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Ingeborg sitzt auf der Veranda, ein Tuch um die Schultern geschlungen. Sie ist bleich und man glaubt, das Blut in den Adern der Schläfen und der Hand laufen zu sehen. Mit staunenden großen Augen blickt sie in die Bäume, die in der Sonne eingenickt sind, auf die Wiese, die duftet und leicht schwankt im Schlafe, hinab ins Tal. Dort stehen kleine Pferde und Wagen und kleine Wesen sind beschäftigt, Heu auf die Wagen zu schichten. Zuweilen blitzt etwas auf, ein Beschläge, eine Gabel, eine Sense, feine verwehte Rufe dringen herauf.
Nach den Tagen voll ziehender Gewitter, folgten Wochen herrlicher Sonne, jener Sonne, die flimmernd rot und gleichmäßig über der Erde liegt, wenn der Sommer zu Ende geht.
Die Schwalben schossen schrillend in der Luft, bald schmal wie Fische, bald wirbelnd wie kleine Turbinen. Bald schwebten sie alle auf eine Stelle zusammen, bald verteilten sie sich blitzschnell nach allen Richtungen über das ganze Tal. Sie schrien, sie konnten wie ein Pfeil in die Höhe schießen, sie konnten wie ein Stein herunterfallen, um plötzlich die Flügel auszubreiten und ruhig zu schweben wie ein Raubvogel.
Und Ingeborg hat Tränen in den Augen, sieht sie die Sonne, und Tränen in den Augen, hört sie die Schwalben schreien.
»Ich bin ganz weich, wie ein Kind,« sagt sie und eine Träne fällt auf ihre Hand. »Nie war mein Herz so voller Staunen und Dankbarkeit.«
Ich sitze bei ihr, plaudere oder schweige, je nachdem Ingeborg es wünscht. Schönere und leisere Stunden habe ich nicht erlebt als die Tage von Ingeborgs Genesung. Ich bin still vor Glück geworden und meine Brust ist immer voll von Tränen, ohne daß ich weinen könnte.
Ich und Karl sind bemüht, Ingeborg tausend Gefälligkeiten zu erweisen in einer Art, die wenig auffällt. Immerfort sind Ingeborgs Zimmer mit Blumen geschmückt und auf Teppichen weißer Rosen wandelt sie. Karl bringt von seinen Spaziergängen den ganzen Wald ins Haus, Sträuße von roten und schwarzen Beeren, die den Saft und den Wohlgeruch des Sommers bergen.
Ja, Karl ließ sich sogar dazu herbei, Ingeborg Stellen aus seinen Büchern vorzulesen, die sie besonders liebte. Seine ruhige Stimme, sein abgeklärtes Wesen wirken wohltuend auf Ingeborg, sie scheint kräftiger zu sein in Karls Nähe. Und wenn Karl lacht, so macht sie Miene herauszulachen und ihre Wangen bekommen Farbe.
»Hast du es gehört, Axel, heute sagte Herr Karl liebe Frau Ingeborg zu mir – haha! Er hat es noch nie gesagt.«
Ich räume die Mappen aus und bringe die herrlichsten Bilder zu Ingeborg, Bilder von denen man träumt, sieht man sie einmal, und lege sie vor ihr auf, wie ein Museum ist es. Oder ich spiele Klavier, alle Stücke die Ingeborg liebt, und durch die geöffneten Fenster dringt es wie eine warme liebkosende Welle, die sie badet wie die Sonne.
Müde ist Ingeborg vom Sehen. Sie schließt die Augen und legt den Kopf ins Kissen zurück und sagt »Erzähle Axel.«
»Wie war die Legende von dem erfrorenen Weinstock? Und die von den Liebenden auf dem Meere? Erzähle Axel, ersinne etwas.«
Ich blicke Ingeborg an und hundert Geschichten fallen mir ein. Und ich erzähle. Ich erzähle ihr die Geschichte von dem Priester mit dem silbernen Herzen, ich erzähle ihr die Geschichte von Karin, der um die halbe Erde wanderte um zu seinem Weibe zu kommen. Ich erzähle ihr die Geschichte von Hermann Ecke, dem Gutsherrn auf Entenweiher, den Eva verlassen hatte. Sie lebten glücklich, Eva und er, aber Eva ging von ihm zu einem andern. Warum? Niemand weiß es. Wird sie immer bei dem andern bleiben? Nein, sie wird wohl zurückkommen zu Hermann Ecke.
