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Redeweise wars im Munde des Raba: Endziel der Weisheit ist Umkehr und gute Werke; daß nicht ein Mensch lese und lerne, dann aber mit Füßen trete seinen Vater oder seine Mutter.
Talmud
Fünf Jahre sind seit der Rückkehr Da Costas von Hamburg vergangen. Sein Leben ist, den äußeren Formen und den Beziehungen nach, dem seiner Gemeinschaft eingeordnet. Zwischen ihm und seinem Volke besteht Friede. Aber dieser Friede ist labil. Er ist nicht endgültig, so wenig wie Da Costas Einordnung als endgültig erscheinen kann. Die Gefahr, die diesem Frieden droht, geht nicht von der Gemeinschaft aus, sondern von Da Costa. Die Gemeinschaft bemüht sich durchaus, ihn zu erhalten und ihm Dauer zu geben. Sie ignoriert den Bann, mit dem sie sich, wenn es um eine starre Konsequenz gegangen wäre, hätte identifizieren müssen. Sie geht noch weiter und versucht, auf Da Costa einzuwirken im Sinne des Ausgleichs, der Einfügung. Besonders der Arzt Samuel da Silva, ebenfalls Marrane und portugiesischer Flüchtling, hat es sich schon bald nach Da Costas Heimkehr zur Aufgabe gesetzt, erziehend und belehrend sich um ihn zu bemühen. Da Costa sollte gewissermaßen sein geistiges Patenkind werden. Er hat dabei sogar einen ausgezeichneten pädagogischen Gedanken gehabt, denn als er das Sinnen seines Schützlings über die Auslegung der Schriften sah, riet er ihm, die hebräische Sprache zu erlernen. Dem lag wohl nicht nur die Absicht zugrunde, ihn vor Sinn- und Übersetzungsmängeln der Septuaginta und der Vulgata zu bewahren, sondern mehr noch: ihm durch das Eindringen in die Sprache ihren metaphysischen Gehalt zu vermitteln, ihm jenes Fluidum zugänglich zu machen, das im Geiste dieser Sprache beschlossen liegt, so sehr, daß es sich eine besondere Denkform des Menschen erzwingt. Da Costa hat diesen Rat abgelehnt. Er schrieb und dachte nach wie 224 vor in seiner portugiesischen Muttersprache. Er hatte auch jeden anderen Versuch der Einwirkung und Beeinflussung abgelehnt. So wie er selbständig, ganz aus eigenen Entschließungen sich den Weg zurück in das Judentum gebahnt hatte, wollte er selbständig und ohne fremden Einfluß seinen Weg weiter gehen.
Was für ein Weg das sein würde, war seiner Umgebung durch die Bekanntgabe der Hamburger Thesen wohl vertraut. Aber wie dieser Weg sich fortsetzen würde, war unbekannt und Gegenstand argwöhnischen Zweifels. Seit sieben Jahren hatte Da Costa sich nicht mehr geäußert. Aber man wußte, daß er sich äußern würde. Man wußte sogar, daß er mit der Abfassung einer größeren Arbeit beschäftigt sei. Er selbst sprach darüber. Vergebens stellte man ihm vor, was für Folgen es haben würde, wenn er seinen Widerstand von neuem bekunde, und daß es schon Nachsicht bedeute, wenn man bisher den Bann nicht beachtet und ihn in der Gemeinschaft belassen habe. Es liegt kein Grund vor, an der Wahrheit dessen zu zweifeln, was Da Silva sagt: »Es fehlte nicht an Freunden und eifrig auf sein Wohl Bedachten, die ein über das andere Mal ihn baten und warnten, er möchte doch zurückkehren zu dem Wege der Pflicht, den viele Schriften weiser Männer ihm wiesen. Man gab sich alle Mühe, um nicht zur Strenge greifen zu müssen; aber es half nichts, und auch so noch ging man mit all der Sanftmut vor, die der böse Fall verstattete, indem man zuließ, daß er im Lande blieb, um zu sehen, ob er zur Reue und Wiedergutmachung seiner Irrtümer zurückkehrte.« Aber Da Costa verstand nicht, um was es denen ging, die auf ihn einredeten. Ein Gemeinschaftsproblem kannte er nicht. Historisches Begreifen war ihm fremd. Es gab für ihn 225 nur ein religiöses Problem. Seine Begriffe waren, trotz ihrer Beimischung von Vernunft, nichts als religiös.
Das erschwerte die Verständigung mit den anderen. Aber selbst einem Verständnis für Haltung und Bemühen der anderen war er nicht zugänglich, weil seine persönliche Art, darauf zu reagieren, weil die Eigenschaften seines Charakters ihm keine Möglichkeit gaben, die Beziehungen so zu sehen, wie sie wirklich waren. Es war seine Art, einen Gedanken, wenn er ihn einmal erfaßt hatte, nicht als das ideale Postulat für eine Gestaltung der Welt von morgen und der Zukunft zu nehmen, sondern als Konterfei einer bestehenden Welt; das heißt: er glaubte, daß seine Gedanken eine lebendige Gegenwart spiegelten. Er hatte nicht den in die Zukunft weisenden Gestaltungswillen, die Demut und die Gläubigkeit des geistig Schaffenden, sondern die unruhige, streitbare und reizbare Selbstsicherheit eines Introvertierten. Während er eine Welt angriff, konzipierte er eine andere Welt nach seinen eigenen Bedürfnissen und machte sie so schnell zur Gegenwart, daß er in der gleichen Sekunde sich schon in den Glauben verstricken konnte, diese Welt sei die wahre und wirkliche, nur daß sie von Feinden ringsum am Leben und Auswirken gehindert sei. Wer darum zu ihm kam und ihn zum Frieden mit der Gemeinschaft führen wollte, bewies ihm nur, daß er zu Recht eine wahre Welt gegen eine falsche verteidige.
So erklärt es sich, daß sein Werk, ursprünglich zur Rechtfertigung seiner Meinungen und seines Verhaltens geplant, darüber hinaus etwas ganz anderes wird, nämlich ein bewußter und systematischer Angriff auf die bestehende jüdische Welt. Mit dürren 226 Worten sagt er es selbst in seiner Schrift, daß er die Vielheit der Fälle, durch die er die echte von der falschen Überlieferung trennen will, nur beibringe, »por escuzar fazer mayor processo contra os inimigos culpados, um es zu rechtfertigen, wenn ich den angeklagten Feinden einen größeren Prozeß mache«. Das stellt jedenfalls ein Faktum klar, das aus mangelhafter Kenntnis des Stoffes oder aus der Willigkeit, in Da Costa nichts als den unschuldig verfolgten freien Denker zu sehen, bislang unbeachtet blieb: die Beziehung Da Costas zu seiner Gemeinschaft ist aus der Gegensätzlichkeit herausgetreten und ist ein Kampf geworden, und in diesem Kampfe ist Da Costa der angreifende Teil.
Er sagt nicht nur den Kampf an, sondern er gibt auch die besondere Parole aus, unter dem er sich abspielt, den Kampfruf: hie Sadduzäer, hie Pharisäer. Durch seine Begriffsbildung und seine Formulierungen teilt er das Judentum in diese beiden Parteiungen auf. Er schafft einen Gegensatz, der so, wie er ihn darstellt, in Wirklichkeit gar nicht bestand, den aber seine Gegner insoweit akzeptieren, daß sie sich zum Schimpfnamen der Pharisäer als zu einer legitimen und ehrenvollen Bezeichnung ostentativ bekennen. Die Begriffe Pharisäer und Sadduzäer werden damit und für eine lange Folgezeit zu Decknamen des wirklichen und aktuellen Problems: der Tradition einerseits und des Versuches rationalistischer Auflösung der Glaubenswelt andererseits. So betitelt Manasse ben Israel dreizehn Jahre später ein Werk: »Drei Bücher über die Auferstehung der Toten, in denen die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung des Leibes gegen die Sadduzäer bewiesen wird.« Sadduzäer und Atheisten werden in dieser Schrift in einem Atem 227 genannt. Diese Parteinamen gehen von da aus auch in die Begriffsbildung der nichtjüdischen Welt über. Wir finden sie wieder in der Histoire des Juifs von Basnage: »Les Rabbins modernes sont Pharisiens: ils ont étudié les Sentiments de leur Maîtres; ils les suivent encore . . .«; ferner bei Jean Brun in La véritable Religion des Hollandais: ». . . la superstition Pharisaïque, à laquelle ils sont encore attachés.« Der enragierte Judenfeind Pastor Johann Müller zu Hamburg vermerkt im »Judaismus oder Jüdenthumb« von 1640: »Pharisäer sind noch unter den Juden / vn findet man etliche Sect zugethan in diesem Lande . . . Die Sadduceer haben sich auch meisten Theils verlohren / . . . Gewiß ist es, daß unter den Hispanischen Juden noch Sadduceer seyn.« Daß endlich auch Spinoza den Begriff Pharisäer für das gesamte traditionelle Judentum aufnahm, ist aus seinem Theologisch-politischen Traktat und aus brieflichen Äußerungen bekannt.
