen. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen Herrn M. Gregor vorstelle?«, sagte Dr. Bowring; ein freundlicher Mann mit einem sehr intelligenten Gesicht drückte mir die Hand. »Herr Cobden wünscht Ihre Bekanntschaft zu machen«, erscholl es von der anderen Seite, und ein noch junger Mann mit verstandesklarem Äußern streckte mir die Hand entgegen. »Sie sind also wirklich hier, um sich bekehren zu lassen?« Freilich, erwiderte ich, auch um von dem verehrten Herrn hier (M. Gregor) Absolution für meine Sünden zu erflehen. So stand ich scherzend eine Viertelstunde lang inmitten meiner drei größten Gegner. Welch großes politisches Leben hier! Man sieht hier die Geschichte wachsen.«

Bei diesem Aufenthalt in England reifte ein Gedanke in ihm, den er schon ein Jahr vorher im Zollvereinsblatt gelegentlich hingeworfen hatte: der Gedanke einer Allianz zwischen Deutschland und England. Da England sein politisches und wirtschaftliches Ideal verwirklichte, und der Kampf gegen diesen Staat nur aus der Besorgnis entsprang, England könne Deutschland wirtschaftlich erdrücken, so lag der Gedanke nahe, auf England dahin einzuwirken, daß es seine wirtschaftliche Überlegenheit Deutschland gegenüber nicht mißbrauche; verstand es sich dazu, ließ es sich eine deutsche Zollpolitik gefallen, die den Bedürfnissen der noch nicht hinlänglich erstarkten deutschen Industrie entsprach, so war ein Bündnis beider Staaten das Natürlichste von der Welt. Namentlich lag ihm daran, den politischen Geist Englands nach Deutschland zu verpflanzen, durch einen lebhaften Wechselverkehr beider Länder die deutsche Bureaukratie zu entwurzeln und freien Institutionen bei uns Eingang zu verschaffen. Das Maß von Zollschutz, das er für nötig hielt, bei den deutschen Regierungen durchzusetzen, war ihm nicht gelungen; versuchen wir also, sagte er sich, ob wir nicht die Engländer bewegen können, aus politischen Gründen auf ihre Vorteile im Handelsverkehr mit Deutschland zu verzichten, wie sie jetzt auf den Schutz der Grundrente ihrer Aristokratie verzichtet haben! Es lag, schreibt Häusser, »eine verzweiflungsvolle Resignation in dem Entschluß, sich lieber den Feinden anzuvertrauen. Vergebens stellten ihm die Freunde vor, wie unwahrscheinlich ein Erfolg sei, er ließ sich von seinem Plane nicht abbringen. Es ist die glorreichste Mission meines Lebens, entgegnete er, und der Zweck ein so großartiger, daß ich mich schon durch das Bewußtsein belohnt fühle, ihn erstrebt zu haben.« Der preußische Gesandte in London, Bunsen, bestärkte ihn in seiner Idee, und ermunterte ihn zur Abfassung einer Denkschrift für die Regierungen in Berlin und London: » Über den Wert und die Bedingungen einer Allianz zwischen Großbritannien und Deutschland.« Nach seinem Tode wurde sie in der Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Sie ist gleich den Aufsätzen über die Beziehungen Deutschlands zu Österreich-Ungarn ein Bestandteil des großen Gedankenkreises, der als »Politik der Zukunft« den Inhalt der folgenden Bände des nationalen Systems ausmachen sollte. Im zweiten Teil gedachte er die Vollendung des Zollvereins durch den Anschluß der Hansestädte und der Küstenstaaten und die Beziehungen Deutschlands zu Holland und Belgien, zu Österreich-Ungarn und England, im dritten das deutsche Transportsystem, das Postwesen, die Münzreform und das Patentgesetz zu behandeln. Im Eingang der Denkschrift sagt er, es sei seine Überzeugung, daß von der richtigen Gestaltung der Verhältnisse, die er beleuchten wolle, nicht allein das zukünftige Glück der beiden Nationen, sondern für eine geraume Zeit das der ganzen Menschheit abhänge. »Die Staatsmänner glücklicher und mächtiger Nationen lieben es in der Regel mehr, sich mit den Interessen der Gegenwart als mit denen der Zukunft zu beschäftigen. Sie haben das überhaupt mit den Glücklichen und Mächtigen gemein; ist es doch angenehmer, die Gegenwart zu genießen, als sich mit der Vorstellung von Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Wechselfälle abzugeben.« Er überblickt die große politische und wirtschaftliche Umwälzung, die seit 1770 das Antlitz der Erde verändert habe, und stellt England als die Macht dar, die berufen sei, das durch die Umwälzung entstandene Chaos zu ordnen, eine Organisation herzustellen, »wodurch es nicht nur sich selbst die Führerschaft in den Weltangelegenheiten, sondern auch allen anderen Nationen und Ländern der Erde Freiheit und Civilisation, Frieden und Wohlfahrt, mit einem Wort, den moralischen und materiellen Fortschritt sichert.« Jeder Philantrop müsse sich darüber freuen, daß dieser hohe Beruf einer Nation zu teil geworden sei, »die nicht ihresgleichen auf Erden hat, ob man sie betrachte nach ihrer industriellen und kommerziellen Entwickelung oder nach ihrem Sinn für Recht und Gerechtigkeit, für Freiheit und Aufklärung.«