Und er wartet, Hermann Ecke, daß sie wiederkäme. Einen Garten legt er ihr an, eine Terrasse baut er ihr. Jahre vergehen. Wo ist Eva? Sie kommt nicht wieder. Aber er wartet und die Jahre vergehen. Lange Jahre war er traurig und niedergeschlagen, aber seht ihn jetzt, straff und aufgerichtet geht er einher mit leuchtenden Augen. Es fragt der Freund: Glaubst du denn, daß Eva wiederkommt? – Hahaha, antwortete Hermann Ecke. Sonst nichts. Hermann Eckes Haare werden weiß. Es fragt der Freund: Was wirst du sagen, wenn Eva wiederkommt?
Königin, werde ich sagen, erwidert Hermann Ecke, dein Thron steht bereit. Laß uns von den kommenden Tagen reden.
Traurig lächelt der Freund, Hermann Ecke hat den Verstand verloren.
Eine Lampe brennt in Evas Zimmer, Sträuße prangen fortwährend in den Vasen. Hermann Ecke steht jeden Abend auf dem Turm und blickt die Straße entlang, ob kein Wagen kommt. Nein, es kommt kein Wagen.
Der Freund sieht Hermann Ecke an und denkt: Bald stirbst du jetzt. Dein Herz ist schwach. Er sinnt.
Ja, Eva hat eine Schwester, die muß kommen, um ihm von Eva zu erzählen und ihm zu sagen, daß sie bald käme, Eva. Die Schwester kommt und spricht mit dem Freunde. Eva ist tot, arm und verlassen ist sie gestorben. Sagen sie ihm das nicht, Beste, spricht der Freund, sagen sie ihm, daß sie in Glanz und Glück lebe und viel gefeiert werde. Bald käme sie zu ihm.
Ja!
Da tritt er ein, Hermann Ecke. Und er richtet die Augen auf die Schwester – er rückt die Brille zurecht – siehst du es –? seine Augen füllt ein überirdischer Glanz. Er breitet die Hände aus – siehst du es? –
Evas Schwester! flüstert der Freund.
Hört es Hermann Ecke? Nein.
Er spricht: Königin, dein Thron steht bereit, laß uns von den kommenden Tagen reden!
Hermann Eckes letzte Worte waren das. – –
»Was sagst du dazu, Ingeborg?«
Ingeborg nickt, sie lächelt und ihre Wimpern zittern und werden feucht.
»Erzähle Axel! Ersinne etwas!«
Die Stunde ist golden, die Sonne segnet die Welt. Ein Lächeln liegt auf allen Dingen, selbst auf den Spitzen der Gräser. Die Wälder nahe und ferne sind wie hohe Wogen flüssigen Goldes. Ein goldener Himmel, und ein goldener Funkenregen, der zur Erde sinkt. Im Westen liegen schmale Wolken gleich großen glühenden Scheitern, darauf verbrennt die Sonne und ihr Feuer lodert über den Himmel. Goldene Blätter zittern im goldenen Himmel, man sieht die Zweige nicht, an denen sie hängen. Wie eine Grotte mit goldenen Säulen, gefüllt mit funkelndem Geschmeide ist der Wald drüben anzusehen. Dort gehen Pferde und ein Knecht, golden sind die Pferde, golden der Knecht. Ein goldener Wind weht und goldener Tau tropft von den Bäumen.
Ich sehe auf Ingeborg, deren Antlitz und Hände die Sonne durchleuchtet. Von der Farbe des alten Goldes ist das Haar und ein feines Gespinst von Feuer zittert darüber. Sie hat die Lider geschlossen, aber sie erscheinen so dünn, daß man die Augen darunter zu sehen vermeint. Ein müdes glückliches Lächeln schwebt auf ihrem schmalen Gesichte, wie es nur die Genesenden und die Wöchnerinnen haben und die Liebenden am Morgen einer trauten Nacht.
