Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auch Ethel Murray schlief, von mir durch ein Stück Segelleinwand getrennt. Bell Dingo hatte die erste Wache übernommen. »Ai ai, du müde, Mussu, – und Missu Ethel auch … Ihr ruhen, ich wachen und denken«, hatte er erklärt, und gegen seine Selbstverständlichkeit war nicht aufzukommen. Sein nachsichtiges Schmunzeln, als ich mir meine durch das Rudern so übel zugerichteten Hände angeschaut hatte, war eigentlich eine Beleidigung. Ich war verweichlicht in diesen drei Monaten Einsamkeit, ich hatte vieles eingebüßt in diesen endlosen Wochen, in denen nur das Meer und die Vögel und meine Insel meine Gefährten waren.
Ich schlief. Draußen im Busch, der von einzelnen Schopfbäumen überragt wurde, deren weißlicher haarähnlicher Behang sie zu morschen Greisengestalten machte, rauschte im Seewinde und sang Ethel und mir das Schlummerlied.
Stunden verrannen.
Ein Fußtritt gegen das Schienbein weckte mich. Ich schnellte hoch, stierte schlaftrunken in die Mündung einer klobigen Repetierpistole und in ein braunes Gesicht, das von einem hellen Schlapphut mit dem Abzeichen der berittenen Polizei von Queensland überschattet wurde. Hinter Bluß im Zelteingang standen noch drei Leute in fahlgrünen Anzügen aus englisch Leder.
»Gut geruht?« meinte der Colonel mit einer Stimme, die wie eine Stahlsaite nachschwang. Der blutige Hohn trieb mir die Röte bis in die Stirn. Sein Fußtritt sollte ihm nicht vergessen werden.
»Aufstehen«, kommandierte er grob. »Hände her! – Sergeant, die Handschellen!«
Ein Mischling war dieser Sergeant, ein baumlanger Kerl mit olivengrüner Visage, pockennarbig, finsteren Augen. James Mistar hieß er.
Ich stand nicht auf. Mein Herz hämmerte ein wenig schneller. Ich zählte die Gegner. Fünf. Eine ungerade Zahl. Ich bin abergläubisch. Sechs wären mir angenehmer gewesen.
Arthur Bluß war unfehlbar das, was man äußerlich einen Prachtkerl nennt. Er hatte graue Augen von peinlicher Schärfe. Er belauerte meine Bewegungen. Er hielt mir die Pistole fast vor die Stirn.
»Los doch! Kerl, was zögerst du?!«
Und wieder hob er den Fuß.
Dieser brutale Gewaltmensch, wohl verwildert auf beständiger Menschenjagd, war einem Schüler Coy Calas niemals gewachsen. Hätte Coy hier an meiner Stelle auf der Wolldecke gesessen, würde ich für des Colonels Leben keinen Pfifferling gegeben haben. Coy hätte einen Fußtritt mit einem Messerstich beantwortet, und Coys Stiche saßen stets gut.
Arthur Bluß flog plötzlich nach hinten, seine Kugel fegte über meinen Nacken weg, und er selbst warf seine Leute zu wirrem Knäuel übereinander. Mit fünf Sätzen hatte ich einen der abgesattelten Gäule erreicht, war oben, jagte in den Busch hinein …
In meinen Adern brauste das Blut wie lange nicht.
Ich war erwacht. Der Winterschlaf dreier Monate war vergessen …
Coy Calas Schüler bearbeitete die Weichen des Pferdes mit den Hacken, lag eng angeschmiegt auf dem berauschend duftenden Pferderücken …
Ich sog diesen Geruch ein wie etwas endlos Entbehrtes … Und in meinem Herzen lebten Erinnerungen auf an den besten Reiter, den ich je gesehen.
Mochten die da hinten brüllen …
Der Gaul war vortrefflich, war an solch' wilde Hetzen gewöhnt, fand von selbst die freien Stellen im Busch …
Dann hinaus in das Sandfeld – nach rechts den felsigen Hügeln zu … hinein in ein steiles, kahles Tal, hinein in eine Seitenschlucht und hier hinan bis zu einer dünn bewaldeten Kuppe, die letzte Strecke zu Fuß, den Gaul nur an der Mähne führend.