Das sei wenigstens die herrschende Meinung in Deutschland, denn dieses denke mit Widerwillen an die künftige Suprematie von Nordamerika, es fürchte die von Frankreich, es verabscheue die von Rußland. (Daß die Deutschen das Zeug dazu hätten, sich zur führenden Weltmacht emporzuschwingen, davon war List überzeugt und das hatte er oft genug gesagt, aber bei der Unfügigkeit der deutschen Regierungen, mußte er jede Hoffnung auf eine politische Neugestaltung Deutschlands aufgeben und konnte daher die Möglichkeit einer deutschen Suprematie nicht in seine Zukunftsrechnung einstellen; das Beste und Höchste, was er zu hoffen wagte, war ein mit Österreich verbündetes und den Balkan in seine Kolonisationsthätigkeit einbeziehendes Deutschland unter englischem Schutz). List begründet die dreifache Antipathie; er schreibt u. a.: »Die Franzosen sind eine tapfere und hochbegabte Nation, aber die Natur hat der gallischen Rasse die Eigenschaften versagt, die erfordert werden, um eine Nation auf den höchsten Standpunkt der Macht und des Reichtums zu erheben. Sie exzellieren weder im Ackerbau noch in den Gewerben, weder im Handel noch in der Schiffahrt, und ihre Erfolge in diesen Gebieten haben sie hauptsächlich denjenigen ihrer Provinzen zu danken, in denen der germanische Geist vorherrscht, nämlich Elsaß, Lothringen, Normandie und französisch Flandern. Mit den erwähnten Nationalfehlern vereinigen die Franzosen einen Grad von Liebe zum Ruhm und besonders zum Kriegsruhm, der sie zu allen Zeiten zum willigen Instrument großer Feldherrn gemacht hat, ja, sie achten Nationalfreiheit und Nationalreichtum nicht sowohl um willen der Wohlfahrt, die sie den Individuen verleihen, als um willen der Vorteile, die für ihre Militärmacht daraus zu ziehen sind. Niemals haben die Franzosen daran gedacht, das Prinzip der Selbstregierung, diese reiche Quelle der Nationalmacht und des Nationalreichtums, in Anwendung zu bringen, und fast möchten wir glauben, sie hätten niemals erfahren, was man unter diesem Worte versteht. Die Franzosen haben nie aufgehört und werden nie aufhören, den Rhein zur Grenze zu begehren. Sie scheinen dafür weit tiefere Gründe als die vorgeschützten zu haben. (Jetzt kommt ein Gedanke, der in neuerer Zeit öfter ausgesprochen worden ist und der gewöhnlich für eine Frucht der modernen Ethnologie gehalten wird; wie man hier sieht, stammt er von List.) Den Franzosen nämlich, wenn sie Belgien und Deutschland bis zum Rhein besitzen, kann es nicht schwer fallen, wie das schon einmal geschehen ist, auch Holland und die Länder an der Ems, an der Niederweser und Niederelbe zu erobern. Indem sie so den kräftigsten Teil der germanischen Rasse des Kontinents auf den romanischen Stamm ihrer Nationalität pfropfen, verschaffen sie ihrem Nationalkörper die Eigenschaften, die ihm fehlen, die aber zur Erlangung der Vorherrschaft erforderlich sind, nämlich einen hohen Grad gewerblicher Produktivität und Geschick für Schiffahrt und Kolonisation.« Die Politik, führt List weiter aus, wird überhaupt in Zukunft bestimmt werden durch die Rivalität der drei Rassen unsers Kulturkreises; die führenden Mächte der drei Rassen sind England, Frankreich und Rußland. Die germanische Rasse ist aber offenbar von der Vorsehung zur obersten Leitung der Weltangelegenheiten berufen. Das fühlen die anderen beiden, und deshalb sind Rußland und Frankreich natürliche Verbündete; außerdem auch noch dadurch, daß beide, um ihre unzulängliche nationale Naturanlage zu ergänzen, den Kontinentalteil der deutschen Rasse unter sich zu teilen wünschen, um so verstärkt England überwinden zu können. Frankreich plant zunächst eine Invasion in Irland. England kann aber nicht, wie bisher, seine ganze Kraft auf Gewerbe und Handel verwenden, wenn es zugleich seine Küsten vor Invasionen schützen soll. Und zugleich wird England wirtschaftlich von dem aufsteigenden Nordamerika bedroht. Will England seine Zukunft nach allen Seiten hin sichern, so mag es Westafrika den Franzosen, Nord- und Ostasien den Russen überlassen, damit diese beiden Völker in der Behauptung jener Gebiete ihre Kräfte verschwenden, dafür aber zur Sicherung seiner Verbindung mit Indien ein Egypten und Vorderasien umfassendes Zwischenreich gründen, dafür sorgen, daß alle Länder der europäischen Türkei in deutschen Besitz kommen und sich mit Deutschland verbünden. »Man bedenke nur, welchen ungeheuren Vorteil England aus der Anlegung einer (durch Deutschland führenden) elektrischen Telegraphenlinie erwachsen würde, vermittels deren Ostindien mit derselben Leichtigkeit von Downingstreet aus zu regieren sein würde, wie jetzt Jersey und Guernsey.«