Pazzo liegt zu ihren Füßen und sie hat die Füße auf seine atmenden Flanken gestellt.
Und ich blicke auf Ingeborg und beginne mit leiser Stimme:
»Diesmal erzähle ich dir von einer schönen Königin, weil ich gerade an eine schöne Königin denke. Es ist die Königin, die sie »goldenes Herz« nannten. Silvia hieß sie. Sie war Nicolo Dandoldis Weib, jung, Nicolo alt. Nicolo hieß der Einäugige mit dem siegreichen Schwert, im Volke der Schlaflose. Später der Wortbrüchige. Du wirst gleich hören weshalb. Er war sehr grausam, wie alle Könige in den Legenden und man sagte, wenn er soviele Ellen tief in die Hölle käme, als er Menschen getötet habe, würde er vom Lichte nicht mehr sehen, als eine Nadelspitze ausmacht.
Natürlich kommt auch ein Page darin vor, du wirst es gleich hören, Ingeborg. Der Page hieß »Auge«, denn schöne Augen hatte er, das wußten alle Frauen.
Schön sind deine Augen, sagte Silvia, als sie ihn zum erstenmal sah. Wie im Traume sprach sie. Goldenes Herz liebte Auge, und Auge liebte goldenes Herz.
Sie trafen sich im Garten der Frauen und saßen die Nächte hindurch unter den Büschen, im verschwiegenen Schatten, den der Palast über den Garten warf. Da saßen sie und plauderten, und ich wußte alles was sie einander sagten. Auch Ingeborg wußte es und sie lächelte. Wieviele Nächte saßen sie da! Aber der Priester umschlich sie und in einer Nacht, die herrlich und duftend war wie keine, da geschah es. Zur Zeit der ersten Kirschenblüte hatten sie sich zuerst gesehen, als die Kirschen sich röteten, war es schon geschehen um sie.
Sie sollten sterben.
Der König lud allen Adel ein, wie zu einem Feste, und sie saßen gekleidet in den Glanz eines vielhundertjährigen Reichtums in den Galerien. Von weitem mochten sie wohl erscheinen wie Körbe voller Blumen, die die Gärtner zum Verkaufe ausstellten.
Silvia und der Page wurden hereingeführt, da erbleichten alle und ihre Gesichter wurden so weiß wie die Kerzen, die die Mönche trugen. Als die beiden niederknieten und die Henker hinter sie traten, da wurde es so still, daß jeder sein eigenes Herz klopfen hörte.
Der König sah aus wie eine Reliquie aus gelbem Wachse, wie sie in den Kirchen zu sehen sind. Silvia sah so schön und rührend aus, daß im Herzen des Königs ein Kampf zwischen Liebe und Rachedurst entstand.
Und er rief: »Der Königin steht eine Bitte frei! Doch das Leben des Buhlen bleibt in meiner Hand«.
Es war stille und die süße Mädchenstimme der Königin sprach: »Ich bitte, daß man den Sklaven, der des Nachts so traurig am Lido singt, in seine Heimat sendet«.
Der König lachte heiser.
»Der Königin steht eine Bitte frei«, rief er abermals und seine Stimme keuchte.
Da bat goldenes Herz, daß man sie vor dem Geliebten töte. Sie wollte nicht hören, wie sein Haupt fiel.
Aber der Geliebte widersprach. Sie solle den Himmel länger sehen als er, sagte er. Lange Zeit stritten sie hin und her, jeder wollte zuerst sterben. Die Frauen in der Galerie weinten. Und abermals machte sich Silvia bereit zu sterben.
Da erhob sich der König und beugte sich über die Galerie und keuchte und rief: »Der Königin steht noch eine Bitte frei!« Und er bohrte seine Blicke in Silvias Augen.
Aber Silvia sprach nicht die Bitte aus, die er erwartete.
»Ich bitte meine Schuld bekennen zu dürfen« sagt sie.
Der König fiel in den Sessel zurück und nickte.
Es war ein eigentümliches Sündenbekenntnis, Ingeborg, du wirst es hören.
Silvia begann und sagte, daß sie jung wäre und die Muttergottes bäte, ihr zu vergeben, daß sie erst siebzehn Jahre alt wäre.
