Paul Keller
»Sieh dich für!«
Paul Keller

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»Bringt mir den Sänger!« befahl die Prinzessin darauf. Ihrem Wunsche schien nie ein Widerspruch zu begegnen. Eine Abordnung machte sich auf den Weg, und bald stand bleich und mit zerzaustem Haar der Mann in der Tür, der das Gedicht von den Quallen und dem steinernen Finger gemacht hatte. Als er die Prinzessin sah, kniete er vor ihr nieder.

»Meine Königin, Ihr habt mich gerufen!« hauchte er; »ich stehe zu Eurem Befehl.«

»Erhebt Euch, Torquato Lenau,« gebot sie, »denn dieser Boden ist schmutzig. Traget das Gedicht von den Quallen, den Tauben und Tigern vor. Aber himmelt nicht, sonst verstehen Euch diese Bravos nicht, und stoßt nicht mit der Zunge an, denn das mag ich nicht leiden.«

Torquato Lenau! – Das war also das Pseudonym des Dichters. Tasso und Nikolaus hatten in diesem Jüngling ein gemeinsames lebendes Denkmal.

Torquato Lenau erhob sich. Seine schwermütigen Augen glimmten die Prinzessin an, er warf die schwarze Locke ans der Stirn und sagte: »Frau Königin, das Gedicht ist das göttliche Wirrnis wilder Anklage gegen Euch!«

»Laßt das Wirrnis vom Stapel!«

»Frau Königin, schützt doch das zarte Gebilde der Kunst vor diesen rohen Horden! Seine Zephirwellen versiegen im Schmutz ihrer Ohren, und seine tiefen Gedanken fallen in den Sumpf ihrer Herzen.«

»Man sollte diesen Jammerbrei in die Senkgrube werfen!« murmelte der Gurgelzerquetscher.

Auch die anderen brummten unwillig.

»Still!« gebot die Prinzessin, »Keine Empfindlichkeiten. Torquato, Lenau beginne!«

Da sank der Kopf des Dichters nach vorn; da hüstelte er wie ein Schwindsüchtiger; dann griffen seine dünnen Finger durch die Luft, und dann deklamierte er, mit imaginärer Harfenbegleitung, erst flüsternd, tonlos, dann anschwellend, sprudelnd, rollend, dann sieghaft, dröhnend, zermalmend, am Schluß müde, ersterbend, flüsternd, tonlos, visionär:

»Von den Gründen der Quallen
Zu dem Steinfinger,
Auf dessen morgenroter Spitze
Der morgenrote Falke
Sitzt, lacht, mordet, –
Durch triefende Steinmauern,
Durch das Helldunkel,
Durch das grasse Licht des Tages
Zurück ins Helldunkel.
Nein, nicht zurück, nein, weiter! –
Ja weiter! Immer weiter! –
Wurzeln fort, schleichen, rasen, jagen, flattern
Weiße Hirsche, Blumen, Tauben und Tiger!« –

Stille.

Das Dichterhaupt, das sich erhoben hatte,
sank auf die flatternde blaue Krawatte.

Der graue Otter spuckte aus. Das zugedrückte Auge tränte. Der blutige Dolch fing eine Fliege und warf sie in so wildem Zorn gegen die Wand, daß sie elend verstarb. Ich und die anderen Räuber standen in so blöder Hilflosigkeit da, daß wir das prachtvollste Panorama von Dummköpfen boten.

Die Königin aber sagte:

»Ihr habt das Gedicht etwas umgeändert, Torquato!«

Er lächelte.

»Was wächst, das ändert sich. Jedes meiner Gedichte wächst unaufhaltsam und ändert sich deshalb unaufhörlich. So ist das Helldunkel hinzugekommen. Der Grund ist leicht ersichtlich: das lyrische Gemälde brauchte Rembrandtsches Kolorit.«

»Dem sei, wie ihm sei,« sagte die Prinzessin. »Aber ich wende mich jetzt an Euch, Gentlemen, und ändere meine Bedingungen dahin, daß der, der mir das Gedicht deutet, mein Gatte sein soll, auch wenn er sich in alle Ewigkeit die Zähne nicht putzt.«

Da erhob sich der rote Ignaz vom Boden aus seiner Ohnmacht und sagte, er wolle das Gedicht deuten. Darauf gab ihm der graue Otter wieder eine so gräßliche Ohrfeige, daß Ignaz in eine noch viel tiefere Betäubung verfiel als zuvor. »Ich deute das Gedicht selbst,« schrie der Otter. »Es ist der Chimborasso des Blödsinns, es ist der verrostetste aller Korkenzieher, den uns die modernen Lyriker in das gesunde Rückgrat hineindrehen; es ist der heruntertropfende Speichel eines ungewaschenen Dichterlingmaules; es ist der Saft eines gebratenen, verfaulten Gehirns.«

Die Prinzessin sah den grauen Otter freundlich an.

