Paul Keller
»Sieh dich für!«
Paul Keller

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Nun nahm auch ich endlich das Wort und sagte: »Ernestine, eine solche Behandlung finde ich eigentümlich!«

Sie gab mir keine Antwort, zündete die kleine Lampe wieder an und erteilte drei vermummten Kerlen den Befehl, mich hinauszuschaffen.

»Halt!« rief ich, »halt! Ich will erst wissen, was das zu bedeuten hat. Ich protestiere! Wie könnt Ihr einen alten, treuen Freund so behandeln?«

Sie lachten aus einem Halse.

»Söhnchen,« fragte die Ernestine in mütterlichem Tonfalle, »wirst du diese Szene auch in der Zeitung schildern?«

»Gewiß!« sagte ich trotzig.

»Nun, so bald wirst du es nicht tun,« entgegnete sie höhnisch. – »Aber darum handelt es sich gar nicht.«

Sie sah mich lauernd an.

»Wie geht es deinem Freunde Dietrich?«

»Ich habe keinen Freund Dietrich.«

Sie zuckte verächtlich die Schultern.

»Du willst ein Romanschreiber sein und kannst schlechter lügen als ein kleiner Junge.«

»Ich habe keinen Freund Dietrich,« schnauzte ich wütend und stampfte mit meinen beiden gefesselten Füßen auf die Diele. »Und überhaupt, die ganze Geschichte paßt mir nicht!«

»Das Söhnchen ist unartig,« sagte die Ernestine kalt, »schafft es hinaus.«

In diesem Augenblicke hörte man draußen einen Reiter die Straße daher jagen. Die Augenbrauen der Ernestine zogen sich für einen Augenblick zu scharfem Nachdenken zusammen. Dann blies sie die Lampe aus. Es fiel mir ein, jetzt sei vielleicht eine gute Gelegenheit, um Hilfe zu schreien; aber ich genierte mich und blieb stumm.

»Hinüber mit ihm – rasch!«

Ich wurde mit Gewalt ergriffen und, obwohl ich mich aus Leibeskräften wehrte, hinausgeschafft. Wir kamen auf den matt erhellten Hausflur; ich wurde in einen dunklen Gang getragen, und es wurde dort eine eiserne Tür geöffnet, die gräßlich kreischte. Hierauf wurden mir in größter Hast die Fesseln gelöst, ich wurde in einen finsteren Raum gestoßen, und die Tür fiel krachend hinter mir zu. Das Schloß schrie auf, als draußen der Schlüssel in ihm umgedreht wurde.

»Mach' dir's recht bequem,« sagte einer von draußen. Dann gingen sie mit schlürfenden Schritten davon, und es wurde still.

Das war aber doch eine merkwürdige Begebenheit!

Ich fühlte mir an den Kopf. Also das stand fest, ich war völlig vernünftig. Ich konnte das Einmaleins mit 17 und den Hamlet-Monolog auf englisch tadellos hersagen. Und ich träumte auch nicht. Das merkte ich ganz deutlich an den Stellen, wo mich die wüsten Kerle gepackt hatten. Ebenso fest stand aber, daß heute der 15. November war, daß ich an diesem 15. November am Vormittage noch an meinem Schreibtische in der Haupt- und Residenzstadt Breslau gesessen hatte, in meiner persönlichen Sicherheit bewacht von einem Heer von Polizisten, und daß ich nun hier im ›Sieh dich für‹ der elend verlassene Gefangene einer Räuberbande war. O, welcher Unterschied ist doch oft zwischen Morgen und Abend!

Es war so finster, daß ich nicht die eigene Nasenwurzel sehen konnte. Wie betäubt stand ich da.

Ich erwachte aus meiner Erstarrung erst, als ich mich etwas lebhaft in den einen Fuß zwickte. Da fielen mir die Strümpfe ein, die mir die Ernestine geborgt hatte. Was bloß diesem Frauenzimmer einkam, mich hier so schmählich gefangen zu setzen? Hatte ich es nicht immer gut mit ihr gemeint, hatte sie sich nicht immer auf mich verlassen können? Hatte ich ihr nicht zu jedem Geburtstage ein Geschenk geschickt? War ich nicht in Breslau, als sie mich einmal besuchte, sogar mit ihr im Theater gewesen, obwohl sie in einer so auffallend ländlichen Toilette war, daß ich bei all meinen Bekannten Staunen erregte. Im Foyer wollte sie mich von ihrem Käsehörnchen »abbeißen« lassen. O, es war peinlich. Und nun sperrte sie mich ein!

Warte, du undankbare Bestie, an dir werde ich mich schon noch rächen! Elende Ernestine!

Ich suchte in meiner Tasche, nach meiner elektrischen Lampe. Ein ganz neues System, brennt dreizehn Stunden lang taghell. Ich hatte die Lampe erst heute mittag beim Wege zum Bahnhof erstanden. Es war ja ein Riesenglück, daß ich in dieser gräßlichen Finsternis wenigstens dies tröstliche Licht besaß!

Die Lampe funktionierte nicht. Wahrscheinlich hatte der Verläufer die dreizehn Stunden schon persönlich abgebrannt. So stand ich rettungslos in der Grabesfinsternis meines Räuberverließes. Zum Glück fiel mir ein, daß ich Raucher bin und also immer die eine oder andere Schachtel Zündhölzer bei mir habe, die – wie bei allen Rauchern – teils aus eigenem, teils aus fremdem Besitze stammen.

Ich suchte in meinen Taschen und fand sieben Schachteln, zwei mit Inhalt und fünf leere.

