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Da,
wie Ton in der Töpferhand,
so seid in meiner Hand ihr.
Jirmejahu
Für die ganze Dauer seiner Diaspora hat der Jude am äußeren Schicksal aller Welt eine besondere Teilnahme bekunden müssen, deren Sinn nicht Anteilnahme am Schicksal der Länder war, sondern die Erwägung, ob bei dieser und jener Wandlung ein Stück Lebensraum für ihn abfallen würde. Denn Raum genug hatte er nie, weil er immer nur fremden und belasteten Raum besaß. Verspürte er aber irgendwo die Möglichkeit eines Raumes überhaupt, so besetzte er ihn mit dem Optimismus, der das Gegengewicht der Hoffnungslosigkeit ist, und mit der Hartnäckigkeit, die entsteht, wenn einem Menschen Gefahr und Bedrückung zur gewohnten Begleiterscheinung seines Lebens werden.
Der Kampf der Niederlande gegen Spanien, der auf Freiheit in jedem Sinne gerichtet war, religiös wie geistig wie kommerziell, erregte eben dieser Ziele wegen die besondere Aufmerksamkeit derjenigen Juden, die – als Juden – überhaupt ohne Raum waren: der Marranen. Kaum hatte die Utrechter Union von 1579 die Gewissensfreiheit für die neue holländische Republik proklamiert, als schon marranische Juden einwanderten. Sie konnten nicht warten, bis man sie rief. Sie kamen und waren da; zunächst in der Verkleidung, in der überhaupt sich ihr Leben abspielte: als Katholiken. Aber gerade als solche wurden sie scheel angesehen, denn es behagte den protestantischen Niederländern keineswegs, »spanische Papisten« im Lande zu beherbergen. Es war fast eine Erleichterung für sie, als sie eines Tages eine heimliche Versammlung dieser »Papisten« aufhoben und dabei feststellen mußten, daß die neuen Gäste sich nur zur Feier des jüdischen Versöhnungstages zusammengefunden hatten. 126
Durch das Prinzip der Gewissensfreiheit vor sich selbst gebunden und wirtschaftlichen Erwägungen durchaus zugänglich, entschlossen sich die Holländer zur Duldung der Juden. Mehr als eine Duldung war es auch in diesem, damals freiesten Lande der Erde nicht. Die Generalbedingung, die im Reglement von 1619 aufgestellt wurde, ging dahin, daß die Juden sich jeder religiösen Propaganda und jeder Beziehung zu christlichen Frauen zu enthalten hätten. Viele Städte, besonders in der Provinz, nahmen aber die Juden trotzdem nicht auf. Da die Stadtmagistrate zudem von der Regierung das Recht erhalten hatten, nach ihrem Ermessen und den jeweiligen Verhältnissen über die Bedingungen zu beschließen, denen die Juden unterworfen sein sollten, ergab sich ein durchweg beschränktes Bürgerrecht und ein durchgängiger Ausschluß von den Gilden, mit Ausnahme der Maklergilde. Schulen durften sie nicht besuchen. Auch vom Studium auf den Universitäten waren sie praktisch – bis auf das Studium der Medizin – dadurch ausgeschlossen, daß die Studierenden einen Eid in christlicher Formulierung zu leisten hatten. Das Regulativ der Beziehungen war hier – wie überall sonst in der Diaspora – der wirtschaftliche Vorteil, der sich aus der Duldung der Juden ergab. Zwar waren unter den Einwanderern viele Angehörige freier Berufe: Ärzte, Gelehrte, Schriftsteller; aber der Hauptteil kam aus der wohlhabenden, zum Teil ungewöhnlich reichen Kaufmannschaft. Sie beteiligten sich mit großen Kapitalien an der Ost- und Westindischen Kompanie. Sie gründeten Handelshäuser, Speditionsgeschäfte, Banken. Sie nutzten ihre weltumspannenden Beziehungen zu den Juden aller Länder aus und gaben dem holländischen Handel 127 dadurch und durch ihre Regsamkeit einen ungewöhnlich starken Aufschwung.
Daß die spanischen und portugiesischen Juden zu dieser Besetzung eines neuen Wirtschaftsgebietes aus ökonomischen Gründen getrieben wurden, kann nicht geleugnet werden. Ihr bisheriges Wirtschaftsgebiet verfiel. Die Vertreibung der Juden und Morisken hatte die Gewerbetätigkeit entscheidend gelähmt. Alles Gold, das aus der barbarischen Ausbeute gewaltigen Kolonialbesitzes der pyrenäischen Halbinsel zuströmte, konnte nicht verhindern, daß die Masse des Volkes verarmte und somit der Binnenhandel immer bedeutungsloser wurde. Ungeheure Vermögen häuften sich zu totem Besitz in Klöstern, Stiften und Kirchen, vor allem aber bei der Inquisition. Ständig vermehrte Privilegien des Adels schränkten den freien Handel ein. Wer sich nicht mit dem Kleinhandel begnügen wollte, sah seine wirtschaftlichen Möglichkeiten täglich vermindert. In den Niederlanden dagegen, wo die Befreiung von Spaniertum und Katholizismus wirklich von der Idee der Freiheit ausging, entstand als Begleiterscheinung dieses Frei-Seins der Drang nach weiter und ungehemmter Betätigung, das Bedürfnis nach einer Aktivität, die der Gelehrsamkeit nicht weniger zugute kam als dem Handel. Daß für die Marranen hier eine Möglichkeit großen Formates lag, erspähten sie mit sicherem Blick.