Eine wirksame Allianz zwischen Deutschland und England, lesen wir weiter, setzt voraus, daß sich Deutschland im Besitz aller der Kräfte befinde, die ihm nur aus freien Institutionen und aus einer vollkommen nationalen Organisation erwachsen können, denn es ist weniger die Macht und Freundschaft der deutschen Fürsten als vielmehr die Kraft und Sympathie des Deutschen Volkes, deren England in einem Kampf mit Frankreich und Rußland bedarf. »Nun muß ich mir die Behauptung erlauben, daß gegenwärtig, in einer Zeit, wo so viel gethan werden sollte und könnte, um die politischen und nationalen Wünsche und Bedürfnisse des deutschen Volkes zu befriedigen, von seiten der deutschen Regierungen oder vielmehr ihrer Bureaukratie nichts, oder fast gar nichts gethan wird, während von seiten der englischen Handelspolitik zu einer Zeit, wo es so leicht wäre, sich das deutsche Volk zu befreunden, alles geschieht, sich seine Sympathie zu entfremden. So scheint es, als ob man von beiden Seiten nichts Angelegentlicheres zu thun hätte, als im Deutschen Volke jenen Nationalgeist zu töten, den man dermaleinst so nötig haben wird, und der, pflanzt man ihn nicht jetzt schon, zur Zeit der Not nicht plötzlich heraufzubeschwören ist, es wäre denn in der Zwischenzeit eine neue Erfindung gemacht worden, ihn durch Dampf zu erzeugen.« Ein nützlicher und wirksamer Alliierter, das wird den Engländern noch besonders zu beachten empfohlen, könne Deutschland nur dann für sie sein, wenn es seine nationale Wiedergeburt erlebe. Diese hinderten oder erschwerten wenigstens die Engländer, indem sie Deutschland durch ihre Zollpolitik schwächten. Sie glaubten Deutschland zu kennen, weil sie einigermaßen die Diplomatie seiner Regierungen kennten, aber sie irrten sich. Unbekannt sei ihnen das deutsche Volk, der ungeheure Aufschwung seines Nationalgefühls, das Ringen seines Gewerbestandes nach Unabhängigkeit vom Auslande. Noch dazu rechne England falsch. Gerade ein durch Zollschutz erstarktes industrielles Deutschland und der Verkehr mit einem solchen verspreche den Engländern die größten materiellen Vorteile, wie die englische Ausfuhrstatistik der letzten Jahre beweise; je mehr Deutschlands Reichtum wachse, ein desto besserer Käufer englischer Waren werde es. Wie thöricht, diesen durch die Erfahrung gewährleisteten reellen Nutzen dem Phantom der Handelsfreiheit zu opfern! Kaum werde es nötig sein, zu erinnern, daß Deutschland seine Wiedergeburt (so schreibt List aus guten Gründen immer für Einigung) nur von Preußen zu erwarten habe. Leider schwebe dieses in Gefahr, seinen Einfluß zu verlieren, weil es beschuldigt werde, daß es England gegenüber die deutschen Nationalinteressen nicht zu wahren verstehe. Auf die Frage, was nun eigentlich die englische Regierung thun solle, antwortet er: »sie sollte die Hannoveraner ihres Vertrages entbinden; sie sollte Preußen merken lassen, daß unter den obwaltenden Umständen England kein Dienst damit erwiesen werde, daß Preußen in Tarifsachen gegen die öffentliche Meinung handle; sie sollte, statt dem Andrang ihrer Industriellen nachzugeben und auf die Zollkongresse einen der deutschen Industrie nachteiligen Einfluß zu üben, sich an den Grundsatz halten, daß jede Nation am besten wissen müsse, was ihr gut ist. Etwaige Vorwürfe ihrer Industriellen könnte sie leicht mit der Bemerkung zurückweisen, daß der deutsche Tarif immer noch zehnmal liberaler sei, als der jedes anderen Landes, und daß die Ausfuhr Englands nach Preußen, Deutschland und Holland im Laufe der letzten zehn Jahre sogar um 50 Prozent mehr zugenommen habe, als die nach Rußland, Frankreich, Portugal und seinen Kolonien, nach Spanien, Italien und den Vereinigten Staaten von Nordamerika.«