Daß nach den vergeblichen Bemühungen, Da Costa zu Frieden und Einordnung zu bewegen, und in Anbetracht des Umstandes, daß man ihn mit der Abfassung einer prinzipiellen Schrift beschäftigt wußte, der Kampf entbrennen mußte, konnte niemandem zweifelhaft sein. Bei dieser Situation war die Gemeinschaft im Nachteil, denn sie wußte nicht, mit welchen Mitteln und aus welcher Richtung her Da Costa angreifen würde. So viel aber galt seine Gegnerschaft immerhin, daß man unter allen Umständen frühzeitig zu wissen verlangte, welche Position man zur Verteidigung zu beziehen habe. Darum bediente man sich einer Kriegslist. Man versuchte in den Besitz des Manuskriptes zu kommen, ehe es in die Druckerei und damit an die breite Öffentlichkeit 228 gelangte. Dieser Versuch hatte Erfolg, wenn auch nur zu einem Teil. Ein Heft, das den zweiten Teil des Buches darstellte, die schon erwähnten drei Kapitel über Lohn und Strafe, Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele, geriet in die Hände des Samuel da Silva. Es steht nicht fest, wie das gelingen konnte. Eine heimliche Entwendung erscheint ausgeschlossen, denn ein Mensch von dem präzisen Ehrgefühl Da Costas hätte es sich nicht versagt, eine solche Handlung gebührend anzuprangern. Wahrscheinlich ist, daß einer, der sein Anhänger zu sein vorgab, das Heft von ihm erbeten hat, oder noch wahrscheinlicher, daß Da Costa, im Hochgefühl seiner gewonnenen Erkenntnis, es jemandem aushändigte, damit er es lese und sich zu seiner Ansicht bekenne. Jedenfalls war es eine Indiskretion, die diesen Teil des Manuskriptes dem aufmerksamen und argwöhnischen Freund Da Silva in die Hände spielte. Er bekennt offen: »Da wir Kunde davon hatten, daß der Widersacher, der uns zu schreiben nötigt, im Werke hatte, ein Buch drucken zu lassen, und da wir sehr wünschten, es zu sehen, erlangten wir ein einziges Heft, das, wie wir gewissenhaft bezeugen, von seiner eigenen Hand geschrieben ist.«
Ein Teil des Kampffeldes war somit übersehbar geworden. Es verschlug nichts, daß die vorangehenden zweiundzwanzig Kapitel, die den ersten Teil des Buches darstellten, nicht bekannt wurden (und im übrigen dem genauen Inhalt nach nie bekannt geworden sind). Zwar bemühte Da Silva sich sehr darum, insbesondere um das siebente Kapitel, in welchem Da Costa seine siebente These aus den Propostas zur »ersten und Hauptgrundlage« seiner Prüfung der mündlichen Lehre gemacht hatte. »Auch dies werden 229 wir widerlegen«, meint Da Silva, »wenn Gott uns das Leben läßt und wenn wir des Buches habhaft werden können, worauf wir all unseren Fleiß und unsere Sorge richten werden.« Wie gesagt: es gelang nicht. Dennoch reichte schon das Heft mit den drei Kapiteln aus, um zu zeigen, um was es ging. Es ging um ein Vielfaches. Es ging nicht nur um das Bekenntnis zur Sterblichkeit der Seele, also um eine Leugnung dessen, was aus der Entwicklung von Jahrhunderten Glaubensbestandteil der jüdischen Religion geworden war. Es handelt sich zugleich um einen Angriff gegen den Kanon der jüdischen Schriften, gegen die als unverbrüchlich geltende Heiligkeit dessen, was von Urzeiten her als verbürgtes Schrifttum galt. Es handelt sich weiter um Angriffe gegen die kabbalistische Gedankenwelt und endlich, sowohl als Folge alles dessen wie auch aus besonderem Hinweis: um die Leugnung des Sinnes der messianischen Idee.
Der polemische Charakter im Vortrag dieser Argumente ist formal und gedanklich überall gleich stark betont. Es fehlt nicht an kräftigen Hieben. Da Costa nennt seine Gegner »Lügendichter«, sagt, daß »jene weder Vernunft noch Gesetz für sich haben«, spricht von ihrem Denken als »künstlicher Wahrsagerei« und »abgeschmackte Unterscheidungen und Irrwege, zu Unrecht eingeschlagen, um der Wahrheit zu entgehen«. Überhaupt ist der Vorwurf der Lüge und des Betruges die Hauptmotivierung für seine Unterscheidung zwischen Pharisäern und Sadduzäern und demgemäß für seine Ablehnung der geltenden Tradition. Er sagt: »Man muß nun wissen, daß unter den Büchern, die uns die Pharisäer als echt verkaufen oder darbieten, viele sind, die die Sadduzäer verwerfen, indem sie erklären, welchen die Wahrheit zukomme. 230 Ich kann es nicht bei allen an den Fingern hersagen, welche es sind, weil ich mit diesen Sadduzäern nicht in Verbindung gestanden habe; gleichwohl kann man aber auch ohne diese Verbindung durch die Materie selbst wohl verstehen, welche Bücher oder welche Teile der Bücher verworfen oder angenommen werden müssen. Dabei bestärkte ich mich in der Überzeugung, daß diese Menschen so verdächtig – oder besser gesagt: in allen Dingen so wenig wahrheitsliebend sind, daß die Schrift, die zu ihrer Bestätigung kein sonstiges Zeugnis hat als das ihre, äußerst verdächtig und zweifelhaft ist, und daß sie, falls sie gegen sich ein Zeugnis von anderen Juden hat, die ihre Echtheit leugnen, keinen Glauben verdienen wird. Darum müssen alle, die die Wahrheit lieben und sie vertreten wollen, mit aller Macht darnach streben, daß sie sich mit dem vertraut machen, was die Sadduzäer über die Echtheit der Bücher sagen, die die Pharisäer unter die Zahl der heiligen und göttlichen aufnehmen wollten, damit sie nicht so leben und durch die ihnen innewohnende Fälschung irre geführt werden, vielmehr zur wahren Erkenntnis gelangen können, welche der den lügnerischen und nichtigen Schriften gezollte Glaube zu hindern und aufzuhalten pflegt.«
In zwei Fällen präzisiert Da Costa seinen Vorwurf. Zunächst für das Buch Schemuël. Dabei nimmt er zum Anlaß die dramatische Erzählung, wie Schaul, am Vorabend der großen Schlacht gegen die Philister, von der Ahnung kommenden Unheils bedrückt, durch die Seherin von En-Dor den Schatten seines Meisters und Feindes, des Propheten und Richters Schemuël beschwören läßt. Das unheimlich Dichterische an dieser Erzählung erkennt er nicht; sieht nicht, um was allein es hier geht: um die Aufdeckung der tiefen 231 Tragik, daß ein König, der aus Liebe zur Reinheit der Gottesidee alle Wahrsagerei und alles Beschwörungswesen in seinem Lande ausgerottet hat, dennoch in dem Augenblick, wo er sich vom göttlichen Anruf aus eigener Schuld verlassen fühlt, zu jenen Mitteln der Magie greifen muß, um sich Gewißheit über sein Schicksal zu verschaffen. Er sieht nicht, daß hiermit die Totenbeschwörung implizite verworfen und nur als das Refugium dem belassen wird, der mit der lebendigen Wirklichkeit einer Gottesbeziehung zerfallen ist. Er hätte also dieses Buch, statt es als Fälschung zu erklären, getrost als Beleg für sich verwenden dürfen. Während er sonst immer darauf dringt, daß man sich dem Sinne und nicht dem Wortlaut einer Darstellung anzuvertrauen habe, wird er hier blind, weil seine Gegner, wie er glaubt, von hier aus das Argument beziehen: Schemuël kam, um mit Schaul zu reden, folglich leben und reden die Toten. Ein gegnerisches Argument aber auch nur erspüren, bedeutet für ihn, die Vernunft hinter die Leidenschaft zurücktreten zu lassen. Darum erklärt er: »Was über diese Erscheinung oder Reden in dem ersten Buche, das sich nach Schemuël betitelt, geschrieben steht, ist vollkommen entgegengesetzt der Lehre, die sich aus dem Gesetz ergibt . . . Da diese Schrift so der wahren Lehre des Gesetzes entgegengesetzt ist, muß sie notwendigerweise falsch und, ebenso wie andere, die von den Pharisäern geschrieben und angenommen, von den Sadduzäern aber verworfen sind, ausgelegt sein.«
