Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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21. Kapitel

Sebastian Stallmann ist für den Volksmund ein zu umständlicher Name. Deshalb verstümmelte man den Sebastian zu Baschel und, um ihn von anderen zu unterscheiden, die St. Sebastianus über die Taufe gehoben, nannte man den unseren den Mühlbaschel. So lang sich ein Mensch zurückerinnern konnte, war er bei Müller Höhrle in der Mühle. Als ganz kleines Kind hatte er eines Morgens, vom Hauch der Kühe gewärmt, in der Krippe gelegen. Daher der Zuname Stallmann.

Hatte er vordem viel und fleißig zu arbeiten, so saß er in der letzten Zeit, wo das Geschäft schlecht ging, oft ganze halbe Tage müßig und rieb seine im Wasserbau erfrorenen Fußballen aneinander. Auch heute saß er so in seinem mehligen Anzug. Sein Ohr war taub geworden im Geräusch des Werkes, auch sperrte, wie bei seinem Herrn, ein beträchtlicher Mehlhaufen den Eingang zu seiner Paukenhöhle. Wer seine Aufmerksamkeit erregen wollte, mußte ihm mit der Faust auf die Schultern schlagen, oder ihn schütteln. Vater Höhrle tat letzteres. Der Mühlbaschel 207 schaute auf und vergrößerte mit beiden Händen seine Ohrmuscheln.

»Der Hans hat um Geld geschrieben. Ausstände, die ich erwarte, sind nicht eingegangen. Nimm vom Haufen droben einige Sack Korn und trage sie zu Mordche Rimbach hinüber, aber erst in der Dämmerung, verstehst du, erst in der Dämmerung.«

»Verstehe,« sagte Baschel, »es braucht nicht jeder zu wissen, daß wir nicht mehr mit Papiergeld heizen,« und er tastete sich in den weichen Mehlstaub seiner Holzschuhe hinein. Als er die Säcke am Haufen füllte, konnte er zum Eulenloch hinaussehen, und was er da von der Gegend sah, kam ihm so eigenartig, so fremd vor, denn noch niemals hatte er von diesem Punkte aus die Welt betrachtet. Der Fruchtstock hatte sonst immer bis zum Gebälk gereicht und das Eulenloch lag dahinter.

»Ja, ja, es ist im Hause manches niedriger geworden und vermutlich nur die Hypothek gewachsen,« so dachte er, füllte seinen Sack, warf ihn über den gekrümmten Rücken und wanderte, als es dunkel war, zu Mordche Rimbach hinüber. Der stand an der Brückenwage und zählte Säcke mit der Firmenaufschrift: »Groß und Moos.«

»Bringst du Mehl, Baschel?«

»Ne, Korn.«

»Dann stell den Sack hier ab, hier wo das Licht steht, und bind ihn auf.«

Baschel tat, wie ihm befohlen war, und Mordche 208 Rimbach griff in den Sack und ließ das Korn von dem einen Handteller in den anderen gleiten.

»In eurem Kornhaufen sind die Mäuse.«

»Kann sein, aber eine Ratte frißt mehr als hundert Mäuse.«

»Einverstanden, Baschel, auch wenn sie nicht direkt am Haufen sitzt und nicht durch den Katzenlauf in den Speicher kommt. Euer Student braucht wohl viel Geld?«

»Wie's jetzt steht, ja, doch es verschlägt nichts. Wenn das Faß doch ein Loch hat, mag auch der Krahnen tropfen.«

»Ihr solltet das Mahlen einstellen, Baschel, es kommt nichts mehr dabei heraus. Ihr kauft vom Bauer teueres Korn und verkauft ihm billiges Mehl, weil ihr nicht mehr fordern dürft als die Konkurrenz. Groß und Moos aber kaufen in Argentinien billig ein, die Wasserfracht bis Mannheim kostet nur eine Mark per Sack. Sie verstehen das Mahlgut passend zu mischen. So schlagen sie euch im Preis und in der Qualität. Baschel, wer weiß, von wann ab er auf der faulen Haut liegen bleiben muß, gewinnt zwar nichts dazu, aber er erhält das Vorhandene. Ihr mahlt euch noch um Haus und Hof.«

»Es kann auch wieder anders kommen, Mordche.«

»O ja, aber nicht so, wie Vater Höhrle und du denkst. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die vielleicht nicht ganz wahr, aber lehrreich ist für den, der sie erfaßt.