In dem Schreiben an den König Friedrich Wilhelm IV., womit er die Denkschrift übersandte, sagte er u. a.: »Ich werde fälschlich für einen Gegner Preußens gehalten. Giebt es in Deutschland Patrioten – und ich glaube, ihre Zahl ist nicht gering –, die von der Überzeugung durchdrungen sind, Preußen habe die Bestimmung, durch Reaktion gegen die stationären und retrograden Tendenzen altersschwacher Mächte dem Vaterlande die Konvulsionen einer Revolution oder die Schmach einer abermaligen Unterjochung zu ersparen – giebt es in Deutschland Patrioten, die der Ansicht sind, daß Deutschland nur durch Preußen zur Wiedergeburt gelangen könne, so bin ich einer von ihnen.« In einer Aufzeichnung, die Häusser unter Lists Papieren gefunden hat, heißt es: »Die Bureaukratie ohne Parlament und ohne Premierminister ist den Dingen in Preußen nicht mehr gewachsen. Auch dort giebt es Talente, aber sie wirken vereinzelt, im Ganzen ist kein Plan und kein Überblick vorhanden. Die Bureaukratie hat nicht den Mut, einer Macht wie England gegenüberzutreten, wenn sie nicht ein Parlament und die öffentliche Meinung zur Seite hat; sie läßt in großen politischen Fragen den Staat und sein Ansehen tiefer herabwürdigen, als es die kleinsten, aber parlamentarisch regierten Staaten, z. B. Belgien thun. Die unkontrollierte Bureaukratie hat immer einen Hang, Sondervorteile den Nationalbedürfnissen voranzustellen. So lange der Fluch dieser Bureaukratie auf Preußen lastet, wird man keine staatsmännischen Ansichten und keine Macht entwickeln können, und es wird nicht besser werden, bevor das Volk, die Stände, die Provinzen, man nenne es wie man will, sich ihren Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten erringen. Drum hilft nichts anderes gegen die Weisheit der Spezialitäten und gegen die Alleinherrschaft der Bureaukratie, als eine parlamentarische Regierung.«