Zum anderen Male präzisiert Da Costa den Vorwurf der Fälschung für das Buch Daniel. Es ist verständlich, daß gerade diese Schrift, in der ein bedeutsames Stück jüdischer Historie seinen geistigen 232 Niederschlag gefunden hat, für ihn besonders anstößig sein muß. Dieses Buch, dessen Abschluß fast mit Sicherheit auf das Jahr 164 vor der heutigen Zeitrechnung datiert werden kann, war in seiner Entstehung durchaus aktuell. Es bediente sich der bereit liegenden geistigen Elemente der Zeit, der apokalyptischen wie der eschatologischen, der nationalen wie der universalen Anschauungen, der Angelologie wie der Lehre von der Wiederauferstehung der Toten, um die Makkabäer in ihren schweren Kämpfen durch Berichte, welche Treue einst ein Jude seinem Glauben bewiesen habe, und durch den Hinweis auf das Gottesreich, das bald zu erwarten sei, zu stützen und zu ermutigen. Es ist also, was seine geistige Verfassung angeht, ein durchaus objektives Dokument. Aber da Uriel da Costa sich nicht zu seiner Tendenz bekennen kann, muß das Buch für seine Auffassung notwendig gefälscht sein. Er erklärt: »Wir sagen, daß dieses Buch Daniel nicht von den Juden angenommen worden ist, die man Sadduzäer nennt – nur das wäre ausreichend, ihm Ansehen und Glauben zu verleihen – weil es sich nur auf das Zeugnis der Pharisäer stützt, das sehr wenig mit dem übereinstimmt, was wir schon sagten. Denn diese Menschen sind von der Art, daß sie es aus Beruf oder aus Narrheit unternehmen, Worte zu vertauschen, abzuändern, zu verdrehen, zur Bestätigung und Bekräftigung ihrer verworrenen Träume die Schriften verkehrt auszulegen, um durch diese falschen Mittel sich Unterstützung zu verschaffen . . . Erscheint doch die ganze pharisäische Lehre im Gegensatz zur Lehre des geschriebenen Gesetzes in jenem Buche unter dem Namen der Prophetie zur Täuschung des Volkes und zur Bestätigung der falschen Predigt.« 233
Dabei ist zu bemerken, daß das Buch Daniel nach dem jüdischen Kanon zu den »Schriften«, nicht aber zu den Propheten gehört. Eine Einreihung unter die Propheten kennt dagegen die Septuaginta und, gemäß dem Beschluß des Tridentiner Konzils, auch die Vulgata.
Einmal mit dem Angriff gegen den Kanon beschäftigt, geht er über den Rahmen noch hinaus und greift die »Echtheit« von Büchern an, die zwar im Judentum entstanden sind, für die aber eine Kanonisierung nie stattgefunden hat, die also jenseits davon nur als »Literatur« zu betrachten sind. »Es möge niemandem schwer scheinen, daß es falsche Schriften und falsche Schriftsteller geben sollte, denn man braucht nur die Augen aufzumachen, um zu sehen, daß es bei den Menschen nichts Gewöhnlicheres gibt. Wer hat das Buch Judith verfertigt und ersonnen, wer das dritte und vierte Buch Esra, wer das Buch der Weisheit und viele andere?«
Im weiteren Verfolg greift dann Da Costa auch den Gedanken der Eschatologie an, diesen Gedanken, der selbst dort, von wo Da Costa seinen Beweis holt, dem Sinne und der Tendenz nach eingeschlossen ist. Aber wieder trübt ihm die Vorstellung, daß der Glaube an die Auferstehung der Toten mit diesem Gedanken der Eschatologie eine Verbindung eingegangen sei, den Blick, und er sagt: » . . . denn die Pharisäer lehren, daß zur Zeit, da der Messias kommen wird, die Toten sich erheben werden, jeder um seines Erbes im Lande Israel teilhaftig zu werden, eine Torheit und ausgemachte Narrheit, zu deren Erweis sie die falsche Schrift benutzen.«
Daß Da Costa sich bei seinen Vorstellungen vom Wesen der Seele nicht mit der kabbalistischen Idee der 234 Seelenwanderung befreunden kann, ist verständlich. Daß andere daran glauben, verpflichtet ihn zu nicht mehr als zum Spott über »die einfältige Seele, die sich nicht gut im Himmel anzuhalten verstand und die sich in diese Welt werfen ließ«. Darum sind ihm Gebete und Fürbitten für die Toten lächerlich und das ganze Zeremoniell der Totenbestattung Mißbrauch, Aberglaube und Kinderei. Er stößt in der einmal eingeschlagenen Richtung weiter vor, über den Rahmen dessen hinaus, was die Pharisäer auch bei der feindseligsten Einstellung noch treffen kann, über den Rahmen des Judentums hinaus mit einer überlegen spöttischen Hinwendung zu seiner Welt von einst. »Es gibt keinen Irrtum«, ruft er aus, »der irgend etwas Gutes gebären könnte . . . Daher kam es, daß viele, die gegenwärtigen Güter oder Übel nicht achtend, durch die Aussicht auf größere Übel neue Ordnungen und Lebensregeln einsetzten, indem sie ihren Körper verurteilten und ihn den nicht geforderten und von den Guten nicht befolgten Strengen und Härten des Gesetzes unterwarfen, wie: auf den Bergen zu wohnen, schlecht zu essen und noch schlechter sich zu kleiden, und als den Höhepunkt einer solchen Narrheit: daß sie den Stand der Ehelosigkeit als etwas Heiligeres und Religiöseres erachteten als die rechtmäßige, von Gott und der Natur wegen eingesetzte Ehe.«
Alle diese Angriffe erfolgen, wie nicht einen Augenblick außer acht gelassen werden darf, als Konsequenz einer positiven religiösen Idee, als Ergebnis des gewonnenen Glaubens von der Sterblichkeit der Seele, und ausdrücklich als ein Eintreten »für die göttliche Ordnung und Einrichtung«. Sie sind zugleich, als Aktion gesehen, eine direkte Fortsetzung dessen, was in Hamburg geschah. Aber während 235 dort noch erste Erkenntnisse auf eine Lösung hofften »zur Anerkennung des göttlichen Namens und zur Ehre seiner heiligen Thora«, und während er dort noch versichert, daß sein Vorgehen »nicht als Streitsucht und Hartnäckigkeit aufgefaßt werden« dürfte, tritt er hier, mit neuen Erkenntnissen, die im Wesen des Judentums selbst beschlossen liegen, der Wirklichkeit des Judentums als Angreifer und Ankläger gegenüber. Es geschieht, wo er seine Erkenntnisse formuliert, in würdiger und zuweilen fast dichterisch gehobener Form. Es geschieht, wo er seine Angriffe präzisiert, in einer Form, die eines Menschen nicht würdig ist, der selbst einmal tief durch die Erlebnisse der Gläubigkeit geschritten ist. Denn wo Gläubigkeit einmal das Innere eines Menschen aufgerissen hat, zeugt sie notwendig ein anderes: die Achtung vor anderer Gläubigkeit. Und wo sie sich dem Verständnis für die Gläubigkeit Anderer versagt, ist ihr jeder Weg der Auseinandersetzung gestattet bis auf einen einzigen: bis auf den, den anderen grundsätzlich der Lüge und des Betruges zu beschuldigen. Sichere und geschlossene Erkenntnisse haben die Kraft der Unstörbarkeit gegenüber dem Anderen und Widerstrebenden. Sie bedürfen nicht der Polemik. Sie bedürfen vor allem nicht der Unterstellung unsauberer und unehrenhafter Motive beim Anderen und Widerstrebenden. Nur innere Unsicherheit verquickt Erkenntnis mit Anschuldigung. Wo eine Welt erst begriffen, aber noch nicht ausgefüllt wird, bedarf sie noch der Verteidigung und – in der Übersteigerung der Unruhe – des Angriffs. Es wird am späteren Ablauf des Geschehens sichtbar werden, daß hier in der Tat eine Welt nur begriffen, aber nicht erfüllt wurde, daß es sich nur um das Durchgangsstadium einer 236 Entwicklung handelte, die ganz andere Bahnen ging, als sie zu gehen vermeinte und zu gehen vorgab.
