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Das »unglaubliche Glück«

Am 17. September 1862, an Sofia Andrejewnas Namenstage, wurde ihre Verlobung mit dem Grafen Leo Nikolajewitsch Tolstoi bekanntgegeben.

Während Familie und Gäste im Salon versammelt waren, trat plötzlich Poliwanow, »fröhlich, glänzend, in Gardeuniform« ein. Tanjas Herz pochte ungestüm vor Aufregung; sie, die um seine Liebe zu ihrer Schwester wußte, verstand, welcher Schlag Sonjas Verlobung für ihn sein müsse. Die Lage des jungen Mannes wurde dadurch noch tragischer, daß ihm die Neuigkeit ganz überraschend kam, denn Sonjas Absagebrief hatte ihn nicht erreicht. Ahnungslos war er herbeigeeilt, um sich der Geliebten, die ihm zugesagt hatte, zu ihrem Namenstage – der Namenstag wird in Rußland als Symbol der Aufnahme in die christliche Kirche nachdrücklicher gefeiert als bei uns der Geburtstag – zu gratulieren und sich ihr als neugebackener Offizier in seiner schmucken Gardeuniform zu zeigen. Und nun war sie die Braut eines anderen!

»Als Sonja Poliwanow erblickte«, berichtet Frau Tatjana Kusminskaja, »wurde sie fürchterlich verlegen, blieb aber im Salon sitzen«. Um den jungen Mann nicht vor den anderen in eine peinliche Lage zu bringen, erwähnte Frau Behrs vor ihm die Verlobung nicht. Ihr Sohn Sascha führte den Kameraden nach einer Weile ins Herrenzimmer und machte ihm die Eröffnung über Sonjas Verlobung. Die einstige Tanja fährt fort:

»Nach Saschas Worten nahm er die Botschaft sehr gefaßt entgegen. Sonja benutzte einen günstigen Augenblick, um aus dem Salon zu entschwinden und ihn aufzusuchen. Es ist begreiflich, daß dieses Wiedersehen sie quälte und erregte. Mir taten beide herzlich leid. Ich erinnere mich nur an diese seine Worte: ›Ich wußte, daß Sie mir untreu werden würden; ich habe es gespürt‹.

Sonja antwortete, daß es nur einen Menschen gäbe, um dessentwillen sie ihm habe untreu werden können, das sei Leo Nikolajewitsch. Auch habe sie ihm darüber nach Petersburg geschrieben, doch hatte er ihren Brief nicht erhalten.

Poliwanow wollte nicht bei uns absteigen, wie er gewöhnlich tat, obwohl wir suchten, ihn dazu zu überreden.

Ich konnte nicht ruhig im Salon sitzen bleiben; mir tat Poliwanow von Herzen leid. Ich hielt es schließlich nicht länger aus und lief in Papas Arbeitszimmer, wo Poliwanow mit meinem Bruder saß. Ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte, wollte ihm aber doch etwas sagen.

›Gegenstand (Anspielung auf »Gegenstand der Liebe«, Neckname Poliwanows bei den jungen Mädchen), Liebster, Bester!‹ begann ich. ›Warum wollen Sie uns schon verlassen! Wir alle, alle haben Sie so lieb, wir freuen uns so, Sie zu sehen, Mutter und wir alle‹, sprudelte ich ungereimt, aber aufrichtig hervor.

Er erhob sich vom Diwan, da ich vor ihm stand, ergriff stumm meine Hand und führte sie an die Lippen. In seinen Augen standen Tränen. Das genügte, daß auch ich in Weinen ausbrach ,…

Poliwanow ging nach unten, um Wera Iwanowna, unsere alte Wärterin, zu begrüßen, die er sehr liebte. Die ›Njanja‹ erzählte ihm, wie alles gekommen war.«

Noch schmerzlicher empfand Sonja den Kummer des jungen Mannes, den sie noch vor kurzem geliebt hatte. Sie berichtet in ihren Erinnerungen: »Er erklärte, er habe meinen Brief nicht erhalten, und obwohl man ihm gesagt habe, ich wolle einen anderen heiraten, glaube er es nicht, bevor er mich nicht gefragt habe. Ich wurde sehr verlegen, ich schämte mich, und mir war bange; ich antwortete aber, daß es die Wahrheit sei. Er stand auf und ging hinaus. Nach einer Weile bat Njanja mich, nach unten zu kommen. ›Kleine Gräfin (ich wurde von Kindheit an nicht anders als kleine Gräfin genannt), einen Augenblick‹. Ich ging mit ihr nach unten. Im Kinderzimmer saß Poliwanow und schluchzte bitterlich. Ich hatte bisher noch nie einen Mann schluchzen sehen. Es war grauenhaft und ich entfloh.

Vater war äußerst unzufrieden darüber, daß ich, und nicht Lisa, heiratete, wollte seine Einwilligung nicht geben und rückte mit dem Geld für meine Aussteuer nicht heraus. Leo Nikolajewitsch hatte es schrecklich eilig mit der Hochzeit; die Lage war gespannt. Ich erinnere mich, daß ich diese ganze Woche ungeheuer aufgeregt war, nichts als Salzgurken aß, abmagerte, ganz erstarrt und nicht froh und glücklich war wie vor dem Antrag.«

Das Wiedersehen mit Poliwanow hatte im Herzen des jungen Mädchens die Erinnerung an erste Liebesherrlichkeiten wieder erstehen lassen, und das schmerzliche »Zu spät!« sie tief ergriffen. In die unverbindliche Traumhaftigkeit ihrer kindlich überschwenglichen Begeisterung und Mädchenschwärmerei für den Helden und Dichter von »Kindheit und Knabenjahre« drang die unerbittliche Wirklichkeit. Sie spürte jetzt, daß sie sich geirrt hatte, daß es nicht Liebe war, was sie für ihren Verlobten empfand, »magerte ab, war ganz erstarrt und nicht froh und glücklich wie vor dem Antrag«. Aber jetzt, wo sie sich Tolstoi bereits versprochen, der Vater nach seinem anfänglichen Widerstand endlich zugestimmt hatte, und die Verlobung bereits bekannt gegeben war, konnte sie nicht mehr zurück.

Die Tränen des geliebten Mannes hatten sie erschüttert, und sie war vor ihnen geflohen wie vor sich selbst. Das Bedrückende der Lage wurde noch dadurch erhöht, daß Dr. Behrs den jungen Offizier zum Festessen zurückgehalten hatte und der Bräutigam »durch Poliwanows Anwesenheit unangenehm berührt war«. Wie peinlich mußte erst die Braut die Gegenwart beider Bewerber empfinden! Sie war wie ein »angeschossener Vogel«, dem nichts übrig bleibt, als sich seinem Schicksal zu ergeben.

Aber noch ein anderes Ereignis beschattete und verdüsterte die wenigen Tage ihres Brautstandes. Tolstoi empfand in seinem Streben nach Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit und in dem Wunsch, ein neues Leben zu beginnen, das Verlangen, sich von dem Makel seines bisherigen »übel zugebrachten« Lebens, das ihn immer schon so gequält hatte, zu reinigen, und so gab er der kaum Achtzehnjährigen seine Tagebücher zu lesen, aus denen sie von all den maßlosen Ausschweifungen ihres Verlobten, seinem Verkehr mit zahllosen zufälligen Frauen und seinen Empfindungen dabei erfuhr. Für das auch seelisch unberührte, nach damaliger Sitte in vollkommener Unwissenheit über geschlechtliche Dinge erzogene junge Mädchen war es ein Abgrund, in den sie voll Entsetzen und Grauen blickte. So erfuhr sie auch von der letzten, langjährigen Liebschaft ihres Verlobten mit Aksinja Anikanowa, die sich bis in die Zeit ihres Besuches in seinem Hause erstreckt hatte, und von seinem Bekenntnis: er sei in die Bäuerin verliebt »wie noch nie im Leben«, sie stehe ihm »unheimlich« nahe, er empfinde für sie nicht mehr das Gefühl des Hirsches, sondern des Gatten zu seiner Frau.

Nach durchweinten Nächten gab sie ihm die Tagebücher mit einem verzeihenden Blick stumm zurück.

Aber ihre schwärmerische Liebe und Verehrung für den Dichter hatte einen neuen, erschütternden Schlag erhalten, so daß sie »erstarrte« und unglücklich war. Tolstoi entging ihr bedrückter Zustand nicht, wie er ja überhaupt alles ihn Berührende mit ungeheurer Sensibilität sah und spürte, und am Hochzeitstage suchte er in dem Empfinden, einen Fehltritt getan zu haben, die Verlobung rückgängig zu machen. Zu ungewöhnlicher Stunde eilte er zu seiner Braut und flehte sie an, der Verbindung mit ihm zu entsagen. Sofia Andrejewna berichtet:

»Wir saßen beide auf den bereits fertig gepackten Reisevalisen, und da fing er an, mich mit Verhören und Zweifeln an meiner Liebe zu ihm zu quälen. Es schien mir sogar, daß er fliehen wollte, daß er vor der Heirat zurückschreckte. Ich brach in Tränen aus. Da kam meine Mutter und fiel über Leo Nikolajewitsch her. ›Auch ein Zeitpunkt, den du dir ausgesucht hast, um sie zu betrüben‹, sagte sie; ›heute ist die Hochzeit, sie hat es auch so schon schwer, die Abreise von Hause steht ihr bevor, und nun ist sie ganz in Tränen aufgelöst‹. Leo Nikolajewitsch war offenbar zerknirscht. Er ging bald darauf.«

Tolstois Versuch, das Unwiderrufliche rückgängig zu machen, ist mißlungen; Frau Behrs' energische Hand hat ihn zurückgehalten. Jetzt ist sie nicht mehr seine Jugendgespielin, sondern die Mutter seiner Braut, die sich anschickt, ihre Tochter zur Trauung zu schmücken. Ehre und guter Ruf des jungen Mädchens überwiegen Tolstois richtigen Instinkt, der ihn vor dem verhängnisvollen Schritt warnt.

Die Braut ihrerseits, die dem Jugendgeliebten entsagt hat, klammert sich krampfhaft an das einzige, das ihr noch geblieben ist. So vermerkt Tanja: »Sie war ganz versunken in ihre Liebe und die Angst, Leo Nikolajewitschs Liebe zu verlieren.«

Über die Szene auf den Reisekoffern berichtet Tanja uns ebenfalls:

»Sonja sagte mir, er (Tolstoi) habe die ganze Nacht nicht geschlafen, Zweifel hätten ihn gequält. Er habe ihr hartnäckig mit Fragen zugesetzt, ob sie ihn denn auch liebe. Die Erinnerung an das zwischen ihr und Poliwanow Gewesene hemme sie vielleicht, es wäre darum ehrlicher und besser, sich jetzt noch zu trennen. Und wie sehr Sonja sich auch bemüht habe, ihn von dieser Überzeugung abzubringen, es sei ihr nicht gelungen; die Anspannung ihrer Seelenkräfte hätte sie erschöpft, und sie sei in Tränen ausgebrochen, als Mutter eintrat.«

In solcher Seelenverfassung treten Braut und Bräutigam vor den Altar.

Wohl um Tolstois Zweifeln die Spitze abzubrechen und vielleicht auch, um bösen Zungen vorzubeugen, hatte Frau Behrs Poliwanow veranlaßt, als Brautführer an der Trauung teilzunehmen. Ritterlich hatte der junge Offizier eingewilligt und bewahrte während der Zeremonie und des darauf folgenden Mahles Würde und Haltung. Aber was mußte dabei in diesen drei Menschen vorgegangen sein! Die erzwungene eifersüchtige Ruhe des Bräutigams, der noch vor wenigen Stunden seine Braut angefleht hatte, ihm zugunsten Poliwanows zu entsagen ,… Die enttäuschte Liebe und der verletzte Stolz des jungen Mannes, der nun die Traukrone über dem Haupte der Geliebten hält, die sich einem anderen verlobt ,… Und zwischen den beiden das achtzehnjährige junge Mädchen, das wie ein angeschossener Vogel dastand ,… Vielleicht fand sie Stärkung in der religiösen Ergriffenheit, die das feierliche Zeremoniell des griechisch-katholischen Trauungsaktes in der Hofkirche im Moskauer Kreml in ihr auslöste, und in dem Glauben an das Mysterium, das sie mit dem Helden ihrer Jugendträume verband; und doch mußte wohl die Wirklichkeit und Unwiderruflichkeit des Geschehens sich in Augenblicken der Verzweiflung auswirken.

Die Gräfin berichtet:

»Nach der Trauung fand ein kurzes Abendessen statt, dann fuhr die mit sechs Pferden bespannte Dormeuse vor, die Valisen wurden angeschnallt, Alexej, Leo Nikolajewitschs Diener, der aus Jasnaja eingetroffen war, und unser Moskauer Dienstmädchen, die alte Warwara, nahmen ihre Plätze ein. Ein feiner Sprühregen rieselte herab. Alle begleiteten uns auf die Freitreppe unseres Hauses im Kreml hinaus, wo ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Mein Bruder Petja heulte einfach los, daß es durch die ganze Straße schallte, und wurde fortgeführt; dann schrie Mutter entsetzlich auf, als die Kutschentür geschlossen wurde, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich sank in die Polster zurück und weinte bitterlich. Leo Nikolajewitsch war das unangenehm.«

Statt »ihrer« leidenschaftlichen Umarmungen – Schluchzen, der Aufschrei der Mutter, das Dunkel der Kutsche, aus dem etwas aufstieg, wovor das junge Mädchen, nach damaligem Brauch in völliger Unwissenheit erzogen, keine rechte Vorstellung hatte und wovor sie, Liebe zu einem anderen im Herzen, schaudernd zurückschreckte.

