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Erste Liebe

Auf der Durchreise bleibt Tolstoi ein paar Tage in Kasan und kommt zufällig mit Sinaida Molostwowa zusammen, vor der er aus unglücklicher Liebe vor genau vier Jahren geflüchtet war. Der nunmehr Dreiundzwanzigjährige empfindet aufs neue »das poesieumhauchte Gefühl der Verliebtheit zu ihr«, das er wie stets aus Schüchternheit nicht zu äußern wagte und mit in den Kaukasus nahm. Sein unschönes Äußere, das er für die Ursache seines Mißerfolges vor vier Jahren hielt, hindert ihn auch jetzt daran, ihr seine Liebe zu gestehen, um nicht aufs neue auf eine Ablehnung zu stoßen. Doch ist er jetzt nicht mehr der ungelenke, langweilige Ljowotschka, dessen vornehmstes Streben sich auf das ›comme il faut‹ richtete. Vor Sinaida stand »ein junger Mann der Gesellschaft«, der die große Welt gründlich kennengelernt hatte, diese Welt aber verachtete und vor ihr in den Kaukasus floh. Trotzdem kann er sich mehrere Tage lang von Kasan nicht trennen; die Erinnerungen an die glücklichen Augenblicke erster Verliebtheit und Sinaidas Nähe halten ihn zurück.

»Ich blieb acht Tage lang in Kasan. Hätte man mich gefragt, warum ich blieb, was ich als angenehm empfand, weshalb ich so glücklich war, so hätte ich nicht geantwortet: ›Weil ich verliebt bin!‹ Das wußte ich nicht. Ich glaube, gerade dieses Nichtwissen ist es, worauf es bei der Liebe ankommt und was ihr alle Anmut gibt. Wie unbeschwert fühlte ich mich innerlich diese Zeit über! Ich empfand nicht mehr das Bedrückende aller kleinlichen Leidenschaften, das jeden Lebensgenuß untergräbt. Ich habe ihr mit keinem Wort von Liebe gesprochen, bin aber so sehr davon überzeugt, sie wisse um mein Gefühl, daß falls sie mich liebt, ich dies nur dem Umstande zuschreibe, daß sie mich verstanden hat. Alle Seelenregungen sind anfangs rein und erhaben. Die Wirklichkeit zerstört ihre Unschuld und Anmut.

Meine Beziehungen zu Sinaida sind auf der Stufe reiner Seelenneigung zueinander verblieben ,… Ich werde meine Pläne nicht aufgeben, um hinzueilen und sie zu heiraten, bin ich doch nicht restlos sicher, daß sie mich glücklich machen könnte, aber verliebt bin ich trotzdem ,…

Das Geständnis lag mir auf der Zunge, und dir auch. Es war an mir, den Anfang zu machen, aber weißt du, weshalb wohl ich nichts gesagt habe? Ich war so glücklich, daß mir nichts zu wünschen übrig blieb, ich fürchtete, mein ,… nein, unser Glück zu zerstören. Diese liebe Zeit wird mir stets in wärmster Erinnerung bleiben ,…«

Vielleicht war es auch nur die Erinnerung, was die beiden aneinander fesselte, weshalb das Geständnis, das ihnen auf den Lippen lag, unausgesprochen blieb. Als Frau, als Wesen aus Fleisch und Blut, war sie nicht mehr für ihn da, so sprach er ihr mit keinem Wort von Liebe und empfand nicht mehr das Bedrückende aller kleinlichen Leidenschaften.

»Die Wirklichkeit zerstört Unschuld und Anmut der Seelenregungen.« Vor dieser Wirklichkeit schreckte Tolstoi zurück. Es genügte ihm, daß seine Beziehungen zu Sinaida auf der Stufe reiner Seelenneigung zueinander blieben. Darum schafft er sich auch selbst so ruhig und sachlich Hemmungen: »Ich bin nicht restlos sicher, daß sie mich glücklich machen könnte.«

Das erste begeisterte Gefühl des Neunzehnjährigen läßt sich nicht erneuern. Damals war für ihn Sinaida »unkörperlich«, damals »umfaßte er die ganze Welt in Liebe«, jetzt würden »kleinliche Leidenschaften« durch ihre Wirklichkeit die »poesieumhauchten« Erinnerungen nur zerstören. Damals war auch er selbst »ein überirdisches Wesen, das das Böse nicht kannte und nur zu Gutem fähig war«, jetzt aber liegen Jahre der Erfahrung, der Irrwege, der Verzweiflung hinter ihm.

So bleiben denn die erste Verliebtheit als Student und diese acht Tage des Wiedersehens ihm stets »wärmste Erinnerung«. Trotzdem fehlt in den späteren Tagebüchern jeder weitere Hinweis auf Sinaida Molostwowa, und als er von ihrer Verheiratung mit einem gewissen Thiele erfährt, begnügt er sich mit dem Vermerk: »Es ärgert mich, und mehr noch der Umstand, daß es mich wenig berührt hat.«

Wenn der Aufenthalt in Kasan ihm auch nichts weiter als angenehme Erinnerungen gebracht hat, so hatte das Wiedersehen mit Sinaida doch eine große Bedeutung für Tolstois innere Entwicklung. Es führte zur Aussöhnung mit der bisher als schmerzlich empfundenen Vergangenheit, dem Mißerfolg damals; nun löste die ganze Angelegenheit eine elegisch dankbare Stimmung aus und fand schließlich ihren dichterischen Niederschlag in der Novelle »Nach dem Ball«, wo er im Rückblick auf diese Liebe bereits sagen konnte: »Es genügte mir, daß ich sie liebte.«

So ersetzte ihm die jetzt besänftigte und darum beglückende Erinnerung an seine erste Verliebtheit die Gegenliebe der Molostwowa, und er reist erleichtert, befriedigten Herzens, wieder ab. Darum treffen wir später in den »Kosaken« beständige Hinweise auf jugendliche Gemütsstimmung, Frohsinn und den Wunsch, ein neues Leben zu beginnen, in dem es »nicht mehr die früheren Verirrungen und Reue, sondern sicherlich nichts als Glück geben wird«.