Aber es ist keineswegs so, daß diese wirtschaftliche Möglichkeit der erste und entscheidende Anlaß für ihre Einwanderung war. Wenn sie in der neuen Republik von der Freiheit zu profitieren hofften, so geschah es in erster Linie in der Erwartung, daß bis dorthin der Arm der Inquisition nicht reiche und daß 128 sie hier endlich eine Erlösung von dem nie aussetzenden Druck finden würden, der sie mit jeder möglichen, jeder ehrlichen und jeder erlogenen Begründung bedrohte. Lag es doch in der Natur des Marranenproblems, wie die katholische Kirche es geschaffen hatte, daß es keine andere Auflösung dafür gab als die restlose Beseitigung auch des letzten Marranen, sei es im Autodafé, sei es durch die Flucht in andere Länder. Nicht nur, daß die Heilige Inquisition den Kampf gegen den Marranen und den Ketzer als religiöses Stimulans brauchte; nicht nur, daß Inquisitoren und Könige nach dem jüdischen Gelde lechzten; nicht nur, daß der privilegierte Adel und die jesuitischen Handelsunternehmungen an der Beseitigung des immer noch als geheimen Juden empfundenen Handelskonkurrenten ein Interesse hatten – auch der Marrane selbst, ob er wollte oder nicht, gab der Inquisition immer wieder das formale Recht, ihn zu verfolgen, zu foltern, einzukerkern und zu verbrennen. Denn immer wieder brach spontan und mit nicht regulierbarer Kraft das jüdische Erbteil in den Marranen durch. Aus Geschlechtern, die – wie die Da Costas – schon längst den Weg in die verriegelte Welt des Katholizismus gefunden hatten und in ihm als Geistliche aller Grade die katholische Welt selbst mit lenkten und formten, barst die Oberfläche einer ihnen nicht adäquaten Welt immer erneut unter dem Andrang von Gefühlen, die ihre Kraft aus der Tradition von Jahrtausenden bezogen. Nicht Gesetz, nicht Ritus, nicht Form, kein Wissen um jüdische Dinge, keine Erkenntnis und kein kritischer Vergleich führten zu solchem Ergebnis; denn kaum einer von ihnen wußte in der Strenge der christlichen Erziehung und unter der ständigen Obhut von Spionen um solche 129 positiven und materiellen Dinge. Es war das Grundgefühl selbst, das da revoltierte, das Blut, die Dinge, deren sich nicht das Gehirn erinnert, sondern die Seele. Immer wieder geschah es ihnen, daß sie eines Tages übermächtig das Bedürfnis empfanden, sich und ihren inneren Glauben durch die Flucht zu retten und dahin zurückzukehren, wohin es sie rief: in das Judentum. Kein Marrane ließ es dabei bewenden, in dem Lande, in dem er Zuflucht suchte, nur die wirtschaftlichen Möglichkeiten auszunutzen. Für jeden von ihnen war damit – zuweilen nach einer Pause abwartender Vorsicht – die tatsächliche und nach außen hin bekundete Rückkehr zum Judentum verbunden.
In den ältesten Urkunden, die über die Einwanderung von Marranen nach den Niederlanden vorliegen, stehen denn auch diese Motive im Vordergrunde. Auf das früheste Datum (1593) bezieht sich die von Daniel Levi de Barrios in seiner Schrift Casa de Jacob wiedergegebene Erzählung, deren wichtigster Teil hier vermerkt sei:
»Alle, die den Namen des Herrn anrufen, werden gerettet werden, verkündet der Prophet Joël. Unter den Schrecknissen der grausamen Inquisition rief ihn Mayor Rodriguez an, um mit ihrem Gemahl, Gaspar Lopez Homem, und ihren Söhnen Manuel und Antonio Lopez Pereyra, und ihren Töchtern Maria Nunez und Justa Pereyra gerettet zu werden. Manuel und Maria schifften sich nach Holland ein, zusammen mit ihrem Oheim Miguel Lopez, im Jahre 5353 der jüdischen Zeit, das dem Jahre 1593 der christlichen Zeitrechnung entspricht. Die Engländer, die Krieg gegen Spanien führten, nahmen jene Seefahrer gefangen; und ein englischer Herzog, verliebt in die 130 seltene Schönheit der Maria Nunez, warb um sie mit so großer Liebe, daß die Königin Elisabeth von England, von seiner Liebe unterrichtet, befahl, sie zu ihr zu bringen. Sie bewunderte ihre Schönheit wie auch ihre Bescheidenheit, und indem sie das Schiff um ihretwillen mit gütigen