Aus seiner lakonischen Tagebucheintragung mit ihren abgerissenen Sätzen spricht Unheil:

»Feierliche Zeremonie. Sie – verweint. In der Kutsche Von Tolstoi unterstrichen. Sie weiß (nun) alles, und es war einfach. In Birjuljowo. Ihre Verstörtheit. Etwas Krankhaftes

Von Anfang an, gleich beim ersten Versuch einer physischen Annäherung lehnt ihr ganzes Wesen ihn ab. Sie schreckt vor dem Geschlechtsakt so ausgesprochen zurück, daß es auf ihn den Eindruck von etwas »Krankhaftem« macht.

Dieses Zurückschrecken, die innere Resistenz und darum wohl auch eine besondere Unanstelligkeit ihrerseits gehen so weit, daß er, der Kraftmensch von leidenschaftlichstem Temperament, durch ihre Hemmungen selber gehemmt, trotz all seines ungestümen Verlangens als Mann versagt (momentane Impotenz, ejaculatio praecox usw.). Drei Tage lang bemüht er sich vergeblich um ihren Besitz, und nur zu verständlich erscheint der verzweifelte Aufschrei des gequälten achtzehnjährigen Mädchens in ihrem ersten Brief an die Schwester Tanja:

»Wenn das Ehe heißt, so ist es eine Scheußlichkeit.«

So begannen die ehelichen Beziehungen zwischen Tolstoi und seiner Gattin.

Vor der Wahrhaftigkeit der Natur tritt die Täuschung, deren Opfer sie beide geworden, erbarmungslos zutage. Und der Abgrund, der sich zwischen den Gatten in der Hochzeitsnacht aufgetan hat, läßt sich in den achtundvierzig Jahren ihres kinderreichen Ehebundes nicht überbrücken, trotz heißester Bemühungen auf beiden Seiten ,…

 ,

Tolstois erste Tagebucheintragung über Aksinja ist voll sonniger Lebensfreude: »Ein herrlicher Pfingsttag. Welkender Faulbaum in knorrigen Arbeitshänden. Aksinja flüchtig gesehen. Sie ist schön. Roter Sonnenbrand, die Augen ,… Ich bin verliebt wie noch nie im Leben. Kein einziger anderer Gedanke.«

Die erste Eintragung über Sofia Andrejewna: »Sie ist ein Kind! Der Wirrwarr aber ist groß ,… Ich habe Angst vor mir selbst. Wie, wenn auch dies nur der Wunsch, zu lieben, aber nicht Liebe ist?«

Die erste Zusammenkunft mit Aksinja: »In weißem, gesticktem Hemd, rotbraunem Rock, grellrotem Tuch, barfuß, frisch, kräftig, schön stand sie da und lächelte schüchtern. Scham empfand er nur im ersten Augenblick, dann verging sie. Und alles war gut. Vor allem, weil er sich jetzt leicht, ruhig und frisch fühlte.«

Die erste Nacht mit seiner Frau: »Sie – verweint. Ihre Verstörtheit. Etwas Krankhaftes.«

Dort naturhaftes Glück, hier »die qualvollste Tragödie.«

So unvergeßlich ist Sofia Andrejewna das Entsetzen in der Hochzeitsnacht, daß ein Menschenalter später, als sie auf ihres Mannes »Kreutzersonate« (1890) mit dem Roman »Wer ist schuld?« antwortet, ihr dieser Widerhall des eigenen Erlebens entfährt:

»Nach der Trauung stieg das junge Paar in die Reisekutsche, und hier im Dunkeln beging dieses Tier, welches nach Tabak roch, das, wovon die Unschuldige bisher nicht gewußt hatte und was ihr ekelhaft erschien.«

Die Natur ist mächtiger als der Willen des Menschen, und wird sie vom Bewußtsein willentlich unterdrückt, so erhebt sie ihre Stimme aus dem Unbewußten: »In der Nacht ein bedrückender Traum. Nicht sie ,…« vermerkt Tolstoi im Tagebuch am Morgen nach der Trauung: in der Hochzeitsnacht träumt er nicht von seiner jungen Frau, sondern von der Bäuerin Aksinja.

Dieser unverfälschte Wunschtraum beleuchtet blitzgleich die wahre Lage: die Vergangenheit lebt in seinem Blut, in ihm ist ein Sehnen nach Aksinja erwacht, nach ihren wollüstigen Umarmungen, die so ganz anders waren als die seiner Gattin.

Noch schmerzlicher und krankhafter wirkt sich das Erlebnis der Hochzeitsnacht bei der jungen Frau aus. Die seelische Erschütterung ist so groß, ihre überwachen Empfindungen sind so hellhörig und unbeirrbar, daß sie wenige Tage später in einem Brief an ihren Vater mit Bestimmtheit erklärt, ihr Mann empfinde keine Liebe für sie:

»Ich habe begriffen, daß er verliebt war, aber nicht liebte. Wie habe ich nicht daran gedacht, daß er selbst für diese Verliebtheit wird büßen müssen, denn was muß es heißen, lange, sein ganzes Leben lang, mit einer Frau zu leben, die man nicht liebt ,… Und alle Energie, die ich anfangs hatte – zu Beschäftigungen, zum Leben, zur Führung des Haushalts –, das alles ist dahin. Ich möchte die Hände sinken lassen, den ganzen Tag stumm dasitzen und bitteren Gedanken nachhängen.«

Die gegenseitige organische Ablehnung vom ersten Tage an ruft das Gefühl des Unbefriedigtseins hervor und führt zu wachsender nervöser Gereiztheit, die sich in Mißstimmung, Zank aus nichtigen äußeren Anlässen, Tränen – auch seinerseits – entlädt. Kaum acht Tage nach der Hochzeit, am 30. September, erscheint in Tolstois Tagebuch diese Eintragung:

»Ich erkenne mich nicht wieder. Alle meine Fehler sind mir klar (geworden). Sie liebe ich noch ebenso, wenn nicht mehr. Ich kann nicht arbeiten. Heute hat es eine Szene gegeben. Es betrübte mich, daß bei uns alles ebenso ist wie bei andern. Das sagte ich ihr, sie verletzte mich in meinem Gefühl zu ihr; ich brach in Tränen aus. Sie ist reizend. Ich liebe sie noch mehr. Ist aber nicht Heuchelei dabei

Diesen ersten Zank um ein Nichts schildert Tolstoi in anschaulicher, wenn auch ein wenig schief gespiegelter Weise in der »Kreutzersonate«. Die Begründung entspricht nicht dem unmittelbaren Eigenerlebnis, die psychologischen Momente aber sind so fein herausgearbeitet, daß uns vieles von der einsetzenden inneren Entfremdung der Gatten daraus klar wird.

»So sehr ich mich auch bemühte, unseren Honigmond recht schön zu gestalten, es kam nichts dabei heraus. Die ganze Zeit empfand ich Ekel, Scham und Langeweile. Bald aber wurde der Zustand geradezu qualvoll. Am dritten oder vierten Tage sah ich, daß meine Frau ganz traurig dasaß, ich fragte sie, was ihr fehle, umarmte sie, denn ich glaubte, das wäre alles, was sie wünschen könnte, aber sie schob meinen Arm zurück und fing an zu weinen. Worüber? Sie wußte es nicht zu sagen. Aber es war ihr schwer und weh ums Herz. Wahrscheinlich hatten ihre gequälten Nerven sie die Wahrheit über unseren ekelhaften Verkehr empfinden lassen, sie wußte es nur nicht zu sagen. Ich suchte sie auszufragen, und sie sagte schließlich, sie habe Sehnsucht nach ihrer Mutter, oder etwas Ähnliches. Das schien mir eine Unwahrheit. Ich redete ihr freundlich zu, überging aber die Erwähnung ihrer Mutter. Ich begriff nicht, daß sie sich einfach bedrückt fühlte und die Sehnsucht nach der Mutter nur eine Ausrede war. Sie spielte aber sofort die Gekränkte, weil ich auf die Mutter nicht zurückgekommen war, gerade als ob ich ihr nicht geglaubt hatte. Sie sagte, sie sehe nun klar, daß ich sie nicht liebe.

Ich warf ihr Launenhaftigkeit vor, und plötzlich veränderte sich ihr Gesicht vollständig; nicht mehr Kummer, sondern Ärger sprach aus ihm, und mit überaus giftigen Worten warf sie mir Egoismus und Grausamkeit vor. Ich sah sie an. Ihr ganzes Gesicht drückte eine eisige Kälte und Feindseligkeit, ja geradezu Haß gegen mich aus. Ich erinnere mich, wie entsetzt ich war, als ich das sah. ›Wie‹, dachte ich, ›Liebe soll doch ein Seelenbündnis sein, und sieht es so damit aus? Das kann nicht sein, das ist sie ja gar nicht!‹ Ich versuchte sie zu besänftigen, stieß aber auf eine so unüberwindliche Mauer kalter, giftiger Feindseligkeit, daß ich selbst, ehe ich mich dessen versah, in eine gereizte Stimmung geriet, und wir einander eine Menge unangenehmer Dinge sagten.

Der Eindruck dieses ersten Streites war entsetzlich. Ich sagte: Streit, aber es war kein Streit, es war nur ein Offenbarwerden des Abgrundes, der in Wirklichkeit schon zwischen uns klaffte. Die Verliebtheit war durch die Befriedigung des sinnlichen Triebes aufgezehrt worden, und nun standen wir einander in unserem wahren Verhältnis gegenüber als zwei einander völlig fremde Egoisten, die voneinander möglichst viel Genuß zu gewinnen suchen. Ich begriff nicht, daß dieses kalte und feindselige Verhältnis unser normales Verhältnis war, begriff es darum nicht, weil dieses feindselige Verhältnis in der ersten Zeit sehr bald wieder verhüllt wurde durch neu aufsteigende erhitzte Sinnlichkeit, das heißt die Verliebtheit.

Ich aber dachte, wir hatten uns einfach gezankt und uns wieder versöhnt und dergleichen würde nicht wieder vorkommen. Aber in demselben Honigmond trat sehr bald wieder eine Zeit der Übersättigung ein, wieder brauchten wir einander nicht mehr, und wieder gab es Streit. Dieser zweite Streit verblüffte mich noch mehr als der erste. Also war der erste kein Zufall, sondern es mußte so sein und wird so bleiben, dachte ich. Der zweite Streit überraschte mich um so mehr, als er durch eine vollkommene Nichtigkeit hervorgerufen wurde. Ich erinnere mich nur, daß sie der Sache eine Wendung zu geben wußte, als hätte ich durch irgendeine Äußerung den Wunsch aussprechen wollen, sie durch mein Geld zu beherrschen, als wollte ich meine Vorrechte ausschließlich aus dem Gelde ableiten. Kurz, etwas ganz Unmögliches, Gemeines, Dummes, was weder meinem, noch ihrem Wesen entsprach. Ich wurde erregt, warf ihr Taktlosigkeit vor, sie gab mir den Vorwurf zurück, und nun ging es wieder los!

In ihren Worten, im Ausdruck ihres Gesichts und ihrer Augen erkannte ich wieder die grausame, kalte Feindseligkeit, die mich beim ersten Streit so erschreckt hatte. Ich hatte mich früher wohl mit meinem Bruder, meinen Freunden, meinem Vater gezankt, aber nie entstand zwischen uns jene ganz besondere, giftige Erbitterung, die hier zutage trat.

Doch es verging einige Zeit, und wieder verbarg dieser gegenseitige Haß sich hinter Verliebtheit, das heißt, der Sinnlichkeit, und ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß es sich bei diesen beiden Zusammenstößen um Fehler handelte, die sich noch gut machen ließen. Nun aber kamen ein dritter und vierter Streit, und ich erkannte, daß das kein Zufall war, sondern daß es so sein müsse und so bleiben würde, und da packte mich das Entsetzen vor dem, was mir bevorstand.

Dabei quälte mich auch noch der entsetzliche Gedanke, daß nur ich allein so schlecht, so ganz anders, als ich es erwartet hatte, mit meiner Frau zusammenlebe, während das in anderen Ehen nicht der Fall sei. Ich wußte damals noch nicht, daß es allen ebenso geht, daß alle gleich mir glauben, das wäre ihr ganz persönliches Unglück, und dieses persönliche schmachvolle Unglück nicht nur vor den andern, sondern sogar vor sich selbst geheimhalten, es sich selbst nicht eingestehen mögen.

In den ersten Tagen hatte es angefangen und ging nun die ganze Zeit so weiter, mit immer wachsender Erbitterung. In meinem innersten Herzen hatte ich gleich in den ersten Wochen gefühlt, daß ich verloren war, daß es anders gekommen war, als ich erwartet hatte, daß die Ehe nicht nur kein Glück ist, sondern eine sehr schwere Last. Aber wie alle, wollte ich mir das nicht eingestehen, und ich verbarg es nicht nur vor den andern, sondern auch vor mir selbst. Jetzt wundere ich mich, wie ich damals meine wahre Lage nicht erkannt habe.

Ich hätte sie schon daran erkennen müssen, daß, wenn unser Streit zu Ende war, wir uns gar nicht mehr erinnern konnten, was eigentlich den Anlaß dazu gegeben hatte. Der Verstand hatte keine Zeit, der dauernd zwischen uns bestehenden Feindseligkeit genügend Ursachen unterzuschieben.

