Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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12. Kapitel

Ostern war in Sicht, als der Lehrer sich entschloß, das Antlitz der Quarta durch eine neue Probearbeit zu verändern. Hans Höhrle und Ammelung hatten ein heiliges Schutz- und Trutzbündnis geschlossen, gemeinsam zu siegen oder gemeinsam unterzugehen. Hans verpflichtete sich, das deutsche Diktat in leserlicher Schrift seinem tauben Bundesgenossen zu liefern, wogegen diesem die Aufgabe zufiel, die erste Hälfte in tadelloses Latein zu übertragen. Die zweite Hälfte hatte Hans zu stellen. Durch diese praktische Arbeitsteilung ersparten sie vor allem Zeit; und in der Tat waren sie bei den ersten, die ihre Bogen am Katheder abgaben. Der Lehrer schwenkte sie ein wenig durch die Luft, als ob er die Todsünden gegen die Gesetze der Syntax auf diese Weise herausschütteln könne, legte sie dann aber in die Reihe. Damit war erreicht, daß sie wenigstens die Aussicht hatten gelesen zu werden, was immerhin schon als ein Erfolg angesehen werden konnte. Hans ging deshalb voll kühner Hoffnung durch die Straßen der Stadt dem Konvikte entgegen. Ja, er wagte es sogar, unter seinem Hute hervor ein wenig nach den höheren Töchtern 101 zu schielen, die mit Musikmappen in der Hand, mit langen Zöpfen auf dem Rücken, die Richtung seiner Fahrt kreuzten.

Zu Hause wurde er unmittelbar hinter der Haustür vom Subrektor abgefangen, der ihn offenbar erwartete, sich die Kladde geben ließ und mit dieser in seinem Zimmer verschwand. Hans wußte, daß sein Nachhelfer sich ein Urteil bilden wollte, wie die Probearbeit ausgefallen sei, und war eine kleine Viertelstunde voller Unruhe. Endlich wurde er gerufen.

Der Subrektor lief, wie Meister Debitsch, in seinem Zimmer auf und ab, und der Saum seiner Sutane peitschte klatschend die silbernen Schnallen seiner Schuhe. Anfangs schien er den vor Erwartung bebenden Knaben nicht zu bemerken, plötzlich aber fuhr er auf ihn zu, faßte ihn bei den Schultern, drückte ihn an die Wand und schrie ihm ins Gesicht: »Mensch, hast du die Sache so, wie sie hier steht, ins Reine geschrieben?«

»Nein,« sagte Hans, der einer allzu schlimmen Beurteilung zuvorkommen wollte, »ich habe noch einiges daran verbessert.«

»Unseliger, du wirst doch nicht? Die Arbeit ist fehlerlos, sie garantiert dir einen der ersten Plätze, und der Umstand, daß du in dem Satze: ›Dieser Mann, der für das Vaterland geboren ist,‹ den bloßen Dativ gesetzt hast, macht dich den Herren der Erde, macht dich den Göttern gleich.« Damit schob er unseren Hans zur Türe hinaus, warf dem Rektor, der gerade außen vorbeiging, einen triumphierenden Siegerblick zu und ließ sich, wie nach einer 102 schweren Arbeit, in die Arme seines Rohrsessels fallen. – Hans hatte nun ein vorläufiges Urteil, welches durch das definitive wohl etwas modifiziert, aber doch nicht so geändert werden konnte, daß er abermals in die heiße Zone des Schulofens verschlagen werden konnte. Er war froh in den Tiefen seiner Seele auch um der Seinen willen, wenn auch der Gedanke, daß die Arbeit nicht ganz auf ehrliche Weise zustande gekommen war, in etwas den heiteren Himmel seiner Freude umwölkte.

Der Tag, der die frohe Gewißheit des Erfolges brachte, kam heran, verlief aber für Hans nicht ohne Tränen. Kaum hatte der Professor die Hüllen abgelegt, die sein vertrocknetes Gemüt vor Zugluft schützten, so schweiften seine Blicke eine Zeitlang ins Leere, in jenes goldene Zeitalter zurück, wo jeder Mensch instinktiv nach einem Verbum sentiendi und declarandi den Accusativus cum infinitivo setzte, wurden dann suchend und blieben an Hans Höhrle hängen.