Versprechungen freigab, setzte sie sie in ihren Wagen, um den Londonern das Wunder einer Schönheit zu zeigen, die sich keinen Liebesbeteuerungen und ehrenvollen und vorteilhaften Anerbietungen ergab, die alle Pracht Englands verschmähte für das Judentum, das sie in Amsterdam beobachtete . . . Antonio Lopez Pereyra folgte nach und wurde später Großzahlmeister des Königs von Spanien und Vogt des Herzog-Grafen. Die berühmte Justa Pereyra, im Schmerz über den Tod zweier Söhne, den sie dem Umstand zuschrieb, daß ihr Gatte die Beschneidung verzögerte, trennte sich von ihm, bis er sich durch die Hand des Uri Levi beschneiden ließ . . .«
Schon in diesem Bericht wird erkennbar, was später noch eingehender dargestellt werden muß: die Zielstrebigkeit dieser Wanderung und ihr religiöser Impuls. Sogleich tritt auch die jüdische Frau wieder in den Vordergrund und wirkt mit der verinnerlichten Kraft ihrer Religiosität, aus der heraus das jüdische Haus auch in den Zeiten tiefster Not der bergende Ort werden konnte. Es bedeutet unendlich viel, daß eine jüdische Frau ihre höchste Bestimmung, die Gemeinschaft der Ehe, aufhebt, um einer religiösen Verpflichtung, die ihr noch wesentlicher ist, Geltung zu verschaffen. Dieses Symbol des Bekennens zum Judentum, die Vollziehung des Bundeszeichens, das noch Greise auf sich nahmen, sobald sie dazu Gelegenheiten hatten, scheint für alle diese Flüchtlinge die 131 erste und entscheidende Rückkehrhandlung gewesen zu sein; und es scheint weiter so, daß dieses national-religiöse Symbol noch das einzige gewesen ist, was sie an positivem Wissen von der Formwelt ihres Judentums besaßen und erinnerten. In welchen Formen sonst das jüdische Leben verlief, wußten sie nicht mehr; aber der Wunsch, es zu wissen, setzt sofort und vehement ein, sobald ihre Heimkehr sich vollzogen hat. Diese Einstellung wird sehr deutlich in dem anderen frühesten Bericht über die Einwanderung, der Memoria para os siglos Futuros, verfaßt von Uri Phoebus ha-Levi. Sie lautet in ihrem wesentlichen Teil:
»Die berühmten Rabbinen, R. Mosche Uri Levi, Gott habe ihn selig, und sein Sohn Aaron Uri ha-Levi, mein Vater und Herr, waren Einwohner von Emden in der Provinz Ostfriesland. Sie hatten über die Türe ihres Hauses geschrieben: emet we'schalom jeßod ha'olam, was besagen will, Wahrheit und Friede sind der Untergrund der Welt; und darunter war die Übersetzung in lateinischer Sprache. Nun geschah es, daß im Jahre 1604 (muß wohl heißen: 1594) zwei Schiffe aus Spanien in dieser Stadt ankamen, die zehn Juden aus Spanien, nämlich Vertriebene, und vier Kinder mitführten. Sie waren mit Waren beladen und zusammen mit dem Mobiliar und Hausgerät, das sie brachten, stellte es ein großes Kapital dar. Einige dieser Juden . . . kamen an Land und gingen durch die Stadt. Sie sahen, daß eine geschlachtete Gans in das Haus meines Großvaters getragen wurde und wurden auf die hebräische Inschrift aufmerksam, die sie aber nicht lesen konnten. Als sie in ihre Herberge gekommen waren, sagten sie dem Wirt, daß sie an diesem Tage eine Gans zum Mittagessen wünschten. Der 132 Wirt ging, eine zu kaufen, und als er in das Haus meines Großvaters trat, sah er eine sehr fette geschlachtete Gans auf dem Tische liegen. Er versuchte die Gans zu kaufen, indem er sagte, es seien einige reiche Kaufleute aus Spanien angekommen, die große Lust hätten, eine fette Gans zu essen. Mein Großvater entschuldigte sich und sagte, diese da hätte er für sich selbst bestellt. Aber der Wirt drängte ihn so, sie ihm zu verkaufen, daß er sie ihm schließlich gab . . . Der Goi ging sehr zufrieden mit der Gans nach Hause und als er sie seinen jüdischen Gästen zeigte, sagten sie, die sei so fett, daß man sie gar nicht essen könnte. Sie fragten, von wo er sie gekauft habe. Er antwortete: Vom Juden. Da sagten die Vertriebenen – und stellten sich verwundert: Wie? Es gibt hier Juden? Der Goi erwiderte: Ja, und er hätte eine hebräische Inschrift über der Türe.