Noch auffälliger aber waren die unzureichenden Gründe zur Versöhnung. Manchmal gab es Worte, Erklärungen, Tränen, doch mitunter ,… Pfui! Der Ekel packt mich noch jetzt, wenn ich daran denke: nachdem man sich die härtesten Worte gesagt hat, folgten plötzlich stumme Blicke, Lächeln, Küsse, Umarmungen ,… Scheußlich! Wie ich bloß die ganze Schändlichkeit dieses Verhältnisses damals nicht gesehen habe!«

Der geringste, oft künstlich hervorgerufene Anlaß, jedes zufällige Wort in Augenblicken unbefriedigter sexueller Gereiztheit führte zu Explosionen, zu Zank und Tränen. Das nie wirklich befriedigte, auch nie restlos auf den nun einmal gegebenen Partner gerichtete Verlangen rief eine unbewußte nervöse Erbitterung gegen den Menschen hervor, der keine Befriedigung zu geben vermochte und selbst keine fand, und da das hier auf beiden Seiten der Fall war, so war auch der aufflackernde Haß gegenseitig. Statt des erhofften Seelenbundes ergab sich körperliche Ablehnung und innere Feindseligkeit als Selbstschutz gegen die Vergewaltigung von Leib und Seele durch den anderen. Dies war »das Offenbarwerden des Abgrundes, der zwischen ihnen klaffte.«

Irrtümlich erklärt sich Tolstoi die gegenseitige Befehdung durch befriedigte Sinnlichkeit: »Die Verliebtheit war durch die Befriedigung des sinnlichen Triebes aufgezehrt worden«. In Wirklichkeit war es gerade umgekehrt. Der Sexualtrieb wurde nie befriedigt infolge der sexuellen Divergenz zwischen den beiden, der Frigidität der Gattin und, wenigstens in den ersten Ehejahren, durch unbewußte sexuelle Gebundenheit beider Partner an ein anderes Objekt. Unter diesen Umständen ergab der eheliche Verkehr nur »gequälte Nerven«. Er vermochte ebenso wenig Befriedigung und Lösung zu bringen wie etwa onanistische Manipulationen, die die Begierde nicht zu stillen vermögen, sondern nur aufstacheln, zu immer größerer sexueller Reizung und infolge ihres hoffnungslosen Ersatzcharakters zu tiefen Gemütsdepressionen führen. Der immer qualvollere Liebeskrampf löste sich im Paroxysmus des Lustgefühls nicht in befriedigter Ermattung aus und gab nicht das Gefühl geistiger Erfrischung und Befreiung und körperlicher Leichtigkeit, das als Ruhe, als Beruhigung über das Glück hinausgeht.

Diese Ruhe und Erlösung, die Aksinja ihm gegeben hatte, fand Tolstoi im Verkehr mit seiner Gattin nicht, und ebenso unbefriedigt blieb auch diese. Als er die Bäuerin liebte, war sein Verlangen »nicht mehr gegenstandslos«, sondern es drängte ihn immer wieder zu der Frau, die ihn beglückte. Das bis auf den Grund befriedigte Verlangen ließ damals keinen Raum, gab keinen Anlaß zu Gereiztheit und Depressionsgefühlen. Beim ehelichen Verkehr aber blieb eine innere Unausgelöstheit und Spannung zurück, die sich ohne »äußeren« Anlaß in »grundlosen« Zänkereien entlud. Die gegenseitige Ablehnung, die innere, immer fühlbarer werdende Enttäuschung aneinander führte zu »giftiger«, »grausamer«, »kalter« Feindseligkeit, und dann drückte das ganze Gesicht seiner Frau »eine eisige Kälte, ja geradezu Haß aus«.

Immer heftiger wurden die Zusammenstöße und ihre Auswirkung immer schmerzlicher. Immerfort steigerte sich das Gefühl des Unbefriedigtseins und die sexuelle Gereiztheit, die in Tränen und erbitterten Vorwürfen oder in neuem Liebeskampf nach Lösung suchten. Die Zusammenstöße selbst waren ja nichts anderes als Verlangen nach sexueller Befriedigung. Und da diese nicht erfolgte, war ein »kaltes und feindseliges Verhältnis zwischen den Gatten ihr normales Verhältnis«, das seinerseits wieder durch »neu aufsteigende erhitzte Sinnlichkeit verhüllt wurde.«

Hier liegt auch die Wurzel der gegenseitigen inneren Entfremdung, deren Keim der ersten Erkenntnis entsprang, die das achtzehnjährige Mädchen so erschüttert hatte. Ihr gesunder Körper forderte ein normales Sexualleben, das ihr infolge der psychischen Erschütterung in der Hochzeitsnacht versagt blieb. Die zwischen den Gatten aufgewachsene Schranke, die innere Hemmung machte sich bei fortgesetztem Geschlechtsverkehr jedesmal stärker spürbar. Instinktiv begriff die junge Frau dies gleich in den ersten Tagen und kleidete später diese Erkenntnis in die Worte: »Infolge einer psychischen Ursache bin ich physisch krank«. Wie ausgeprägt sie diese Hemmung empfand, ersehen wir unter anderem aus ihrer Tagebucheintragung vierzehn Tage nach der Hochzeit (8. Oktober 1862):

»Und ist es ihm denn wirklich Genuß, wenn ich weine und stärker zu empfinden beginne, daß etwas sehr Verwickeltes in unseren Beziehungen liegt, was uns einander allmählich seelisch entfremden muß? Da kann man wohl sagen: Dem Kätzchen ist's ein Spielzeug, dem Mäuschen jedoch ein Jammer Russisches Sprichwort.. Aber die Sache ist doch die, daß dies Spielzeug nicht unzerbrechlich ist, und zerbricht er's, so wird er selber jammern.«

Das Spielzeug war aber schon zerbrochen, und die innere Entfremdung hatte bereits eingesetzt. Trotz aller Macht seines analytischen Genies vermochte Tolstoi den Grund der Entfremdung nicht zu erkennen, da er infolge der sexuellen Divergenz zwischen ihm und seiner Frau nicht nur psychisch, sondern auch physisch litt. Wenn Sofia Andrejewna infolge einer psychischen Ursache physisch erkrankte, so erkrankte Tolstoi infolge einer physischen Ursache psychisch. Der Krankheitserreger aber war in beiden Fällen der gleiche, eben die sexuelle Divergenz.

Die ursprüngliche seelische Erschütterung Sofia Andrejewnas löste sich nicht im Sexuellen, sondern durch den Geschlechtsverkehr wurde die anfängliche Hemmung von immer neuen Schichten überlagert. Zugleich mit der psychischen Resistenz steigerte sich auch die physische, und der Partner fand in der Umarmung keine Lösung der Spannung. So entwickelte sich die nervöse Erkrankung unaufhaltsam bei ihm wie bei ihr.

Im Liebesaffekt, der keinen Widerhall bei der Partnerin fand, trat bei Tolstoi statt der normalen Beruhigung Blutandrang zum Kopf ein, was sich zu einem migräneartigen Leiden, immer heftiger und länger währenden Kopfschmerzen ausbildete, die er wohl seiner ungestümen, übergroßen Sinnlichkeit und Unersättlichkeit zuschrieb. Ein Mann von außergewöhnlicher Muskel- und Sexualkraft, die den ungeheuren Energien seiner Seelen- und Geistesarbeit entsprach, benötigte er zu seinem harmonischen Gedeihen vollkommener Sättigung und Entspannung auch im Sexuellen. Da ihm das versagt blieb, traten krankhafte Beschwerden ein, Kopfschmerzen, die ihn zur Untätigkeit verurteilten, und schwere Gemütsdepressionen.

Zum ersten Male erfahren wir davon in sehr bestimmter Weise durch Sofia Andrejewna, als sie am zwölften Tage ihrer Ehe gemeinsam mit ihrem Gatten einen Brief an die Gräfin Alexandra Andrejewna verfaßt.

Sofia Andrejewna schreibt:

»Leo hat mir soviel von Ihnen erzählt, daß ich mich schon daran gewöhnt habe, Sie zu lieben und Ihre Liebe zu meinem Gatten zu schätzen. Ich will mein Möglichstes tun, ihn glücklich zu machen, und ich weiß, daß dies das einzige Mittel ist, Ihr Herz zu gewinnen. Was mich betrifft, so habe ich nie einen Augenblick an meinem Glück gezweifelt. Ich kenne Leo von meiner Kindheit an und habe ihn immer von ganzem Herzen geliebt.«

Tolstoi fügt hinzu:

»Sie verstehen, daß ich jetzt nicht die Wahrheit über sie sagen kann – ich fürchte mich vor mir selbst und fürchte das Mißtrauen der andern. Nur eins – sie überrascht alle sofort dadurch, daß sie ein ehrlicher Mensch ist, eben ehrlich Von Tolstoi unterstrichen. und eben ein Mensch Von Tolstoi unterstrichen. ,…

Ich habe mich von meiner Vergangenheit losgesagt, wie ich mich noch nie losgesagt habe, ich empfinde meine ganze Schändlichkeit in jeder Sekunde, wenn ich mich mit ihr, mit Sonja messe. Jetzt sind es zwei Wochen, und ich fühle mich scheinbar noch rein und zittere jeden Augenblick für mich. Jetzt, jetzt stolperst du wieder. So furchtbar ist die Verantwortung beim Leben zu zweien.

Sie liest diesen Brief und versteht nichts und will es nicht verstehen und braucht es nicht zu verstehen; was unsereins erst durch einen ganzen mühevollen, krankhaften Kreis von Zweifeln und Leiden erreicht, kann für diese Glücklichen gar nicht anders sein.«

Zusatz der Gräfin:

»Ich kann das alles nicht so stehen lassen, liebe Tante. Er irrt sich, ich verstehe alles, alles ohne Ausnahme, was ihn angeht, sein Brief ist aber darum so düster, weil er Kopfweh hat und verstimmt ist

Dieser Brief umreißt gewissermaßen die Grundlage des ganzen Ehelebens der Gatten. Seine Frau ist vor allem »Mensch«, nicht Weib, und nicht Mensch schlechthin, sondern eben ein »ehrlicher« Mensch; das heißt, trotz der Erschütterung in der Hochzeitsnacht und ihrer Abneigung vor dem ehelichen Verkehr verweigert sie sich ihrem Manne nicht und verspricht feierlich, diese zusammen mit ihrem Jawort auf sich genommene Pflicht auch weiterhin ehrlich zu erfüllen. Anders will und kann sie nicht handeln, weder ihrer Erziehung nach als Tochter der pflichtbewußten, gestrengen Ljubotschka Behrs, noch ihren religiösen Überzeugungen nach und auch darum nicht, weil ihr Tolstoi immer als Ideal des Dichters und Menschen galt, zu dem sie von kleinauf in Verehrung und Bewunderung aufsah.

In Augenblicken der Versöhnung, da die beiden Gatten den Grund ihrer Mißhelligkeiten wohl in nicht genügend innigen Zärtlichkeiten und Liebkosungen zu spüren meinten und sich einander mit dem Ungestüm der Jugend hingaben, entrissen sich ihm Jubelrufe über sein »unglaubliches« Glück.

Am 25. September, am Tage nach der Hochzeit, vermerkt er: »Unglaubliches Glück! Es kann nicht sein, daß all dies bloß mit dem Leben endet.«

Am 28. September, in einem Brief an die Gräfin Alexandra Andrejewna: »Ich bin vierunddreißig Jahre alt geworden und habe nicht gewußt, daß man so lieben und so glücklich sein könne!«

Am 30. September brach der erste Zank aus, am 14. Oktober der zweite. Nach der Versöhnung erfolgt diese Tagebucheintragung: »Zweimal ist es zu Zusammenstößen gekommen; ich liebe sie immer noch mehr und mehr, obwohl mit einer anderen Liebe; es hat schwere Minuten gegeben. Heute schreibe ich (im Tagebuch), weil mir der Atem stockt, so glücklich bin ich«.

 ,

Sofia Andrejewna suchte in den ersten Tagen den Vorgängen im Reisewagen und in Birjuljowo keinerlei Bedeutung zuzumessen, sie zu übersehen, und atmete, in Jasnaja Poljana angekommen, erleichtert auf. Sie gefiel sich in ihrer neuen Rolle und Würde – als verheiratete Frau, als des großen Mannes Gemahlin, als Hausfrau und Gutsherrin – und freute sich an ihr.

Ihrer Schwester Tanja schreibt sie am zweiten Tage nach ihrer Ankunft in Jasnaja Poljana:

 

»Lies meinen Brief an die Eltern, daraus wirst du ersehen, wie ich seit gestern die Zeit hier verbringe. Ich habe mich noch nicht ganz eingelebt, es scheint mir immer noch seltsam, daß ich in Jasnaja zu Hause Von der Gräfin unterstrichen. bin. Heute haben wir bereits den Teetisch mit dem Samowar oben gehabt, wie es sich in einer glücklichen Familie gehört. Tantchen ist so zufrieden, Serjosha (Tolstois Bruder Sergej) so lieb, und über Ljowotschka will ich überhaupt nichts sagen, ich fühle mich beängstigt und beschämt darüber, daß er mich so liebt; nicht wahr, Tanja, das habe ich doch gar nicht verdient?

Sonja Tolstaja.«

Zusatz von Tolstoi:

»Leb wohl, mein Täubchen, Gott schenke dir ein ebensolches Glück, wie ich es empfinde. Ein größeres gibt es nicht.«

 

Aber weder die ersten Erschütterungen nach ihrer Verheiratung noch die ersten Streitigkeiten finden Heilung und Lösung; im Gegenteil, ein neues und quälenderes Erlebnis kommt hinzu, das die Entfremdung zwischen den Gatten und die beiderseitigen Erkrankungserscheinungen, die sich bei ihr bereits in einem hysterischen Gelächter äußern, noch verschlimmert.

Anfang Dezember wischt Aksinja Anikanowa die Fußböden im Herrenhause auf. Sie hat sich vom Verwalter zu dieser Arbeit anwerben lassen, um die Frau zu sehen, um derentwillen Tolstoi mit ihr gebrochen hat. »Sie wollte sich die junge Gutsherrin genau ansehen«, heißt es im »Teufel«, wo dieses Ereignis auf den Sonnabend vor Pfingsten verlegt worden ist. Die Gräfin wurde darauf aufmerksam gemacht, daß Aksinja jene Bäuerin sei, von der ihr Gatte nach einem vierjährigen Verhältnis ein Kind hat, und da Sofia Andrejewna sein Tagebuch bekannt war, wußte sie, daß er noch vor kurzem in diese Bäuerin verliebt war »wie noch nie im Leben«.