Wenn somit Da Costa selbst, wo es auf die Einwirkung nach außen geht, das Problem von der Ebene der Erkenntnis auf die Ebene der Polemik verschiebt, kann es nicht wundernehmen, daß es gerade auf dieser Ebene vom Judentum aufgenommen wurde und daß dabei die lautere Gesinnung, von der seine Erkenntnisse getragen waren, völlig übersehen oder mißdeutet wurde. In der Art, wie Da Costa das Problem an die Gemeinschaft herantrug, handelte es sich eben nicht mehr um das Recht auf freie Erkenntnis, sondern um das Bestreiten der Erkenntnisse der Anderen. Er hat nicht, wie Spinoza, mit seinem erkämpften Gut die Ferne aufgesucht, von der aus eines Tages alle wirklich tragbare Wahrheit ihren Einfluß in die Welt entläßt, sondern er berannte damit das Nahe, Wirkliche und Gegenwärtige . . . und zerschlug sich samt seiner Wahrheit daran. Die Gemeinschaft, zum Kampfe aufgerufen, mußte antworten; und sie antwortete mit ihren Mitteln, ihren Möglichkeiten und ihren Gegebenheiten, und von dort aus, wohin Da Costa selbst das Problem getragen hatte: vom Recht der Gemeinschaft aus, sich gegen den Einzelnen zu behaupten und, wenn er ihre Autorität nicht anerkennen will, ihn außerhalb der Gemeinschaft zu stellen. Das geschieht jetzt, sobald man Einblick in das Manuskript genommen hat, und zwar in doppelter Weise: durch die Verhängung des Bannes und durch die literarische Replik des Samuel da Silva.
Von dem, was vor Jahren in Hamburg geschehen war, und von dem Bann der Gemeinden Venedig und Hamburg brauchte man nicht Kenntnis zu nehmen, 237 wenn man nicht wollte. Und man wollte nicht. Jetzt aber, wo Da Costa in ihrem eigenen Bereich und Bezirk die Grundlagen ihrer geistigen und glaubensmäßigen Existenz angriff – jetzt, wo er im Kreise der gerade Heimgekehrten, wenn auch ohne bewußtes Wollen, Tore öffnete, die wieder abseits und zur Nichteinordnung führten, zur Isolierung, zur Zersprengung und Vereinzelung, zur Orientierung nach Gesichtspunkten, mit denen diese Zeit und Gegenwart nicht gewachsen waren – jetzt konnte die Gemeinschaft, ohne sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen, die Tatsache nicht mehr übersehen, daß auf dem Widerstrebenden in ihrer Mitte schon der Bann ruhte. Jetzt konnte auch das, was den Widerstand Venedigs hervorgerufen hatte, die Leugnung der Tradition, offiziell gegen ihn als Vorwurf erhoben werden. Die Karenzzeit des abwartenden Vertrauens, die man Da Costa in Amsterdam gewährt hatte, wird nachträglich noch durch einen Federstrich beseitigt und ausgelöscht. Da, wo für Menschen Gläubigkeit eine Wirklichkeit des gelebten Tages und wo Meinung nicht Hochmut der Herrschaft, sondern Brot des Daseins bedeutet, konnte nicht anders reagiert werden.
Der Mensch, der jetzt in den Bann getan und aus der Gemeinschaft entfernt wird, bekommt schon in der Formulierung des Bannes die Bezeichnung eines Fremden, von außerhalb Kommenden, der nie zu ihnen gehört hat. Uriel Abadat wird er genannt, mit einem Beinamen, dessen Entstehungsgeschichte nicht mehr aufzuklären ist. In der Synagoge Newe Schalom, Stätte des Friedens, wird verkündet, was den Führern dieser Gemeinde zur Erhaltung des Friedens nötig erschien: »Die Herren Deputierten der Nation 238 tun Euch zu wissen, daß ihnen kund geworden, daß nach dieser Stadt ein Mann gekommen ist, der sich den Namen Uriel Abadat beilegte, und der viele irrige, falsche und ketzerische Meinungen gegen unser heiligstes Gesetz mitbrachte, um deren willen er schon in Hamburg und Venedig als Ketzer erklärt und exkommuniziert worden war. Von dem Wunsche beseelt, ihn zur Wahrheit zurückzuführen, unternahmen sie wiederholt alle notwendigen Schritte mit aller Milde und Sanftmut durch Vermittlung der Chachamim und Ältesten unserer Nation, wobei die genannten Herren Deputierten sich gegenwärtig fanden. Da sie aber sahen, daß er nur aus Hartnäckigkeit und Anmaßung auf seiner Schlechtigkeit und bei seinen falschen Meinungen beharrt, beschlossen sie zusamt den Vorständen der Gemeinden und den genannten Chachamim, ihn auszustoßen als einen Mann, der schon in Bann getan und vom Gesetz Gottes verflucht ist, und daß niemand mit ihm spreche, wer er immer sei, weder Mann noch Frau, weder Verwandter noch Fremder, niemand das Haus betrete, in dem er sich befindet, niemand ihm eine Gunst erweise noch mit ihm verkehre, bei Strafe, in denselben Bann einbezogen und aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Und seinen Brüdern wurde eine Respektsfrist von acht Tagen zugestanden, um sich von ihm zu trennen. – Amsterdam, am 15. Mai 1623.