»Er dachte darüber nach, worauf er diese ganze Jugendkraft, die nur einmal im Leben dem Menschen innewohnt, verwenden sollte, ob auf die Kunst, oder auf die Wissenschaft, oder auf die Liebe zum Weibe, oder auf eine praktische Tätigkeit, – nicht die Kraft des Verstandes, des Herzens, der Bildung, sondern jenen sich nie wiederholenden Drang, jene dem Menschen nur einmal verliehene Macht, aus sich alles zu machen, was immer er will, und (wie ihm dünkt) auch aus der ganzen Welt alles zu machen, was immer ihm beliebt. Freilich gibt es auch Leute, die diesen Drang nicht besitzen, die sich gleich beim Eintritt ins Leben in das erste beste Joch begeben und bis an ihr Lebensende redlich in ihm arbeiten. Er aber verspürte in sich allzu heftig diesen allmächtigen Gott der Jugend, ganz aufzugehen in einem einzigen Wunsch, in einem einzigen Gedanken, die Fähigkeit zu wollen und zu handeln, sich kopfüber in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen, ohne zu wissen, wozu und warum. Er trug dieses Bewußtsein in sich, war darauf stolz und, ohne es selbst zu wissen, dadurch glücklich.

Er hatte bisher niemand als sich selbst geliebt und konnte gar nicht anders als sich lieben, da er von sich lediglich Gutes erwartete und in seinem Glauben an sich noch nicht enttäuscht war. Bei seiner Abreise aus Moskau befand er sich in jener glücklichen, jugendlichen Seelenverfassung, wo der Jüngling seine früheren Irrtümer erkennt und sich plötzlich sagt, daß all dies nicht das Richtige, daß alles Frühere etwas Zufälliges und Unbedeutendes gewesen sei, daß er bisher nicht wahrhaft hatte leben wollen, daß aber jetzt, seit seiner Abfahrt aus Moskau, ein neues Leben beginne, in dem es nicht mehr die früheren Verirrungen und Reue, sondern sicherlich nichts als Glück geben wird.

Ein ihm völlig neues Gefühl der Befreiung von allem Vergangenen ergriff ihn inmitten dieser ungehobelten Wesen, denen er unterwegs begegnete und die er neben seinen Moskauer Bekannten bisher nicht als Menschen hatte anerkennen wollen. Je derber das Volk war, je weniger von der Kultur berührt, umso freier fühlte er sich.«

Die alte Liebeswunde ist während seines Aufenthalts in Kasan verheilt, beruhigt und befriedigt reiste er weiter. Die Reise erfreut ihn auch darum, weil der geliebte Bruder Nikolai bei ihm ist, den sie alle von Kindheit an verehrten, der einst versprochen hatte, sie auf den Fanfaronenberg zu führen und ihnen das Geheimnis des grünen Stäbchens zu enthüllen, auf dem geschrieben steht, was man tun müsse, um alle Menschen glücklich zu machen. Die Gegenwart des Bruders macht ihn sicher und hebt seinen Lebensmut. Vor ihm tut sich eine neue, unbekannte Welt auf, in der ihn und seine Freunde niemand kennt, niemand von seiner liederlichen Vergangenheit weiß. Hier darf er natürlich sein, darf das gekünstelte und beengende ›comme il faut‹ abstreifen. Darum wurde »sein Herz immer froher und froher. All die Kosaken, Fuhrleute, Posthalter erschienen ihm als schlichte Geschöpfe, mit denen er ungezwungen scherzen und plaudern könne, ohne erst lange zu überlegen, zu welcher Gesellschaftsklasse ein jeder gehörte. Sie alle gehörten zum Menschengeschlechte, das er unbewußt liebte, und alle begegneten ihm freundlich.« Zum ersten Male darf er einfach Mensch sein, außerhalb aller Bedingtheiten der vornehmen Gesellschaft, ganz er selbst sein, sich seiner gewaltigen Natur hingeben im Einklang mit der erhabenen Gotteswelt ringsum. Die überwältigende Berglandschaft begeistert und entzückt ihn, sein empfängliches Gemüt gesundet an der Schönheit der Welt. Er schreibt über Tolstoi-Olenin:

»Anfangs riefen die Berge nur das Gefühl der Verwunderung in ihm hervor, dann das der Freude; als er aber immer aufmerksamer und aufmerksamer auf diese Kette von Schneegipfeln hinschaute, die nicht aus anderen, dunklen Bergen, sondern unmittelbar aus der Steppe herauswuchs und dahinlief, begann er allmählich diese Schönheit zu erfassen und die Berge zu empfinden. Seit diesem Augenblick nahm alles, was er sah, alles, was er dachte, alles, was er fühlte, einen ihm neuen, den streng erhabenen Charakter der Berge an ,… Alle Moskauer Erinnerungen, Scham und Reue ,… alles schwand ,… Und es war, als sagte eine feierliche Stimme zu ihm: ›Nun hat es angefangen‹.«

Tolstoi, Rousseaus empfänglicher Schüler, der sich danach sehnt, schlicht und ungekünstelt zu sein wie die Natur selbst, verfällt im Kaukasus ihrem Zauber und fühlt sich von dem gesunden, primitiven Leben des unverdorbenen Bergvolks angezogen.