Beim Anblick der Nebenbuhlerin aus der untersten Volksschicht, der leibeigenen Bäuerin, empfand Sofia Andrejewna Ekel und Eifersucht. All die Erschütterungen, die ihr in den wenigen Monaten ihrer Ehe zugestoßen waren, lebten mit verschärfter Bitterkeit in ihr auf, und mit dem ganzen Ungestüm ihrer liebeshungrigen Jugend entbrennt sie in Feindseligkeit und Haß gegen Aksinja und alles, was mit ihr zusammenhängt: gegen die Liebe ihres Mannes zum einfachen Volk, gegen seine Schule, seine Schüler.

»Er ist mir widerlich mit seinem Volke«, schreibt Sofia Andrejewna ins Tagebuch. »Ich fühle, daß es sich um eines von beiden handelt: entweder ich, das heißt, ich als Vertreterin der Familie, oder das Volk mit Ljowotschkas heißer Liebe zu ihm. Das mag Egoismus sein. Meinetwegen. Ich lebe für ihn, und mir ist er das Leben; das gleiche will ich auch von ihm, sonst ist es mir zu eng hier und ich ersticke, und ich bin heute geflüchtet, weil alle und alles hier mir widerlich geworden war, und ich wäre fast in ein Gelächter ausgebrochen, als ich allein aus dem Hause floh ,…

Ich glaube, ich tue mir einmal etwas an vor Eifersucht. ›Verliebt wie noch nie im Leben!‹ Und das in ein einfaches Bauernweib, – dick, weiß, fürchterlich! Mit welchem Genuß habe ich die Dolche und Gewehre gemustert! Nur ein Schlag: das ist leicht. Solange noch kein Kind da ist. Und dabei ist er hier, wenige Schritte entfernt. Ich bin einfach wie verrückt. Gleich fahre ich spazieren. Jeden Augenblick kann ich sie treffen. So also hat er sie geliebt! Wenn man doch sein Tagebuch verbrennen könnte und mit ihm seine ganze Vergangenheit ,…! Zurück von der Ausfahrt – noch schlimmer, Kopfschmerz, verstört, und es drückt, es drückt mir die Seele ab ,… Habe die Anfänge seiner Werke gelesen, und überall, wo es sich um Liebe, um Frauen handelt, fühle ich mich angewidert, bedrückt. Ich möchte das alles, alles verbrennen. Mich soll nichts mehr an seine Vergangenheit erinnern. Und es würde mir um seine Werke nicht leid sein, denn vor lauter Eifersucht werde ich zu einer fürchterlichen Egoistin. Wenn ich ihn töten und neu erschaffen könnte, genau so wie er ist, ich täte auch das mit Vergnügen.«

Nun stirbt manches, vieles in ihrem Gefühl für ihren Gatten ab, und seinen Liebkosungen begegnet sie mit noch stärkerer innerer Ablehnung als zuvor.

»Und alle Energie, die ich anfangs hatte – zu Beschäftigungen, zum Leben, zur Führung des Haushalts –, das alles ist dahin. Ich möchte die Hände sinken lassen, den ganzen Tag stumm dasitzen und bitteren Gedanken nachhängen«, klagt sie über ihr zerstörtes Leben.

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Auch an Tolstoi ist die Begegnung mit Aksinja in seinem Hause nicht spurlos vorübergegangen. Da er bei seiner jungen Frau keine Befriedigung fand, lebte beim Anblick der früheren Geliebten, die ihn so tief beglückt hatte, die Vergangenheit mit ungeheurer Macht in seiner leidenden Seele wieder auf. Im »Teufel« berichtet er:

»Er stieß fast mit der Nase auf ein barfüßiges Weib, das mit hochgeschürztem Rock und aufgestreiften Ärmeln, einen Eimer in der Hand, ihm entgegenkam. Er war sehr unzufrieden, daß er sie bemerkt hatte. Aber trotz dieser Unzufriedenheit konnte er die Augen nicht von ihr wenden, von dem etwas schaukelnden, kräftigen, sicheren Gang ihrer nackten Füße, von ihrem Leib, ihren Armen und Schultern, von den malerischen Falten des Hemdes und des roten, über den weißen Waden hochgeschürzten Rockes.«

Für ihn war alles an Aksinja schön, malerisch, fesselnd; für Sofia Andrejewna war sie »ein einfaches Bauernweib, dick, weiß, fürchterlich«. Sie sah nicht ihre schwarzen, glänzenden Augen, hörte nicht ihre tiefe Stimme, die ihren Mann so erregte; das hätte ja auch die Sache nur noch schlimmer für sie gemacht ,…

Noch vor dieser Begegnung im Herrenhause hatte Tolstoi Aksinja bereits einmal wiedergesehen, wenn auch nur von ferne, als sie mit seinem Kinde von der Taufe kam, worüber er im »Teufel« berichtet (wir unterstellen die richtigen Namen):

»Es war, als ob das Schicksal selbst ihn an sie erinnern wollte, denn als er sich der Kirche näherte, sah er eine Menge Leute zu Fuß und zu Wagen ihm entgegenkommen. Er sah ,… junge Burschen und Mädchen und endlich zwei Frauen, eine ältere und eine junge, im Sonntagsstaat, mit einem großen roten Tuch und vertrauten Zügen. Sie ging mit leichtem, munterem Schritt daher und trug ein Kind auf dem Arm. Als sein Wagen die Weiber erreicht hatte, grüßte die Alte, wobei sie nach altväterlicher Sitte stehen blieb; die Junge mit dem Kinde aber neigte nur leicht den Kopf, und unter dem Tuche blitzten die vertrauten, lustig lachenden Augen hervor. ›Es ist vielleicht mein Kind!‹ fuhr es ihm durch den Kopf.«

Es war sein Kind, von dem auch seine junge Frau wußte.

Nach diesem ersten Wiedersehen mit Aksinja hatte »die Stimme des Gewissens in seiner Brust geschwiegen«, war es doch »ein für allemal festgestellt, daß er es um seiner Gesundheit willen hatte tun müssen; er hatte Geld dafür gezahlt, und damit gut. Irgendeine Bindung zwischen ihm und ihr war nicht vorhanden, konnte und durfte nicht vorhanden sein.«

Nach der zweiten Begegnung mit Aksinja aber war er »äußerst erstaunt und betrübt über dieses so unerwartet wieder erwachte häßliche Gefühl, von dem er nach seiner Heirat ganz frei geworden zu sein glaubte. Er hatte sich im stillen oft über diese seine Befreiung gefreut, und nun hatte ihm plötzlich dieser anscheinend so unbedeutende Zufall offenbart, daß er nicht frei war. Und ihn quälte jetzt nicht der Umstand, daß er sich wieder von diesem Gefühl hatte übermannen lassen, daß er nach ihr verlangte – daran wollte er nicht einmal denken –, sondern daß dieses Gefühl in ihm lebendig war und daß er auf der Hut sein müsse. Wieder stieg alles in seiner Erinnerung auf: die grelle Mittagssonne, die Nesseln, der Wald hinter Danilas Wächterhütte und im Schatten der Ahornbäume ihr lächelndes Gesicht mit den grünen Blättern im Munde.«

Wen wir ersehnen, begehren, den lieben wir auch. Nicht nur das Sehnen nach ihr, die Ersehnte selbst, die Begehrte, so oft Besessene liegt ihm im Blut, in Herz und Sinn. Erstaunt und beunruhigt bittet er in der Hoffnung, daß dies ihn retten würde, den Verwalter »die Person nicht mehr im Hause zu beschäftigen«. Aber nun stellt sich das Gefühl der Leere, der Müßigkeit ein, da ihn das Zusammenleben mit Sofia Andrejewna nicht ausfüllt.

Seit der Abwendung von der Bäuerin hat auf lange Zeit hinaus auch seine Tätigkeit zum Wohle des Volkes aufgehört. Seine Schule, die er nach der Haussuchung geschlossen hatte, macht er nach der Heirat jahrelang nicht wieder auf, auch seine pädagogische Zeitschrift läßt er eingehen und nimmt sich eifrig der Bewirtschaftung seines Gutes an, um sich zu betäuben. Doch naturgemäß findet er darin keine Befriedigung und schreibt ins Tagebuch:

»Die ganze Zeit über beschäftige ich mich mit jenen Dingen, die man praktische Tätigkeit nennt, mit nichts anderem. Aber diese Müßigkeit wird mir schwer. Ich kann mich dabei nicht achten. Und bin deshalb mit mir unzufrieden und getrübt in meinen Beziehungen zu anderen. Es ist immer ein Ärger in mir sowohl über eine solche Lebensführung als auch sogar über sie (seine Frau). Ich muß unbedingt arbeiten.«

Arbeit ist für den Dichter allein das Dichten, und so macht er sich an die Bearbeitung und Beendigung der vor Jahren im Kaukasus begonnenen »Kosaken«. Damit kehrt er zu seinem ersten tiefen Liebeserlebnis zurück und gelangt, aus der qualvollen Verdüsterung seines Ehelebens heraus, zu einer vollendet schönen Darstellung der Liebe als Grundlage innigster Naturoffenbarung. Seine Liebe zu dem Kosakenmädchen, durch das Prisma seiner Erinnerungen an Aksinja schillernd, ersteht in magischem Farbenzauber.

Am 30. Dezember 1862 vermerkt er im Tagebuch: »Eine Unmenge von Gedanken; die Lust, zu schreiben, hat mich überkommen. Ich bin zu ungeheurer Größe herangewachsen.«

Seitdem er mit Aksinja auch »das Volk« aufgegeben hat, findet er durch Sofia Andrejewna wieder in seine Kreise zurück. In den »Kosaken« aber hat er sich vom einfachen Volk noch nicht gelöst, in dessen Mitte er einst so glücklich war. Darum ist, nach Feths Urteil, in diesem Werk alles »menschlich, verständlich, eindrucksvoll, klar, stark. Der unbeschreibliche Zauber der Begabung liegt über ihm.« Und Turgenjew schreibt: »Ich habe in diesen Tagen L. N. Tolstois Roman »Die Kosaken« noch einmal gelesen und bin wieder begeistert. Das ist wahrhaftig ein erstaunliches Werk von übermäßiger Eindruckskraft.«

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Zu Weihnachten reist das junge Paar auf kurze Zeit zu den Eltern nach Moskau.

Wenn Tolstoi Ablenkung und Vergessen im Schaffen gefunden hatte, so trug Sofia Andrejewna ihr Leid ungestillt in sich; keine der vielen Wunden, die ihr die wenigen Monate geschlagen, sind verheilt. Tanja findet, die Schwester sei »abgemagert und blaß«, was sie auf deren Schwangerschaft zurückführt. Seitens des Gatten bemerkt sie »zärtliche Besorgtheit«, seitens der Schwester »Liebesdemut«. Der Blick des »kleinen Teufels« Tanja ist so scharf geblieben, wie er immer war.

Sofia Andrejewna klagt der Schwester über Langeweile und Vereinsamung in Jasnaja Poljana:

»›Aber weißt du, Tanja, zuweilen bekomme ich es satt, erwachsen zu sein, diese Stille im Hause geht mir auf die Nerven, und mich überfällt ein unbändiges Verlangen nach Fröhlichkeit und Bewegung; ich springe, laufe, denke an dich und daran, wie wir beide herumtobten und du das »Es jagt mich« nanntest. Tantchen Tatjana Alexandrowna Jergolskaja aber lächelt gutmütig beim Zusehen und sagt: ›Vorsicht, nicht so wild, meine teure Sophie, denk an das Kind‹.«

Der Aufenthalt im Elternhause bringt der Gräfin keine Erholung und Beruhigung; Gleichmut, Apathie hat sie ergriffen. Aus Eifersucht auf die Vergangenheit ihres Gatten weigert sie sich, Besuche in Moskau zu machen; vor der Möglichkeit, mit Frauen zusammenzukommen, in die ihr Mann einmal verliebt war, wie mit der Fürstin Obolenskaja, der Tjutschewa, schreckt sie schmerzlich zurück. Ja, sie lehnt es ab, seiner Freundin und Vertrauten, der Gräfin Alexandra Andrejewna zu schreiben.

Ihre Weigerung, Besuche zu machen, ärgert den Grafen, und es kommt darüber zu einem neuen hitzigen Zank. Beide Gatten sind unbewußt ängstlich bemüht, die wirklichen Gründe solcher Zusammenstöße voreinander zu verbergen, um ihre Wunden nicht sehen zu lassen. Die wahren Ursachen bleiben unerfaßlich und unerklärlich, beide suchen, ihnen keine Bedeutung zuzumessen, aus Angst, einander zu verlieren.

Am 27. Dezember 1862 schreibt Tolstoi ins Tagebuch: »Wir sind in Moskau. Wie immer habe ich Strafgeld durch Unwohlsein und schlechte Laune bezahlt. Ich war sehr unzufrieden mit ihr, verglich sie mit andern, bereute fast, wußte aber, daß dies etwas Vorübergehendes sei, und wartete ab; und es ist vorübergegangen.«

Wie vorher leidet er an schlechter Stimmung, Depressionsgefühlen, Unbefriedigtheit, fühlt sich krank. Mit seiner Frau ist er so unzufrieden, daß er es fast bereut, sie geheiratet zu haben.

Seine üble Laune wird durch Poliwanows Anwesenheit im Hause erhöht, der die drei Weihnachtsfeiertage über bei der befreundeten Familie zu Gast weilt. Tolstoi ist eifersüchtig auf ihn und vermerkt im Tagebuch: »Sie sagt über meine Eifersucht: ›Mehr Achtung‹, ›Sicher sein‹ usw., das sind aber Phrasen, und man hat immer Angst, immer Angst.« Es ist »Eifersucht auf den Menschen, der ihrer vollkommen wert wäre. Ich bin es nicht.« Das heißt im Unbewußten: Ich mache sie nicht »vollkommen« glücklich, darum bin ich ihrer nicht wert, darum bin ich nicht der Rechte für sie, sondern er; darum habe ich immer Angst, immer Angst.

Über seine Eifersucht berichtet Sofia Andrejewna im Tagebuch, ihrem Gatten sei »Poliwanows Anwesenheit unangenehm«, obwohl er sich bemühe, »sie möglichst gelassen zu ertragen«.