Samuel Abervanel, Abraham Curiel, Rafael Jesurun, |
Binhamin Israel, Joseph Abeniacar, Jacob Franco.« |
Die Auswirkung dieses Bannes war eine spontane, und offenbar übersteigerte sich der Wille zur Abwehr bis zur persönlichen Verunglimpfung Da Costas, bis zu kleinlichen und häßlichen Reaktionen, bis zu 239 einer Form der Polemik, die der gleichen Unsicherheit entsprang wie Da Costas eigene Polemik. Er klagt: »Ihre Kinder, von den Rabbinern und ihren Eltern angelernt, rotteten sich auf der Straße zusammen, schrien mir Verwünschungen nach und reizten mich mit Schimpfreden aller Art, wobei sie mich einen Ketzer und einen Abtrünnigen nannten. Bisweilen scharten sie sich auch vor meiner Türe zusammen und ließen nichts unversucht, mich zu stören, damit ich sogar in meinem eigenen Hause keine Ruhe finden möchte.«
Wenn dieser Bann die offizielle Antwort der Gemeinden darstellte und in ihm ihr Wille zur Selbstbehauptung seinen Ausdruck fand, ist Da Silvas Vorgehen als die inoffizielle Antwort zu betrachten, in der das Bemühen, den Widerstrebenden der Gemeinschaft wieder einzufügen, sich ausdrückt. Das ist auch die Formulierung, deren Da Silva sich bedient. »Und du, freundlicher und vom guten Eifer beseelter Leser . . . schenke mir Glauben in dem, was ich jetzt sage: daß mich zur Inangriffnahme dieser Arbeit unter den vornehmsten Gründen vor allem der Wunsch bewogen hat und bewegt, dieses verirrte und verlorene Schaf zur Gemeinschaft zurückzuführen, und ich bitte dich deinerseits, zu seiner Wiedereinordnung dich zu bemühen und zu helfen mit allen deinen Kräften, so wie Gott sie dir geben und erhalten möge durch viele Jahre, um sie in seinem Dienste zu verwenden.« Und im weiteren Verlauf erklärt er noch einmal, daß er sich gegen Da Costa wende »gezwungen vom eigenen Gewissen und dem Verlangen, zurückzuführen und zu bessern dieses Glied, das einst das Unsrige war und jetzt zu unserem großen Schmerz verdorben und abgetrennt ist.« 240
Da Silva, sei es im Auftrage, sei es aus freier Entschließung, nimmt jenseits der Disziplinargewalt und mit geistigen Mitteln für die Gemeinschaft den Kampf auf. Offenbar genoß er in der Gemeinde das für eine solche Kampfaufnahme nötige Ansehen. Auch die literarische Autorisation war ihm als Übersetzer eines Traktates von Maimonides über die Buße (Tratado de la Tesuvah o Contricion) wohl zuzusprechen. Mit seiner jetzigen Veröffentlichung schlägt Da Silva zu, noch ehe Da Costa zuschlagen kann. Er verfaßt den »Tratado da Immortalidade da alma«, die Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, und bringt darin den Text des Heftes, das in seine Hände gekommen war, kapitelweise zum Abdruck. Der Zweck der Veröffentlichung ist ein mehrfacher. Es soll das Geheimnis Da Costas durchbrochen und vor der jüdischen Welt klargestellt werden, daß er Grundwahrheiten des Judentums leugnet. Denn die Diskretion, mit der er diese fünf Jahre hindurch sich und sein Tun umgab, wurde ihm bitter verdacht. Da Silva sieht darin eine Täuschung des Vertrauens, »wenn ich die Verstellung und den Betrug ins Auge fasse, mit denen er eine Zeitlang unsere Versammlungen besuchte, unter dem Vorgeben, er stehe zu ihren heiligen Ordnungen und Satzungen«. Darum wird seine wahre Einstellung, ehe er selbst sie äußern kann, publiziert. Nur insoweit ist der Ausdruck »Denunziation« berechtigt, der auf diesen Vorgang gerne angewandt wird, wenngleich, wie die Dinge liegen, der verächtliche Nebensinn darin nicht aufzufinden ist.
Sodann wurde die mögliche Wirkung, die eine Veröffentlichung seiner Schrift hätte haben können, von vornherein dadurch paralysiert, daß Da Silva 241 Abschnitt für Abschnitt mit der für einen Juden seiner Zeit üblichen Argumentation widerlegt. Damit soll aber auch der Kreis derer, die sich um die Einordnung bemühen, gegen den Angreifer und Störer deutlich abgegrenzt werden. »Es ist ein in den politischen Gemeinwesen geübter Brauch«, leitet Da Silva seine Schrift ein, »die Pestkranken auszustoßen, oder wenigstens ihnen die Tore zu versperren und ihnen den Verkehr zu verbieten, und – um die Gesunden zu schützen – Verteidigungsmaßnahmen gegen die Pest anzuordnen. Sonst wird die Luft verdorben, das Übel greift um sich, ohne daß man es wahrnimmt, und wenn man es sich am wenigsten vorstellt, rafft es die Städte und zuweilen ganze Provinzen hinweg.« Daß es hierbei mehr um die Sache als um den Menschen geht, mehr um die Immunisierung gegen ordnungsstörende Ideen als um den Schutz der anderen vor dem persönlichen Einfluß Da Costas, wird daraus deutlich, daß Da Costa als Verfasser der Kapitel über die Sterblichkeit der Seele nicht ausdrücklich genannt wird. Der Buchtitel spricht nur von einem »gewissen zeitgenössischen Widersacher«, und im Vorwort geht es nur um die »Angelegenheiten dieses Mannes, den ich nicht nenne um der Ehre des Blutes willen, aus dem er stammt«. Nur einmal, im Pathos des Zornes und der Anklage, wird Da Costa persönlich apostrophiert und sein Vorname Uriel preisgegeben. Aber der grundsätzliche Wille, ihn persönlich da, wo es um die Idee geht, zu negieren, nicht zu kennen, als nicht existent zu betrachten, wirkt in die Jahrzehnte hinein fort, und überall da, wo Ideen Da Costas zum Gegenstand einer Veröffentlichung gemacht werden, sei es in den Schriften des Manasse ben Israel, sei es bei Saul Morteira oder bei Rephael d'Aguilar, werden 242 seine Gedanken zwar zuweilen bis zur Wörtlichkeit wiedergegeben, aber sein Name wird nicht genannt; er als Einzelner wird überdeckt durch einen Sammelbegriff, den er selber in die Gegensätzlichkeit hineingetragen hat: durch den Parteibegriff Sadduzäer.
Da Silvas Schrift ist im übrigen so wenig ein Meisterwerk wie Da Costas Schrift. Ein Vergleich der inneren Werte der beiden ist nicht möglich. Erkenntnis steht gegen Erkenntnis, hier vom Isolierten, dort vom Eingefügten aus. Im scheinbar gleichen Raume wird Verschiedenes geglaubt und damit die Gemeinsamkeit des Raumes aufgehoben, damit auch zugleich die gemeinsame Ebene, die immer vorhanden sein muß, wenn Menschen über irgend etwas sich verständigen wollen. Wenn es an Da Silvas Schrift etwas zu bewundern gibt, so ist es das Übermaß des Vertrauens, mit dem er Ausgleich und Verständigung erhofft: das felsenfeste Sichstützen auf die ausgleichende und uniformierende Kraft dessen, was Gedanke und Glaubensgut einer Gemeinschaft ist. Für einen Menschen wie Da Silva ist es nicht begreifbar und nicht tragbar, daß einer außerhalb der Kette stehen kann. Das scheint ihm ein furchtbares Schicksal. »Frage deinen Vater«, ruft er ihm zu, »und er wird dir erklären, frage deine Ahnen, und sie werden dir sagen: du mögest nicht wünschen, der Vater und der Ahne zu sein.« In diesen Ruf drängt sich die ganze Furcht des Marranen vor der Heimatlosigkeit und der Verwaistheit.