»Lieber hätte ich siebzig Jahre alt sein wollen, als ich Königin würde. Aber möge mir die Muttergottes gnädig sein, daß ich jauchzte, so jung zu sein, als ich den Geliebten erblickte. Denn bei den Wunden des Erlösers, wäre ich alt gewesen, aus Gram darüber wäre ich in derselben Nacht gestorben.«
Und sie erzählte, wie sie den Geliebten zum erstenmal sah.
»Er stand im Saale der gewebten Wände, wo so viele Herren und Frauen lautlos tafeln und lachen, daß man glaubt zwischen Gespenstern zu gehen und einem bange wird. Da sah ich ihn und er verneigte sich vor mir, und ich erschrak. Weiß nicht weshalb.
Schöne Augen hast du! sagte ich zu ihm. Bei Gott ich wußte nicht, was ich tat. Erst später fiel mir ein, was ich gesagt hatte.
Ziemt es sich für eine Königin, stehen zu bleiben und solche Worte zu sprechen? Gewiß nicht. Ich tat es.
Ich konnte nicht von der Stelle gehen, zitterte und lachte. Ziemt es sich für eine Königin zu lachen wie ein Kind? Aber ich tat es.
Ich traf ihn wieder an der silbernen Treppe, er legte Kissen in die Barke des Königs. Er war sehr blaß.
Weshalb bist du so blaß? fragte ich.
Und er erwiderte: Ich bin so blaß, weil ich ein Mädchen liebe und es ihr nimmermehr sagen kann.
Ich erschrak nicht – Haha – nein, denn ich wußte wohl, wer das Mädchen war.
Würdest du das Mädchen küssen, wenn du könntest?
Das würde ich bei Gott tun.
So küsse mich.
Er küßte mich. Freunde, es war am Tage, es war angesichts des Palastes, die Möven haben es gesehen, die Fische im Meer und Gottes tausend strahlende Augen, nur euch hat Gott die Augen versiegelt.«
Und ich erzählte, daß goldenes Herz fortwährend von dem Geliebten und ihrer Liebe gesprochen habe und nicht müde geworden sei, die Schönheit des Geliebten, seine Augen, seine Lippen, seine Hände, seine Stimme zu preisen und die Süßigkeit ihrer Liebe zu besingen. Ja, so sprach sie, daß die Mönche und Nonnen sich abwendeten.
»O, ihr Frauen dort oben!« rief sie. »Seht mich Gefallene! Aber ich sage euch, nimmermehr möchte ich mit euch tauschen. Gerne würde ich sterben für jedes seiner Worte und für jede Wimper seiner Lider. Wie glücklich wäre wohl jede von euch, könnte sie diese Worte sprechen! Haha! Ihr würdet keine Reue empfinden, hätte er einmal nur seinen Arm um euern Nacken gelegt, die tiefste Hölle würdet ihr lieber ertragen, als daß ihr einen seiner Küsse entbehrtet. Ich weiß es, ja, ja, ja!«
Also sprach Silvia und sie konnte nicht aufhören von dem Geliebten zu sprechen und den Herrlichkeiten ihrer Liebe.
Sie sprach nicht, nein, sie jauchzte. Sie lachte und weinte während sie sprach und ihre Wangen rötete das Glück.
Auge aber weinte vor Seligkeit hinter der Kapuze, die sie ihm über den Kopf gezogen hatten, und er weinte so sehr, daß die Steine zu seinen Füßen dunkel wurden, trotzdem die Sonne brannte.
Die Gäste zitterten. Der König krümmte sich unter Silvias Worten und erstarrte, immer mehr.
Tiefe graue Furchen entstanden in seinen Wangen und an den Schläfen.
Dann machte sich Silvia wieder bereit zu sterben. Sie war so schön und ihr Antlitz so heiter, so strahlend, als würde sie dem Geliebten vermählt und ginge es nicht in den Tod.
Die Henker lauerten des Winkes, aber da hob der König wiederum die Hand.