Auch an ihr geht das Wiedersehen mit dem Jugendgeliebten, dem sie sich zugesagt und erst vor drei Monaten entzogen hat, nicht spurlos vorüber. In Erinnerung an die glücklichen Jungmädchentage und an ihre Liebe zu Poliwanow, dessen zärtliche Briefe sie noch vor kurzem mit solcher Ungeduld gelesen, den sie so oft liebevoll getröstet hat, fühlt sie sich enttäuscht, verloren. In ihrer Schwangerschaft, die sie noch hilfloser macht, lehnt sie sich ängstlich, in »Liebesdemut«, an ihren Mann, heimlich fürchtend, auch diesen letzten Halt zu verlieren. Ihre Erregung ist so heftig, daß sie sich in hysterischen Anfällen entladet und nervöse Gereiztheit gegen ihren Mann als denjenigen hervorruft, um dessentwillen sie ihrem Glück entsagt hat, ohne an seiner Seite ein neues zu finden. Nichtigkeiten führen zu stürmischen Ausbrüchen. Am 8. Januar 1863 vermerkt er im Tagebuch:

»Vom Morgen an Kleider (wohl: Kleideranprobe). Sie ließ mich rufen, damit ich dagegen sei, und ich war auch dagegen und sagte es ihr; darauf: Tränen, vulgäre Erklärungen ,… Wir haben es irgendwie zugekittet. Ich bin mit mir immer unzufrieden in solchen Fällen, insbesondere mit Küssen, das ist falscher Kitt. Bei Tisch sprang der Kitt ab, – Tränen, Weinkrampf. Das beste Zeichen, daß ich sie liebe, ist, daß ich mich nicht ärgerte, ich fühlte mich nur bedrückt und betrübt. Ich fuhr aus, um zu vergessen und mich zu zerstreuen. Es wird mir schwer mit ihr zu Hause. Es muß sich wohl mancherlei im Innern angesammelt haben; ich fühle, daß es auch ihr schwer wird, mir wird es aber noch schwerer, und ich kann ihr nichts sagen, – ich habe ihr auch nichts zu sagen. Ich bin einfach kalt und klammere mich ungestüm an jede Beschäftigung. Sie wird aufhören, mich zu lieben. Davon bin ich fast überzeugt. Sie sagt, ich sei gütig. Ich mag das nicht hören; gerade darum wird sie aufhören, mich zu lieben.«

Er hat seiner Frau nichts mehr zu sagen, soweit ist die Entfremdung zwischen den Gatten bereits fortgeschritten. Drei Monate nach der Hochzeit, wird es ihm so »schwer« mit ihr, daß er vor seinem »unglaublichen Glück« aus dem Hause flüchtet und sich an jede Ablenkung »klammert«.

Noch schmerzlicher leidet Sofia Andrejewna. Am 9. Januar 1863 machte sie im Tagebuch das von uns bereits mehrfach angeführte, aufschlußreiche Bekenntnis: »Es geht mir sehr schlecht. Aus einem psychischen Grunde bin ich physisch krank.«

Auch die Erschütterung durch die Begegnung mit Aksinja in Jasnaja Poljana beherrscht sie noch immer; selbst der Aufenthalt im Elternhause scheucht die trüben Schatten nicht. Am 14. Januar 1863 (in Moskau) hat sie einen qualvollen Traum; es ist ein eruptiver Ausbruch aus dem Unbewußten. Sie schreibt ins Tagebuch:

»Ich hatte heute einen so unangenehmen Traum. Zu uns in einen riesigen Garten kamen die Bauernmädchen und -weiber von Jasnaja, dabei waren sie alle wie Damen gekleidet. Sie traten irgendwo heraus, eine nach der anderen, als letzte erschien A. (Aksinja), in einem schwarzen Seidenkleide. Ich sprach sie an, und eine solche Erbitterung stieg in mir auf, daß ich irgendwie ihr Kind in die Hände bekam und begann, es in Stücke zu reißen. Ich riß ihm Beine, Kopf, alles ab, und war dabei in fürchterlicher Wut. Ljowotschka kam herzu, ich sagte ihm, man würde mich nun nach Sibirien verbannen, er aber sammelte Beine, Arme, all die Stücke wieder auf und sagte, es mache nichts aus, es sei bloß eine Puppe. Ich blickte hin und tatsächlich: statt Fleisch bloß Kapok und Glacé. Und ein furchtbarer Ärger packte mich. Ich quäle mich oft, selbst wenn ich hier in Moskau an sie denke.

Noch träger fließen die Gedanken. Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn einen diese Apathie überkommt. Die körperliche hat auch seelische im Gefolge.«

Der Traum läßt erkennen, welch tiefe Spuren die Begegnung mit Aksinja hinterlassen hat. Wie wir aus ihm ersehen, wußte Sofia Andrejewna, daß ihr Mann mit der Bäuerin ein Kind hatte.

Hier liegen die Wurzeln der lebenslangen Eifersucht der Gräfin und ihres Hasses gegen seine Vergangenheit, gegen alles, was später wieder in ihm auflebt, von denselben Quellen gespeist. Unerträglicher Schmerz bereitet der jungen Frau die Vergangenheit ihres Mannes. Darum wird es ihr schwer, ihn zu lieben, und doch möchte sie ihn so lieben, daß ihr »der Atem stockt«, daß sie bereit wäre, »um dieser Liebe willen ihr ganzes Leben, ihre Seele hinzugeben«, wenn nur seine Vergangenheit nicht wäre oder sie ihn »töten und neu erschaffen könnte, genau so, wie er ist«, nur ohne seine Vergangenheit.

So wächst die Entfremdung; jeder Zusammenstoß hinterläßt eine Spur, »einen Riß«, wie er sagt.

Am 15. Januar vermerkt er im Tagebuch: »Wir leben einig. Die letzte Entzweiung hat geringe – unbemerkbare – Spuren hinterlassen, oder vielleicht ist es die Wirkung der Zeit. Eine jede solche Entzweiung, wie unbedeutend sie auch sein mag, kerbt einen Riß in die Liebe. Das flüchtige Gefühl des Aufbegehrens, des Ärgers, der Eigenliebe, des Stolzes geht vorüber, aber ein Riß, wenn auch noch so klein, bleibt auf immer zurück, und das im Allerbesten, was es auf Erden gibt, in der Liebe. Ich weiß das und will es nicht vergessen und unser Glück behüten, und du weißt es auch.«

Am 23. Januar: »Zu meiner Frau die besten Beziehungen. Der Wechsel von Ebbe und Flut verwundert und erschreckt mich nicht.«

Am 8. Februar: »Mir ist so herrlich, so herrlich, ich liebe sie so sehr.«

Am 23. Februar: »Heute erwache ich, sie weint, und sie küßt mir die Hände. – ›Was ist?‹ – ›Ich träumte, du wärest gestorben‹.«

Auch nach der eingetretenen Versöhnung schwanken die Beziehungen zwischen Liebe und Zank, zwischen Liebe und Haß. Die Gatten sind »einig«, aber es ist nicht ruhige, selbstsichere Liebe, und oft hinterlassen die Eintragungen den Eindruck, daß sie nur zur Beruhigung des andern gemacht werden; die Gatten geben einander ihre Tagebücher zu lesen.

Wie schmerzlich Sofia Andrejewna vieles auch in den Werken ihres Mannes empfindet, ersehen wir aus einem Brief ihres Vaters, aus dem das offensichtliche Bestreben spricht, seine Tochter inbetreff des Kosakenmädchens Marianna zu beruhigen. Diesen Brief teilt uns Tanja mit. Nachdem Dr. Behrs die großen Vorzüge dieser Erzählung, insbesondere die Naturschilderungen und die Darstellung des Kosakenlebens uneingeschränkt gelobt hat, fährt er fort:

»Aber die Episoden mit Marianna bieten gar kein Interesse und machen keinerlei Eindruck, auch fehlt ihr jegliche Folgerichtigkeit. Der Verfasser wollte da irgend etwas ausdrücken, hat aber schließlich gar nichts ausgedrückt. Es ist etwas Unvollständiges daran. Offenbar war er nicht lange in dem Kosakendorf, ihm fehlte es wohl auch an der Zeit, sich mit irgendeiner Marianna eingehender zu beschäftigen. Ja, und weiß Gott, ob sie es überhaupt wert war, sie einer sittlichen Betrachtung zu unterziehen? Ich denke, solche sind alle über einen Kamm geschoren. Ihr Nervensystem entspricht durchaus ihrer Muskulatur und ist zarten und edlen Gefühlen ebenso wenig zugänglich wie ihre Berge.«

Im Laufe von fünf Monaten ist das Verhältnis zwischen den Gatten nicht besser, sondern immer schlechter geworden. Der schlimmste Monat war der zweite und der Anfang des dritten, als ein Teil der Vergangenheit ihres Gatten in Aksinjas Gestalt der jungen Frau leibhaftig vor die Augen trat. Gegenseitige Feindseligkeit glomm auf und machte das eheliche Leben zuweilen »zur Hölle«. Dieser Monat war bestimmend für das ganze weitere Leben des Ehepaars Tolstoi, was wir auch in der »Kreutzersonate« ungestüm bestätigt finden:

»Wenn, wie das am häufigsten der Fall ist, Mann und Frau die äußerliche Verpflichtung auf sich genommen haben, ihr ganzes Leben zusammen zu verbringen, und sich schon im zweiten Monat der Ehe hassen, sich zu trennen wünschen und doch beisammen bleiben, dann wird die Ehe zu jener entsetzlichen Hölle, durch die der Mensch dem Trunk verfällt, zur Pistole greift, sich selbst und den Gegenpart erschießt oder vergiftet.«

Die nervöse, nie wirklich entspannte sexuelle Gereiztheit führt Tolstoi zu jähen Zornausbrüchen.

Schon am 15. Januar 1863 vermerkt er im Tagebuch: »Zu Hause habe ich Sonja plötzlich angebrüllt, weil sie mich nicht allein ließ. Und dann wurde mir unheimlich und ich schämte mich.«

Im fünften Monat ist die Entfremdung so weit fortgeschritten, leidet er so sehr unter der Frigidität seiner Frau, daß er davon in dem verhüllenden Gewand der Dichtung, eines »Märchens«, seinem Schwiegervater, dem Arzt, schreibt. Der Brief ist an seine Schwägerin Tanja adressiert, richtet sich aber an Dr. Behrs, wie aus der in ihm enthaltenen Bitte um ärztlichen Rat und Hilfe ersichtlich ist.

 

» Das Märchen von der Porzellanpuppe.

Da fängt sie an zu schreiben und kann nicht. Und weißt Du, weshalb, liebe Tanja? Ihr ist etwas Seltsames und mir etwas noch Seltsameres zugestoßen.

Du weißt ja selbst, daß sie immer aus Fleisch und Blut bestand, wie wir alle, und alle Vor- und Nachteile dieses Zustandes genoß: sie atmete, war warm, zuweilen heiß, schnäuzte sich (und wie laut noch dazu!) usw. Vor allem aber beherrschte sie ihre Glieder, die – wie etwa Arme und Beine – verschiedene Lagen einnehmen konnten. Kurz, sie war ein körperliches Wesen wie wir alle. Plötzlich, am 21. März 1863, um zehn Uhr abends, stieß ihr und mir dieses ungewöhnliche Ereignis zu.

Tanja! Ich weiß, daß Du sie immer geliebt hast (jetzt ist es bereits unklar, welches Gefühl sie in Dir erwecken wird); ich weiß, daß Du mir immer Anteilnahme entgegenbrachtest; ich kenne Deine Verständigkeit, Deine richtige Ansicht über wichtige Lebensfragen und Deine Liebe zu den Eltern (bereite sie vor und teile es ihnen mit); ich schreibe Dir, wie sich alles begeben hat.

An diesem Tage war ich früh aufgestanden, viel gegangen und geritten. Wir aßen zusammen Frühstück, Mittag, lasen (sie konnte noch lesen). Und ich war ruhig und glücklich. Um zehn Uhr wünschte ich Tantchen gute Nacht (Sonja war wie immer und versprach, zu mir zu kommen) und ging allein zu Bett. Ich hörte im Halbschlaf, wie sie die Tür öffnete, atmete, sich auszog ,… Ich vernahm, daß sie hinter dem Wandschirm hervorkam und ans Bett trat. Ich öffnete die Augen ,… und erblickte Sonja, aber nicht die Sonja, wie Du und ich sie kannten, sondern eine Sonja – aus Porzellan! Aus dem gleichen Porzellan, über welches sich Deine Eltern einmal stritten. Du kennst wohl jene Porzellanpüppchen mit kalten, entblößten Hals, Schultern und Armen und mit Händen, die vorn gefaltet sind, wobei sie und der Leib aber aus einem Stück bestehen; mit schwarz angemalten Haaren in breiten künstlichen Wellen, auf deren Kämmen die schwarze Farbe abgerieben ist; mit hervorstehenden Porzellanaugen, deren Umrahmung auch schwarz bemalt ist und zwar übertrieben breit; und mit steif faltigem Porzellanhemd aus einem Stück. Genau so war Sonja. Ich berührte ihre Hand; sie war glatt, angenehm anzufassen, aber kalt, aus Porzellan. Ich glaubte, es sei ein Traum, gab mir einen Ruck, aber sie blieb, wie sie war und stand reglos vor mir. Ich sagte: ›Bist du aus Porzellan?‹ Sie antwortete, ohne den Mund zu öffnen (der Mund, dessen Winkel spitz gegeneinander standen und der karminrot angemalt war, blieb in derselben Lage): ›Ja, ich bin aus Porzellan‹. Mir rieselte ein Kälteschauer über den Rücken.