»Er fühlte sich hier mit jedem Tag immer freier und mehr Mensch. Hier lebten die Menschen, wie die Natur lebt: sterben, werden geboren, zeugen, gebären, kämpfen, trinken, essen, freuen sich ,… und keinerlei Vorschriften außer jenen unveränderlichen, die die Natur für Sonne, Gras, Tier, Baum festgesetzt hat. Andere Gesetze haben die Menschen hier nicht. Und daher erschienen ihm diese Menschen schön, stark und frei, und wenn er sie ansah, empfand er ein Gefühl der Scham und Trauer über sich selbst.«

Mittlerin zwischen ihm und der Natur ist das Weib, das Kosakenmädchen Marianna, in ihrer Gesundheit, Jugendkraft, Schönheit ein unabtrennbarer Teil derselben erhabenen Natur. Er verspürt wieder »das den Menschen innewohnende Glücksbedürfnis«, das Liebesbedürfnis, »das also berechtigt sein muß, da es dem Menschen innewohnt«. Um Mariannas Liebe zu erwerben, muß er Naturkind werden, Kosak, »Dschigit« – Krieger und Reitkünstler bei den Tschetschenen –, wie Lukaschka, der Verlobte des Mädchens.

Am 2. Juli 1851 trägt er ins Tagebuch ein: »Ich denke mit Genuß daran, daß ich mir einen Sattel bestellt habe, auf dem ich im Tscherkessenrock reiten werde, und wie ich den Kosakenmädeln nachstelle und darüber verzweifelt bin, daß mein Schnurrbart auf der linken Seite höher steht als auf der rechten, und dann ordne ich ihn zwei Stunden lang vor dem Spiegel.«

Er befreundet sich mit dem alten Kosaken Jepischka, verbringt mit ihm ganze Tage auf der Jagd im Walde, nennt ihn seinen Freund und Lehrmeister.

Nach Nikolai Tolstois Schilderung war dieser Jepischka (in den »Kosaken« heißt er Jeroschka) wohl der letzte, sehr interessante Vertreter der alten Grebenkosaken. Jepischka »stellte sich selbst vor als strammer Kerl, Dieb, Räuber, der Pferde stahl, Menschen verkaufte, Feinde am Lasso verschleppte. Sein ganzes Leben bestand aus einer Reihe seltsamer Abenteuer. Unser Alter hat nie gearbeitet; auch sein Dienst war nicht das, was wir jetzt gewöhnlich unter diesem Worte verstehen. Er war entweder Dolmetscher oder führte Aufträge einer Art aus, die gewiß nur er auszuführen imstande war: zum Beispiel, einen Abreken-Kosaken aus dessen eigener Hütte lebend oder tot in die Stadt zu bringen, das Haus des Beis Bulat, eines damals berühmten Führers der Bergvölker, in Brand zu stecken, geachtete Greise oder Führer aus dem Gebiet der Tschetschenen vor den Kommandeur zu bringen. Jagen und Zechen waren die beiden Leidenschaften des Alten; sie waren und sind auch jetzt noch seine einzige Beschäftigung, alle seine übrigen Abenteuer sind nur Zwischenfälle.«

Ein anderer Freund Tolstois war der Tschetschene Sado, über den er in einem Brief vom 6. Januar 1852 an Tantchen Jergolskaja berichtet:

»Ein junger Tschetschene namens Sado kam öfters ins Lager und spielte; da er aber nicht zu rechnen und zu notieren verstand, fanden sich Schufte, die ihn betrogen. Ich bot ihm an, in seinem Auftrag zu spielen.« Sado war ihm sehr dankbar, und die beiden wurden »Kunaken«, das heißt, Freunde auf Leben und Tod. Tolstoi fährt fort: »Oft hat er mir seine Ergebenheit bewiesen, indem er sich meinetwegen Gefahren aussetzte, aber das machte ihm gar nichts aus, das war ihm zur Gewohnheit geworden und bereitete ihm Vergnügen.« Als Leo Tolstoi abreiste, besuchte Sado täglich seinen Bruder Nikolai und klagte ihm, er wisse gar nicht, was er ohne Leo anfangen solle, er sehne sich schrecklich nach ihm.

Sado war Dschigit. Wenn er Geld brauchte, schlich er sich in Feindesland und raubte Pferde und Vieh. »Zuweilen gefährdete er sein Leben zwanzigmal, um irgend etwas zu stehlen, was keine zehn Rubel wert war, doch tat er das nicht aus Habgier, sondern es lag in seiner Natur. Der allergrößte Dieb wird hier hoch geachtet. Sado hatte bald tausend Rubel, bald keine Kopeke ,…«

Tolstoi überläßt sich in dieser Zeit einer ungetrübten Lebensfreude. Wenn er keine Pferde stahl, so nur darum, weil er das nicht nötig hatte. Seine unmittelbare Natur brauchte Freiheit und Weite, und das fand er auf der Jagd und bei waghalsigen Überfällen mit den Kosaken auf die Feinde, die wilden Bergvölker.