»Und wer, glaubt ihr wohl, daß sich zum Primus in eurer Hammelherde aufgeschwungen hat?« rief er in verärgertem Tone. »Hans Höhrle zusammen mit James,« fügte er seine Frage selbst beantwortend hinzu. »Es kann keinen traurigeren Beweis für die Verlotterung einer solchen Gesellschaft von Ignoranten geben, als diese Tatsache.«

Hans traute seinen Ohren nicht und stand wie ein Säulenheiliger unbeweglich da, die Klassiker unterm Arme. Seine Mitschüler drängten und stießen ihn vorwärts, halb 103 neidisch, halb spöttisch, und am Kopf der Klasse stand der große James und winkte gutmütig. Hans stand wie angewurzelt, bis es aufs neue vom Katheder schallte: »Nun, wird's bald?«

Jetzt drängte man hinter ihm ungeduldiger, und Hans wurde wider Willen seinem Platze zugeschoben. Der große gutmütige James hatte den ersten Platz geräumt und wollte sich mit dem zweiten begnügen, aber Hans kroch unter den Tisch und drängte ihn an die Spitze der Klasse. Er war froh, daß er saß und so gewissermaßen aus dem Gesichtsfelde der Masse verschwunden war, aber sein Gewissen drückte ihn erbärmlich, und ihn erfaßte ein gewisser Höhenschwindel. Warum mußte das Geschick ihm diesen Narrenspossen spielen und ihn gerade so weit über sein Idol, den Ignaz Kaufmann, hinauswerfen, wie er vorher unter ihm war? Würde er die Erwartungen erfüllen können, die mit seinem Platze verbunden waren, und mußte nicht ein Fall aus dieser Höhe ihn erst recht dem Spott und der Schadenfreude preisgeben? Während er von solchen Gedanken zermartert dasaß, berührte ihn leise von hinten ein Finger. Hans wendete den Kopf soweit nach der Seite, daß er über seine Schulter hinwegsehen konnte, und gewahrte den tauben Ammelung, der unmittelbar hinter ihm glückstrahlend saß und die erwünschte Gelegenheit, seinen Buckel an einer Rücklehne reiben zu können, mit der Ausdauer eines Pudelhundes ausnutzte. Dann aber schnitt er, als ob er kein Vertrauen zum Fortbestand der Dinge habe, rasch seinen Namen in die Bank. 104 Die Nachwelt sollte staunend erfahren, daß er da gewesen und in hervorragender Position.

Aus der Tiefe des Klassenzimmers hörte man immer noch das Geräusch der Fußtritte und tiefe Seufzer, wenn einer die Last der Ungewißheit von sich schüttelte und seinem Platze zustrebte. Endlich war jedermann untergebracht, und der Klassenführer stierte mit verglasten Augen seine neugeordnete Herde an, als ob er sich an deren verändertes Aussehen gewöhnen müsse. Dann folgte eine lange trübselige Rede über die Unseligkeit des Lehrerberufes, dem die Freude versagt sei, irgend eine Ernte der mühseligen Aussaat in die Scheune zu bringen, bis die Uhr die volle Stunde schlug und Lehrer und Lernende zu beider Freude voneinander erlöste.

Damit war in dem Drama des heutigen Tages ein Aktschluß eingetreten. Man benutzte die Pause, mit seinem Nachbar zu reden und sich ihm als guten Kameraden vorzustellen, bis jemand von außen auf die Klinke drückte. Das Gemurmel verstummte, und herein schwebte in langer Sutane, den Abglanz naher Seligsprechung im Antlitz, der Religionslehrer. Er hatte auf dem Gange den Schuldiener getroffen, einen Griff in dessen Dose getan, und genoß hinter der Schultafel – damit nicht das böse Beispiel die Genußsucht reizen möge – die verbotene Frucht. Als er hinter dem schwarzen Deckmantel seiner Sünde hervortrat, schien er sich nicht recht auszukennen und suchte, wie ein Schiff nach einer Signalstation, nach dem großen James. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er 105 den Hans Höhrle, steuerte verwundert auf ihn zu, und seine Finger in dessen weiche Haare eingrabend, zwang er den Knaben, ihm ins Gesicht zu sehen, während sein lächelnder Mund die zweifelnde Bemerkung aussprach: »Ist das auch mit rechten Dingen zugegangen?«