Tief unter mir sah ich, lang im Geröll liegend, die sechs Verfolger, weit voraus Arthur Bluß auf einem hochbeinigen Fuchs. Die preschten blindlings an der Schlucht vorbei, und ich lachte still vor mich hin, nahm meinen Braunen beim Halfter, den ich rasch aus Streifen meines Bastseidenhemdes hergestellt hatte, und stieg gemächlich in die Ebene hinab. Am Fuße der Kuppe zog sich ein Wald von Kasuarinen hin, jenen schachtelhalmähnlichen Riesengewächsen, die als ungeheure Stengel die wenigen dürren Nadelbäume hoch überwucherten. Das Schweigen dieses seltsamen Waldes aus braungrünen Stangen umfing mich mit nervenberuhigender Lautlosigkeit. Ein paar Tiere huschten entsetzt davon; wütend grunzte mich ein Ameisenigel an, der gerade seinen Rüssel tief in einen kribbelnden Hügel gebohrt hatte. Helmkakadus kreischten ebenso wütend auf. Sie hatten auf einem Bunga-Bunga gesessen und sich an den großen Nüssen gütlich getan.
Es war dies ein völlig anderes Land als meine verlorene Heimat dort am Gallegos-Fluß an der Grenze Patagoniens, – es war das Land der seltsamsten Tiere des Erdenrunds, der Beuteltiere, der Känguruhs, des Beutelwolfes und des Schnabeltieres, des einzigen Vierfüßlers, der ein Bindeglied zu der Familie der Vögel darstellt, da er Eier legt … Es war das Land der unendliches Scrubs, jener Akazienwaldungen, die hier als Bäume ihre bläulichgrünen Blätter schattenspendend ausbreiten.
Das Gekreisch der Kakadus verstummte zum Glück sehr bald, es hätte mich verraten können. Am Fuße einer riesigen australischen Buche, deren Zweige dicht besät mit runden riesigen Nestern von Paradiesvögeln waren, stieß ich auf frische Spuren. Hier waren zwei Menschen vorbeigekommen, einer mit Schuhen mit Gummisohlen, der zweite mit nackten kleinen Füßen. Die enge Riffelung der Gummisohlen war noch neu. Sollte ich hier Freund Dingo vor mir haben?! Sollte seine Begleiterin Ethel Murray sein? War es ihm geglückt, sie zu befreien?
Ich schritt eiliger aus. Ich wollte Gewißheit haben. Ich kam über felsige, kahle Strecken und mußte mühsam nach den Fährten suchen. Coy wäre mit mir zufrieden gewesen.
Und dann senkte sich der Wald jäh in eine kleine enge Schlucht hinab. Zwischen den dünner stehenden Kasuarinen gewahrte ich auf dem Grunde des steilen Tales eine blinkende Wasserfläche. Frische Gräser bildeten dort einen grünen Teppich, die Felswände zeigten üppige Moospolster, kleinere Buchen und Schopf bäume (Grasbaum lautete die wissenschaftliche, aber weit weniger treffenden Bezeichnung) gaben diesem grünen Fleckchen Erde ein noch behaglicheres Aussehen.
Ich band den Braunen fest und kletterte vorsichtig abwärts. Der Steilhang gebot mir Halt. Ich beugte mich vor und erblickte an einem winzigen Feuer zwei Gestalten.
Es war Bell Dingo, aber seine Begleiterin war nicht Ethel Murray, und mein Herz tat ein paar schnellere Schläge vor bitterer Enttäuschung.
Der schöne Dingo hockte auf einem Stein. Die weißen Beinkleider hatte er achtsam über den Knien hochgezogen, um sie nicht auszubeuteln. Er sprach eifrig auf eine uralte Australnegerin ein, die in einen bunten Kattunfetzen gehüllt war. Ihr wolliges Haar war ergraut, ihr schwarzes Gesicht tätowiert und von abschreckender Häßlichkeit. Trotzdem ging Dingo mit ihr aufs Zärtlichste um, streichelte ihre Hände und reichte ihr die im Feuer gerösteten flachen Kuchen aus Nardumehl.
Umsonst suchte ich dann nach einer Stelle, die den Abstieg ermöglichte. Ich wollte Bell Dingo überraschen. Auch er spielte mit mir ein wenig Versteck, auch er hatte wie Ethel seine Geheimnisse. Die abgeschraubten Schilder, die noch immer nicht wieder befestigt waren, vergaß ich nicht.
Die Felswände fielen überall senkrecht ab, mindestens fünfzehn Meter, und vielleicht gab es nur einen Zugang zu dem Talkessel: Mit Hilfe einer Buche, deren Stamm sich in halber Höhe der Südwand auf einem Vorsprung angesiedelt hatte und deren Krone bis zum Rande des Südhangs emporreichte. Hier stand ich und musterte den Boden ringsum. Ich sah keine Spuren. Vor mir war das dichte Grün der Zweige und Äste, und Coy hätte vielleicht eine Kasuarine gefällt und sie als Brücke zum Stamm des Baumes benutzt. Ich hatte kein Beil, ich hatte nur meine Pistole.