Ich blickte auf ihre Füße; auch sie waren aus Porzellan und standen (Du kannst Dir mein Entsetzen denken!) auf einem Porzellantäfelchen, das mit ihr ein Stück bildete, den Erdboden vorstellte und mit grüner Farbe bestrichen war, was Gras sein sollte. Hinter ihrem linken Bein ragte bis über das Knie ein kleiner Porzellanpfahl, braun angestrichen, der wohl einen Baumstumpf vorstellen sollte. Auch er bestand aus einem Stück mit ihr. Ich begriff, daß sie sich ohne diesen Pfahl nicht hätte aufrecht halten können, und mir wurde so wehmütig zumute, wie Du Dir wohl vorstellen kannst, die Du sie geliebt hast. Ich traute und traute meinen Sinnen nicht, rief sie an, sie konnte sich aber ohne Pfahl und Erdstückchen nicht fortbewegen und schwankte nur kaum merklich mit der Erde und allem hin und her, bestrebt, mir entgegenzusinken. Ich hörte, wie der Porzellanboden gegen den Fußboden klappte. Ich betastete sie; sie war überall glatt, angenehm und aus Porzellan. Ich versuchte, ihren Arm zu heben; es ging nicht. Ich versuchte, einen Finger, nur einen Finger, zwischen Ellbogen und Hüfte zu schieben; es ging nicht. Ich stieß auf ein Hindernis aus durchgehender Porzellanmasse, wie sie bei Auerbach hergestellt wird, um Tunkeschüsseln zu machen. Es war alles bloß des äußeren Scheines wegen da.

Ich betrachtete prüfend ihr Hemd; unten und oben war alles aus einem Stück mit dem Körper. Ich sah näher hin und bemerkte, daß unten ein Stück Hemdfalte abgebrochen und etwas Braunes zu sehen war. Auf dem Scheitel war ein bißchen Farbe abgegangen und etwas Weißes blickte hervor. Auch von den Lippen war die Farbe an einer Stelle abgerieben und von einer Schulter ein Stück abgebrochen.

Im ganzen aber war alles so vollkommen natürlich, daß es doch unsere richtige Sonja war. Das Hemd, jenes, das ich kannte, mit dem Spitzenbesatz, und der schwarze Haarknoten hinten, aber aus Porzellan, und die lieben schmalen Hände, und die großen Augen, und die Lippen – das alles war ähnlich, bloß aus Porzellan. Auch das Grübchen am Kinn, auch die Knöchelchen vor den Schultern. Ich befand mich in einer fürchterlichen Lage, ich wußte nicht, was sagen, was tun, was denken! Sie hätte mir ja gern geholfen, was aber konnte ein Porzellanwesen denn tun!

Die halb geöffneten Augen, die Wimpern, Brauen – alles sah von fern wie lebendig aus. Sie sah mich nicht an, sondern blickte über mich hinweg auf das Bett; offenbar wollte sie sich zur Ruhe legen, und sie schwankte immerfort hin und her. Ich wußte nicht mehr ein noch aus, packte sie und wollte sie ins Bett tragen. Meine Finger drückten sich nicht in ihren kalten Porzellanleib ein, und was mich noch mehr verwunderte, sie war so leicht geworden wie ein Glasfläschchen.

Und plötzlich war sie fast ganz verschwunden und klein geworden, kleiner als meine Hand, dabei aber genau so geblieben. Ich ergriff das Kissen, stellte es auf die eine Ecke, schlug mit der Faust auf die andere Ecke und legte sie da hinein. Darauf nahm ich ihr Nachthäubchen, faltete es vierfach und deckte sie damit bis an das Kinn zu. Sie lag da, ganz so wie vorher. Ich löschte das Licht und schob sie mir unter den Bart. Plötzlich vernahm ich ihre Stimme von der Ecke des Kissens: ›Ljowa, macht das nichts, daß ich aus Porzellan bin?‹ Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte. Sie fragte wieder: ›Macht es nichts aus, daß ich aus Porzellan bin?‹ Ich wollte sie nicht betrüben und antwortete, es mache nichts aus. Ich betastete sie wieder im Dunkeln; sie war ebenso kalt und porzellanen. Auch ihr Bäuchlein war ebenso wie bei der Lebendigen, mit dem Konus nach oben – ein bißchen unnatürlich bei einer Puppe; mich überkam ein sonderbares Gefühl. Ich empfand es plötzlich als angenehm, daß sie so war, und ich hörte auf, mich zu wundern; mir schien jetzt alles natürlich. Ich holte sie hervor, legte sie aus einer Hand in die andere, schob sie mir unter den Kopf. Ihr war alles recht. Wir schliefen ein ,…

Am Morgen stand ich auf und ging fort, ohne mich nach ihr umzusehen. Alles, was gestern gewesen, schien mir so seltsam. Als ich zum Frühstück kam, war sie wieder so wie immer. Ich erinnerte sie nicht an das Gestrige, um sie und Tantchen nicht zu betrüben. Außer Dir habe ich noch niemand etwas davon gesagt. Ich meinte, alles sei vorbei, aber all diese Tage, immer, wenn wir allein bleiben, wiederholt sich das gleiche. Plötzlich ist sie klein und aus Porzellan. Sind Leute da, so ist alles wie früher. Sie leidet nicht darunter, ich auch nicht. Offen gesagt, wie seltsam es auch sein mag, freue ich mich darüber, und obwohl sie aus Porzellan ist, sind wir doch sehr glücklich.

Ich schreibe Dir, liebe Tanja, dies alles aber darum, damit du die Eltern auf diese Nachricht vorbereitest und durch Papa bei Medizinern nachfragst, was diese Sache zu bedeuten hat und ob das dem kommenden Kinde nicht schädlich sein könne.

Eben sind wir allein, und sie sitzt hinter meiner Kravatte, und ich spüre, wie ihr kleines Näschen sich mir in den Hals drückt. Gestern war sie eine Weile allein geblieben. Als ich in ihr Zimmer trat, sah ich, daß das Hündchen Dora sie in eine Ecke geschleppt hatte, mit ihr spielte und sie beinahe zerbrochen hätte. Ich verprügelte Dora, steckte Sonja in die Westentasche und brachte sie in mein Arbeitszimmer. Jetzt habe ich übrigens ein Holzkästchen mit Verschluß bestellt und heute aus Tula erhalten, das außen mit Saffianleder, innen mit himbeerfarbenem Samt bezogen ist und eine Mulde für sie enthält, in die sie mit Ellenbogen, Kopf und Rücken genau hineinpaßt, so daß sie nicht zerbrechen kann. Oben decke ich sie noch mit Glacéleder zu.

Ich schrieb noch an diesem Briefe, als plötzlich ein fürchterliches Unglück geschah. Sie stand auf dem Tische. N. P. stieß sie im Vorübergehen an, sie fiel zu Boden, und ein Bein brach oberhalb des Knies samt dem Baumstumpf ab. Alexej behauptet, man könne es mit Eiweiß wieder ankleben. Kennt man in Moskau nicht ein geeignetes Mittel? Sende es bitte.«

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Dieser Brief wurde in Gegenwart der jungen Frau geschrieben. In dem Bestreben, bei dem Arzt und Vater Verständnis und Hilfe zu finden, strengt Tolstoi hier seine ganze Darstellungskraft an, um ihm einen möglichst tiefen Einblick in das Übel zu gewähren, ohne doch die wahre Sachlage rücksichtslos zu enthüllen. Seine Klage bezieht sich nur auf den Zustand, die starre, porzellanhafte Frigidität seiner Frau, nicht auf ihr Verhalten. Über dieses führt er keine Beschwerde, seine »demütige« Frau erfüllt ihre Pflichten als Gattin »ehrlich«, sie verweigert sich ihm nicht, bleibt aber unter seinen Liebkosungen kalt, leblos. Was er auch mit ihr anstellen, wie sehr er sich auch bemühen mochte, um Leidenschaft, »wollüstige Umarmungen« bei ihr zu erwecken – an der »Porzellanpuppe« zerschellt sein Ungestüm. Er holte sie hervor, legte sie aus einer Hand in die andere, schob sie sich unter den Kopf. Widerwillig, mit zusammengebissenen Zähnen läßt sie alles über sich ergehen und antwortet auf sein Forschen und Fragen, wenn er nicht wußte, »was sagen, was tun, was denken«, demütig und ergeben, ihr sei alles recht, sie leide nicht »darunter«. Tolstoi fährt beruhigend fort, auch er freue sich »darüber« und sie seien »glücklich«, obwohl seine Frau aus Porzellan ist. Wie es um Freude und Glück in Wirklichkeit bestellt war, beweist schon die Tatsache, daß dieser Brief mit der Bitte um Hilfe geschrieben wurde.

Den Anlaß dazu, den Sinn dieses aus Schmerz und Enttäuschung geborenen »Märchens« versteht Dr. Behrs aber nicht. Er antwortet der Tochter: »Dein Ljowa hat Tanja eine so phantastische Sache geschrieben, wie sie selber einem Deutschen nicht eingefallen wäre. Erstaunlich, wie fruchtbar seine Einbildungskraft ist und in welch merkwürdigen Formen sie sich manchmal äußert. So hat er es doch wirklich fertig gebracht, über die Verwandlung einer Frau in eine Porzellanpuppe acht Seiten vollzuschreiben.«

Wie groß Tolstois Leiden war, ersehen wir aus einer Eintragung seiner Gattin wenige Tage nach der Abfassung jenes Briefes; am 8. April 1863 schreibt Sofia Andrejewna ins Tagebuch:

»Mit Ljowa ist bestimmt irgend etwas nicht in Ordnung. Er ist irgendwie weniger natürlich und verschlossener. Oder sollte das alles von seinen Kopfschmerzen herrühren? Was braucht er, womit ist er unzufrieden? Eben ist er nicht da, aber er kommt (früher oder später), ich aber habe schon jetzt Angst vor ihm, davor, daß er verstimmt sein, daß irgend etwas ihn noch stärker reizen könnte.«

»Was braucht er noch, womit könnte er unzufrieden sein, da ich ihn doch gewähren lasse und mir alles recht ist, was er mit mir auch tun mag«, ergänzen wir und verstehen – im Gegensatz zu der verwundert Fragenden – seine gedrückte Stimmung und die Ursache seiner Kopfschmerzen, die auch er sich nicht erklären konnte. Leidend meidet er das Haus, vertieft sich in wirtschaftliche Tätigkeit, um dann wieder zu seiner Frau zurückzukehren und, enttäuscht, verstimmt, gereizt, doch nicht das zu finden, was sein leidenschaftliches Temperament verlangt. Verängstigt erwartet sie seine Rückkehr und kann doch nichts tun, um ihm zu helfen, trotzdem er auch physisch so stark unter dem ihn nicht befriedigenden Geschlechtsverkehr leidet, daß seine Mannbarkeit dadurch beeinträchtigt wird. Am 24. April vermerkt die Gattin:

»Ljowa ist entweder alt oder unglücklich. Hat denn außer Geld und Wirtschaftsangelegenheiten und dem Betrieb der Spritbrennerei nichts, gar nichts Interesse für ihn? Wenn er nicht ißt, nicht schläft oder nicht schweigt, so läuft er in der Wirtschaft umher, geht hierhin, geht dorthin, immer allein. Und ich langweile mich, (auch) allein, immer allein. Seine Liebe zu mir äußert sich in mechanischem Handküssen.«

Die Eintragungen weisen immer deutlicher auf jene Tragödie des Schlafzimmers hin, die beide Gatten so schmerzlich erlebten. Auf ihre Frage: »Sollte das alles von seinen Kopfschmerzen herrühren?« gibt Sofia Andrejewna selbst unbewußt die Antwort, als sie am 29. April 1863 dem Tagebuch anvertraut:

»Bei ihm spielt die physische Seite der Liebe eine große Rolle. Das ist entsetzlich – bei mir gar keine, im Gegenteil.«

Sie empfindet den ehelichen Verkehr als entsetzlich, was zu Unlust, zeitweise zu Unfähigkeit bei dem Gatten führt, worin sie ein Zeichen seines Alterns, eine Folge seiner früheren Ausschweifungen sieht. Er begehrt die Porzellanpuppe nicht, er flieht sie, seine Liebe äußert sich nur in mechanischem Handküssen, er sucht Vergessen in angestrengter Tätigkeit und fühlt sich krank und elend.

Krank fühlt sich auch seine Frau und vernachlässigt. Trotz alles inneren Widerstrebens: in der Leidenschaft ihres Mannes sieht sie einen Beweis seiner Liebe, darum empfindet sie es als schmerzlich, daß er sie meidet; sie ist allein, immer allein, während er ruhelos umherirrt. Sie schreibt ins Tagebuch:

8. Mai: »An allem ist meine Schwangerschaft schuld – aber es wird mir unerträglich, sowohl körperlich als auch seelisch. Körperlich kranke ich immer an irgend etwas, seelisch empfinde ich entsetzliche Langeweile, Leere, Öde geradezu.«

22. Mai: »Jetzt herrscht Kälte und Langeweile, richtiger Angst, Todesangst, daß alles, was war, gestorben ist. Das Leben ist hin. Wo keine Liebe ist, ist kein Leben. Gestern bin ich im Garten umhergelaufen und habe gedacht: Wird es denn nicht zu einer Fehlgeburt kommen? Von Liebe ist in ihm keine Spur. Er ist krank, wird er erst gesund, so wird auch ihm bange werden.«

6. Juni: »… bloß sondert er sich scheinbar ab, ganz in sich gekehrt.«

Beide sind krank, beide unglücklich. Sie so sehr, daß sie sich durch Laufen von dem kommenden Kinde befreien will. Sie weiß: auch ihr »unglaubliches Glück« ist eine Dichtung Tolstois, nicht Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit ist voll Schmerz und Qual. Er seinerseits vermerkt am 2. Juni 1863:

»Ich dachte, daß ich alt werde und sterbe, ich dachte, daß es unheimlich sei, daß ich sie nicht liebe. Ich war entsetzt über mich, weil all mein Interesse auf Geld oder gemeinen Wohlstand gerichtet ist. Das war ein zeitweiliges Hindämmern ,… Entsetzlich, schrecklich, unsinnig ist es, sein Glück mit materiellen Dingen zu verknüpfen – mit Frau, Kindern, Gesundheit, Reichtum.«

Wehmütig trauert er seinem früheren Leben, seinem früheren Ich nach:

»Wo bin ich, jener, den ich selber liebte und kannte, der zuweilen ganz zutage trat und mich selbst freute und erschreckte? Jetzt bin ich klein und nichtig. Und das bin ich seit der Zeit, da ich die Frau geheiratet habe, die ich liebe.«

Sofia Andrejewna vermerkt:

»Habe seine Briefe an V. A. (Valeria Arsenjewa) wieder durchgelesen – das war noch jugendlich, er liebte nicht sie, sondern die Liebe und das Familienleben. Wie wohl aber erkenne ich ihn in allem, seine Regeln, sein wunderbares Streben nach allem, was gut, was das Gute ist ,… Wenn man sich vorher sein Glück erdichtet, so bemerkt man später enttäuscht, daß man es sich anders vorgestellt, anderes erwartet hat.«

Auch diese Worte kennzeichnen das »unglaubliche Glück« des Ehepaars Tolstoi, entspringen wohl dieser uneingestandenen Erkenntnis.

