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»Der Mensch übersteht Erdbeben, Epidemien, grauenhafte Krankheiten und alle erdenklichen Seelenqualen, aber die qualvollste Tragödie zu allen Zeiten war, ist und wird immer sein die Tragödie des Schlafzimmers.« In dieser Äußerung, die Tolstoi unwillkürlich in Gorkijs Gegenwart entfahren ist, finden wir den Schlüssel zu seinem tragischen Schicksal.
Die Tragödie des ehelichen Schlafzimmers wurde zur Tragödie von Tolstois Leben und Schaffen. Doch hat bisher niemand in dies Allerheiligste der Seele des großen Dichters hineingeblickt; niemand hat den inneren Aufruhr erfaßt, der, oft unheimlich und immer qualvoll, den Zwiespalt heraufbeschwor zwischen Tolstoi dem Künstler und Tolstoi dem Moralisten, die einander bekämpften, diesen Zwiespalt, der zu überreizter Nervosität und Überspannung führte, mit jedem Tag ein krankhaftes Welt- und Lebensempfinden steigerte, der die Gattin von diesem Leiden in die Kinderstube, in rastlose häusliche Betätigung flüchten, sie zur Hüterin und Wahrerin des Talentes ihres Mannes werden und den Dichter im Schaffen und im »Forschen nach der Wahrheit« Zuflucht suchen ließ. Die beständige Nervenspannung, die nicht abreagiert wurde, keine natürliche Lösung fand, führte zu Erkrankung, Überreiztheit, Hysterie, grundloser Eifersucht und schließlich zu genialem Wahnsinn. Die Gatten begannen am Leben zu verzweifeln, gaben sich gegenseitig schuld an ihren Leiden, Feindseligkeit, ja Haß erwachte, sie quälten einander, litten, als fänden sie darin einen gewissen Genuß, einen Ersatz für die fehlende Liebe, und sahen keinen Ausweg aus ihrer Not.
Für alle Tolstoi-Biographen und -Forscher, für seine Anhänger und Schüler ist diese Tragödie des Schlafzimmers eine chinesische Mauer, vor der sie zurückschrecken, hinter die sie nicht blicken wollen oder zu blicken vermögen, um teilnehmend in das Geheimnis der fast ein halbes Jahrhundert währenden Tragödie dieser Ehe einzudringen. Die einen beschuldigen die Gattin; sie habe für die Ideen und Bestrebungen ihres Mannes kein Verständnis gehabt, an krankhafter Eifersucht und Hysterie gelitten; die andern sind geneigt, für alle Leiden der Frau Tolstoi verantwortlich zu machen. Aber weder die Gattin noch der Gatte sind an ihrem Unglück schuld; durch Sittlichkeitsforderungen, Standesansichten, Familienbande, wirtschaftliche Interessen und den stetig anwachsenden gemeinsamen Erlebnisreichtum eines langen Zusammenlebens aufeinander angewiesen, waren sie nicht imstande, sich zu trennen, obwohl jedes für sich der wahren Hintergründe dieser Tragödie sich zuweilen bewußt wurde, dem Gefährten aber nicht zu helfen vermochte. Die Macht der Sozial- und Standespsychose war zwingender als das innere Verständnis für ihr Unglück, und so litten beide, durch ihre Qualen aneinander gekettet, Seite an Seite bis zuletzt.
Keiner der Tolstoi-Biographen untersucht eingehender eines der wichtigsten, in seiner ganzen Bedeutung bisher noch gar nicht erkannten Erlebnisse des Dichters: seine Liebe zu Aksinja Anikanowa, einer Bäuerin aus Jasnaja Poljana, obwohl diese den größten Einfluß auf die innere Entwicklung des genialen Mannes gehabt hat. Niemand hat beachtet, daß die Beziehungen der Gräfin zu ihrem Gatten einen unheilbaren Bruch erlitten hatten, wodurch er ihr als Mann auf immer entfremdet wurde. Die Wurzel des Übels aber liegt darin, daß die beiden Gatten einander nie geliebt haben, denn nicht Liebe, sondern nur eine flüchtige Verliebtheit hatte sie verbunden. Sofia Behrs, ein achtzehnjähriges Mädchen, die den Verfasser von »Kindheit und Knabenjahre« schwärmerisch anbetete, aber ihren Jugendfreund Poliwanow liebte, reichte dem berühmten Dichter, durch seine Aufmerksamkeiten geblendet, spontan die Hand zum Bund fürs Leben.