Zwei der Passagiere begaben sich anderen Tages zum Hause meines Großvaters. Als sie ihn auf Spanisch anredeten, konnte er sie nicht verstehen und rief seinen Sohn Aaron, daß er mit ihnen spreche. Sie sagten, sie möchten mit ihm insgeheim reden. Als sie alle in ein Zimmer getreten waren, offenbarten sie sich meinem Vater: sie seien hierher mit zwei Schiffen aus Spanien gekommen, insgesamt zehn Kaufleute und vier Kinder, und wünschten sich beschneiden zu lassen, weil sie Söhne Jisraels wären. Darauf erwiderte ihnen mein Vater, das ließe sich in dieser Stadt nicht ausführen, weil alle Lutheraner seien . . . Er zeigte ihnen aber eine Abbildung, die er im Hause hatte und auf der die Stadt Amsterdam gemalt war. Auf diesem Bilde zeigte er ihnen einen Turm, genannt Monkelbaensturm. Wenn sie in die Stadt kämen, sollten sie ein Haus in der Junkerstraße mieten, 133 dem Turm gegenüber . . . und ein Zeichen anbringen, damit man das Haus finden könne. In zwei bis drei Wochen sei er gleichfalls dort. – So begaben sie sich nach Amsterdam und nahmen ein Haus, wo er ihnen gesagt hatte . . . Auch mein seliger Großvater und Vater begaben sich nach Amsterdam, um jene Herren aufzusuchen, und fanden sie in der Straße an dem verabredeten Zeichen. Als sie kamen, freuten diese sich sehr, und sie beschnitten sie alle, zehn Männer und vier Kinder. Sie nahmen sich ein Zimmer, in dem sie alle Tage mit großer Andacht ihr Gebet verrichteten . . .
Sie schrieben . . . nach Spanien und Portugal von der Freiheit, die ihnen die Herren Bürgermeister verliehen, und nachdem kamen viele Häuser von Spanien und Portugal, um sich hier in dieser Stadt niederzulassen. Mein Großvater war ihr Rabbiner (Chacham) und mein Vater ihr Vorbeter. Sie beschnitten sie und wurden die Urheber dieser heiligen Gemeinde. Er schrieb ihnen die Ordnungen und Regeln vor, wie sie ihre Verwaltung nach göttlicher Observanz einrichten sollten . . .«
Die Ergänzung zu diesem Bericht, den Tatsachen und ihrer Bedeutung nach, wird von der späteren portugiesischen Gemeinde in Amsterdam selbst erteilt, indem sie ihn mit einer Approbation versieht, in der es heißt: »Jedermann gelange hiermit zur Kenntnis . . . daß Herr Uri Levi eine rühmenswerte und sehr edle Tat vollbrachte, da er der erste war, der sich an die Spitze stellte, um die portugiesischen Jisraeliten, als sie zuerst aus Spanien und Portugal nach Amsterdam kamen, durch die Beschneidung in den Bund des Ewigen treten zu lassen . . . Nachdem er hierfür schon die Liebe seiner Brüder im Glauben erworben hatte, 134 beschränkte er aber seine Wohltaten nicht darauf, sondern fertigte für die portugiesisch-israelitische Gemeinde Gesetze und Ordnungen an, damit sie wußten, wie sie sich an Feiertagen und Festtagen, an Sabbaten und Neumondfesten zu verhalten hätten, wodurch er ihnen den Weg ihres Verhaltens im religiösen Leben wies . . .«
Wichtiger als für die äußeren Geschehnisse sind diese Berichte für die Aufdeckung des inneren Zustandes, in dem sich die Heimkehrer befanden: sie wußten nichts mehr von ihrem Judentum. Sie mußten es, wie Kinder und Anfänger, erst von Grund auf neu erlernen. Ein westlicher Jude, ein Aschkenase, mußte ihnen die Grundbegriffe vermitteln und ihnen helfen, sich in einer Welt zurecht zu finden, von der sie nichts wußten, als daß sie sie begehrten. Und so, wie sie sogleich mit dem Lernen beginnen, gehen sie auch sofort an die Bildung einer geschlossenen Gemeinde. Wenige Jahre nach der ersten nachweisbaren Einwanderung errichten sie bereits eine Synagoge, die nach dem Namen ihres Stifters Tirado den Namen Beth Jakob, Haus Jakobs erhält (1597). Zugleich wird aber auch ihr Bestreben sichtbar , sich von den aschkenasischen Juden unabhängig zu machen. Die Tradition der spanischen Juden war zu alt und in ihrer Kulturlinie zu einheitlich und geschlossen, als daß sie nicht mit einem verhaltenen Gefühl der Überlegenheit auf die aschkenasischen Juden geblickt hätten, die in den Wirrnissen der äußeren Ereignisse einen Weg der Entwicklung einschlagen mußten, den der Sepharde im Ergebnis als barbarisch und unkultiviert empfinden mußte. Darum berufen sie, sobald es angängig ist, den sephardischen Rabbiner Joseph Pardo, der in Saloniki amtet, als Chacham nach Amsterdam. 135 Bei der Gründung der zweiten Synagoge, Newe Schalom, Stätte des Friedens, die schon 1608 erfolgte, berufen sie aus Fez den Rabbiner Isaak Usiel als ihren Chacham.