Einige Monate vorher war Tolstoi über die ersten Lebenszeichen des kommenden Kindes glücklich, lauschte ihnen zusammen mit der angehenden Mutter, und in seinen Eintragungen spiegelte sich seine Ergriffenheit, erwachender Vaterstolz und Vaterfreude. Aber selbst in diesen beglückenden Augenblicken finden wir Hinweise darauf, daß er »nicht ganz glücklich«, »nervös gereizt« sei, sie auch in ihrer Hingabe »nicht ganz besitze«, da seine Liebe sie nicht befriedige: in ihrer Frigidität sieht er »Reinheit«, vor der er sich vernichtet fühlt. Er vermerkte am 24. März:

»Ich liebe sie immer mehr und mehr. Heute beginnt der siebente Monat (unserer Ehe), und ich empfinde das anfangs lange nicht gekannte Gefühl der Vernichtung vor ihr. Sie ist so unmöglich rein, gut und einheitlich für mein Empfinden. In diesen Augenblicken fühle ich, daß ich sie nicht besitze, obwohl sie sich mir ganz hingibt. Ich besitze sie darum nicht, weil ich es nicht wage, mich (ihrer) nicht würdig fühle. Ich bin nervös gereizt und darum nicht ganz glücklich. Irgend etwas quält mich. Eifersucht auf jenen Menschen, der ihrer vollkommen wert wäre. Ich bin es nicht.«

Es ist umgekehrt: weil er nicht glücklich ist, ist er nervös gereizt. Und er spürt, daß auch er sie nicht glücklich machen kann, denn wenn sie sich ihm auch »ganz hingibt«, hat sie doch nichts davon. Glück könnte ihr nur ein anderer geben, und auf den ist er naturgemäß eifersüchtig.

11. April: »Sie ist jetzt besonders glücklich. Ich bin sehr glücklich über alles und alles.«

Die Freude seiner Frau über das kommende Kind macht auch ihn glücklich, dieses Glücksgefühl währt aber nur kurze Augenblicke. Wie wir gesehen haben, verzeichnet die Gattin wenig später, daß es ohne Liebe kein Leben gebe, daß er sich absondere, ganz in sich gekehrt sei, sie meide: Aksinja ist wieder in sein Leben getreten. Da er seine Frau nicht ganz besitzt, lebt die Erinnerung an die frühere Geliebte wieder in ihm auf, die ihm Entspannung brachte und ihn beglückte, was seine Frau nicht vermochte. Im »Teufel« gesteht er:

»Liebesekstasen, Gefühlsergüsse kamen kaum vor, so sehr er sich auch bemühte, sie hervorzurufen, und wenn sie einmal vorkamen, blieben sie matt und wirkungslos.

Das kam daher, weil sie sofort nach der Verlobung beschlossen hatte, daß unter allen Menschen dieser Welt er der beste, klügste, reinste, edelste sei, und daß daher alle Menschen verpflichtet seien, ihm zu dienen und ihm Angenehmes zu tun. Da man aber nicht alle dazu zwingen könne, so müsse wenigstens sie mit allen ihren Kräften danach streben. Und das tat sie denn auch. Darum waren alle ihre Seelenkräfte immer darauf gerichtet, zu erfahren, zu erraten, was er gern hatte, und dieses dann zu tun, gleichviel was es sei und wie schwer es ihr auch fallen mochte.

Sie besaß die Eigenschaft, die den Hauptreiz beim Verkehr mit einem liebenden Weibe ausmacht: sie vermochte dank ihrer Liebe zum Gatten in seiner Seele zu lesen.«

Sofia Andrejewnas Bemühungen sind auf das äußere Leben gerichtet, sie sucht die Wünsche ihres Gatten zu erraten, das reicht aber noch nicht aus, das gibt noch nicht Glück. Darum kommt es zu unablässigem Zank, zu Krankheit und Abneigung, zu Entfremdung, Haß und Schwermut. Und als es Frühling wird – Tolstois liebste Jahreszeit, da auch in ihm alles sprießt und zum Leben strebt –, wendet er sich von seiner Frau ab. Ruhelos irrt er umher, »geht hierhin, geht dorthin, immer allein«, in der heimlichen Hoffnung, die junge Bäuerin zu treffen, nach der er sich sehnt, die ihn leicht, ruhig und heiter machte. Er kann jenen Pfingstsonntag nicht vergessen, da er in ihren »knorrigen Arbeitshänden« welkenden Faulbaum sah, so verliebt war »wie noch nie im Leben« und vor lauter Glückseligkeit alle Bauern küßte, deren Bärte nach Frühling rochen. Mit seinen Schülern schwärmte er davon, daß er ein einfaches Bauernmädchen heiraten möchte, weil er bei einer Bäuerin die Fülle der Liebesbeglückung gefunden.

Nun ist es wieder Pfingstsonntag, wie damals am ersten Tage seiner jungen Liebe zu der Bäuerin, von dem er jubelnd der Gräfin Alexandra Andrejewna und dem Freunde Feth berichtet hat. Seitdem ist ihm Pfingsten mit dem Duft von Maien, Faulbaum, dem grünen Wald und strahlenden Sonnenschein zum Symbol seiner Liebe zu Aksinja geworden. Von seiner Leidenschaft für die Bäuerin, seiner verzehrenden Sehnsucht nach ihr im ersten Ehejahre berichtet er mit rückhaltloser Offenheit im »Teufel«:

»Tags darauf war Pfingsten. Das Wetter war wunderschön, und nach alter Sitte kamen die Bäuerinnen, als sie in den Wald gingen Kränze winden, erst vor das Gutshaus und sangen und tanzten.

Er wollte nicht hinausgehen, aber es wäre lächerlich gewesen, wenn er sich versteckt hätte. So trat er, die Zigarette in der Hand, auch auf die Freitreppe. Die Weiber brüllten aus voller Kehle ihr Tanzlied, klatschten in die Hände, sprangen und drehten sich«. Eine davon war Aksinja. »Sie hatte ein gelbes Kleid und eine Plüschweste an, darüber ein seidenes Tuch. Breitbrüstig, energisch, rotbackig, fröhlich bewegte sie sich hin und her. Sie tanzte wohl sehr gut. Er sah nichts. ›Ja, ja‹', dachte er, ›ich kann sie wohl nicht mehr los werden.‹

Er sah sie nicht an, weil er ihre Reize fürchtete, und gerade deswegen schien ihm das, was er flüchtig an ihr zu sehen bekam, besonders reizend. Außerdem sagte ihm ihr aufflammender Blick, daß sie ihn sah, und auch sah, daß sie ihm gefiel. Er ging fort, um sie nicht mehr zu sehen; aber als er ins obere Stockwerk gekommen war, trat er, ohne zu wissen, wie und warum, ans Fenster und blieb dort die ganze Zeit stehen, solange die Weiber tanzten. Er sah auf sie und immer wieder auf sie und berauschte sich an ihrem Anblick.

Er lief unbemerkt die Treppe hinunter und ging leise auf die Veranda. Dort steckte er sich eine Zigarette an und ging, scheinbar nachlässig durch den Garten schlendernd, in der Richtung, in der sie sich entfernt hatte. Er hatte noch keine zwei Schritte in der Allee gemacht, als hinter den Bäumen die Plüschweste über dem gelben Kleid und das rote Tuch auftauchten. Und plötzlich ergriff ihn eine leidenschaftliche Begier, sie brannte ihn wie Feuer, preßte wie mit einer kräftigen Hand sein Herz zusammen ,…

Ganz niedergeschlagen kam er nach Hause, als hätte er ein Verbrechen begangen. Sie hatte ihn verstanden; sie hatte gedacht, er wolle sie sehen, und das kam ihr erwünscht. Er fühlte, daß er besiegt war, daß er keinen eigenen Willen besaß, daß es eine andere Kraft gab, die ihn beherrschte, daß ihn heute bloß ein glücklicher Zufall gerettet hatte; aber wenn nicht heute, so mußte er morgen oder übermorgen doch zu Fall kommen.

Ja, zu Fall kommen. Anders konnte er es nicht nennen. Seiner jungen Frau, die ihn so liebte, untreu werden, mit einem Bauernweib aus dem Dorf, vor aller Augen – war das nicht ein entsetzlicher Fall, nach dem er überhaupt nicht mehr leben konnte? ›Mein Gott, mein Gott, was soll ich tun? Muß ich denn wirklich zugrunde gehen?‹ fragte er sich. ›Vor allem nicht an sie denken!‹ redete er auf sich ein, sofort aber dachte er wieder an sie und sah sie wieder vor sich im Schatten des Ahorn ,…

Er konnte nicht zu Hause sitzen, sondern war im Feld, im Wald, im Garten, auf der Tenne, und überall verfolgte ihn nicht nur der Gedanke an Aksinja, sondern ihre lebendige Erscheinung so, daß er sie nur selten vergessen konnte. Und, großer Gott! wie reizvoll erschien sie ihm in seiner Einbildung! Nie war sie ihm so verlockend erschienen. Und nicht nur verlockend, nie hatte sie eine so große Gewalt über ihn gehabt.

Er fühlte, daß er jede Selbstbeherrschung verlor, daß er nahe daran war, wahnsinnig zu werden. Er wußte, daß er nur mit ihr nahe zusammenzukommen brauchte, irgendwo im Dunkeln, daß er sie, wenn es möglich wäre, nur zu berühren brauchte – und er hätte sich von seinem Gefühl hinreißen lassen. Er wußte, daß nur die Scham vor den Leuten, vor ihr, wohl auch vor sich selbst, ihn zurückhielt. Und er wußte auch, daß er nach einer Gelegenheit suchte, wo er dieses Schamgefühl weniger empfinden würde: in der Dunkelheit oder bei der Berührung, bei der das Schamgefühl durch den tierischen Trieb betäubt würde. Jeden Tag betete er zu Gott, er möge ihn stärken, möge ihn vor dem Untergang retten. Aber wenn die Mittagsstunde kam, die Stunde ihrer einstigen Zusammenkünfte, oder die Stunde, da er sie mit der Graslast am Waldrande getroffen hatte – dann ging er in den Wald. Im Hause empfand er furchtbare Langeweile. Alles schien nichtig, ödete ihn an. ›Nur ein einziges Mal sie umarmen. Es muß doch irgendein Mittel dagegen geben. Mein Gott, was soll ich tun?‹

Was ihm früher wichtig erschien, was ihm Freude gemacht hatte, war jetzt ohne Bedeutung. Kaum war er allein, so trieb es ihn, im Garten, im Walde umherzuirren. Alle diese Stätten waren beschmutzt durch Erinnerungen, Erinnerungen, die ihn wider Willen beherrschten. Und während er durch den Garten ging und sich sagte, er müsse etwas erwägen, spürte er, daß er nichts erwog, sondern wie wahnsinnig auf sie wartete, darauf wartete, daß sie wie durch ein Wunder begreifen würde, wie sehr er nach ihr verlangte, und daß sie hierher kommen würde, hierher oder an irgendeinen Ort, wo niemand sie sehen könnte, oder daß sie nachts, wenn der Mond nicht scheinen würde, und niemand, nicht einmal sie selbst, etwas würde sehen können – daß sie in einer solchen Nacht zu ihm kommen und er ihren Leib berühren würde ,…

›So habe ich also Schluß gemacht, als ich genug hatte!‹ sagte er zu sich selbst. ›So habe ich aus Gesundheitsrücksichten mit einer reinen, gesunden Frauensperson verkehrt! Ich glaubte, ich hätte sie genommen, in Wahrheit aber hat sie mich genommen, und hält mich fest. Ich hielt mich für frei. Ich betrog mich selbst, als ich heiratete.‹

›Als ich mit ihr zusammenkam, ergriff mich ein neues Gefühl, das echte Gattengefühl. Ja, ich hätte mit ihr leben müssen.‹

›Nun gibt es zwei Lebensmöglichkeiten für mich. Ich muß das Leben fortsetzen, das ich mit Sonja begonnen habe. Dann darf es keine Aksinja geben. Sie muß fortgeschickt werden oder vernichtet, daß sie überhaupt nicht mehr da ist. Und dann das zweite Leben ,… Ich nehme sie ihrem Manne weg, gebe ihm Geld, vergesse Scham und Schmach und lebe mit ihr‹.«

Im Banne solcher Gedanken und Wünsche irrt Tolstoi ruhelos umher. Er hat keinen eigenen Willen mehr, es gibt eine andere Macht, die ihn beherrscht, die ihn genommen hat und ihn festhält, vor der seine Heirat Betrug ist und Qual: die Liebe. Ebenso wie er in den »Kosaken«, die in diesem ersten Ehejahr geschrieben wurden, das Kosakenmädchen ihrem Verlobten nimmt, möchte er die Bäuerin Aksinja ihrem Manne nehmen, ihn durch eine Geldsumme abfinden, um mit ihr zu leben. Aber er schweigt und trägt Sehnsucht und Qual stumm in sich. Er fürchtet, selbst seinem Tagebuch die Wahrheit anzuvertrauen, da ja seine Frau es lesen könnte, und unterbricht darum seine Eintragungen. Sein Heim erscheint ihm freudlos und lieblos, er entflieht ihm, um in den Wald zu entweichen, meidet auch den Verkehr mit anderen Menschen, wie uns seine Schwägerin Kusminskaja, die frühere Tanja, mitteilt; zugleich erfahren wir von ihr, daß Tolstoi sich in dem durch die Erinnerungen an Aksinja so lieb gewordenen Walde, dem »Tschepysch«, ein Häuschen gebaut hat.

