Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

35. Kapitel

Röse Ricke hatte im Konkurrenzkampf einer jüngeren Hebamme die Haube vom Kopfe gerissen, einer anderen die Backen zerkratzt, hatte zur Sühne solcher Freveltaten einige Wochen »gebrummt«, bevor sie das Felde räumte. Nun aber war sie definitiv geschlagen, und die Leute von Husterloh kamen ohne ihre Hilfe zur Welt; aber es starben deren nur wenige, denen sie nicht ein wenig nachgeholfen hätte. Sie machte in Sympathie und Chlorkalk auf eigene Rechnung und beglückte die Kranken mit Medikamenten, die auf das Konto des Arztes kamen, von ihr aber in der Apotheke gegen ein geringes Entgelt abgeholt wurden. Was der Apotheker an übler Nachrede und Unglücksbotschaften sonst noch zu verschicken hatte, konnte mit dieser Gelegenheit bequem verfrachtet werden. So lief das Geschäft durch alle Tage des Jahres bis zu dem, mit dem unsere Geschichte ihr Ende erreicht.

Die Sonne war noch nicht lange und der Apotheker noch gar nicht aufgestanden, als Röse Ricke schon vor seinem Hause stand. Der Langschläfer hatte wie immer 373 um Mitternacht die Post abgewartet und dem Abendblatt eine sensationelle Nachricht entnommen, auf der er wie auf einem Sack voll Disteln übernachtete, so daß er sich jucken mußte, als ob er die Nesselsucht hätte. Gegen Morgen erst fand er etwas Ruhe und schnarchte sich ins Land der Träume hinüber. Als nun das Läutewerk tönte und gleichzeitig sein Affenpinscher anfing zu kläffen, sprang er erschreckt mit gleichen Füßen aus dem Bett und in einen rot besetzten Schlafrock hinein. Er hörte draußen husten. »Die Magd hat die Haustür geöffnet und Röse Ricke hereingelassen,« dies alles folgerte der kundige Thebaner aus dem Husten heraus. Er war in Eile. Die Tür, die aus dem Schlafgemache nach der Offizin führte, hatte keine Klinke. Der Apotheker war ein vorsichtiger Mann, der keinem erlaubte, ihn zu überraschen. Er öffnete und schloß mit einem Dornschlüssel. So tat er auch heute. Aber als er in seinen Laden trat, fuhr die Tür voller Heimtücke ins Schloß und klemmte seinen Schlafrock fest. Da hing er nun und mühte sich vergebens, hinterrücks das Schlüsselloch zu suchen. Röse Ricke sah ihm schadenfroh zu und suchte christlichen Sinnes seine Notlage voll auszubeuten.

»Einen Schnaps mit Angosturatropfen und ich befreie Euch.«

»Du tust's für eine phänomenale Neuigkeit, die ich dir mitzuteilen habe.«

»Nicht für Hanau und die Neuigkeit,« sagte sie, »aber für einen Schnaps, sonst für keinen Lohn in der Welt.«

»Es sei denn,« fügte sich der Apotheker.

374 Röse Ricke trat näher und musterte mit spöttischen Blicken die dürren Schienbeine des Festgeklemmten.

»Ihr gleicht im Untergestell dem heiligen Sebastianus, nur mit seiner Heiligkeit habt ihr wenig Verwandtschaftliches, Meister Pillendreher.«

»Aber an allen Bosheiten du sehr viel mit dem Teufel seiner Großmutter, bei der du wohl bald zu Gaste sein wirst.«

»Nichts ist so billig, ihr trockenes Süßholz, als falsche Propheten und ihre Ware. Ich könnte zu guter Letzt noch der Hölle entgehen und mir den Himmel verdienen, wenn ich euch hier festgeklemmt hängen ließe,« sagte die Hebamme, ging aber doch und befreite den Apotheker. Dieser griff in die Seitentasche seines Schlafrockes und zog mit großartigen Gesten ein Zeitungsblatt hervor.

»Hast du deine Stallfenster bei dir, um sie vor deine Ochsenaugen zu setzen.«

»Nein, Gevatter Hammeltalg,« sagte Röse Ricke.

»Gut, so werde ich dir vorlesen,« und er las:

»Die ehrbare Bevölkerung unserer Landesuniversitätsstadt befindet sich seit gestern in einer berechtigten Aufregung. Die Gemahlin des hochangesehenen Kommerzienrats de Lerée, Ritter hoher Orden, hat mit dem Kandidaten der Medizin Hans Höhrle das Weite gesucht. Die näheren Details der empörenden Skandalgeschichte hoffen wir in einer der folgenden Nummern unseren hochachtbaren Lesern vorsetzen zu können.«

375 »Ist das unser Höhrle?« fragte Röse Ricke, dachte nicht mehr an den Schnaps und langte mit der einen Hand nach dem Zeitungsblatt, mit der anderen nach ihrer Strohtasche.