Schon die Auswahl der Persönlichkeiten ist bedeutsam; nicht so sehr, weil beide Chachamim sephardische Juden sind, sondern weil sie Rabbiner strengster Observanz sind. Pardo kommt aus einer Stadt, die man – nächst Safed – als eine Hochburg des Kabbalismus bezeichnen kann, und dem Usiel geht der Ruf besonderer Strenge in religiösen Dingen voraus. Aber gerade nach dieser Strenge verlangen sie. Sie sind sich bewußt, wie hilflos und haltlos sie in der Welt des formalen Judentums stehen, und sie wissen gut, daß der Aschkenase, der unkultivierte Barbar, auch wenn er ihnen hilft und sie anleitet, sie nicht als Volljuden ansieht. Und das schmerzt sie. Sie wollen die Heimkehr als so vollkommen und endgültig, daß sie in dem, was sie als Judentum betrachten, in nichts mehr vom Juden unterschieden sein wollen, dessen Entwicklungsgang von stärkeren Mächten wohl gehemmt, aber nicht eigentlich unterbrochen war.
In dem, was sie als Judentum betrachten: eben darin liegt das schwerste Problem verfangen. Es ist nicht gleichgültig, von welcher Seite her man sich einer Idee nähert. Zum Guten oder zum Bösen, zu Förderung oder zu Hemmung trägt jeder die Aura des geistigen Umkreises mit sich, in dem er einmal lebte oder leben mußte. Der Wille kann hier nichts auflösen; auflösen kann nur das Erlebnis. Die Marranen kamen aus der Atmosphäre nicht so sehr des Katholizismus, als der katholischen Welt. Den Katholizismus haben sie, von geringen Ausnahmen abgesehen, nie wirklich akzeptiert. Wenn sie unter sich waren und 136 wußten, daß sie nicht belauert würden, hatten sie für diese Religion einen terminus technicus: Idolatria, Götzendienst. Ihm gegenüber zogen sie sich immer wieder auf das Bewußtsein zurück, Juden zu sein. Aber dieses Judentum war völlig auf den Bezirk des seelischen Willens beschränkt und hatte in keiner Wirklichkeit Stütze, Verankerung und Förderung. Ihre Wirklichkeit, der zeugende Raum für religiöses Verhalten, war der Alltag einer katholischen Umwelt. Ihre Moral mußte notwendig die Prägung annehmen, die unter der Herrschaft jesuitischer Moralkasuistik für ein ganzes Volk und für ganze Länder angemessen erschien. Ihre Bildung mußten sie notwendig daher beziehen, woher der Gebildete ihrer Zeit und Umgebung sie einzig beziehen konnte: aus der Kultur der Renaissance. Von ihrer eigenen jüdischen Renaissance, die in Spanien ein so ungewöhnliches Format erreicht hatte, wußten sie nichts Lebendiges mehr. Sie begegneten also, als sie zum Judentum zurückkehren konnten, einer Welt, für deren Erlebnis sie keine andere Voraussetzung mitbrachten als den leidenschaftlichen Willen, während alle anderen Voraussetzungen, ihr geistiger Habitus, ihr Wissen, ihre moralische Fundierung zu ihr in einem nicht auflösbaren Gegensatz standen.
Das erste halbe Jahrhundert ihrer Rückkehr zum Judentum verläuft nun in dem Bemühen, diese Diskrepanz auszugleichen. Das geht nicht ohne schwere Reibungen und Erschütterungen vor sich. Sie kamen ja nicht nur mit der Belastung ihrer katholischen Vergangenheit daher, sondern auch mit einer Unsumme aufgestauter geistiger Kräfte, für deren Betätigung die enge und strenge Zucht der verlassenen Umwelt keinen Raum gewährte. Da sie Juden waren 137 und – wie alle Juden, auch in der entartetsten Entwicklung – eine geistige Vergangenheit hatten, griffen sie sofort nach der Möglichkeit, ihre geistige Existenz schaffend wieder aufzurichten, abzurunden, fortzusetzen. Das war nötig, denn in der katholischen Welt konnte alle Bildung nicht mehr zu einer geistig-schöpferischen Haltung gedeihen, weil das Bemühen der Gegenreformation die Kräfte der Renaissance und der Antike dadurch paralysiert hatte, daß sie sie zu Stil und Konvention einer Zeit herabdrückte. In der Sekunde, in der für den Juden diese Bindung an Stil und Konvention entfiel, mußte er sich geistig erneut bemühen. Das konnte reibungslos und ohne Zusammenstoß mit dem Sinn und den Anforderungen der jüdischen Welt geschehen, solange es sich um Manifestationen des Gefühls handelte, um Dichtung, in der sie die Heimkehr besangen, um Elegien, in denen sie endlich die Leiden ihrer Vergangenheit beklagen und der schier erdrückten Seele ein Ventil schaffen konnten.