Bunsen hielt List vorläufig in London zurück; er stellte ihm eine Anstellung im preußischen Staatsdienst in Aussicht. List glaubte nicht daran, und in der That lief als Antwort nichts ein als eine dankende Empfangsbestätigung. Robert Peel erklärte sich in seiner Antwort zwar mit Lists Ziele einverstanden, aber nicht mit den von ihm vorgeschlagenen Mitteln; er zweifelte an der Zweckmäßigkeit der Schutzzölle für Deutschland und meinte, ein freihändlerisches Deutschland werde leichter zu einem Bündnisse mit England gelangen. Günstiger urteilte ein anderer englischer Staatsmann, Lord Clarendon, wie seine Briefe an List beweisen. Strauß schreibt in den »zwei Märtyrern«: »Ihn (List) kostete sein Martyrium wirklich das Leben (der andere, E. M. Arndt, kam mit dem Leben davon). Nicht Verhöre und Untersuchungsfoltern, sondern der Jammer, ein ganzes Leben hindurch tauben Ohren gepredigt zu haben, brach seine Kraft. Es war ein entsetzlicher Schritt um diese letzte Reise Lists nach England: Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo! Ein Feldherr, der, nachdem er mit den Seinigen vergeblich alles versucht hat, es am Ende möglicher findet, die Feinde zu freiwilliger Schonung, als die Seinigen zur Gegenwehr zu überreden.« –

Im Herbst kam der Unermüdliche überarbeitet, körperlich krank und mit bedrücktem Gemüt nach Hause. Seine Verdauung war zerrüttet, und er litt an beständigem Kopfschmerz. Seine Gemütsstimmung verriet einmal der Ausruf: »Gott, wenn ich den Verstand verlieren sollte! Lieber vorher zehnfach sterben!« Die Industriellen stellten ihm 6000 Gulden zur Verfügung; er ließ sie unberührt beim Banquier liegen; nach seinem Tode wurde die Summe seiner Familie übergeben. List verbarg seine Leiden unter der Hülle einer sanften Traurigkeit und blieb unausgesetzt thätig. Eines Morgens entschloß er sich auf das Zureden eines befreundeten Kaufmannes, nach München zu gehen, wo ein neuer großartiger Industrie- und Handelsverein gegründet werden sollte. Er blieb jedoch nicht in München, sondern reiste weiter nach Tirol. Aus Tegernsee erhielt seine Familie die letzten Zeilen von seiner Hand: er wolle nach Meran gehen, die milde Luft dort werde ihm wohlthun. Schlechtes Wetter zwang ihn, in Kufstein zu rasten. Obwohl hinlänglich mit Geld versehen, lehnte er im Gasthofe die besseren Zimmer ab, die ihm der Wirt, der ihn nicht kannte, anbot: »Ich bin zu arm, geben Sie mir das schlechteste Gemach im Hause.« Er blieb einige Tage, aß wenig und brachte die meiste Zeit im Bette zu.

An Kolb schrieb er seinen letzten Brief:

»Lieber Kolb,

ich habe schon zehnmal angefangen, an die Meinigen zu schreiben, an mein treffliches Weib, an meine herrlichen Kinder, aber Kopf, Hand und Feder versagen mir diesen Dienst. Möge der Himmel sie stärken! Starke Bewegung und ein kurzer Aufenthalt in einem wärmeren Land sollten mich wiederum in den Stand setzen zu arbeiten, aber mit jedem Tage vermehrten sich auf der Reise Kopfschmerzen und Beklemmung. Dazu das schauderhafte Wetter! Ich kehrte in Schwaz um, kam aber nur bis Kufstein, wo ich liegen blieb und noch liege in melancholischer Stimmung, da mir alles Blut nach dem Kopf stürmt – besonders morgens. Und dazu die Zukunft – ohne Einkommen von meiner Feder würde ich, um zu leben, das Vermögen meiner Frau (ich habe keins) aufzehren müssen, das noch lange nicht für sie allein mit den Kindern zureichen würde – nur zum allernotdürftigsten Auskommen. Ich bin der Verzweiflung nahe, Gott erbarme sich meiner Angehörigen! Seit vier Tagen nehme ich mir jeden Abend und heute zum fünftenmal vor, nach Augsburg zu gehen, und jeden Morgen werde ich wieder rückfällig. Was Sie und andere Freunde an den Meinigen thun, wird Ihnen Gott lohnen. Leben Sie wohl.

Fr. List

Am 30. November ging er aus und machte von der Pistole Gebrauch, die ihm, wie Carey sagt, das dankbare Vaterland in die Hand gedrückt hatte. Im Schnee fand man seine Leiche und bestattete sie auf dem Friedhofe zu Kufstein.