Im Steinachtal drüben lebten die Gebrüder Spilger. Sie hatten einen schönen Hof und sie waren nüchtern und fleißig. Es fehlte ihnen nur die Umsicht. Sie pflanzten 209 Heidekorn, weil es der Großvater gepflanzt hatte, einerlei, ob es verkäuflich war oder nicht. Sie pflügten keinen Acker um, auch wenn zur Winterzeit die Raben die halbe Saatfrucht herausgezogen hatten. Als es längst schon Maschinen gab, da sah man die zwei immer noch auf der Tenne stehen und dreschen. Sie droschen mit Leidenschaft. Morgens bei Licht, Abends bei Licht.

»Sehet euch vor,« rief der Straßenmeister in die Scheune hinein, »der Bach hat eure Mauer unterwühlt und läuft euch demnächst durch den Hof.«

»Ein andermal vielleicht, daß wir dazukommen, sie auszubessern; jetzt haben wir zu dreschen.«

Sie schlugen mit den Flegeln auf die Garben und achteten den Mahnruf nicht. Da regnete es eines Tages sehr heftig; man hörte den Regen aus dem Strohdach rinnen. ›Gut,‹ dachten die beiden, ›daß es uns nicht in die Werkstatt regnet, so lange das Korn trocken ist, kann man dreschen.‹ Sie hörten das Wasser rauschen und fühlten ab und zu einen kleinen Stoß. Sie achteten dessen nicht und droschen weiter.

»Nun wird es aber Zeit, daß wir zum Essen gehen,« sagte einer der beiden Brüder. Der andere sagte: »Einverstanden.«

Sie öffneten das Scheunentürchen und traten hinaus. Da war die ganze Welt um sie verändert. Es dauerte eine Zeit lang, bis sie sich auskannten und bis sie herausgebracht hatten, daß ein Wolkenbruch sie mitsamt der Scheune nach Neckarsteinach hinabgeschwemmt hatte.

210 »Tut nichts,« sagten sie, »wir haben auf dem Spind noch Frucht zum dreschen, es kommt wieder einmal ein Wolkenbruch. Das Wasser fließt nach der anderen Seite und schwemmt unsere Scheune das Tal hinauf. So kommen wir wieder zu unserem ganzen Hof.«

Erlebt haben sie diese entfernte Möglichkeit nicht; sie starben beide in Armut, und da niemand da war, der ihren Sarg bezahlen wollte, so kamen sie nach Heidelberg in die Anatomie. So haben an ihnen, die selber nichts lernen wollten, die Studenten gelernt. Und auch du und Vater Höhrle solltet an ihnen lernen.«

»Denkst du, daß wir mit unserer Mühle den Bach hinunterfließen, wie deine Gebrüder Spilger?«

»Ihr seid schon im Rollen,« sagte Mordche, »und ich will dir sagen, wo ihr hängen bleibt: Unten bei Groß und Moos. Dich sehe ich dort den Hof kehren, und Vater Höhrle hantiert mit einem Spaten ein wenig in den Gartenpfaden.«

»Ich weiß, Jude, du spielst Skat und den nicht schlecht,« entgegnete der Mühlbaschel nach einer Pause des Nachdenkens, »hast du je erlebt, daß einem die Buben einen ganzen Abend treu geblieben sind? Siehe, jetzt haben Groß und Moos die Hand voller Trümpfe und spielen aus, aber paß auf, sie überfordern sich, und zuletzt machen die Nebenkarten noch ihre Stiche.«

»Ich will dir deinen frommen Glauben nicht nehmen, Baschel, und für Vater Höhrle sollte es mich freuen, wenn du Recht behieltest. Übrigens nimm hier dein Geld und 211 eile nach Haus. Es könnten Leute kommen, von denen du nicht gesehen sein magst. Auch geht der Postschalter bald zu, und ein Student, der sich die Augen nach dem Briefträger blind guckt und Hunger leidet, ist eine beklagenswerte Sache.«

Sebastian Stallmann zog aus seiner Hosentasche eine getrocknete Schweinsblase, die einen muffigen Talggeruch verbreitete, faltete sie umständlich auseinander und strich die wenigen Taler hinein. Mordche Rimbach, gefällig wie er war, schob die Brille auf die Stirn, griff nach der Petroleumlampe und leuchtete seinem Gast über die in der Mitte gebrochene Tür hinaus ins Freie, bis dieser die etwas ausgetretene Treppe überwunden hatte und sich auf der Straßenebene mit Sicherheit fortbewegte.

»Schade,« sagte er dann zu sich selber, »daß man den Ochsen ans Wasser führen, aber nicht machen kann, daß er säuft. Was nützt alles Zureden.«

»Bauer und Stier
Ein Tier.«

Auch der Mühlbaschel ging in leisem Selbstgespräch weiter.