Aber nichts war verfehlter als solcher Anruf und als die Hoffnung, Da Costa auf die Vergangenheiten verweisen zu können. Die Tradition in ihm war gebrochen. Er hätte aus den Vergangenheiten nur objektive Erfahrungen schöpfen können, nur Sachliches, 243 nur Belehrungen. Aber Erlebnis kann nicht durch Belehrung korrigiert werden. Es kann vielleicht durch eine Kritik zum Aufmerken und Aufhorchen gebracht werden. Und Kritik übt Da Silva in reichem Maße; aber auch sie muß ihre Wirkung versagen, selbst da, wo sie zutreffend ist und instinktiv das Richtige trifft. Instinktiv, nicht bewußt; denn bewußt konnte nichts an Rede und Gegenrede sich treffen, weil der Kampfplatz, auf dem gefochten wurde, nur die Äußerungen, die Meinungen, die Glaubensbekenntnisse umschloß; nicht aber die Motive und nicht die Gesinnungen. Es werden viele Vorwürfe gegen Da Costa erhoben, und man weiß, wie schwer sie ihn getroffen haben. Vor allem traf ihn der Vorwurf Da Silvas: »Er möge wissen, daß, wer die Unsterblichkeit der Seele leugnet, nahe daran ist, Gott selbst zu leugnen.« Diesen Vorwurf hat Da Costa bis an sein Lebensende nicht verwunden. Er glaubte an Gott; er glaubte so sehr an ihn, daß er zu seiner Ehre die Unsterblichkeit der Seele glaubte verneinen zu müssen. Darum mußte ihn die Konsequenz, die ihm hier aus anderen Gedankengängen her angedeutet wurde, nur erbittern, statt nachdenklich machen. Er hatte verständlicherweise nicht die innere Freiheit einzusehen, wie es einen gläubigen Juden, der sein Leben mit den Belastungen eigenen Leides und des Schicksals von Jahrhunderten trug, erbittern mußte, wenn er ihm mit der gelassenen Gebärde des Aufklärers den Menschen als das »vernunftbegabte Tier« präsentierte und seine Seele mit der des Pferdes und der Maultiere, was ihre Vergänglichkeit betrifft, auf eine Stufe stellte. Darauf kann Da Silva nur antworten: »Eine tierische und schimpfliche Meinung, die uns zwingt, die Unsterblichkeit der Seele zu 244 beweisen, obzwar es uns unmöglich scheint, daß dieses Übel irgend einen wahren Juden ansteckt.«
Auch Da Silvas Angriffe gegen die Beweismethode Da Costas treffen einen schwachen Punkt. Da Costa glaubte, sein Erlebnis beweisen, rationalistisch begründen zu müssen. Er tat es mit unzulänglichen Mitteln, durch die generelle Anklage gegen die Pharisäer. Zu Recht vermerkt Da Silva: »Er klagt die Pharisäer der Fälschung an, ohne uns zu sagen, aus welchem Interesse, denn wenn es nur das wäre, den Sadduzäern zu widersprechen, so bekennt er von vornherein, daß er nichts von ihnen weiß, und auch nicht weiß, welche Bücher sie zulassen, noch welche sie verwerfen.« Aber treffender noch als dieser logische Einwand ist die psychologische Erwägung: »Ich bin gewiß, daß er jedesmal, wenn er sich in Verlegenheit sieht, die gesamte Mehrzahl der Bücher verwerfen wird.« Natürlich mußte das so sein, denn es war ja nicht so, daß diese und jene Belegstelle sein Erlebnis formte, sondern daß sein Erlebnis nach Belegen suchte. Diese Kritik, so richtig sie ist, bedeutet aber zugleich eine Verkennung, eine nach Lage der Dinge völlig unvermeidliche Verkennung der Motive. Darum ist es vergebens, daß Da Silva ihn beschwört: »Was du von den Lebenden weder annehmen willst noch überhaupt kannst, wirst du im Unterricht finden und in der Lehre, die uns von den Toten blieb; denn von ihnen brauchst du nicht zu fürchten, daß sie dich betrogen oder gehaßt haben.«
Noch schwerer, noch persönlicher und – bei seinem Charakter – mit noch tieferer Folge muß es Da Costa treffen, wenn er sieht, daß sogar die Motive des Schicksals, das über ihn hereingebrochen ist, der 245 Heroismus seines Widerstandes, verkannt, mißdeutet und gemindert werden. »Und du bringst es fertig, zu sagen, daß du um des Gesetzes willen die Verbannung, die Einsamkeit, den Schimpf, den Haß und das Unglück erleidest, in dem du einhergehst, entsetzt von den Phantomen, die dich Tag und Nacht beunruhigen und dich schließlich um den Verstand bringen werden!« Es ist wahr, daß Da Costa das alles um des Gesetzes willen trug. Dennoch ist es nur die halbe Wahrheit. Das Gesetz in seinem Sinne und das Gesetz im Sinne Da Silvas, das heißt: der Anderen, trug einen völlig verschiedenen Sinn. Wie jeder ihm auf gleiche Weise diente, diente er doch Verschiedenem; der eine sich und seiner Erkenntnis, die anderen der Gemeinschaft und ihrer Lebenskraft; der eine als Persönlichkeit und für eine imaginäre Gegenwart; die anderen als Eingeordnete und für die Zeitlosigkeit. Darum mußte, was jeder erstrebte und litt, dem anderen ohne Verständnis bleiben, es sei denn, er sähe die Strafe für ein Verschulden darin. Nicht anders kann es Da Silva sehen, wenn er Da Costas schlichtem Bekenntnis zum Sinn seines Lebens und seiner Freude über die Vermehrung seiner irdischen Güter den Richterspruch entgegenhält: »Dieser Teufel, verabscheut sogar von seinen Brüdern, ausgestoßen, beschämt, ohne Vertrauen nach außen, ohne Frieden im Hause, ohne Kinder, ohne Mesusah, ohne Tefilla, kurz: ohne irgend ein Gut.«
Als Da Costa später die Summe seines Lebens zog, hat er diesem literarischen Angriff einen Sinn gegeben, der ihm – zu Unrecht – lange geblieben ist. Er berichtet: »Meine Gegner frohlockten, als sie erfuhren, daß ich zu dieser Ansicht (von der Zeitlichkeit aller Belohnung und Strafe) gekommen war, denn sie 246 meinten, nun genügend Rückhalt bei den Christen schon deshalb zu finden, weil deren besonderer Glaube sich auf das evangelische Gesetz gründet, in dem ausdrücklich vom ewigen Heil und von der ewigen Strafe die Rede ist . . . In dieser Absicht, und um mich mundtot zu machen und den Haß der Christen auf mich zu ziehen, gaben sie . . . eine Schrift von der Hand eines Arztes heraus unter dem Titel: Über die Unsterblichkeit der Seele.« Diese Motivierung ist aus der Bildverschiebung zu verstehen, die im Herzen und in der Vorstellung eines leidenden Menschen entstehen mußte. Der Wahrheit entspricht sie nicht. Nirgends ist in den Äußerungen der anderen, sei es im Bann, sei es in Da Silvas Schrift, eine Spur von Genugtuung zu finden, ein auch nur entfernter Hinweis darauf, man habe ihn belauert, bis man ihn endlich habe packen können. Ganz aufrichtig und mit den Mitteln einer Polemik, wie Da Costa selbst sie begonnen hatte, wird um eine Idee und darüber hinaus noch um einen Menschen gekämpft. Man mag über die Notwendigkeit einer Gemeinschaft, sich zu verteidigen, verschieden denken. Aber nie darf übersehen werden, daß sie immer in der Verteidigung war und Da Costa stets im Angriff. Seine Thesen gegen die Tradition waren ein Angriff, seine Lehre von der Sterblichkeit der Seele war mit einem Angriff verbunden, und was er jetzt, nach dem Erscheinen von Da Silvas Schrift, unternimmt, muß trotz seiner Versicherung, daß es sich nur um eine Verteidigung gehandelt habe, als erneuter und offenbar sehr schwerer Angriff gewertet werden. »Nachdem jene Schrift gegen mich erschienen war,« sagt er, »schickte ich mich zugleich zur Verteidigung an und schrieb eine Gegenschrift, in der ich die Unsterblichkeit mit aller Macht 247 bekämpfte, wobei ich im Vorübergehen auf manches hinwies, worin die Pharisäer von Moses abweichen.