Tolstoi seinerseits waren noch früher Zweifel an dem Gefühl gekommen, das er seiner Braut entgegenbrachte. Kurz vor der Verlobung schrieb er in sein Tagebuch: »Wie, wenn auch dies nur der Wunsch zu lieben, aber nicht Liebe ist?« Und das gerade war es: der Wunsch zu lieben nach dem Programm, das er sich mehr als einmal ausgearbeitet hatte. »Nicht nur, daß er sich Liebe zum Weibe nicht ohne Ehe vorstellen konnte, sondern er stellte sich zuerst Familienleben und Kinder vor und danach erst die Frau, die ihm dazu verhelfen sollte.«
Programmatische Vorschrift und Wirklichkeit, Theorie und Praxis deckten sich nicht; für den Augenblick zwar hatte jene die Wirklichkeit besiegt. Der Dichter war aber gefühlsmäßig bereits anderweitig gebunden, ohne daß er sich der ganzen Macht dieser Liebe bewußt geworden wäre. Als er ihr soweit erlegen war, daß er in sein Tagebuch eintragen mußte, er sei in Aksinja »so verliebt wie noch nie im Leben«, rief er erschrocken aus: »Mir wird sogar unheimlich, wie nahe sie mir ist.« Er hatte nicht bemerkt, daß ihn eine unerwünschte Liebe gegen alle Vorschrift überkommen hatte, als er sich das aber schließlich eingestehen mußte, wurde ihm »unheimlich«, weil die Geliebte nicht aus vornehmem Hause, sondern nur eine einfache Bäuerin war. Um sich von ihr zu lösen, verlobte er sich mit einem jungen Mädchen aus seinen Kreisen. Die Standespsychose siegte im Augenblick über sein tiefes, urgründiges Gefühl, über seine Liebe zu der Frau, die ihm die Natur selbst – nicht die wohlüberlegte programmatische Vorschrift des Grafen Tolstoi – zur Gattin bestimmt hatte.
Der Geheimrat Goethe hat in ähnlicher Lage, seiner Natur treu bleibend, anders gehandelt und ist zu harmonischer Entwicklung gelangt, wenn auch die Frau Rat die Schwiegertochter bloß Betthase nannte. Tolstoi hat den Betthasen verschmäht, seiner Natur entgegengehandelt, und ist dadurch in Zwiespalt mit sich und der Welt geraten und daran innerlich, als Mensch und Dichter, unter unerhörten Leiden und Kämpfen langsam zugrunde gegangen.
Die Tragödie von Tolstois Leben begann mit seiner Heirat. Er konnte damals nicht anders handeln, es war sein Verhängnis, wie er selbst in seinem Taschentagebuch kurz vor seinem Tode, am 20. August 1910, vermerkte: »Heute dachte ich in der Erinnerung an meine Hochzeit, daß es ein Verhängnis war. Ich war (in meine Frau) niemals auch nur verliebt. Ich mußte aber doch heiraten.« Er hatte die Stimme der Natur mißachtet, und dieser »Fehler« rächte sich, worunter Tolstoi sein Leben lang aufs schwerste litt, bis zur Verzweiflung, so daß er schließlich ausrief: »Aber vielleicht habe ich irgend etwas übersehen, irgend etwas nicht begriffen? Es kann ja doch nicht sein, daß dieser Zustand der Verzweiflung dem Menschen eigen ist ,… Ich spürte, daß hier etwas nicht stimmt. Irgendwo habe ich einen Fehler gemacht.« Wenn Tolstoi aus seinem Instinkt heraus den Fehler auch spürte, so lehnte sein Verstand es doch bis zuletzt ab, ihn als solchen anzuerkennen.
Alle Tolstoi-Biographen und -Forscher teilen mehr oder weniger die Ansicht des Dr. Behrs, des Vaters der Gräfin, über das Kosakenmädchen Marianna (in der Erzählung »Die Kosaken«) und folglich auch über Aksinja: »Als ob sie es wert sei, daß man sie einer sittlichen Betrachtung unterziehe. Ich denke, solche sind alle über einen Kamm geschoren. Ihr Nervensystem entspricht vollkommen ihrer Muskulatur und ist zarten und edlen Gefühlen ebenso wenig zugänglich.« W. Shdanow (in seinem Buch »Die Liebe in Tolstois Leben«) sieht in dem Gefühl des Dichters für Aksinja eine Episode, durch die »Tolstois baldige Heirat vorbereitet wurde.« Die übrigen wollen entweder nichts sehen oder sie verlassen sich, wie sein Biograph Birjukoff, vollkommen auf Tolstois bereits in krankhaftem Zustande gemachte Äußerungen, als er gegen seine Natur wütete, ihre Forderungen für sündhaft hielt und von seinem »übel verbrachten« Leben sprach.