»Verfluchter Hebräer, daß er doch am Schenkel seines Ur-Urgroßvaters im Roten Meer ertrunken wäre. Riechen denn die Schulden wie neue Geldbeutel, daß er so genau wissen kann, wie es um meinen armen Herrn steht. Ist denn die Zeit vorüber, wo eine Mühle einer Goldgrube gleichgeschätzt war. Laßt einmal nachsehen, wie es heute um uns steht. Man braucht ja nicht auf einen Berg zu 212 steigen, wenn man Vater Höhrles Elend übersehen will. Ein sinnlos Betrunkener kann den Weg gehen ohne Gefahr, daß er abstürzt, nur immer ebener Erde herein in die Mühlstube. Etwas Licht freilich ist erwünscht,« und damit tastete er in seine Westentasche, holte ein Streichholz hervor, und weil gerade etwas Wind ging, so streckte er mit der Linken die eine Seite seines Wamses vor und schützte dahinter den Embryo einer blauen Flamme.

So betrat er das Haus und holte von der Decke die alte Laterne herunter. Sie war zugestaubt, und ihr Riegel hatte sich ins Holz gefressen. Es dauerte eine Weile, bis das Türchen aufging. Da brauchte Sebastian Stallmann seine beiden Hände. Er mußte das erste Streichholz opfern. Ungern warf er es fort, und ein kräftiger Fluch begleitete die Worte: »Man kauft sich noch arm an lauter Streichhölzern.«

Endlich aber war alles richtig zustande gebracht. Das Licht brannte wieder einmal in der Mühlstube, wenn auch nicht für den übelduftenden Bauernchor, der vordem hier versammelt war. Ängstliche Leere gähnte an ihrer Stelle. Jede Bank, jeder Stuhl redete nur zu deutlich hier die Sprache der Verödung. Als ob es geschneit hätte, lag eine weiße Decke über allen Gegenständen, seitdem es keine Bauernhosen mehr gab, die hier die Möbel scheuerten. Nur der Tisch mit den eingeschnittenen Namen war einigermaßen sauber. An ihm arbeitete Vater Höhrle in seinen trüben Stunden.

Der Mühlbaschel überschaute mit einem einzigen Blick das ganze Hauptbuch. Es waren kaum mehr als fünf bis 213 sechs Namen zu lesen. Vater Höhrles Vernichtungswerk hatte unheimliche Fortschritte gemacht.

Da war noch Peter Hintenlang von Siedelsbrunn, ein sauberer Patron. Seine Finger waren geknickt und an den Gelenken aufgetrieben. Die Leute sagten, er hätte sie sich krumm geschworen. An dem war nicht viel zu verdienen. Er brachte wenig und Schlechtes und wollte viel und Gutes mitnehmen. Der konnte das Unternehmen nicht stützen.

Da war Michel Eckhard von Zotzenbach, der Mann mit dem empfindsamen Sitzfleisch, der Säcke und Pferdedecken mitnahm, weil er nicht hart sitzen konnte, und sie nicht wiederbrachte.

Da war noch ein Name – nur noch halb vorhanden, denn Vater Höhrle arbeitete offenbar an seiner Vernichtung – aber noch leserlich: Kunz Streckfuß von Steinach. Der Tod hatte seinen Träger vor einigen Tagen aus dem Buche des Lebens gestrichen, und Vater Höhrle beging keine Grausamkeit, wenn er ihm an seinem Tische keinen Platz mehr gönnte. Und doch war's schade um den Mann.

Sein Grundsatz war: »Es geht in einem hin.« So steckte er an alten Hofreiten die Scheunen an, wenn das Wohnhaus brannte. Was sollte man zweimal das Dorf alarmieren und Schrecken über die Leute bringen. Lag alles in Trümmern, so zahlte die Versicherungsgesellschaft, und Streckfuß, der Baumeister war, stellte Scheune und Haus nach einem gemeinsamen, gut durchdachten Plane wieder her. Er war ein Segen für die Gegend. Er verhalf 214 den Armen zu einem neuen Hause und schaffte den Werkleuten Verdienst. Deshalb schenkte ihm der Himmel die Gnade eines schönen Todes. Als er eben ein altes Schulhaus, in dem die Kinder sich die Füße erfroren, angesteckt hatte und sich bescheiden drückte, fiel er in eine Hanfdarre und versprengte sich das Netz. Viele Menschen folgten seinem Sarge. Die ganze Gegend wußte, daß er ein schwer zu ersetzendes Kleinod barg. Man trug einen heiligen Crispinus zu Grabe, der ein wenig die Versicherungsgesellschaften schröpfte und armen Leuten Häuser baute.