Es blieb mir nichts anderes übrig als zu rufen. Dabei hätte ich Bell Dingo so gern belauscht.
Ein anderer belauschte mich, einer, der die australische Wildnis besser kannte als ich.
Lautlos war Colonel Bluß in meinen Rücken gelangt. Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter, fuhr herum, und die Pistolenmündung drohte und Arthur Bluß lächelte ironisch.
»Da wären wir«, sagte er leise. Seine grauen Stahlaugen blickten in freundlichem Spott, sein Gesicht verriet mehr liebenswürdige Nachsicht als Triumph, mich überrascht zu haben. Es waren die edlen, offenen Züge eines Gentleman. Vorhin im Zelt hatte ich sie wohl unrichtig angedeutet.
Drei Monate Einsamkeit und Verweichlichung lagen hinter mir. Ein einziger Tag hatte all das wieder zum Leben erweckt, was mir Mutter Natur mitgegeben und Coy weiter ausgebildet hatte.
»Sie sind ein unleidlicher Schwätzer, Colonel«, sagte ich ebenso gedämpft. »Sie hätten heute lernen sollen …!«
Ich schwatzte selbst, aber mein blitzschneller Fausthieb von unten her und ein gut berechneter Tritt waren der erfolgreiche Nachsatz.
Oberst Arthur Bluß von der berittenen Polizei Nord-Queensland flog meterweit in die Kasuarinen, und ich flog eine Sekunde darauf in die Krone der Buche, erwischte einen Ast, turnte abwärts und ließ mich dann auf gut Glück vom tiefsten Ast, der unter meinem Gewicht sich nach unten bog, auf den Grasboden der Schlucht fallen und nahm hinter einem überhängenden Stein Deckung.
Oben hörte ich Bluß' kernige Flüche und andere laute Stimmen.
Das Lagerfeuer brannte noch. Bell Dingo und die Negerin waren verschwunden.
Vor mir im Grase bemerkte ich niedergedrückte Stellen. Ob es die Fährte eines Tieres war – vermutlich. Ich sah die Löcher von Krallen und die Eindrücke von Ballen.
Oben brüllte der Colonel: »Ergeben Sie sich!! Ich verspreche Ihnen Straffreiheit, ich will nur Ethel Murray haben. – Sie sind mir gleichgültig!«
»Sie auch!! Und der erste, der das Tal betritt, – dem ist für alle Zeit alles gleichgültig!« Ich entsicherte meine Pistole.
Hinter mir aber sagte da ein krächzender Baß mit kühlster Selbstverständlichkeit:
»Mussu fein springen … Hier gerade richtiger Platz …«
Mein lieber Ai Ai stand tief gebückt in einem Loche der Felswand, das vorher nicht vorhanden gewesen war. Er winkte grinsend. »Etwas eng sein, nachher breiter, Mussu … Sein Wohnhöhle von Eltern meinige …« Er strahlte … »Mutter noch leben hier … Mussu, aber Mutter bleiben besser fern … Mutter haben böse Kamu-Beulen, sehr ansteckend das für Weißen …«
Oben brüllte Bluß abermals sein zweckloses Sprüchlein. Hier unten schob mein Ai Ai einen riesigen Stein vor das Loch und stützte einen Pfahl dagegen.
»Colonel Bluß können lange suchen«, sagte er. »Keine Spur im Gras verraten uns … Ich sein auf Händen hierhergegangen, und Mutter sitzen mir auf Bauch …«
Das also war die Tierfährte!! Bell Dingo war doch ein ganz gerissener Kunde.
Im schwachen Dämmerlicht, das durch einige Ritzen in den Höhleneingang hineinfiel, folgte ich meinem Ai Ai ziemlich steil abwärts, bis heller Sonnenschein mich eine geräumige Grotte erkennen ließ, in der eine Hütte aus Flechtwerk dicht am Eingang lehnte, vor dem sich undurchdringliches Gestrüpp erhob.
Ich drückte Dingo stumm die Hand.
»Wo ist Frau Murray?«
Er zog die Schultern bis zu den Ohren hoch. »Nicht wissen … Nachher erzählen …«
»Und deine Mutter?«
»In Hütte da, Mussu … Sehr krank, Mussu …« Sein Gesicht wurde tief traurig. »Mutter haben nur von Bunga-Bunga gelebt … Das sein schuld an Kamu-Beulen.«
Was die Eingeborenen mit Kamu bezeichnen, ist in der Tat ein böser Hautausschlag, dessen braune eitrige Borken einen fürchterlichen Gestank verbreiten.
Ich verzichtete darauf, Frau Dingo zu begrüßen.
Ai ai schleppte einen Baumklotz herbei.
»Setzen, Mussu … Ich beobachten Polizei.«