« Es scheint, als sei es umgekehrt gewesen: als habe er nicht im Vorübergehen auf Abweichungen der Tradition von der Lehre Mosches hingewiesen, sondern als sei gerade das der hauptsächliche Inhalt des Buches gewesen, als habe es sich gerade um einen erneuten und forcierten Angriff gegen die jüdische Tradition gehandelt. Darauf läßt das einzige schließen, was von dem Buche noch erhalten ist, nämlich seine Katalogisierung in der »Hebräischen Bibliothek« des Pastors Johann Christoph Wolf zu Hamburg. Sie lautet: »Uriel Acosta, dessen handschriftlicher Abhandlung über die Sterblichkeit der Seele ich . . . Erwähnung getan. Diese hat er, nachdem sie bereits von Samuel de Sylva widerlegt war, herausgegeben Amsterdam 1624 unter dem Titel: Examen das tradiçoens Phariseas conferidas con à Ley escrita por Uriel Jurista Hebreo, com reposta à hum Samuel da Silva, seu falso Calumniador, Prüfung der pharisäischen Tradition in Vergleichung mit dem geschriebenen Gesetz, von Uriel, hebräischem Juristen, mit Entgegnung auf einen gewissen Samuel da Silva, seinen falschen Verleumder.« Bei der Methode jener Zeit, aus dem Titel eine präzise Inhaltsangabe zu machen, darf man also schließen, daß der Kern des Buches jedenfalls von neuem gegen die Tradition gerichtet war. Wenn das Buch, wie Wolf meint, wirklich nur die Herausgabe des früheren Manuskriptes bedeutet, so ständen drei Kapiteln über die Sterblichkeit der Seele immerhin zweiundzwanzig vorhergehende Kapitel über die Tradition gegenüber. Es hat ferner den Anschein, als ob auch der seltsame Beiname Jurista Hebreo dazu dienen sollte, den Verfasser 248 in seiner Eigenschaft als hebräischen Juristen zu einem solchen Beginnen, das eine grundsätzliche Kenntnis der jüdischen Gesetzeswelt voraussetzte, besonders zu legitimieren. Daß er, wohl mit Rücksicht auf sein früheres Studium des kanonischen Rechts, als »Jurist Uriel« bezeichnet wird, vermerkt Pastor Wolf ausdrücklich. Aber die Selbstbenennung als hebräischen Juristen kann mit Rücksicht darauf, daß er nachweisbar Hebräisch nicht verstand, nur als eine nach außen bekundete Trotzgebärde gedeutet werden, die sich gegen den Vorwurf Da Silvas richtet: »Und er wird finden, daß er sich schämen müsse, daß er nicht am lauteren Quell zu schöpfen weiß und sich nicht der heiligen Sprache hingeben will, vielmehr getäuscht bleibt durch die irrige lateinische Version, die er schlecht übersetzt hat.« Die Tatsache, daß Da Costa unmittelbar nach dem gegen ihn verhängten Bann und alsbald nach Da Silvas Versuch, wenn auch mit den Mitteln der Polemik, einen Ausgleich herbeizuführen, seinen Kampf fortsetzt und seine Kampfschrift im Druck erscheinen läßt, daß er erneut störend in die Sphäre hinübergreift, die man um jeden Preis befrieden und durch seinen Ausschluß rein halten wollte – diese Tatsache ergibt eine Reaktion von ganz besonderer Schärfe. Nach diesem Verhalten Da Costas ist kein Zweifel mehr möglich, daß er eine verlorene Hoffnung darstellt, und darum läßt man ihn endgültig fallen. Man gibt ihn preis. Man geht noch weiter und tut etwas, was sonst bei den Juden der Diaspora als schwere Sünde galt: man denunzierte ihn bei den holländischen Behörden wegen Ketzerei. Man wies darauf hin, daß Da Costa, wenn er die Unsterblichkeit der Seele leugne, damit zugleich die Grundlage der 249 christlichen Religion leugne. Eine solche Anzeige hatte Aussicht auf Erfolg, denn im Rahmen der protestantischen Freiheit gab es selbstverständlich keine Glaubensfreiheit. Damit rechneten die Amsterdamer Juden. Sie selbst hatten kein Mittel mehr in den Händen, sich gegen Da Costa zu wehren. Sie wollten jetzt aber noch weiter gehen als bis zur Abwehr. Sie wollten im Paroxismus des Zornes auf seine Vernichtung drängen. Der Fanatismus der Welt, in der sie hatten leben müssen, wirkte noch mit seinen häßlichsten Auswüchsen nach. Die meisten von ihnen hatten ihre Jugend unter den ewigen Drohungen der Anschuldigung wegen Ketzerei verbracht. Jetzt, kaum zur Freiheit zurückgekehrt, können sie sich in ihr nicht anders behaupten und bestätigen als durch den gleichen Ruf nach dem Ketzerrichter. Um sich ihre Rechtgläubigkeit und Vollwertigkeit im Judentum zu beweisen, werden sie in ihren Mitteln wieder katholisch.
Die holländischen Behörden nehmen die Anzeige entgegen. Bis zur Klärung des Sachverhaltes wird Da Costa in Haft genommen. Diese Haft dauert etwa vom 22. bis zum 31. Mai des Jahres 1624. Dann wird er entlassen, und zwar nicht, wie seine Worte »sub cautione« schließen lassen könnten, gegen eine von ihm gestellte Kaution, sondern unter der Bürgschaft seiner Brüder Mardochai und Joseph. Die Urkunde seiner Haftentlassung ist erhalten. Sie lautet: »Uriel da Costa, alias Adam Romez, wird von den Schöffen aus dem Gefängnis dieser Stadt entlassen, gegen Handschlag und Versprechen, jederzeit auf Vorladung der Herren Offiziere vor Gericht zu erscheinen und seine Person gerichtlich sistieren zu lassen, wofür sich als Bürgen dargeboten haben Miguel 250 Estevez de Pina und Juan Perez de Cunha, indem sie versprachen, im Falle des Nichterscheinens des vorgenannten Uriel da Costa vor Gericht zur Verfügung der Herren Offiziere 1200 Gulden zu zahlen. Geschehen am letzten Mai im Jahre 1624. Jakop Pietersz Hooghcamer und Claes Pietersze, Schöffen.«
Zu dem Nebennamen Da Costas und dem Namen der beiden Bürgen ist zu bemerken, daß bei den marranischen Juden Amsterdams nicht nur die Führung zweier Namen, eines hebräischen und eines portugiesischen gebräuchlich war, sondern oft auch die Führung eines Decknamens, weil sich die portugiesische Inquisition immer noch bemühte, die in Amsterdam angesiedelten Flüchtlinge festzustellen, um wenigstens an den im Lande verbliebenen Familien ihre Rache nehmen zu können. Die holländische Regierung billigte daher die Führung von Decknamen und konzedierte den Juden, daß sie nicht verpflichtet seien, »auf Fragen betreffend die jüdische Religion der Wahrheit entsprechende Erklärungen oder Aussagen abzugeben.« Adam Romez war ein solcher Deckname Da Costas, wie die beiden übrigen Namen die seiner genannten Brüder darstellen.
Über die Einzelheiten des weiteren Verfahrens sind keine Berichte erhalten. Nur den Ausgang weiß man: Da Costa wurde zu einer Geldstrafe von 300 Gulden und zur zeitigen Verbannung aus Amsterdam verurteilt. Die gerade erschienene Schrift wurde eingezogen und die gesamte Auflage öffentlich verbrannt. Es ist nicht ein einziges Exemplar davon je wieder irgendwo aufgetaucht. So fanatisch war der Wille, Da Costa und jeden Gedanken von ihm aus der Gemeinschaft auszulöschen.
Man weiß nicht, wohin er ging und seine Verbannung 251 verbrachte. Um eine lange Zeit kann es sich auch nicht gehandelt haben, denn sonst hätte er darüber berichtet. Dennoch war die Zeit mühselig und voll Not, ein Vegetieren ohne Verwandte, ohne Freunde und ohne Beruf, dazu isoliert unter Menschen, deren Sprache er kaum verstand und mit denen er nichts an Geistigem auszutauschen hatte. Sei es, daß er diese Isolierung nicht ertrug oder daß man ihm die Rückkehr gestattete: jedenfalls erschien er nach kurzer Frist wieder in Amsterdam und bezog sein Haus. Der einzige Mensch, der noch um ihn blieb, war seine Mutter. Mit der Treue des Anfangs hielt sie zu ihm und zu seinem Tun. Daß ihr Sohn ein Gebannter war und daß ihr nach dem unerbittlichen Gesetz der Gemeinschaft verboten war, bei ihm zu sein, galt für sie nicht. Sie hatte kein eigenes Geschick und folglich auch kein eigenes Judentum. Sie hatte nur das ihres Sohnes. Wie er die Gesetze auslegte, nahm sie sie an und teilte seinen Glauben so aus voller Teilnahme wie seine Irrtümer. Sie nahm auch die Folgen ihres Verhaltens auf sich. Vergebens stellte man ihr vor, daß sie nicht mit ihrem Sohne zusammen leben dürfe. Sie blieb bei ihm. Man drohte ihr an, daß man sie gleichfalls mit dem Bann belegen würde. Sie blieb. Dann wurde der Bann tatsächlich verhängt. Sie blieb immer noch. Dann versuchte man, ihr mit einer haßvollen Drohung einen Entschluß abzupressen: daß man ihr, wenn sie stürbe, kein ehrliches Begräbnis gewähren würde. Selbst das erschütterte sie nicht. Sie blieb.