Daß dieses Ende des großen Patrioten eine neue Schmach für das deutsche Vaterland sei, wurde tief empfunden. Karl Andree schrieb in der Bremer Zeitung: »In Deutschland, wo man für Sänger und Klavierspieler, für Liebedienerei und zweideutige Verdienste Auszeichnungen in Menge hat, wurde der Schöpfer des Eisenbahnnetzes kümmerlich abgefunden, der allgemeine Ratgeber, der Förderer einer Menge wichtiger Unternehmungen kärglich bezahlt, und der Agitator für eine nationale deutsche Handelspolitik mußte sein mühsam erworbenes Vermögen aufopfern, ohne dafür auch nur Dank zu ernten.« Und Heinrich Laube rief ihm in den Grenzboten nach: »Armer Freund! ein ganzes Land konntest Du beglücken, aber dies Land konnte Dir nicht einen Acker Erde, konnte Dir nicht ein warmes Haus geben für die traurige Winterzeit des Alters! Dieser Fluch des zerrissenen Vaterlandes, in welchem man so kinderleicht heimatlos werden kann, dieser Fluch hat Dich im Schneesturm oberhalb Kufstein in den Tod gejagt, und unsere Thränen, unsere Lorbeerkränze, was sind sie Deiner verwaisten Familie? Was sind sie den guten Bürgern und guten Egoisten, die sich die Fülle des Leibes streicheln und weise sprechen: der Staat ist nicht für Genies da! Danket Gott, daß der Staat trotz seiner schreienden Undankbarkeit Genies findet, und segnet wenigstens im stillen dieses Grab bei Kufstein, das einen der tüchtigsten Schwaben, das eine politische Fähigkeit in sich schließt, wie sie leider verzweifelt selten in Deutschland ist, und der ein schwermütiges Alter wartet, wenn sie nicht einen weitblickenden Fürsten und nicht ein wahrhaftes Parlament findet, ein Parlament, worin Schwabe und Preuße, Österreicher und Bayer, Franke und Sachse vor dem Deutschen zurücktritt. Friedrich List war ein solches Parlamentsmitglied in partibus infidelium.« Der deutsche Staat, der List hätte benutzen und belohnen können, war eben nicht vorhanden. Als er einmal dem badischen Minister Winter die Opfer aufzählte, die er für ganz Deutschland gebracht habe, erwiderte ihm die Exzellenz: »da müssen Sie sich eben an ganz Deutschland halten«, konnte ihm aber nicht sagen, wo dieses ganze Deutschland zu finden sei. Dem Litteraten Wolfgang Menzel lag das Wirtschaftsleben zu fern, als daß er Lists Streben hätte verstehen können; ganz oberflächlich leitet er alles Unglück des Mannes von seiner Grobheit her, die allerdings nach den mitgeteilten Proben bei günstiger Gelegenheit den Grad erreicht hat, den seine urkräftige Natur erwarten ließ. Aber als ehrlicher Freund hat sich Menzel auch nach Lists Tode erwiesen. Er organisierte Komitees, die für die Hinterbliebenen ein Ehrengeschenk von 22 000 Gulden aufbrachten. Die württembergische Kammer gedachte in der Sitzung vom 14. März 1848 Lists, des Verfolgten, der die Tage der Freiheit leider nicht erlebt habe, und in demselben Ständesaal, aus dem man ihn einst ausgestoßen hatte, erhob sich einmütig die Versammlung, den edeln Toten zu ehren. Am 6. August 1863 ward das Listdenkmal zu Reutlingen feierlich enthüllt. In Leipzig findet man den Namen Lists in der Nähe des Leipzig-Dresdener Bahnhofs an einem Porphyr-Obelisk – unter vielen anderen Namen. Auch in Kufstein ward ihm Ende der neunziger Jahre ein Denkmal errichtet.