Der Journalist W. Giljarowskij teilt folgende Äußerung des Kosakenobersten Sinjuchajew über Tolstoi mit: »Ich erinnere mich, daß in Tolstois Stall sehr gute Pferde standen, ein braunes und ein graues. Man führte einen Gaul heraus, reizte ihn, und dann jagte er durch das Dorf dahin. Das war ein Dschigit! Den Dienst vernachlässigte er vollkommen, und die Vorgesetzten drückten ein Auge zu. Alle seine Zeit widmete er der Jagd und hielt sich eine riesige Meute. Mit diesen Hunden, seinen Leuten und Kosakenjägern verbrachte er ganze Tage und Nächte in den Wäldern von Ter. Die Kosaken hatten ihn gern, den Verkehr mit Offizieren mied er und bewegte sich ausschließlich unter Kosaken. Für diese hatte er immer ein offenes Haus; wer Lust hatte, aß, trank, schlief bei ihm. Mit Geld streute er nur so um sich, hatte viele Schuldner, doch bei seiner Abreise erließ er allen ihre Schulden. Er bummelte und trank ärger als alle andern, war aber niemals betrunken. All diese Züge zusammen flößten den Kosaken Achtung ein; sie hielten ihn noch für einen Knaben, meinten aber schon damals, daß aus dem einmal was wird.«

So dürfen wir glauben, daß Tolstoi in den Augen der Kosaken als richtiger Dschigit galt, der dem Verlobten der schönen Marianna in nichts nachstand. Ihre Liebe zu ihm erscheint darum durchaus möglich und natürlich, zumal auch seine Bildung, die geistigen Fähigkeiten überhaupt, die Lukaschka abgingen, das Mädchen anziehen mußten, war sie doch die Tochter eines wohlhabenden Kosakenfähnrichs und früheren Schulmeisters; daß sie Tolstoi ihrem Verlobten vorzog, erscheint nicht weiter verwunderlich.

Aufs neue vergießt Tolstoi oft gerührte Tränen; die Liebe und die Natur steigern seine Empfindsamkeit.

Am 6. Januar 1852 schreibt er an Tantchen Jergolskaja:

»Das letztemal teilte ich Ihnen mit, daß Ihr Brief mich weinen gemacht hat und daß ich meinte, die Ursache dieser Schwäche sei meine Krankheit (Rheumatismus). Dem ist nicht so. Alle Ihre Briefe wirken seit einiger Zeit ebenso auf mich. Ich war ja immer Ljowa die Heulliese. Anfangs schämte ich mich über diese Schwäche, jedoch die Tränen, die ich vergieße, wenn ich an Sie, an Ihre Liebe zu uns denke, sind so freudig, daß ich sie ohne alle falsche Scham rinnen lasse.«

Am 12. Januar schreibt er ihr wieder:

»Wieder weine ich. Warum weine ich, wenn ich an Sie denke? Es sind Tränen der Freude ,… Sie kennen mich zu gut und wissen, daß vielleicht meine einzige gute Eigenschaft diese Empfindsamkeit ist. Dieser Eigenschaft verdanke ich die glücklichsten Augenblicke meines Lebens.«

Und am 30. Mai schreibt er ihr:

»Es gab eine Zeit, da ich mit meinem Geist großtat, mit meiner Stellung in der Welt, aber jetzt weiß ich und fühle ich: wenn in mir etwas Gutes ist, wenn ich der Vorsehung für etwas zu danken habe, so für das gute, empfindsame und liebefähige Herz, das sie mir geschenkt und erhalten hat. Ihm allein verdanke ich die besten Augenblicke meines Lebens, ihm verdanke ich es, wenn ich jetzt, obgleich ich keine Vergnügungen und keinen Verkehr habe, nicht nur zufrieden, sondern oft auch glücklich bin.«

Während Tolstoi die schönsten Augenblicke seiner Liebe zu dem Kosakenmädchen erlebt, vergießt er heimlich Tränen. Sein ungestümes Temperament strömt über in Tränen der Rührung, der Begeisterung über die Natur, der Rührseligkeit, die sich bis zu Gebetsekstasen steigert. Er verzeichnet in seinem Tagebuch:

»Gestern habe ich fast die ganze Nacht nicht geschlafen. Nachdem ich das Tagebuch geschrieben hatte, begann ich zu Gott zu beten. Die Seligkeit, die ich im Gebet empfand, ist unaussprechlich.

Wenn man das Gebet als Bitte oder Dank ansieht, so habe ich nicht gebetet. Ich ersehnte etwas Höchstes und Gutes; was aber, das kann ich nicht aussprechen, obgleich ich genau empfand, was ich wünschte. Ich wollte mich mit dem allumfassenden Wesen vereinen. Ich bat Ihn, mir meine Verbrechen zu verzeihen. Doch nein, auch darum bat ich nicht, weil ich fühlte, daß Er, wenn Er mir diese selige Minute geschenkt, mir auch schon verziehen habe. Ich betete und empfand zugleich, daß ich um nichts zu bitten habe, daß ich nicht bitten kann und nicht zu bitten verstehe. Ich dankte Ihm, doch nicht in Worten und nicht in Gedanken, in dem einen Gefühl vereinigte ich alles, Bitte und Dank. Das Gefühl der Angst war völlig verschwunden. Keines der Gefühle – Glauben, Hoffnung, Liebe – hätte ich von dem allgemeinen Gefühle trennen können. Ja, das Gefühl, das ich gestern empfand, war Liebe zu Gott, erhabene Liebe, die alles Gute bejaht und alles Böse verneint. Wie schrecklich war mir der Gedanke an die kleinlichen und häßlichen Seiten des Lebens! Ich konnte nicht fassen, wie sie mir so verführerisch hatten erscheinen können. Wie bat ich Gott reinen Herzens, mich in Seinen Schoß aufzunehmen. Ich fühlte meinen Körper nicht mehr.«

Diese religiöse Andacht, die sich zur Ekstase steigert, im Augenblick der Verliebtheit in das Kosakenmädchen sexuelle Befriedigung in sich schließt, kennzeichnet am besten das heiße Verlangen von Tolstois ungestillter Liebe. Ganz so betete er und erlebte er seine Knabenliebe zu der kleinen Sonja Kaloschina, ganz die gleiche Stimmung erfaßte ihn während seiner Verliebtheit in Sinaida Molostwowa, ganz so stellt er sich auch die Frau vor, durch die sich ihm die ganze Welt erschließen soll, die Sehnsuchtsgestalt, von der er ebenfalls voller Andacht und mit Tränen der Rührung träumt, durch die er die Welt erkennt und sich eins mit der Natur fühlt, ›sie‹ mit langem schwarzem Zopf, hoher Brust, immer traurig und schön.