»Die Kränk aber auch,« sagte Sebastian Stallmann, als er seinen Namen las, »der Mann ist zur Unzeit gestorben. Mochte der Herr im Himmel die Mühle in einem warmen Regen zu sich nehmen, sie war um den Feuerversicherungsanschlag gut verkauft, und es wäre für den Vater Höhrle ein Stück Geld übrig geblieben.«

In diesem Augenblick fing es in dem leeren Werk, das schon seit Tagen stille stand, unheimlich zu seufzen und zu krachen an. Der Mühlbaschel fuhr erschrocken mit dem Kopfe in die Höhe und warf die Laterne herunter, die, über ihm stehend, eine magere Helle geschaffen hatte. Nun war er ganz im Dunkeln, und das Krachen und Ächzen nahm zu.

»Gerechter Himmel,« dachte er, »sollte der Geist des seligen Streckfuß keine Ruhe gefunden haben, und sollte er gekommen sein, eine Unterlassungssünde gut zu machen?«

Immer wilder wurde das Ächzen, Pfeifen, Schnurren; kein Zweifel, es drehte sich das Rad, und der Läufer fing 215 an, auf dem Bodenstein zu tanzen, und doch war Baschel seiner Sache sicher, daß das Wasser vom Rade abgewendet war. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu.

Dem Mühlknecht war es, als ob ihn einer an den Haaren emporzöge, um ihn in den Trichter zu stürzen. Schon huste er zurück und suchte mit den Fersen die Türschwelle, als vom Wasserbau da hinten ein Lichtschimmer, der eine weiße Gestalt gespenstig umfloß, ihn an die Stelle bannte.

»Der Geist des Meisters Streckfuß,« dachte Baschel. »Aber wie der Selige in der Ewigkeit sich verändert hat. Er ist kleiner geworden.«

Zwischen den schnurrenden Treibriemen hindurch nahm der Geist mit Sicherheit seinen Kurs auf den Mühlknecht zu. »Wie er sich noch auskennt,« dachte dieser, »nun ist ihm wohl im Himmel und auf Erden kein Rattenwinkel mehr unbekannt.«

In diesem Augenblick war Sebastian Stallmann auf ein Wiedersehen mit seinem seligen Freunde nicht sehr erpicht, und er tastete hinter sich nach der Türklinke, denn, der Erscheinung auch nur für einen Augenblick den Rücken zuzukehren, schien ihm zu gewagt. So kam denn der weiße Schrecken immer näher, und wenn der Mühlknecht noch eine Hoffnung hatte, dem Verderben zu entrinnen, so war es die, daß der Geist ihn nicht bemerken wolle und seine eigenen, nur ihm selber klaren Wege wandere.

Doch dem war nicht so. Baschels Fußbekleidung, die über einen Radschuh gearbeitet schien, bildete ein zu 216 bedeutendes Verkehrshindernis. Die überirdische Erscheinung stieß sich daran und hob die Laterne:

»Gott Strammbach, Baschel, bist du's?« rief das Gespenst. »Was läßt du die Mühle an und weißt doch, daß wir nichts zu mahlen haben?«

»Ach, Herr Höhrle, alle guten Geister loben Gott den Herrn, mit mir treibt der Teufel seinen Schabernack. Denkt ihr, ich könnte die Stellfalle gezogen haben? Das hat einer getan, der mehr Geist ist als ich oder weniger. Kommt, laßt uns nachsehen!« So gingen denn Vater Höhrle im langen Nachthemd und Sebastian Stallmann nach dem Wasserbau. Die Laterne warf ihren zwinkernden Schein über das weiße Band hin, das in der Holzrinne schäumte, so daß es aussah wie der Atlas, der von Totenkränzen niederflattert. Baschel war an der Stellfalle und rüttelte an dem Holzgestell. Es war morsch geworden und fiel in sich zusammen.

»Zum Henker,« sagte der Mühlknecht, »fürs Wasser taugt die nichts mehr; sie ist reif für die Flamme.«

»So wirf sie morgen unter den Herdkessel,« sagte Höhrle, der die sinnige Anspielung seines Knechtes nicht verstand. »Indessen nimm das Grabenbeil und haue oben den Kanal auf. Es mag das Wasser diese Nacht über die Wiese laufen. So stört die Mühle wenigstens nicht unseren Schlaf.« So weit war es im Hause Höhrle bereits gekommen. Vordem wachte jeder auf, wenn die Mühle stehen blieb. Heute konnte niemand schlafen, wenn sie ging. 217

 


 


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