»Darüber kann leider kein Zweifel sein,« bemerkte mit gut geheucheltem Mitgefühl der Apotheker, während die Rückseite des Weibes hinter der Tür verschwand.

Jetzt kam Leben in die Beine des Mannes, der eben einen tötlichen Gifttrank gemischt und in Verkehr gebracht hatte. Er lief zum Fenster und rief: »Röse Ricke, Röse Ricke.«

Diese, schon auf der Straße, wandte im Laufen ein wenig den Kopf dem Hause zu.

»Daß du mir's dem Alten aber in schonender Weise mitteilst.«

»Brauch' ich dich, um mir sagen zu lassen, was sich schickt? So was ist bei mir prinzipiell,« warf diese zurück und lief davon. Jener sah grünlächelnd nach.

Vater Höhrle saß zur Stunde in seinem Lehnstuhl und dachte an den Tod, der ihm sein Näherkommen durch mancherlei Symptome begreiflich machte. Ihm war die Brust so eingesunken, und der Atem rang sich so mühsam empor aus dem dumpfen Druck der Lungenflügel. Ob Vater Höhrle sich fürchtete? O, nein, er sehnte sich nach der Vollendung seines nutzlosen Daseins. Nur eines hätte er noch gern gesehen, seinen Hans als begehrten Arzt inmitten einer Bevölkerung, die ihn schätzte, und Suse im Hause des Bruders beschäftigt und geborgen. Dann brauchte 376 sie, die am Ofen stand und ihr spärliches Frühstücksgeschirr spülte, nicht mehr in fremde Häuser zur Arbeit zu gehen. Es konnte noch ein Jahr oder etwas darüber währen, bis dieser Traum sich erfüllte, und so lange hielt ja wohl noch der gebrechliche Bau des alternden Körpers. Das war's, was der einsame Mann tausendmal im Tage und was er eben auch jetzt dachte, als polternde Schritte draußen hörbar wurden.

Verflucht sei die Luft, die Röse Ricke durchließ, als sie ihr windschiefes Gestell die Treppe heraufschraubte.

»Vater Höhrle,« rief sie, »Vater Höhrle, wißt Ihr schon, Euer Hans ist durchgebrannt.«

»Durchgebrannt?« stammelten die Lippen des Greises.

»Ja, davongelaufen mit so einer« – –

»Mit so einer? Mit was für einer?«

»Mit einem Lumpenmensch,« schrie das unselige Weib, »hier lest selber,« und sie hielt dem zitternden Alten die Zeitung vors Gesicht.

Mit furchtbarem Blick sah Vater Höhrle erst den Bringer der Nachricht, dann die Nachricht selber an. Jetzt flossen ihm die Buchstaben durcheinander, dann schob sich ein grauer Vorhang aus Mehlsäcken vor seine Augen, die Stirne senkte sich und schlug dröhnend auf die Tischplatte.

»Herr Jesus, meine Zuversicht, es wird ihm schwach,« rief Röse Ricke. Suse ließ einen Teller fallen und eilte herbei, das feuchte Haupt des geliebten Vaters in ihren Armen zu bergen. Vater Höhrle rührte sich nicht mehr, und auch die Tränen, die aus den Augen der Tochter rannen 377 und sich mit seinem Todesschweiße mischten, weckten ihn nicht mehr zum Leben.

»Gerechter Himmel,« jammerte Ricke unten vor der Tür von Mordche Rimbach, »aber auch so eine Zeitung, so eine Zeitung, der Mann hätte den Verstand verlieren können, wenn ich ihm die Nachricht nicht so schonend beigebracht hätte. 's ist noch gut so, 's ist noch gut so! Der Himmel hat ein Einsehen gehabt.«

Nach achtundvierzig Stunden trug man den Vater Höhrle auf den Friedhof. Die Stelle, wo man ihn einscharrte, verdankte er einem seltsamen Zufall. Eine brave Gattin aus Husterloh hatte ihren Mann verloren. Sie war untröstlich darüber und verlangte allen Ernstes bei lebendigem Leibe neben ihm begraben zu werden. Da ihr niemand den Gefallen tat, kaufte sie sich einen Platz neben dem Heimgegangenen. Da sollte man sie unterscharren, wenn sie der Ewige rufen würde. Als sie aber nach drei Monaten ein Zeitlicher rief, so trollte sie diesem nach zum Traualtar, entdeckte jetzt erst ihr eigentliches Herz und wollte nun von diesem zweiten nimmer lassen, weder im Leben noch im Tode. So war der Platz, der an das Grab der Mutter Höhrle stieß, feil geworden. Suse kaufte ihn mit dem letzten Gelde aus der Mobiliarversicherungskasse. So kamen Mann und Frau sich wieder näher. Auf dem Grabe der Müllerin stand der Stein und die Grabumfassung. Der Müller aber war im Tode, was er auch im Leben war, ein bescheidenes Anhängsel neben einer hochfahrenden Frau.