»Sie« ist im ganzen All verströmt, ist Mittler und Erwecker alles Guten, Schönen und Menschlichen. Zugleich aber ist sie körperlich, irdisch, mit wollüstigen Umarmungen. »Sie« kann auch nicht anders sein, da ja auch in ihm Leben und Kraft überschäumen und einen Ausfluß in irdischer Liebe suchen, um durch sie der himmlischen teilhaftig zu werden, des Alls, und befriedigt und beruhigt sich mit ihm zu vereinen. Sein Gefühl für die Geliebte ist so übermächtig, daß es ihm auch allein als solches genügt, da es sein ganzes Wesen erfüllt. So war auch seine Liebe zu Sinaida Molostwowa:

»Ich war nicht nur froh und zufrieden, ich war glücklich, selig, ich war gut, ich war nicht mehr ich, ich war ein anderes, überirdisches Wesen ,… Ich umfaßte damals die ganze Welt in Liebe ,… Es genügte mir, daß ich sie liebte.«

Das gleiche empfindet er bei jenem Gebet: »Die Seligkeit, die ich im Gebet empfand, ist unaussprechlich. Ich ersehnte etwas Höchstes und Gutes. Ich wollte mich mit dem allumfassenden Wesen vereinen.«

Die Fortsetzung jener Tagebucheintragung über die Gebetsekstase berichtet davon, daß der erhöhten Empfindsamkeit unbefriedigtes sinnliches Verlangen zugrunde lag:

»Ich fühlte meinen Körper nicht mehr, ich war ,… doch nein, das Fleischliche, das Irdische, zog mich wieder in seinen Bann; noch war keine Stunde vergangen, und schon hatte ich fast bewußt auf die Stimme des Lasters, der Eitelkeit gelauscht, der nichtigen Seite des Lebens; ich wußte, woher diese Stimme kam, wußte, daß sie meine Seligkeit zerstören würde, kämpfte und unterlag. Ich schlief ein und träumte von Ruhm und Weibern; aber ich bin nicht schuld, ich konnte nicht anders.«

Sensibilität zu Sensualität verdichtet, lehnt er ab, weil er als unschuldiger Jüngling »mitleidlos die Blüte seiner Seele einem käuflichen Weibe hingegeben hat«, was eine unauslöschliche Spur in seinem Seelenleben hinterlassen hat. Das Weib scheint ihm schuld daran, daß sie das grausame Verlangen nach geschlechtlichem Verkehr weckt und tausend Teufel in Sinn und Seele entfacht. Sein Leben lang verurteilt er, geißelt er sich wegen seines Verlangens nach dem Weibe. Selbst der Begriff der Liebe verwandelt sich ihm in »Liebe zur Liebe«, wodurch er sich die Vorstellung von »ihrer« Unschuld und Keuschheit bewahrt.

Und doch ist »sie« die einzige Triebfeder des Seins und muß darum auf tausend Wegen umworben, muß erworben werden. Erträumtes Heldentum, das ›comme il faut‹, Wissen und anderes mehr haben bisher nicht zum Ziele geführt, nun soll der Ruhm helfen. Das Streben nach Ruhm wird zu der ihn beherrschenden Leidenschaft, Ruhm und Weib sind ihm untrennbar.

Mißerfolge bei der Werbung um »sie« ernüchtern nicht, spornen im Gegenteil zu immer neuen Bemühungen an. Zeitweilige Hemmungen entfachen den Schaffensdrang auf allen Gebieten der menschlichen Tätigkeit, und je stärker der Sexualtrieb eines Menschen ist, desto stürmischer offenbart er sich unter dem Einfluß von Hemmungen auf schöpferischem Gebiet; im Schaffen lösen sich Spannungen, werden Mißerfolge überwunden.

Das sehen wir auch bei Tolstoi. Unbefriedigte Liebe weckt in ihm den Wunsch, sich auszuzeichnen, in der Kindheit als Held, später als Muster des comme il faut, als Gelehrter, Menschenbeglücker, Geschäftsmann, Dschigit, schließlich durch Ruhm. Nach all dem fruchtlosen Hin und Her bleibt es dann endgültig bei dem Streben nach Ruhm. Es fängt damit an, daß er in Tagebüchern und Briefen seinem bedrängten Herzen Luft macht; als er Geschmack daran gewinnt, geht er zu literarischem Schaffen über. Während der zweieinhalb Jahre im Kaukasus bewältigt er ein gewaltiges Maß an dichterischer Arbeit und bekennt später, daß es die besten und fruchtbarsten Jahre seines ganzen Lebens waren.

Das ist leicht verständlich. Er meidet die Offizierskreise, hat sich von der aristokratischen Gesellschaft abgewandt, gibt sich der Jagd, dem Naturgenuß hin, verkehrt mit einfachen, primitiven Menschen, an deren Leben er teilnimmt, und befriedigt seine geistigen Ansprüche durch künstlerisches Schaffen, wodurch er seine Mißerfolge überwindet, die verdrängten Gefühle abreagiert, die sich in ihm seit der Kindheit angesammelt haben.