»Ist das auch mit rechten Dingen zugegangen?« Diese Frage war seither nicht gestellt worden, und was berechtigte den Religionslehrer sie zu stellen? Das Gebiet der lateinischen Grammatik war nicht sein Feld, er säte da nicht, er erntete da nicht, was ging es ihn an, wenn da etwas Unkraut zwischen dem Weizen wuchs? Hans ärgerte sich über die indiskrete Frage, die so viel des Mißtrauens barg und ihn bloßstellte seinen Mitschülern gegenüber. Er fühlte ihre hämischen Blicke auf seinem Rücken brennen und sah den Widerschein ihrer Schadenfreude im Gesichte des Religionslehrers. Am liebsten wäre er aufgesprungen und in die Welt hineingerannt, soweit ihn die Füße tragen wollten, allein er fand dazu nicht den Mut. Er ließ den Kopf sinken, antwortete nicht und wartete mit Ungeduld, bis die Stunde schlug, die ihn aus dem Gefängnis dieser kahlen Wände ins Freie ließ, wo seine kleine Schuld in der Unendlichkeit des Raumes zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen mußte.

Endlich tippte der Hammer an die Glocke, und Hans stürmte hinaus in das vom Hunger bewegte Gewühl der Straße. Zu Tausenden liefen die Menschen aneinander vorüber, keiner kümmerte sich um den anderen. Jeder hatte das Bild irgend einer Futterstelle vor Augen, der 106 er zustrebte. Was lag ihnen daran, ob in der Quarta eine Probearbeit mehr oder minder regelwidrig zustande gekommen war oder nicht. Und doch, Hans konnte Niemandem ins Gesicht sehen, und als er es bei zwei harmlosen Bauernweibern einmal wagte, so schien es ihm, als ob eine die andere heimlich anstoße, wie wenn sie sagen wolle: »Sieh da, der Primus der Quarta! Wird's denn auch mit rechten Dingen zugegangen sein?«

Nach Ablauf einiger Tage war bei unserem Hans das Stadium der Reue vorübergegangen. Er lebte auf. Die Lehrer lernten seine Gaben schätzen, und als gar der Mathematiker meinte: »Unter den Hörnern dieses Bauernschädels steckt mehr, als man vermuten konnte,« gewann der Knabe Sicherheit und füllte seinen Platz aus, so gut wie einer, der ihn sich ehrlich erworben hat. Nur der Umstand, daß seine Wetterseite den gelegentlichen Ohrfeigen des Klassenführers etwas zu sehr ausgesetzt war, erweckte zuweilen noch die alte Sehnsucht nach dem Ignaz Kaufmann und seiner sturmfreien Position in der Mitte der Klasse. Im übrigen fühlte sich der Knabe jetzt als Vollbürger des Gymnasiums, und er dachte nicht mehr an eine Rückkehr zum Ledersofa seines Onkels.

Eine neuerliche Probearbeit setzte seinem Hochgefühl einen kleinen Dämpfer auf. Er glitt auf den Platz zurück, den sein Freund Ammelung eben noch gewärmt hatte. Dieser selbst war leider wieder beim Ofen angekommen und rutschte nun zur Schule hinaus und in eine Sodawasserbude, wo er mit Hilfe von Himbeersaft und 107 Zitronensäure nicht ohne Großartigkeit Limonade bereitete. Unseren Hans ignorierte er – der Mann in seiner selbständigen Stellung – und wenn einer von seinen früheren Lehrern an seinem Thron von Sodawasser vorüberkam, so rauchte er Zigarren, obwohl er ab und zu noch die Erfahrung machen mußte, daß diese Art, andere Leute zu ärgern, ihm selber nicht gut bekomme. Hans sah seinen Leidensgefährten mit Bedauern scheiden. Es lag nicht in seiner Macht, ihn über den steilen Grat von Quarta nach Tertia hinüberzutragen. Er mußte ihn fallen lassen. 108

 


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