»Halt! halt!« rief er keuchend und sann nach. Und er wandte sich zu den Gästen. »Seht! Seht! Seht doch wie lieblich sie ist! Wie schön sie ist! Wer sah je ein solch schönes Weib?«
Und er beugte sich weit über die Brüstung und flüsterte: »Noch eine Bitte steht dir frei, herrlichste Silvia, jede Bitte, welche es auch sei – bei meiner Ehre!«
Die Gäste jubelten.
Was denkst du nun, daß Silvia bat? Ja, was gab es auch anderes zu bitten, wie?
Aber als sie die Lippen zu diesem Wunsche öffnete, überfiel den König plötzlich der alte Grimm.
»Tötet sie, tötet sie!« keuchte er und bewegte die Arme, als schleudere er Steine auf sie.
Silvias Haupt sprang über das Schwert.
Und als sie Auges Haupt abschlagen wollten, da fanden sie, daß er schon tot war.
»Er ist schon tot, Herr!« schrie der Henker. »Die Furcht hat ihn getötet.«
Die Furcht – –
»Was sagst Du dazu Ingeborg?«
Ingeborg schwieg. Ingeborg schüttelte den Kopf.
»Du mußt sie entkommen lassen, Axel, willst du?«
»Ja!«
Und ich erzählte von der Stelle an: die Gäste jubelten. Und Silvia sprach: »Bist du so gnädig, Herr, so lohne es dir Gott. Schenke uns beiden Leben und Freiheit«.
Der König lächelte und nickte.
Da schmetterten Posaunen und die Gäste jubelten, daß die Dächer der Galerien in die Höhe flogen, und alles ging zum Mahle. –
Ingeborg lächelte.
Es war eine goldene Stunde und die ganze Welt, die Wälder, das Tal, das Schloß, Ingeborg und ich und Pazzo zu Ingeborgs Füßen, alles war aus Gold, und der goldene Regen fiel immer noch langsam vom Himmel. Ich fühlte, daß mein Herz golden war und es begann leise zu klingen wie eine Glocke.
Ingeborg lächelte. Sie lächelte noch nicht wie früher.
»Schöner als all deine Legenden ist die von Axel und Ingeborg. Ingeborg war dem Tode nahe, aber Axel pflegte sie mit solcher Hingabe, daß sie genas und nicht sterben konnte. Gibt es eine schönere Geschichte? Nein, nein ......«
Diese Stunde war golden und meine schönste Stunde war es.
Schöner als deine Legenden ist die von Axel und Ingeborg .....
O, Ingeborg. – – – – – – – – – – –
Die Tage gingen und Ingeborg wurde mit jedem Tage kräftiger und gesunder. Aber doch sprach sie noch nicht wie früher, aber doch lachte sie noch wie früher.
Müde war Ingeborg noch.
Ingeborg ging umher und sann. Stundenweit ging sie in den Wald und sann. Ihr Antlitz war gebräunt wie im Sommer, da die Sonne brannte.
Was sann Ingeborg doch?
Ich lag viele Nächte und schlief nicht.
Ingeborg war noch nicht die alte.
Die Vögel sangen nicht mehr wie früher. Die Felder waren gemäht.
Ich lag viele Nächte und schlief nicht. Aber am Tage überfiel mich oft die Müdigkeit und ich mußte schlafen. Ich fuhr oft aus dem Schlafe empor, Träume marterten mich. Ich träumte immer wieder und wieder von jener Nacht, da ich um Ingeborgs Leben kämpfte. Schrecken jagten durch meine Seele. Es erhoben sich Fäuste und schlugen mich nieder – und ich erwachte.
Ich vernahm Stimmen, drohende Stimmen, ich vernahm ein Brausen und das Brausen sprach: Du hast es gewagt!
Hatte ich etwas Böses getan?
Ich sah schlecht aus, als ob ich krank wäre. Zuweilen hatte ich auch Fieber.
Wie war meine Seele? Wie das Tal war sie, Sonne und Wolkenschatten, jagende Wolkenschatten, ich freute mich über die Sonne, ich griff nach ihr, wollte sie bannen, ich war glücklich, ich dachte nicht an die Schatten. Nein, ich wollte nicht an sie denken.
Ingeborg liebte mich. Sie küßte mich tausendmal. Aber ihre Lippen küßten anders, es war ein anderer Kuß.