Sado und Jepischka sind ihm, wie alle Kosaken mit ihren Frauen, Menschen einer neuen, unbekannten Welt. Er spielt mit Sado Karten, beteiligt sich an kühnen Reiterstücken, zecht mit den Kosaken und verliebt sich in Marianna. Dieses schlichte, primitive Leben regt ihn zur Arbeit an, bringt ihm die ersten literarischen Erfolge und die erste als Naturgewalt empfundene Liebe, Liebe zu einem »majestätischen« Mädchen, dem schönen Kinde einer ebenso majestätischen Natur. Hier lernt er tiefere, schätzbare Eigenschaften des einfachen Volkes kennen und lieben, aber auch das erst durch die Vermittlung des Weibes, durch seine Liebe zu Marianna. In ihr, dem Kinde aus dem Volke – und durch sie in allen sozial unter ihm Stehenden – lernt er den ihm gleichberechtigten Menschen sehen, der ebenso denkt und fühlt wie er, während er bisher nur die dünne Schicht der Gebildeten und Vornehmen als eigentliche Menschen anerkannte. Noch vor wenigen Jahren, während seines Aufenthalts in Kasan, nannte er einen Menschen, der keine Handschuhe an hatte, »einen Dreck«. Seine Ablehnung der Gesellschaft entspringt jetzt nicht nur verletztem Geltungsgefühl; durch die Berührung mit der Natur und mit Naturmenschen hat er neue Kräfte und Erkenntnisse geschöpft, die ihn die Verlogenheit und Hohlheit der aristokratischen Gesellschaft klarer erkennen lassen. Und wenn er auch später aus mannigfachen Gründen immer wieder in die kleine vornehme Welt zurückkehrt, so bleibt er schließlich doch in der wirklich großen Welt, das heißt bei den werktätigen Menschen. Auch dahin gelangt er durch das Sexuelle, das seine soziale Einstellung bestimmt. Durch seine Liebe zu dem Kosakenmädchen löst er sich innerlich von den Kreisen, zu denen er nach Herkunft und Erziehung gehört.

Während der zweieinhalb Jahre im Kaukasus schreibt Tolstoi: »Kindheit« (die er viermal umarbeitet), »Ein Überfall«, »Knabenjahre« (die er dreimal umarbeitet), »Weihnacht«, »Aufzeichnungen eines Marqueurs«, beginnt den »Roman eines russischen Gutsbesitzers«, die Novelle »Wie Liebe untergeht«, die »Kosaken«, »Das Tagebuch eines kaukasischen Offiziers« und »Waldfällen«.

Sein ganzes Temperament verströmt er in künstlerisches Schaffen. »Ich schreibe mit solchem Ungestüm, daß es mir sogar schwer wird: das Herz stockt. Mit einem Erbeben nehme ich das Heft vor«, vermerkt er im Tagebuch am 14. September 1853. Diese Arbeit fesselt den jungen Dichter so stark, daß er ein ganzes Jahr lang keine Karte in die Hand nimmt und ein zurückgezogenes Leben führt. Das Lob Nekrassows, des bekannten Dichters und Herausgebers der Zeitschrift »Der Zeitgenosse«: »Ich darf mit Bestimmtheit sagen, daß der Verfasser Talent hat«, und die ersten anerkennenden Pressebesprechungen spornen ihn zu weiterer Arbeit an, durch die er sich von dem Druck seiner Unzulänglichkeiten und Mißerfolge befreit.

Gleichzeitig ist die Liebe zu Marianna erwacht. Nach einem Jagdausflug mit Jepischka, nach der Arbeit am Schreibtisch, geht er zu seinen Wirtsleuten hinüber, um die Gegenwart des schlichten und schönen Mädchens zu genießen, das aufmerksam seinen Erzählungen von dem unbekannten Leben der großen Welt lauschte. Hier durfte er er selbst sein, brauchte sich nicht um sein Äußeres zu sorgen, nach dem comme il faut zu streben, sich hinter der Maske bedingter Wohlanständigkeit zu verbergen. Liebe und Natur öffneten ihm das Verständnis für Schlichtheit und Natürlichkeit »und häufig kam ihm der Gedanke, alles aufzugeben, Kosak zu werden, sich eine Hütte und Vieh zu kaufen, eine Kosakin zu heiraten, mit Onkel Jepischka zu jagen und zu fischen, mit den Kosaken auf Kriegszüge zu gehen«.

Seit er Marianna liebte, »gedachte er voll Ekel des Lebens der großen Welt« und schreibt bis spät in die Nacht hinein einen an niemand gerichteten Brief, in dem er die aristokratische Gesellschaft verhöhnt und verspottet. »Unerträglicher Ekel packt mich«, ruft er aus, »sobald ich mir statt meiner Hütte, meines Waldes und meiner Liebe jene Salons vorstelle, jene Frauen mit pomadisiertem Haar, angesteckten fremden Locken, diese unnatürlich lispelnden Lippen, diese eingeengten, verkrüppelten Glieder, dieses Salongeplapper, welches Gespräch sein soll und keinerlei Recht hat, sich so zu nennen ,… Begreift und glaubt mir dies eine. Man muß nur sehen und verstehen, was Wahrheit und Schönheit ist, und zu Staub zerfällt alles, was ihr redet und denkt.«

Dieser Erguß gibt den Anlaß zu dem Brief in den »Kosaken«, in dem er sagt:

»Man schreibt mir aus Rußland Briefe voll Mitleids; man fürchtet, ich würde zugrunde gehen, da ich mich in dieser Einöde vergraben hätte. Wie schrecklich! Mich hier zugrunde zu richten, wo mir doch das hohe Glück zufallen könnte, der Gatte der Gräfin B. oder Kammerherr oder Adelsmarschall zu werden. Wie widerwärtig und bedauernswert ihr mir alle scheint! Ihr wißt nicht, was das Glück und was das Leben ist! Man muß einmal das Leben in seiner ganzen kunstlosen Schönheit kennen gelernt haben. Man muß das sehen und begreifen, was ich täglich vor mir sehe: den ewigen, wunderbaren Schnee der Berge und ein majestätisches Weib in jener ursprünglichen Schönheit, in der das erste Weib aus den Händen ihres Schöpfers hervorgegangen sein muß, und dann wird ersichtlich sein, wer sich zugrunde richtet, wer in der Wahrheit oder in der Lüge lebt, ihr oder ich. Wenn ihr wüßtet, wie widerlich und bedauernswert ihr mir in eurer Verblendung vorkommt!

Glück, heißt: in der Natur leben, sie anschauen, mit ihr reden ,… Ich wünsche nur eines: nach eurer Auffassung völlig verloren zu gehen; ich wünsche eine einfache Kosakin zu heiraten und wage es nur nicht, weil das ein so übergroßes Glück wäre, dessen ich nicht würdig bin. Drei Monate ist es jetzt her, daß ich das Kosakenmädchen Marianna zum ersten Male erblickt habe. Die Begriffe und Vorurteile jener Welt, aus der ich herkam, waren in mir noch frisch. Ich glaubte damals nicht, daß ich mich in dieses Weib verlieben könnte. Ich staunte sie mit Entzücken an wie die Schönheit der Berge und des Himmels, und konnte nicht umhin sie anzustaunen, da sie schön ist wie jene. Dann fühlte ich, daß die Betrachtung dieser Schönheit eine Notwendigkeit in meinem Leben geworden ist, und ich fragte mich, ob ich sie liebte. Aber ich fand in mir nichts vor, was dem ähnlich gewesen wäre, wie ich mir dieses Gefühl vorstellte. Es war ein Gefühl, das weder der Sehnsucht des Einsamen und dem Wunsch zu heiraten ähnlich war, noch der platonischen Liebe, und noch viel weniger der sinnlichen Liebe, die ich kannte. Ich hatte das Bedürfnis, sie zu sehen, sie zu hören, zu wissen, daß sie nahe sei, und war dann nicht allein glücklich, sondern ruhig.

Nach dem lustigen Abend, auf dem ich mit ihr zusammen war und sie berührte, fühlte ich, daß zwischen mir und diesem Weibe eine unzerreißbare, wiewohl nicht ausgesprochene Verbindung bestehe, gegen die anzukämpfen unmöglich sei. Nach der Abendgesellschaft wurde sie für mich ein Mensch ,… Sie ist wie die Natur gleichmäßig, ruhig und ein in sich geschlossenes Ganzes. Ich liebe diese Frau mit wahrhaftiger Liebe, das erste und das letzte Mal in meinem Leben. Es ist nicht die ideale, die sogenannte hohe Liebe, die ich früher empfunden habe; nicht das Gefühl der Verliebtheit, bei dem man seine eigene Liebe bewundert, die Quelle seines Gefühls in sich selbst spürt und alles selber anstellt. Ich habe auch das gekannt. Es ist noch weniger das Verlangen nach Genuß, es ist etwas anderes. Ich weiß, wie es mit mir steht. Ich fürchte nicht, mich durch mein Gefühl zu erniedrigen, ich schäme mich meiner Liebe nicht, ich bin stolz auf sie. Ich bin nicht schuld daran, daß ich sie liebe. Es ist gegen meinen Willen geschehen. Vielleicht liebe ich in ihr die Natur, die Verkörperung alles Schönen in der Natur, aber ich handle dabei nicht nach meinem eigenen Willen, sondern durch mich liebt eine Urkraft dieses Mädchen, die ganze Gotteswelt, die ganze Natur preßt diese Liebe in meine Seele hinein und sagt: Liebe sie! Ich liebe sie nicht mit dem Verstande, nicht mit der Einbildungskraft, sondern mit meinem ganzen Wesen und Sein. Indem ich sie liebe, empfinde ich mich als einen untrennbaren Teil der ganzen glücklichen Gotteswelt.«

Alles Philosophieren, alle Selbstanklagen, alle seine Lebensregeln zerflattern vor der elementaren Gewalt der Liebe. Als er die Geliebte berührt, fühlt er, daß zwischen ihm und ihr eine unzerreißbare Verbindung besteht, »gegen die anzukämpfen unmöglich ist«, weil er in ihr die ganze Fülle der Beglückung findet: Ruhe. In dieser Ruhe liegt das innerste Wesen der Liebe, zu ihr führt uns die Natur selbst auf unerforschlichen Wegen des Sichfindens, wenn ein Mensch dem anderen vollkommen entspricht, ihn ergänzt, gleichsam in ihn überströmt, ihn mit seinem Wesen erfüllt, und in diesem Gefühl seinen und ihren Körper nicht mehr empfindet; beide sind vereint und verschmolzen, sind »ein untrennbarer Teil der ganzen glücklichen Gotteswelt.«