So dichtet David Abentar Melo, den Kerkern der spanischen Inquisition entflohen, die Psalmen in spanische Sprache um und widmet sie »dem gebenedeiten Gott und der heiligen Genossenschaft Israels und Judas, welche in langer Gefangenschaft durch die Welt zerstreut ist«. So dichtet Rëuel Jessurun, der als Katholik Paul de Pina hieß und der sich schon entschlossen hatte, ins Kloster zu gehen, nach seiner Flucht nach Amsterdam den »Dialogo de los siete montes«, den Wechselgesang der sieben Berge, darin er bekennt: »Wie selig ist der zu nennen, der Tag und Nacht den Gesetzen Gottes nachsinnt«. Jakob Belmonte klagt in Versen über die Leiden der Marranen unter der Inquisition. Kaum einer, der die Feder 138 zu führen weiß, versagt es sich, aus Beruf oder bei Gelegenheit seinen Gedanken dichterische Form zu geben. Ein kleines Abbild der verflossenen spanisch-jüdischen Klassizität entsteht so, ein liebenswürdiger, aber fast privater Bezirk, der das Einleben in die neue jüdische Welt erleichtern konnte. So konnte es auch – wenn auch nur für den äußeren Schein – ein vertieftes Einverständnis mit dem Judentum bedeuten, wenn in den Heimkehrenden sich die mystische Grundstimmung löste, aus der heraus sie sich Lehren und Gedankengängen der Kabbala auslieferten. Aber selbst hier, im Gleichgerichteten und Nicht-Widersprechenden, in dem, was sich der jüdischen Welt einzufügen schien, waltet insgeheim schon etwas Fremdes, nicht zu Vereinbarendes und Abseitiges, denn unter der Fülle des Getanen steht nicht eine einzige Leistung von Format, nicht ein einziges Werk von mehr als zeitlicher Bedeutung. So viel geistiger Wille hätte notwendig, schon durch seine Summierung, etwas Einheitliches schaffen müssen, wenn ein Kern vorhanden gewesen wäre, um den als Quelle der Kraft die Schaffensenergien sich hätten lagern können.
Es gab solchen Kern; aber er hatte eine seelische Zusammensetzung, die sich dem geistigen Habitus der Marranen gegenüber neutral, meist sogar feindselig verhielt. Dieser Kern war ein Gewordenes, aus Geschichtlichem Geformtes und in seiner Formung starr Gehaltenes, so wie wir es einleitend darzustellen versucht haben. Diese Form, gestanzt durch ein Jahrtausend Talmud, ziseliert durch Jahrhunderte Rabbinismus und geheimnisvoll patiniert durch die Kabbala, diese Notwehr der jüdischen Seele gegen eine ungute Wirklichkeit – diese Form war 139 ausschließlich und konnte nur so, wie sie gewachsen war, angenommen, geglaubt und anerkannt werden. Die Marranen selbst hatten das sichere Gefühl dafür, daß dem so sei, und gerade darum verschrieben sie sich als erste Chachamim die beiden Rabbinen strengster Observanz. Aber solche bedingungslose Einordnung in die gewachsene Form bedeutete ein Opfer von unerhörtem Ausmaße: es bedeutete den Verzicht auf geistige Freiheit. Viele brachten dieses Opfer; viele revoltierten. Es war oft eine kleine, kleinliche Revolte; aber da selbst die kleinste Revolte, die kleinste Unaufmerksamkeit gegen die Anforderungen der Form Proteste von wilder Leidenschaft hervorriefen, muß der historisch Betrachtende anerkennen, daß selbst in der kleinsten Revolte Gefahr lag.
Wie die Zeit selbst zwischen den Gehorsamen und den Revoltierenden unterschied, illustriert eine Schrift »Epistola Invectiva Contra Prado un Philosopho Medico«, verfaßt von dem Arzt Isaak Orobio de Castro, der ebenfalls ein Opfer der spanischen Inquisition war. Diese Schrift ist erst um 1660 abgefaßt, aber ihr Inhalt gilt um so mehr für die frühere Zeit. Es heißt im Anfang: »Diejenigen, die sich von der Idolatria, dem Götzendienst, in die Provinzen zurückziehen, wo man dem Judentum Freiheit gewährt, sind von zweierlei Art. Die einen, sobald sie den ersehnten Hafen erreicht und die heilige Bestätigung empfangen haben, erfüllen all seinen (des Judentums) Willen, indem sie das göttliche Gesetz lieben und, soweit ihre Verstandesfähigkeit reicht, alles zu erlernen trachten, was notwendig ist, um gewissenhaft (religiosamente) die heiligen Vorschriften, Gesetze und Zeremonien zu beobachten, die sie und ihre Vorfahren im Elend der Gefangenschaft 140 vergessen haben. Demütig hören sie auf diejenigen, die, weil sie im Judentum erzogen sind und das Gesetz gelernt haben, es ihnen erklären können. Sie eignen sich sobald als möglich Stil, Tradition und die lobenswerten Bräuche an, die Jisrael in der ganzen Welt beobachtet, jeder nach Stand und Möglichkeit, um sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen und die Irrtümer