Es ist durchaus verständlich, daß es dem alternden, zerquälten und kranken Dichter schwer fiel, an die Vergangenheit zu denken, die intimsten Dinge seines Lebens vor fremden Leuten zu enthüllen, sie in das Geheimnis seines Unglücks einzuweihen. War er sich der Hintergründe seines Unglücks in der Tiefe der Seele auch bewußt geworden, so vermochte er – nachdem er vor allem in den Novellen »Der Teufel« und »Die Kreutzersonate« das Erlebte im schiefen Spiegel der Kunst aufzufangen versucht hatte – doch nicht von dem Schmerz zu sprechen, den er sein Leben lang in sich getragen, von dem er nie jemand gesagt hat. Er fürchtete sogar, es sich selbst in seinem Tagebuch einzugestehen, das er darum auf ganze dreizehn Jahre – von 1865 bis 1878 – unterbrach, also während der qualvollsten Jahre seiner leidenschaftlichen, unbefriedigten Mannbarkeit. Die Zähne zusammengebissen, litt er stumm, in Einsamkeit und Verzweiflung. Während dieser Jahre erfahren wir nur aus dem Tagebuch der Gattin, ersehen wir nur an ihrem Schmerz über den krankhaften Zustand ihres Mannes, wie es in Wahrheit um ihn stand.
Es sind die Leiden zweier Menschen, die sich nie in Glück und Erlösung zueinander gefunden haben, die einander dumpf grollen und jählings hassen, die gegen jeden Menschen, selbst wenn er nur zufällig ihren Weg kreuzt, in quälender Eifersucht entbrennen, weil in ihrem unbewußten Egoismus die gekränkte Eigenliebe jedes der Gatten stets befürchtete und nicht dulden wollte, daß jemand anders einem von ihnen die Befriedigung geben könnte, die sie einander während ihres ganzen Ehelebens nicht zu spenden vermochten. Daher kommen alle die scheinbar grundlosen hysterischen Anfälle, der immer wieder auflodernde gegenseitige Haß, der immer wiederkehrende Wunsch, sich zu trennen.
Wenn sich Tolstoi Leid und Kummer über seine mißglückte Liebe zu Aksinja und zu Sofia Behrs schließlich teilweise von der Seele geschrieben hat – erst 1887 in der »Kreutzersonate« und 1889 im »Teufel« –, so hatte er sich dadurch doch nicht von seinem körperlichen Leiden befreit. Er hatte sowohl seine Frau als auch Aksinja in seinem Innern getötet, über sie, als an seinem Unglück schuldig, das Verdammungsurteil gefällt, aber von seinen physischen Beschwerden, die sich bis zur Geistesverwirrung steigerten, konnte er zu seinen Biographen nicht sprechen. Selbst vor der mit ihm eng befreundeten Gräfin A. A. Tolstoi verschwieg er seinen krankhaften Zustand, von dem sie nur durch einen Zufall erfuhr, durch einen Brief Tolstois, der versehentlich in einen an sie adressierten Umschlag gesteckt worden war. Nur über Kopfschmerzen klagte der Dichter seinen Freunden Feth und Staßow immer wieder, ja er reiste mehrmals nach Moskau, um Prof. Sacharjin zu konsultieren. Aber alle Ratschläge des berühmten Arztes und der Freunde brachten keine Linderung, da weder die damalige Medizin noch der Leidende selbst zu erkennen vermochten, daß die qualvollen Krankheitserscheinungen, bis zur psychischen Erkrankung gesteigert, auf sexueller Grundlage, sexueller Divergenz beruhten.
Denn die Beschwerden begannen schon im ersten Ehemonat offenbar als Folge der Passivität der Gattin, die sich von seinem stürmischen Temperament, der Leidenschaft eines Titanenmenschen, abgestoßen fühlte. Über ihre Empfindungslosigkeit erschrocken, wandte sich Tolstoi im sechsten Monat der Ehe an Dr. Behrs mit dem »Märchen von der Porzellanpuppe«. Aber der Arzt und Schwiegervater glaubte, es wäre bloß ein Scherz und das Märchen ein phantastischer Einfall des Dichters. Tolstoi selbst führte seine Enttäuschung wohl nicht nur auf seine Frau, die »Porzellanpuppe«, zurück, sondern auch auf die eigene sexuelle Maßlosigkeit, während Sofia Andrejewna seine unbegreifliche Krankheit seinem Alter – war er doch sechzehn Jahre älter als sie – zugeschrieben haben mag. Welche verheimlichte Tragik liegt nach all dem in den Briefen des Ehepaars Tolstoi über ihr unglaubliches Glück!