»Es kam die Schönheit und vernichtete die ganze ägyptische Lebensarbeit. Alles Ausgeklügelte ist verschwunden, denn es kam die Liebe.« Man muß eben wirklich lieben und nicht in der Betrachtung eines erklügelten Gefühls schwelgen. Nur ein Mensch von solch elementarer Sexualkraft erlebt Liebe als ein Aufgehen »in der ganzen Gotteswelt«. Nur ein Mensch, der die Verschmelzung mit einem andern erlebt hat, kann aufgehen im All, fühlt sich als untrennbarer Teil des Alls, empfindet Gott in ihm und in sich. Nur ein solches Gefühl kann ein ganzes Leben lang währen: »Ich liebe diese Frau mit wahrhaftiger Liebe, das erste und das letzte Mal in meinem Leben.« Nur deshalb schreibt er endlos lange an den »Kosaken« (zehn Jahre!) und beendet das Werk erst, als er verheiratet ist. Wohl nur an dem neuen Gefühl gemessen, das ihm nichts gebracht hat, erstand ihm seine Liebe zu Marianna in ihrer ganzen Gewalt, ihrem ganzen Zauber, weshalb er diese Liebe auch mit solch tiefschürfender Eindringlichkeit zu schildern vermochte. Nur darum ist ihm noch »die Erinnerung an diese Liebe ganz durchweht von tiefer Trauer darüber, daß dieses Gefühl, das sein ganzes Wesen erfaßt hatte, unerwidert geblieben ist.«

Seine Liebe wurde von Marianna aber erwidert, er hatte bloß das Gefühl mißverstanden, aus dem heraus sie ihn abwies, nachdem sie ihm bereits ihre Einwilligung zu seiner Werbung bei ihren Eltern gegeben hatte. Als Tolstoi auf die Anfrage seines Freundes und Biographen Birjukoff in einem Schreiben vom 27. November 1903 die Frauen nennt, die er geliebt hat, sagt er unter anderem: »… dann das Kosakenmädchen in dem kaukasischen Dorf, geschildert in den ›Kosaken‹.« Nimmt man darum an, daß der in den »Kosaken« angegebene Grund des Bruchs zwischen den beiden der Wirklichkeit entspricht, so lag Tolstois unbewußter Fehler darin, daß er sich um eine erneute Bestätigung ihrer Liebe in dem Augenblick an Marianna wandte, als ihr Verlobter Lukaschka gefallen war und sie sich mit schweren Gewissensbissen quälte, mußte sie doch annehmen, seinen Tod verschuldet zu haben. Vielleicht hatte ihre Untreue, ihre Liebe zu Tolstoi den Verschmähten veranlaßt, sich in den Kugelregen der Tschetschenen zu stürzen. Nun war sie bestraft, weil sie ihren Bräutigam und Landsmann gegen den Fremden, den reichen Herrn hatte vertauschen wollen. In diesem Augenblick empfand sie Haß und Ekel gegen sich selbst und übertrug diese Gefühle auch auf Tolstoi, dem sie innerlich die Schuld an ihrem Verrat und Lukaschkas Tod zuschob.

Tolstoi hingegen, ganz erfüllt von seinem Gefühl zu ihr, empfand diesen Tod nur als Befreiung von einem Hindernis, das mit Verwicklungen und Zusammenstößen gedroht hatte. Nun stand ihrer Vereinigung nichts mehr im Wege, und da er um Mariannas Liebe wußte, hatte er sie unverzüglich zu gewinnen gesucht.

Am Tage vorher hatte sie Lukaschkas Aufforderung, mit ihm im Reigen zu tanzen, abgelehnt und war zu einer Freundin gegangen, wo Tolstoi auf sie wartete. Am Abend vor dem Tode ihres Verlobten hatte sie die Hände ihres Geliebten gestreichelt und sich darüber gefreut, daß sie so weiß waren, hatte sich nach ihm, nach seiner Seele, nach jener unbekannten Welt gesehnt, von der er des Abends in ihrem Elternhause zu erzählen pflegte. Und gleich am nächsten Tage war ihr verratener Bräutigam gefallen! Wie hätte sie da, von Schreck und Schmerz übermannt, Tolstois Liebeserklärung lauschen können! Er aber faßte ihre entrüstete Abwehr als Absage auf und geriet über die neue Ablehnung seiner Liebe, einer so tiefen und starken Liebe, in Verzweiflung, in noch viel schmerzlichere Verzweiflung als bei seinen früheren Liebesenttäuschungen. Wer in jenem Augenblick auf größerer Höhe stand, wollen wir nicht untersuchen, waren doch Tolstois zugespitzte, krankhafte Eigenliebe, seine fordernde, ungestüme Jugend und sein flammendes Gefühl zu keiner Überlegung fähig und führten in ihrer Leidenschaftlichkeit zum Bruch mit dem jungen Mädchen, dessen Herz unter dem jähen Verlust ihres Verlobten in Aufruhr und Verwirrung geraten war.

Aber das, was Tolstoi in den »Kosaken« ausgedrückt hat, bleibt ihm teuerstes Gut auf immer. »Es kam die Schönheit und vernichtete die ganze ägyptische innere Lebensarbeit ,… Ich leide Qual, aber früher war ich tot; jetzt erst lebe ich.« Die Liebe zu Marianna hat alles Frühere fortgefegt, alle Gewissensbisse, alle Selbstgeißelung. » Selbstverleugnung, das ist Hochmut, Zuflucht vor verdientem Unglück, Rettung vor dem Neid auf das Glück anderer

Diese Worte bleiben in Flammenschrift in sein Bewußtsein eingebrannt. Vielleicht hat er sie erst niedergeschrieben, als er, bereits verheiratet, die »Kosaken« beendete und der größten Liebe seines Lebens, der Liebe zu der Bäuerin Aksinja Anikanowa gedachte ,…

Vorerst treibt ihn erneuter Mißerfolg in der Liebe zur Flucht. Er kommt um seinen Abschied nach, kann sich aber nur kurze Zeit in Jasnaja Poljana ausruhen; infolge des Krieges mit der Türkei wird er an die Front, nach Silistria, geschickt.


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