zu vermeiden, die vordem die Unwissenheit verursachte. Diese sind gekommen, krank an Unwissenheit, aber da die furchtbare Krankheit des Hochmutes sie nicht befallen hat, mögen sie leicht geheilt werden . . . Andere kommen zum Judentum, die im Götzendienst einige profane Wissenschaft studiert haben, wie Logik, Philosophie, Mathematik und Medizin. Diese kommen an, nicht weniger unwissend über das göttliche Gesetz als die ersten: aber voll Eitelkeit, Dünkel und Hochmut, sind sie überzeugt, in allen Wissensgebieten grundgelehrt zu sein und alles zu wissen . . . Sie gehen unter das glückliche Joch des Judentums, beginnen, von denen, die wissen, zu hören, was sie nicht wissen; aber ihr Hochmut und ihre Eitelkeit erlauben ihnen nicht, Belehrung anzunehmen, um aus der Unwissenheit herauszukommen. Es scheint ihnen, daß sie an Kredit als Gelehrte einbüßen, wenn sie sich von denen belehren lassen, die wirklich Gelehrte im Heiligen Gesetz sind. Sie wenden große Wissenschaft auf, dem zu widersprechen, was sie nicht verstehen . . . Sie glauben, wenn sie sophistische Argumente ohne wirkliche Grundlage zutage brächten, könnten sie sich als geistreiche, scharfsinnige, wissenschaftliche Köpfe in Ansehen bringen . . .«
Zu den Gehorsamen und Demütigen im Sinne des Orobio de Castro konnten alle diejenigen gehören, die in sich den großen Strich durch ihre bisherige Welt 141 machten. Aber selbst wenn einer dazu bereit war, zu vergessen, daß er die ganze Zeitbildung der Renaissance und die ganze Formung der Gegenreformation in sich aufgenommen hatte, konnte ihm dennoch der Konflikt mit der historisch-jüdischen Welt nicht immer erspart bleiben. Denn auch da, wo nicht Vernunft und Wissen kontrollierten und kritisierten, waren Gewohnheit und Anschauung der verlassenen Umwelt noch wirksam. Sie begriffen die jüdischen Gesetze und Riten; gewiß. Aber sie werteten sie kaum anders, als sie in Spanien und Portugal die kirchlichen Riten gewertet hatten: als Institutionen, deren man sich – regelmäßig oder von Zeit zu Zeit – bediente, um sich immer erneut Ablaß und Absolution von einem Leben des Gutdünkens und der Verantwortungslosigkeit zu erkaufen. Wenn sie auch in der alten Heimat unter einem ständigen Druck lebten, so wurde ihnen doch von hier aus immer wieder Auflockerung zuteil; denn wen sollte es nicht verlocken, um eine Instanz zu wissen, die ihm die Schwankungen der Seele immer wieder ausbalancieren kann? Der Begriff der Sünde lebt ja im jüdischen wie im katholischen Bezirk, wenn auch mit dem weltenweiten Unterschiede, daß es im jüdischen Bezirk nicht um das Fatum der ewigen Erbsünde geht, sondern um die Möglichkeit, vor einem göttlichen Anruf, der von Ewigkeit zu Ewigkeit ertönt, im Bemühen immer wieder zu versagen und zu scheitern. Aber dieser Unterschied ist nicht erlernbar, sondern nur erlebbar; und solange für einen Marranen hier nicht das Erleben eingesetzt hatte, war er der Gefahr ausgesetzt, die Riten des Judentums mit den Sakramenten des Katholizismus und den Rabbiner mit dem Beichtvater zu verwechseln. 142
Aber dabei ergab es sich, daß die strengen Rabbinen, die sie sich selbst berufen hatten, nichts von jener Konzilianz gewähren konnten, über die der jesuitische Beichtvater verfügte. Hier gab es keine Auswahl der Buße, keine Opportunität in der Beurteilung von Handlungen oder Unterlassungen. Die Gesetze des Judentums, um des lebendigen Lebens willen aus den Weisungen der Thora abgeleitet, waren längst eigenlebig geworden und forderten, daß das Leben sich ihnen füge. Sehr viele Gesetze hatten nicht nur die Ursache, sondern auch den Sinn ihrer Entstehung überdauert. Jetzt waren sie Bestandteil der Religion, die sich, je matter ihr Impuls wurde, desto leidenschaftlicher an die Form klammerte. Niemand hatte die Legitimation, von diesen Gesetzen Ausnahmen zu bewilligen oder Erleichterungen zu gewähren. Man konnte Gesetze schaffen, aber man konnte sie nicht aufheben. Man mußte auch diejenigen Gesetze befolgen, die kein verständlicher Sinn mehr mit dem Leben und seinen Äußerungen verknüpfte. Das mochte erträglich sein für Menschen, die aus einer nie unterbrochenen Kette der Generationen in die formgebundene Welt hineingeboren wurden, in ihr verharrten und aus ihr fortstarben. Aber der Mensch, der ganz aus der Weite her, vom Urgrund des Religiösen, vom Impuls, in diese Welt hineingetrieben wurde, mußte vom Befremden zur Frage, von der Frage zum Zweifel und vom Zweifel zur Opposition gedrängt werden.