Keiner der Tolstoi-Forscher hat bisher Tolstois Sexualleben untersucht, das doch gerade bei ihm, dem leidenschaftlichen Sinnesmenschen, tiefe Spuren im Unbewußten hinterlassen und sein ganzes Leben und Schaffen nachdrücklich, ja bestimmend beeinflußt hat. Die außerordentliche Sensibilität seiner genialen Natur entspricht seiner ungeheuren physischen Kraft, seine Sexualspannungen wachsen zusammen mit seinen Schaffens- und Seelenspannungen ins Grenzenlose, und jede Hemmung erschüttert den Organismus des Dichters und sein ganzes Leben. Zu einer solchen sich immer erneuernden katastrophalen Erschütterung führte seine Ehe mit Sofia Behrs, die in sexueller Hinsicht nicht mit ihm harmonierte, ja höchstwahrscheinlich psychisch erkrankt war – durch die Erfahrungen der Hochzeitsnacht in der dunklen Reisekutsche. Bereits im vierten Monat ihrer Ehe erkannte sie sich als krank: »Aus einem psychischen Grunde bin ich physisch krank.« Die Seelenerschütterung der Achtzehnjährigen führte zu physischer Erkrankung, die sie vor den Liebkosungen ihres Mannes zurückschrecken ließ und die beiden Gatten auch innerlich auf immer einander entfremdete.
Die ungeheuren Spannungen, die seine unermüdliche schriftstellerische Arbeit mit sich brachte, wurden nicht abreagiert, fanden keine Befriedigung und Regeneration in der Hingabe einer geliebten Frau; der Verschmachtende umarmte eine »Porzellanpuppe«. Die Nervenspannung löste sich nicht, sie wurde im Gegenteil immer stärker aufgepeitscht durch die beiderseitige aufreibende Enttäuschung, die so zersetzend auf die Psyche wirkte, daß an sich geringfügige Verstimmungen allmählich zu Überreizungszuständen, zu Nerven- und Seelenkrisen ausarteten. Die Erkrankung der Gattin wurde durch beständige Schwangerschaft und das Stillen der Kinder zum Teil paralysiert, während die Beschwerden des Gatten sich dermaßen verschlimmerten, daß er zu Zeiten nicht arbeiten konnte, an sich und dem Leben verzweifelte, ja mit sich kämpfen mußte, um nicht durch Selbstmord seinem Leben ein Ende zu machen, da er keinen anderen Ausweg aus seiner Qual sah. Die Tragödie des Schlafzimmers wurde zur Schicksalstragödie des Ehepaars Tolstoi. Der tiefunglückliche Dichter forschte fieberhaft nach den Gründen seines Leidens, lehnte sich gegen die Natur auf, verdammte das Sexualleben des Menschen und suchte Rettung in Religion, Aszese, Selbstgeißelung. Die physischen Beschwerden, die während all der Jahre der Mannbarkeit nicht aufhörten, die die Klarheit seines Dichterblickes trübten, führten zu Hysterie und genialem Wahnsinn. Der Dichter Tolstoi ging zugrunde und an seine Stelle trat der Moralphilosoph, der voller Verzweiflung ausruft: »Irgendwo habe ich einen Fehler gemacht, irgend etwas nicht begriffen, übersehen!«
Man sollte aufmerksam und rücksichtsvoll diese Sexualtragödie Tolstois, die Schicksalstragödie eines Genies betrachten, die eine so allgemein menschliche Geltung hat. Gorkij hat dieses große, schmerzliche Geheimnis des Weisen von Jasnaja Poljana, über das er selbst so beharrlich schwieg, durchschaut; er schreibt: »Ich bin tief davon überzeugt, daß außer all dem, worüber Tolstoi spricht, es vieles gibt, was er immer verschweigt – selbst in seinem Tagebuch –, was er verschweigt und wohl niemals jemand gestehen wird. Es ist dies, wie mir scheint, etwas von der Art einer ›Verneinung aller Behauptungen‹ – der denkbar abgründigste und böseste Nihilismus, der auf dem Boden einer unüberwindlichen Verzweiflung und Vereinsamung erwachsen ist«. Und weiter: »Am meisten spricht er über Gott, den Bauern und das Weib. Dem Weibe steht er, meiner Ansicht nach, in unversöhnlicher Feindseligkeit gegenüber. Es ist dies die Feindseligkeit eines Mannes, dem es nicht gelungen ist, soviel Glück zu schöpfen, wie er vermocht hätte, oder ist es die Feindseligkeit des Geistes gegen ›die erniedrigenden Begierden des Fleisches‹?«
Dieses Menschliche, allzu Menschliche im Leben Tolstois dürfte, richtig verstanden, uns nicht nur das Genie Tolstoi menschlich näherbringen, sondern uns auch zu einem richtigeren Verständnis seines Lebens und Schaffens verhelfen.