Wir wollen nicht ganz so hart wie Carey über »das dankbare Vaterland« urteilen. Ein Mann, dem die Vorsehung die Bürde einer Sendung auferlegt hat, wie sie List zu teil geworden ist, kann kaum anders als tragisch enden. Er hatte die verhängnisvolle Gabe, alle Unvollkommenheiten des öffentlichen Lebens deutlich und bis auf den Grund zu sehen, und dazu die nicht minder verhängnisvolle Gabe des Reformtriebes, damit war ihn der Haß aller regierenden Mächte als unvermeidliche Zugabe in die Wiege gelegt. Er war ein Prophet, und des Propheten natürliches Schicksal ist das Martyrium. Denn da die gewöhnlichen Menschen die Zukunft, die der Prophet schaut, nun einmal nicht sehen können, so müssen sie ihn notwendigerweise für einen Phantasten halten, und das Mildeste, was ihm widerfahren kann, ist, daß er ausgelacht wird. Im Vergleich zu anderen Propheten hat sich List großer Erfolge zu erfreuen gehabt. Er hat es durchgesetzt, daß die Deutschen nicht allzuspät der allgemeinen Entwickelung des Verkehrswesens nachgehinkt sind, und er hat den Zollverein gegründet, der seiner Natur nach, wie List voraussah, zum Nationalstaat führen mußte. Aber nachdem dies erreicht war, gab es für List im damaligen Deutschland nichts mehr zu thun. Was sollte er treiben? Schriftstellern? Gewiß hatte er das Zeug dazu. Laube charakterisiert ihn ganz richtig als »einen unserer besten Schriftsteller. In seinen Artikeln war mehr als bloßes Wissen und bloßer Beweis, es war ein drangvolles, den Leser zwingendes Leben in diesen Aufsätzen, ein voller, gewaltiger Mensch ordnete, regierte, trieb, unterwarf uns hinter diesen Zeilen und Sätzen, die stets in künstlerischer Form stiegen und schwollen und am Ende des Artikels stets die höchste Höhe des Ausdrucks erreichten. Wen sie nicht überzeugten, den rissen sie fort, und wen sie nicht fortrissen, den bestürzten sie. Nichts war trocken in Lists Behandlung. Und wenn man obendrein weiß, daß er über hundert Gesichtspunkte nicht sprach, absichtlich nicht sprach, weil er sparen gelernt hatte, um zu wirken, wenn man aus dem persönlichen Verkehr mit ihm erkannte, daß gerade die von ihm verschwiegenen Gesichtspunkte die ergiebigsten, die den Patrioten wie den Mann des Fortschritts entzückendsten sind, dann hatte man doppelt zu bewundern: die Fülle des Inhalts und die weise Beschränkung in dem, was eben zu äußern, was eben auszuführen war.« Also, ein Publizist ersten Ranges war er, doch um von der Publizistik leben zu können, muß man heute über dies, morgen über jenes schreiben, was gerade Marktwert hat, und dazu giebt sich ein List nicht her; er schreibt nur, was ihn sein Patriotismus schreiben heißt. Die Fabrikanten hätten ihn gewiß nicht umkommen lassen, aber als Pensionär einer Interessengruppe kann nicht leben, wer sich bewußt ist, daß seine Kraft dem ganzen Vaterlande gehört. Und für einen »Schreiberdienst«, selbst mit dem Titel Regierungsrat, taugte er nun einmal nicht. Die einzige Stellung, die er hätte bekleiden können, wäre die eines Reichs-Handels- und Verkehrsministers gewesen, aber – das Reich war noch nicht vorhanden. So gab es für ihn keinen anderen Ausweg als den Tod. Eugen Dühring hat ihn als den einzigen großen deutschen Nationalökonomen gepriesen und ihn damit sowohl zu hoch wie zu niedrig gestellt. Große Nationalökonomen hat das deutsche Volk mehr als einen hervorgebracht, aber nicht mehr als einen Bismarck des deutschen Wirtschaftslebens: unseren Friedrich List.

Wir schließen mit dem Urteil eines Ausländers, das die Allgemeine Zeitung den Deutschen zu Gemüt geführt hat, als List noch lebte. Richelot sagt in seinem Buch über den deutschen Zollverein 1845: »Es lebt in Deutschland ein Mann, welcher ohne Amt, ohne Titel, ohne Reichtum, lediglich durch seine Vaterlandsliebe und sein Talent eine wahre Macht geworden ist. In Frankreich kennt man allerdings diese königliche Herrschaft der Intelligenz, welche als Szepter eine Feder führt, allein in Deutschland ist sie, in diesem Grade wenigstens, eine außerordentliche Erscheinung. Dr. List ist der moralische Gründer des deutschen Zollvereins und der deutschen Eisenbahnen. Die beiden größten in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert ausgeführten Dinge sind seinen Gedanken entsprossen.«



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