Ich machte Licht. Die »kalte Küche« kannte ich von früher. Es war ein ziemlich schmaler, aber sehr hoher Raum. Den Namen führte er nicht ganz mit Unrecht. Hoch an der Decke war ein breites Brett angebracht, darauf lagen Schinken, Würste, standen Obstkörbe, Zigarrenkisten und Likörflaschen. Aber das Brett war in teuflischer Absicht so hoch angebracht, daß der arme Gefangene, der hier schmachtete, nichts von den Herrlichkeiten erreichen konnte, sondern wie Tantalus ein elendes Dasein fristen mußte.

Der Raum bot aber auch sonst des Interessanten noch mancherlei. Er hatte in früheren Zeiten als »Fremdenzimmer« gedient und war die niederträchtigste Fallgrube der ganzen Spelunke. Er stand nämlich mit einer unter ihm liegenden Höhle in Verbindung. Im Fußboden war ein quadratisches Brett, das sich leicht ausheben ließ und eine Öffnung verdeckte, durch die ein Mann nach dem andern bequem aus der Höhle emporsteigen konnte, da hat mancher stille Gast des »Fremdenzimmers« für immer »fremd« gemacht.

Die Ernestine erzählte mir einen Streich, der hier passiert und dann verschiedentlich ungerechterweise auch von anderen Orten erzählt worden ist: Ein junger Rittersmann in reichem Anzuge, mit einer goldenen Kette auf der Brust und kostbaren Ringen an den Händen, war einst im »Sieh dich für« zur Nacht eingekehrt. Er hieß mit dem Taufnamen Dietrich; sein Familienname ist der Historie verloren gegangen. Es war die Zeit, da mein angeblicher Urahne Bartholomä Wirt im »Sieh dich für« war. Als es nun tiefe Nacht war, machten sich vier wüste Gesellen daran, den Rittersmann zu überfallen, zu erschlagen und zu berauben, Katzengleich stieg der erste in der Höhle empor und hob leise den Deckel im Fußboden ab. Darauf steckte er den Kopf in das Schlafgemach des Fremdlings. Der aber war klüger als die Räuber, hatte sich auf die Lauer gelegt, und als nun der erste Räuber den Kopf durch das Loch steckte, säbelte ihm der Ritter mit seinem haarscharfen Schwerte den Hals durch, ergriff aber gleichzeitig den Räuber und zog den Körper rasch herauf. Der zweite kam und wurde ebenso geköpft. Der dritte zögerte, doch der Ritter machte ihm ein leises Beruhigungszeichen, und auch der dritte fand den wohlverdienten Tod. Der vierte war Herr Bartholomä. Er war stutzig geworden, er schaute blitzschnell, als er den Kopf durch das Loch steckte, was los war und tauchte schlau wieder unter, so geschah es, daß ihm nur der Haarschopf etwas unsanft geschoren wurde und auch ein Stück Kopfhaut an dem Schwerte des Ritters hängen blieb.

Das also war das freundliche Gemach, in dem ich mich jetzt befand. Ich zündete zwei Streichhölzer auf einmal an und beleuchtete den Fußboden. Richtig, da war das verhängnisvolle Brett. Ich lockerte es ohne große Mühe und hob es empor.

Entsetzt fuhr ich zurück. Ein Kopf tauchte aus der Tiefe empor, aus der gleichzeitig ein Lichtschein drang.

Es war der Kopf der Ernestine.

Ich starrte den Kopf, der aus dem unheimlichen Loche unter meinem Verließe auftauchte, erschrocken an.

»Ernestine!«

Sie lachte schadenfroh.

»Ich dachte es mir, mein Söhnchen, daß du den Deckel heben würdest; aber die Ernestine ist immer eine Minute eher da als du.«

»Ernestine, es ist gemein von euch.«

»Was können wir dafür? Willst du es mir nun gestehen, was dein Freund Dietrich plant?«

»Ich habe keinen Freund Dietrich!«

»Paulchen, denke daran, daß es hier in dem Gewölbe kalt ist, daß du schon den Schnupfen hast und daß die Novembernacht lang ist.«

»Das alles weiß ich. Aber ich habe keinen Freund Dietrich.«

»Weißt du auch nichts von den Schergen?«

»Kein Wort! Ich habe in den letzten Jahren so viel Arbeit gehabt, daß ich mich gar nicht um den ›Sieh dich für‹ habe kümmern können.«

Nun stieg die Ernestine vollends zu mir herauf. Sie hatte Mühe, ihre riesige Gestalt durch die Öffnung im Fußboden heraufzupressen. Endlich stand sie vor mir in der tiefen Dunkelheit, in die jetzt nur von unten ein schwacher Lichtschimmer drang. Die Räuberwirtin kam mir ganz nahe, starrte mir in die Augen und sagte mit fast feierlicher Stimme:

»Ich frag' dich bei unserer alten Freundschaft, weißt du wirklich nichts von einem Manne, der Dietrich heißt, und von den Schergen?«

»Nichts! Gar nichts!«

»Gib mir die Hand darauf.«

Ich gab ihr die Hand.

»Also bist du unschuldig!« sagte sie und seufzte ordentlich erleichtert auf; »denn bei der Freundschaft schwindelst du nicht! Komm, ich werde dich hinauslassen.«

»Ich möchte einmal da hinunter schauen,« sagte ich und wies auf die matt erhellte Öffnung im Fußboden.

»Du kannst hier nichts sehen als die Treppe. Wenn du mit den beiden Käuzen, die unten stecken, reden willst, mußt du hinuntersteigen. Es sind Dietrichleute. Spione! Franz, Der Hofhund und ich haben sie geschnappt. Ich bleibe einstweilen hier.«


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