378 Suse hatte nun im Tale nichts mehr zu suchen und nichts zu finden. Sie packte ihre geringe Habe zu einem Bündel zusammen, nahm Abschied von Mordche Rimbach und ging im Frührot eines der folgenden Tage den Pfad an der Berglehne hinauf, den einst die Esel getreten hatten. Alles, was sie erlebt, gelitten und verloren hatte, drängte sich noch in jammervollen Bildern vor ihre bange Seele, und als sie oben auf der Wasserscheide war, da wollte sie noch einmal den Trümmerhaufen sehen, zu dem ihr liebes Vaterhaus herabgesunken war, und sie drehte sich um.

In diesem Augenblick ertönte unten aus der Mühle von Groß und Moos die Dampfsirene, die zur Tagesschicht rief. Es war ein stoßweises, furchtbares Heulen, das den Frieden des Tales grausam durchsägte. Der blutige, unersättliche Geldhunger der modernen Zeit schrie triumphierend aus dem Trichter der Blechtrompete. Suse schauderte, zog das Bündel auf ihrem Rücken höher und wanderte dem Wärterhäuschen an der Riedbahn zu, wo sie bei Liese einstweilen ein Unterkommen fand, bis sie ein später Brief ihres Bruders ans andere Ufer des Atlantischen Ozeans rief.

* * *

Mit trüben und mit sonnigen Stunden war derweilen die Zeit über die krummen Dächer von Husterloh hingeschritten und hatte an vielem gerüttelt. Wie Spreu vorm Winde war der Schwarm der Spieler verweht. Ihr Führer Schrot endete zu Ulm in einer Kerkerzelle. Der Weltschirm 379 war in Konkurs gekommen, und Frau Schrot – ihr, die ihr dies lest, fühlt ihr das Grauen, das mich überrieselt, weil ich sie einmal so nennen muß, einmal und nicht wieder – Agnes, unsere arme, gute Agnes hatte die Wirtschaft gepachtet, um ihre Eltern ernähren zu können. Still waltete sie in Küche und Stube, und Zucht und Sitte, die eine Zeitlang aus dem Hause gewichen waren, herrschten wieder von den Hohlziegeln bis zum Keller.

Da schlich eines Abends Mordche Rimbach, den die Zeit so krumm gedrückt hatte, daß er fast aussah wie eine Fastenbretzel, durch den Hausgang des Weltschirms, lugte vorsichtig in die Küche und schob, als er Agnes am Herdfeuer sah, einen Menschen in die Wirtsstube hinein. »Setz dich hintern Tisch,« sagte er diesem, »und laß die Beine am Boden, zieh die Nasenflügel an dich heran und red' mit de Händ', sie braucht dich nicht auf den ersten Blick zu erkennen.« Der Fremde war untergebracht, und Mordche Rimbach saß an seiner Stammtischecke, da rief ein Schellenzeichen die Bedienung zu den Gästen.

Agnes erschien und musterte verlegen das Gesicht des unbekannten Gastes.

»Agnes,« so unterbrach Mordche das verlegene Schweigen, »hast du nie einen Menschen gekannt, dem dieses Narrengesicht da ähnlich sieht? Zehn Jahre läuft der Affe hinter einem Zylinder her, nun kommt er baarhäuptig und mit einem grauen Kopf.«

»Ach, der Backnickel,« sagte Agnes weich, »nun kommst du, und sie ist fort, die so viele bange Stunden auf dich gewartet hat.«

380 »War schon bei ihr,« sagte Nikolaus Lulay, »ihr kann ich nichts mehr sein, Mordche, sorgt für einen Grabstein, und morgen geh ich wieder in die Welt hinaus, wenn ich erst meinen Auftrag erledigt habe, an deine Adresse.«

Agnes fing an zu zittern.

»Sei ruhig,« fuhr Nickel fort, »ihm geht es gut, er lebt da drüben am Orinoko mit seiner braven Frau als gesuchter Chirurge, und Suse hütet ihm eine allerliebste Kinderschar. Er sendet Grüße durch mich.«

Agnes schlug die Schürze vors Gesicht und stürmte aus dem Zimmer, um nicht wieder zurückzukehren zu ihren Gästen. In ihrer Kammer grub sie den lieben Kopf ins naßgeweinte Kissen und schloß ihr Nachtgebet mit dem bangen Seufzer: »Jetzt, wo jedes Hoffen mich verließ, bleib treu bei mir, mein altes Weh, und füll' die große Leere aus. Du aber, Zweig aus zähem Chattenstamme, blüh' fröhlich und gedeih' in fremder Erde.«

 

 


 << zurück