So kann es nicht ausbleiben, daß es nach geraumer Zeit zu einer Revolution derjenigen Elemente kommt, die sich dem strengen Regime eines Isaak Usiel nicht fügen können oder fügen wollen. Eine starke Gruppe sondert sich ab und bildet um die neugegründete 143 Synagoge Beth Jisrael, Haus Israel, eine besondere Gemeinde. An ihre Spitze tritt David Osorio. Ihr erster Rabbiner wurde David Pardo, neben dem später Isaak Aboab fungierte. Es bestehen also nunmehr in Amsterdam drei Gemeinden. Ihre Gegensätzlichkeit streift die Grenze der Feindseligkeit. Sie sind alle Heimkehrer in das bestehende Judentum, aber sie kommen mit so verschiedenen geistigen und seelischen Voraussetzungen, daß die Spaltung als normale Folge solcher Verschiedenheiten auftritt. Zwanzig Jahre lang dauert diese Spaltung und Absonderung (1618-1639). Dann ertragen sie die Diskrepanz zwischen ihrem Heimkehrwillen und dem tatsächlichen Zustand nicht mehr. Verhandlungen über die Wiedervereinigung gehen hin und her. Unter der Führung des Jakob Curiel schließen sich 1639 die drei Gemeinden zu einem einheitlichen Verbande zusammen. Die nivellierende Kraft des historisch gewachsenen Judentums trägt einen entscheidenden Sieg davon. Letztlich sind sie doch Ton in der Hand ihres Gottes.
Mit ungewöhnlicher Straffheit wird die neue Gemeinschaft organisiert. Ihr Statut der Selbstverwaltung, die Eskamoth, regelt ins Einzelne die einzuhaltende Ordnung. An der Spitze steht ein Maamad, ein Rat, der sich aus selbständigen Gemeindemitgliedern (den Parnassim) und den Rabbinern der einzelnen Synagogen (den Chachamim) zusammensetzt. Diese Rabbiner bilden wieder für sich ein Rabbinatskollegium, das für die Ordnung der religiösen Angelegenheiten zu sorgen hatte. Um einen, vielleicht den wesentlichsten Grund der Unruhen und Streitigkeiten zu beseitigen, die Unwissenheit, wird eine Talmud-Thora-Schule gegründet, in der vom hebräischen Alphabet bis zum 144 höheren Talmudstudium alles jüdische Wissen gelehrt wird. Damit ist die Grundlage der Erziehung einer neuen Generation im überlieferten Geiste gegeben. (Aus dieser Schule ist ein Mann wie Baruch de Spinoza hervorgegangen.)
Die holländische Regierung gibt dem Maamad zu allem noch ein Danaergeschenk, eine Art Strafgerichtsbarkeit, nämlich das Recht, über Gemeindemitglieder, die sich der sachlichen und religiösen Disziplin nicht fügen wollen, den Bann zu verhängen. Dieses Recht nehmen sie an und von ihm machen sie einen sehr ausgiebigen Gebrauch. Sie kamen aus einem Milieu der religiösen Disziplin und des religiösen Gehorsams und gingen in ein gleiches Milieu ein. Sie brachten aber auch den Begriff mit, der in dem früheren Umkreis für den Undisziplinierten gegeben war und den das Judentum in dieser Art und Fassung nicht kannte: den Begriff des Ketzers. Sie tun, was die katholische Welt tut: sie kontrollieren jede abweichende Meinung und jedes abweichende Verhalten. Sie tun, was ihre Feindin, die Inquisition tut: sie verketzern. Sie schützen, wie es die katholische Welt tat, ihren Glaubensbestand vor der Freiheit dessen, der ihn nicht als nackte Gegebenheit annehmen will. Einem Zwang entronnen, richten sie selbst neuen Zwang auf. Ketzer von gestern, bereiten sie anderen und ihresgleichen das selbe Los. Notwehr hüben wie drüben. Der Unterschied liegt in der Gesinnung. Dort eine Institution, die ihre Existenz retten will; hier Heimkehrer, die ihre Sendung retten wollen. Tragik dort wie hier. Dort Menschen, die das Ausbrechen aus dem verriegelten Bezirk mit dem Tode bezahlen, den ihnen die Barbarei der Heiligen Inquisition bereitet; hier Menschen, die aus der Welt 145 des Nichts kommen und von eigenem Widerstand, wenn sie ihn nicht beseitigen können, in eine andere Welt des Nichts, in die Ausstoßung, in die Einsamkeit des Gebannten zurückgeschleudert werden.
Aber die meisten Heimkehrer fügen sich den neuen Lebensgesetzen. Sie nehmen das Los auf sich, ihre geistigen Kräfte zu vermindern, den Aufschwung ihres Wissens und ihrer Bildung zu vergessen, zu glauben ohne zu fragen. Sie haben Teil am Niedergang freier Erkenntnis, bemühender Gestaltung und weltlicher Kultur. Sie unterwerfen sich einem historischen Prozeß, aus Treue, aus Verbundenheit, aus Demut. Ihnen fällt ein wenn auch gemindertes, so doch gesichertes persönliches Schicksal im Rahmen ihres Volkes zu. Die anderen hingegen, die um einer von ihnen erkannten Wahrheit willen nicht schweigen konnten, lieferten sich einem ungesicherten, wenn auch bereicherten Schicksal aus.