»Wenn ein Gast vorfuhr«, berichtet Tatjana Andrejewna, »verschwand Leo Nikolajewitsch mit einem Buche, wobei er erklärte: ›Meine Adresse ist die Orangerie oder der Tschepysch.‹ In diesem Walde hatte sich Leo Nikolajewitsch eine Hütte bauen lassen, wohin er eine Zeitlang vor der Hitze flüchtete und schrieb.«

Lieber als sein Heim mit der jungen Hausfrau sind ihm die Orte, an denen er einst glücklich war – der Wald, der »Haselnuß- und Ahornforst«; hier baut er sich sein Haus, in dem er der Vergangenheit gedenkt und arbeitet. Oder er sitzt ganze Tage im Bienengarten, wohin ihm seine Frau das Frühstück bringt.

In der Bewirtschaftung seines Gutes findet er keine Befriedigung.

»Trotz seiner zeitweiligen Leidenschaft für Wirtschaft und Erwerb«, fährt Frau Kusminskaja fort, »überkam ihn oft plötzliche Schwermut, Enttäuschung über sein Tun, seine Hingabe. Die Frage: ›Wozu das alles?‹ begann ihn zu quälen, und er fand darauf vorerst keine Antwort. Er war in bedrückter Stimmung, oft mißgelaunt, schweigsam, und Sonja, die das auf sein Unwohlsein zurückführte, fühlte sich darum auch bekümmert.«

Bereits am 23. Mai 1863 klagt die Gräfin in einem Brief an ihre Schwester Tanja: »Ljowa kränkelt immer. Weiß Gott, was er haben mag? Wie niederschmetternd, daß er krank ist, fürchterlich. Magenstörungen, Ohrensausen, was ihm aber eigentlich fehlt, mag Gott wissen.«

Auch die Geburt des Kindes brachte nicht den erhofften Ausgleich. Nachdem er im Tagebuch seine Empfindungen während der Geburt geschildert hat, zieht er das Fazit seines ersten Ehejahres und erklärt abschließend, daß er sein Tagebuch seiner Frau nicht mehr zeigen werde, sich aber trotzdem scheue, ihm die ganze unselige Wahrheit über sein Unglück anzuvertrauen.

»Ich habe das nicht beendet und kann nicht weiter davon schreiben, was das eigentlich Quälende ist. Ihr Charakter verschlimmert sich von Tag zu Tag, sie erinnert mich an Polinka (Tolstois Tante Pelageja Iljinischna Juschkowa) und an Maschenka (seine Schwester Marie), mit ihrem Murren und dem gereizten Glöckchen (in der Stimme). Es ist freilich war, daß dieses (nur) eintritt, wenn sie sich schlechter fühlt, aber ihre Ungerechtigkeit und ihr ruhiger Egoismus erschrecken und quälen mich. Sie hat einmal von jemand gehört und sich zu Gemüte gezogen, daß Männer keine kranken Frauen mögen, und sich daraufhin in dem Bewußtsein beruhigt, daß sie im Recht sei.

Oder hat sie mich nie geliebt, sondern sich in ihrem Gefühl getäuscht? Ich habe ihr Tagebuch noch einmal durchgelesen – unterdrückte Gehässigkeit gegen mich brodelt hinter ihren zärtlichen Worten. Auch im Leben ist das oft so. Stimmt das und beruht alles auf einer Täuschung ihrerseits, so ist es entsetzlich.

Ich habe alles hingegeben, nicht wie sonst junge Ehemänner bloß ein ausschweifendes Junggesellenleben bei Dussaux Modisches Gasthaus. mit Mätressen, sondern habe die ganze Poesie der Liebe, der Gedankenarbeit und der Tätigkeit zum Wohle des Volkes der Poesie des Ehenestes, dem Egoismus allem gegenüber, ausgenommen die eigene Familie, geopfert, statt all dessen aber die Sorgen eines Schenkwirts und die Sorgen um Säuglingspuder oder Eingemachtes aufgehalst erhalten, mit Gemurre dazu und all dessen bar, was das Familienleben leicht macht, bar auch der Liebe und des stillen und stolzen Glücks des Familienlebens! Statt all dessen nichts als Zärtlichkeitsanfälle, Küsse usw.

Es wird mir ungeheuer schwer. Ich glaube es noch nicht. Und ich war auch nicht krank, nicht bedrückt den ganzen Tag, im Gegenteil. Am Morgen komme ich glücklich, fröhlich zurück und sehe die Frau Gräfin Hier und weiter von Tolstoi unterstrichen., die zürnt und der die Dienstmagd Duschka die Haare kämmt, und ich denke an Maschenka in ihren schlimmen Zeiten, und alles bricht zusammen, und wie ein Verbrühter schrecke ich vor allem zurück und erkenne, daß ich mich nur dort, wo ich allein bin, wohl und angeregt fühle.

Man gibt mir Küsse, die aus Gewohnheit zärtlich sind, und dann wird genörgelt – an Duschka, an Tantchen, an Tanja, an mir, an allen, und ich vermag das nicht ruhig zu ertragen, denn all das ist nicht bloß einfach schlecht, sondern im Vergleich mit dem, was ich mir wünsche, grauenhaft. Ich weiß nicht, wozu ich um unseres Glückes willen nicht bereit wäre, aber sie versteht es, unsere Beziehungen so zu verflachen, so zu entwürdigen, daß sich erweist, es täte mir leid, ihr etwa ein Pferd zur Verfügung zu stellen oder einen Pfirsich zu geben. Da ist nichts zu erklären. Nichts ist da zu erklären ,…

Das geringste Aufleuchten von Verständnis und Gefühl aber – und schon bin ich wieder ganz und gar glücklich und glaube, daß sie die Dinge so versteht wie ich. Man glaubt eben daran, was man heiß ersehnt. Und ich bin zufrieden, daß nur ich gequält werde. Und der gleiche Zug wie bei Maschenka, eine Art krankhaften und launenhaften Selbstbewußtseins und der Ergebenheit in das eigene angeblich unglückliche Los.

Es ist schon ein Uhr nachts, ich aber kann nicht schlafen, noch weniger in ihr Zimmer schlafen gehen, dieses Gefühl im Herzen, das mich bedrückt; und sie würde anfangen zu seufzen, wenn sie weiß, daß sie gehört wird, während sie jetzt ruhig schnarcht. Sie würde erwachen, vollkommen davon überzeugt, daß ich ungerecht bin, und daß sie das unglückliche Opfer meiner wechselnden Phantastereien ist – (darum auch) selbst stillen, das Kind betreuen müsse ,… Sogar ihr Vater teilt diese Ansicht.

Ich werde ihr mein Tagebuch nicht (mehr) zu lesen geben, verzeichne aber nicht alles darin.

Am fürchterlichsten aber ist, daß ich schweigen und schmollen muß, wie sehr ich auch einen solchen Zustand hasse und verabscheue. Man kann sich jetzt nicht mit ihr aussprechen, vielleicht würde sich sonst noch alles klären. Nein! Sie hat mich nie geliebt und liebt mich nicht. Jetzt ist es mir nur wenig leid darum, wozu aber war es nötig, mich so schmerzlich zu täuschen!«

Der krankhafte Zustand seiner Frau bleibt ihm ebenso unverständlich wie die Ursachen ihrer Beschwerden. Er sieht in allem nur Hysterie, die er auf ihre Charaktermängel zurückführt. Die gegenseitige Entfremdung macht ihn blind für den leidenden Menschen im anderen; die unbefriedigte Sexualität verdrängt alles andere.

Nicht weniger schmerzlich als er leidet die Gattin. Aus ihren Tagebucheintragungen sehen wir, daß sie instinktiv spürt, ja, wie sie sagt, »weiß«, was er braucht – eine andere Liebe? eine andere Frau? »Das« aber könne sie ihm nicht geben. Der Anblick seiner Leiden peinigt sie ebenso heftig wie das eigene immer unbefriedigte Liebesverlangen. Auch sie »ödet alles an«, ganz so wie ihn, auch ihr ist »nichts mehr lieb«. »Wie ein Hund« hat sie sich in ihrer »Liebesdemut« an seine Liebkosungen »gewöhnt«, er aber vernachlässigt sie, ist »erkaltet«. Da er bei ihr nicht findet, was sein überschäumendes Temperament braucht, wendet er sich oft von ihr ab, in verzehrender Sehnsucht nach Aksinjas Leidenschaft, und küßt seiner Frau in solchen Zeiten nur noch mechanisch die Hand. »Ebbe und Flut«, Haß und Zärtlichkeit machen einem Gefühl der Kälte und gelangweilter Gleichgültigkeit Platz. Sehnt sie sich nach seinen Liebkosungen, der Bestätigung seiner Liebe, so weist er sie mit der Vertröstung ab, es kämen »auch solche Tage«, die ihr aber »gar zu oft« einzutreten scheinen. Sie fühlt sich vereinsamt, beschließt, sich in Geduld zu fassen, meidet aber auch selber seine Gegenwart, so unfreundlich ist er zu ihr.

Nicht einmal die Freude über die Geburt des ersten Kindes vermag die schroffen Gegensätze zu überbrücken, wenn auch sein lange unterdrücktes Begehren ihn schon kurze Zeit nach der Entbindung zu ihr treibt, trotzdem sie an Milchdrüsenentzündung erkrankt ist. Er wird abgewiesen, was nur zu verständlich erscheint, ihn aber offenbar trotzdem verletzt, denn vierzehn Tage später sieht sie sich veranlaßt zur Selbstberuhigung zu vermerken, sie liebe ihn doch »so ehrlich«, »so gut«.

Hier diese schmerzlichen Eintragungen der zerquälten jungen Frau und Mutter:

14. Juli 1863: »Etwas in mir ist zerbrochen, etwas ist da, das, wie ich fühle, mich immer schmerzen wird. Ljowas Seelenzustand quält mich. Gedankenreichtum, Gefühl und alles schwindet dahin.«

22. Juli: »All das, was er hat, ist ihm zu wenig; ich weiß, was er braucht; das gebe ich ihm aber nicht. Mir ist nichts mehr lieb. Wie ein Hund habe ich mich an seine Liebkosungen gewöhnt, er aber ist erkaltet. Er tröstet mich immerfort, daß auch solche Tage kommen. Das geschieht jetzt aber gar zu oft. Geduld.«

31. Juli: »Das Verhältnis zwischen uns ist entsetzlich – und das im Unglück (Milchdrüsenentzündung)! Er ist dermaßen unangenehm geworden, daß ich ihm den ganzen Tag ausweiche. Er sagt: ›Ich gehe schlafen‹, ›ich gehe baden‹; ich denke: ›Gott sei Dank‹!«

3. August: »Und welche Schwäche, daß er die kurze Zeit bis zu meiner Genesung nicht durchhalten kann.«

17. August: »Ich liebe ihn so ehrlich, so gut.«

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So sieht das wahre Bild jenes »unglaublichen Glücks« aus, von dem Tolstoi in Augenblicken der Aussöhnung mit seiner Frau an seine Freunde schreibt.

»Wie, wenn auch dies nur der Wunsch, zu lieben, und nicht Liebe ist?« vermerkte er noch vor seiner Verlobung, am 23. August 1862, bei seiner Ankunft in Moskau im Tagebuch. Sein Instinkt hatte ihn nicht umsonst gewarnt. Traum und Wirklichkeit decken sich nicht. Die Ehe hat sich als ein Joch erwiesen, das beide Gatten oft nur stöhnend tragen. Sehnend gedenkt er Aksinjas; die Liebe zu ihr war kein Joch. Damals fühlte er sich unbeschwert, »leicht«, fühlte sich als Pflanze, die sich zusammen mit anderen entfaltet, um »schlicht, ruhig und freudig auf Gottes Welt zu wachsen«. Die Ehe hat beide Gatten enttäuscht, die Entfremdung geht nun soweit, trotz aller »Bemühungen«, es zu »Liebesekstasen« zu bringen, daß die Gräfin am 23. September 1863 vermerkt:

»Morgen ist ein Jahr um. Damals gab es Hoffnungen auf Glück, jetzt auf ein Unglück.«

Die junge Mutter hofft auf ein Unglück, das die Ehe löst.

Der Gatte seinerseits empfindet sein »unglaubliches Glück« als eine solche Qual, daß er fliehen möchte, um nicht selbst länger zu leiden und nicht mehr die Leiden seiner Frau zu sehen. Der polnische Aufstand lodert gerade auf, die Eroberung des Kaukasus ist noch nicht beendet: Tolstoi will in den Krieg ziehen.

»Ich hatte bisher gemeint, das sei bloß ein Scherz; nun sehe ich, daß es beinahe Wahrheit ist. In den Krieg!« vermerkt Sofia Andrejewna am 22. September 1863 und zieht nun ihrerseits das Fazit des ersten Ehejahres, bei dem wir eines früheren Wortes in ihrem Tagebuch gedenken: »Wo keine Liebe ist, ist kein Leben.« Sie fährt fort:

»In den Krieg! An einem Jahre Glück ist es genug, jetzt hat er diese neue Phantasie. Eine solche Art Leben habe ich satt. Und Kinder soll er keine mehr haben. Ich beseh ihn mir – er ödet mich an, die Seele dreht er einem um und um.«

So endet das erste Ehejahr des jungen Paars.


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