Mit diesem haßvollen Kampf gegen die Greisin soll, wie sich versteht, der Sohn getroffen werden. Denn noch ist der Kampf gegen ihn nicht zu Ende. Nach seiner Rückkehr lebt er von neuem auf. Der 252 Strafzweck des Bannes, die Isolierung, ist nicht vollständig erreicht. Aber auch die Immunisierung der Gemeinschaft ist nicht erreicht, denn nach wie vor propagiert Da Costa die Ideen seines letzten Werkes und nach wie vor, wie in trotziger Verbissenheit, führt er das Leben eines orthodoxen Juden nach dem Ritual, wie er es verstanden haben will, abweichend in Dingen, die klein und belanglos scheinen vor der Vernunft, und die doch aufreizend und verärgernd sind, wenn es um den Begriff der Tradition geht und wenn sie ein ganzes Volk der Mühen und des Bemühens als Fälscher einer anders verstandenen Tradition Lügen strafen wollen. Daraus erwächst neuer Widerstand, eine neue Gehässigkeit. Da die Machtmittel gegen den Sohn erschöpft sind, geht man wirklich mit dem Gedanken um, die Drohung an der Mutter wahr zu machen. Nur weiß man nicht, ob so etwas nach jüdischem Gesetz überhaupt zulässig ist. Vielleicht hatten sie etwas von dem Brauch der babylonisch-gaonäischen Zeit gehört, als es üblich war, gegen eine Prozeßpartei, die sich einem Urteilsspruch nicht unterwerfen wollte, den Bann zu verhängen, der alsdann von der Akademie den Gemeinden zur Kenntnis gegeben wurde, zugleich mit der Aufforderung: »Er darf weder zum Gemeinde- noch zum Tischgebet hinzugezogen werden, kein Sohn von ihm beschnitten, kein Angehöriger von ihm begraben werden . . .« Aber für jeden Fall will man sich vergewissern. Von einem Absender, der nicht mehr festzustellen ist, ergeht ein vertrauliches Privatschreiben an den wegen seiner talmudischen Gelehrsamkeit geachteten Kaufmann R. Jakob ben Israel ha'Levi in Venedig. Der Briefschreiber fühlt wohl deutlich, wie ungewöhnlich das ist, was er nachfragt. Darum 253 steift er Stil und Ausdruck zu besonderer Härte und Schneidigkeit, darum läßt er in jeder Zeile den vollwertigen Juden strengster Observanz durchblicken, und hemmungslos bekennt er sich zu dem Bedauern, daß man nicht gegen den Widerstrebenden verfahren könne, wie die spanische Inquisition gegen die Marranen von gestern verfuhr. Die Anfrage ist zu aufklärend für die gezwungene und übersteigerte Haltung dieser kaum verankerten Menschen, als daß sie hier nicht ihren Platz finden sollte. Sie lautet:
»Es findet sich in unserer Mitte ein schlechter und nichtswürdiger Mensch, der die ganze mündliche Lehre leugnet, die Worte unserer Weisen verspottet und lästernd gegen sie auftritt, der auch die Grundlagen des Glaubens leugnet, die Fortdauer der Seele und die Auferstehung der Toten, und der propagiert und ausspricht, daß es zwischen Mensch und Vieh keinerlei Unterschied gebe, und der viele von den Wundern, die in den Schriften sich finden, einfach leugnet, ebenso die Wunder der Propheten Elias und Elisa. Zu alledem wollte er noch in fremder Sprache ein Buch herausgeben, in dem er unverhohlen alle seine Lügenbehauptungen und schlechten Ansichten zu publizieren gedachte, so daß die Spitzen der heiligen Gemeinde zusammen mit der Regierung alle seine Bücher beschlagnahmten, sie öffentlich verbrannten, ihn ins Gefängnis warfen und sich alle Mühe gaben, ihn der Stadt zu verweisen. Denn da bei dieser Regierung Glaubensfreiheit herrscht und dort keine Inquisition besteht, konnte man es nicht zuwege bringen, die Todesstrafe gegen ihn zu erwirken, sondern nur die Ausweisung aus seinem Orte. Es mögen aber diesen Bösewicht seine Sünden ins Unglück verstricken, daß er an dem Orte, wohin er gekommen, verendet. 254 Unsere Frage geht nun auf folgendes: dieser Nichtswürdige hat eine alte Mutter und ferner zwei fromme Brüder, bei denen keinerlei verwerfliche Ansicht zu finden ist, die ihn vielmehr wegen seiner Worte ständig tadelten und nicht mehr mit ihm sprachen, ebenso wie alle Gemeindemitglieder, die ihn als in Bann getan verkünden ließen. Im Gegensatz dazu wohnt aber seine Mutter ständig im selben Hause mit ihrem Sohne, dem bösen Feinde, unterstützt ihn, wandelt auf seinen Wegen, ißt von dem, was er geschächtet, ißt am richtigen Versöhnungstage und fastet an dem von ihrem Sohn errechneten, und entsprechend handelt sie in Bezug auf das Gesäuerte am Pessach und arbeitet an Feiertagen. Man hat auch sie verstoßen und in Bann getan und ihr weiterhin eröffnet, daß, im Falle sie in solcher Auflehnung stürbe, sie nicht unter Israeliten begraben würde. Dies alles nützte nichts, sie zur Rückkehr zu bewegen. Darum bitten wir Sie, uns mitzuteilen, ob wir sie, falls sie in dieser Auflehnung stürbe, auf der Erde liegen lassen sollen, ohne sie überhaupt zu begraben, oder nicht, und zwar dies in Rücksicht auf ihre frommen Söhne.«
Daß man sich bemüht habe, gegen Da Costa die Todesstrafe zu erwirken, ist, wenn man die Situation jener Zeit und jenes Landes überdenkt, ganz offenbar eine Prahlerei des Briefschreibers gegenüber der gelehrten Autorität, immer dem gleichen Bestätigungsbedürfnis vor sich und Anderen entsprungen. Unmenschlich bleibt die Anfrage gleichwohl. Er erfuhr auch in der Antwort, die ihm zuteil wurde, die Belehrung darüber, daß der Mutter vom Standpunkt des jüdischen Rechtes aus das Begräbnis auf dem jüdischen Friedhofe nicht verweigert werden dürfe. Aber so weit trägt der gelehrte Rechtsgutachter der 255 besonderen Situation der portugiesischen Juden doch Rechnung, daß er erklärt: wenn jedoch das Rabbinatskollegium es mit Rücksicht auf die Zeitverhältnisse für unerläßlich erachte, ein Exempel zu statuieren, so wolle er für diesen Ausnahmefall einem Beschluß, über die Frau eine ihr von Rechts wegen nicht zukommende Strafe zu verhängen, seine Zustimmung geben.
Es ist zur Fassung eines solchen Beschlusses nicht gekommen. Da Costas Mutter starb am 4. Oktober 1628 und wurde auf dem Friedhof Beth Chajim zu Oudekerk bestattet. Aber es ist immer schon denen, die sich mit Da Costas Leben beschäftigt haben, aufgefallen, daß er seine Mutter in seinem Lebensbericht nur ein einziges Mal erwähnt, nur ganz zu Anfang, als er von der heimlichen Flucht nach Holland spricht, und auch da ohne Wertung und Wärme, nur als Faktum: »So bestiegen wir das Schiff unter der größten Gefahr, meine Mutter und ich samt meinen Brüdern.« Dann erwähnt er seine Mutter nicht mehr. Für ihre Treue hat er kein Wort und kein Gedenken. Hat die Greisin, die wenige Jahre vor ihrem Lebensende stand, vielleicht doch zuletzt dem Drängen von allen Seiten nachgegeben und sich von ihm getrennt? Hatte sie nicht ihre Liebe noch drei anderen Söhnen und einer Tochter zu geben? Und war, wenn sie endlich unter dem Druck und gewiß nicht aus freiem Willen von ihm ließ, nicht so viel menschliche Freiheit in Da Costa, daß er das abwog und der Treue von einst zollte, was er ihr schuldig war: das Gedenken? Aber es gibt Schicksale, die sich in der Eigenwertung so übersteigern, daß sie darüber sogar die Pflichten des Herzens vernachlässigen.
Nach dem Tode der Mutter beginnt erst in Wahrheit für Da Costa der Zeitraum der Isolierung. Der erste 256 große Abschnitt in seinem Mühen und Widerstreben ist erreicht. Es ist von neuem – und nunmehr durch einen Schlag des Schicksals bestätigt – sichtbar geworden, daß beide im Recht sind: Da Costa und die Gemeinschaft. Während er als sein individuelles Bedürfnis die Sterblichkeit der Seele erkennen muß, mußte im Rahmen einer streng disziplinierten Gemeinschaft das persönliche, private Bedürfnis des Einzelnen gerade das Gegenteil erkennen: die Unsterblichkeit. Beide hatten die Wahrheit: aber Da Costa hatte die Wahrheit ohne Gegenwart. Das zu tragen ist Schicksal des Starken; das zu erdulden ist Schicksal des tragischen Menschen. Spinoza trug es; Da Costa erlitt es. –