»Otterchen,« sagte sie, »du sprichst bilderreich. Ich rate dir, gib das Räubergewerbe auf, geh' nach Berlin und etabliere dich als Kritiker. Dein Ton ist charmant, und deine Bilder sind klar, du hast Talent, aber du bist noch ein Anfänger. Deine Deutung genügt mir nicht.«

Darauf fingen die anderen Räuber an, das Gedicht zu beurteilen, und sie waren viel gröber als der gemäßigte graue Otter. Die Prinzessin riet allen, nach Berlin zu ziehen und Kritiker zu werden, sie würden dem Publikum und darum auch ihren Verlegern sehr gefallen. Die richtige Deutung aber fand keiner.

Da wandte sich die Prinzessin an mich.

»Und du, Fremdling, was empfindest du bei diesen Versen?«

»Ich schwitze,« sagte ich.

»Und sonst weißt du nichts zu sagen?«

»Nein, aber ich schwitze sehr!«

Der Dichter wandte sich mit einer gnädigen Handbewegung mir zu.

»Dieser Mann,« sagte er, »ist zwar ein Ignorant, aber er hebt sich doch von dieser Horde von Greifaffen aus der Steinzeit vorteilhaft ab. Er hat Gefühl. Er schwitzt. Die Kunst wirkt also auf ihn. Zwar nur physisch; aber er hat doch Nerven.«

»Wenn also niemand die Lösung deiner Dichtung weiß,« entschied endlich die Prinzessin, »so sage sie selbst, Dichter. Aber sage sie deutlich, sonst trifft dich nie mehr mein Blick.«

Der Dichter seufzte schwer.

»Deutung – Deutung – Sinn – Zweck – Greifbarkeit – was soll das in der Dichtung? Kann ich mich mit einem Zeigestock vor den morgenroten Himmel stellen wie ein Schulmeister vor seine Landkarte und die Dämmerfarben und die Farbeninseln und die blauen Buchten, die weißen Berge und grünen Himmelswiesen und alle Sehnsüchte und Anmutungen, die daraus entsprießen, erklären?«

Ich war überrascht, wie er das so sagte, und nahm mir vor, auch im unverständlichsten, wirresten Künstlermenschen in Zukunft immer noch ein gut Teil zu vermuten.

»In den Gründen, wo die Quallen hausen,« fuhr Torquato mit einem schweren Seufzer fort, »liege ich gefangen. In der Höhle! In dem Turme, der sich als Steinfinger über diese Lande hebt, wohnt Ihr, Frau Königin, frei, leichtflügig, aber auch grausam wie ein Falke, der in den bunten Singvogel, der ihn liebt, seine spitze Kralle schlägt. Und zwischen meiner Quallengruft und Eurem hohen Turm geht ein Gedankenweg, eine Seelenstraße, durchbricht das graue Gestein, geht durch die Dämmerschatten dieses Hauses über das grelle Licht des Hofes in die Dämmerungen Eures Turmes zu Euch, Frau Königin. Auf der Straße jagen die sehnsüchtigen Hirsche meiner Wünsche, ranken die zarten Blumen meiner Zumutungen, flattern die weißen Tauben meiner Liebe, rasen die wilden Tiger meiner Rachsucht, wenn Ihr mich verschmäht. Das ist der Dichtung Sinn!«

Der rote Ignaz erhob sich wieder vom Boden. »Genau so habe ich es deuten wollen,« sagte er. Als aber der graue Otter zu einer Ohrfeige ausholte, die fähig gewesen wäre, einen ehernen Löwen zu enthaupten, duckte sich Ignaz und fiel diesmal freiwillig in Ohnmacht.

»Tintenfleck,« schrie der Otter, »wenn ich dich jetzt nicht augenblicklich totschlage ob der frechen Lösung deiner Dichtung, so verdankst du es nur dem Schutze der Königin. Was auf deinen Wegen von Getier herumläuft, sind nicht Tauben und Hirsche, sondern Kamele, verrückte Mäuse, giftige Wüstenflöhe und gemütskranke Eichhörnchen.«

Er konnte nicht weiterreden, die Tür ging auf, der Professor erschien. Er hatte die Tür seiner Höhle offen gefunden und war heraufgestiegen zu uns. Ohne sich im mindesten um die Räuber und die Prinzessin zu kümmern, ging der fürchterliche Mann direkt auf mich los.

»Also Sie sind aus Breslau?«

»Jawohl!«

»Da haben sie also den Froissart sozusagen täglich als Unterhaltungslektüre. Können sie mir sagen, wie Eschenlohr dazu kam, das Werk gerade nach Breslau zu schleppen?«

»Nein! Aber warum sollte er es nicht tun? In Breslau war der Froissart stets gut aufgehoben. Anno 1806 haben die getreuen Breslauer das kostbare Werk vergraben.«

»Jawohl, darüber wollte ich sie fragen. Napoleon hat also den Breslauern angeboten, ihnen die Kriegskontribution zu erlassen, wenn sie ihm den Froissart gäben. Halte das der Mann aus sich selbst oder hatte er einen Berater?«

»Das ist mir nicht bekannt.«

Der Professor hatte sichtlich eine scharfe Bemerkung über meine Unkenntnis auf der Zunge, als plötzlich etwas Unerhörtes geschah.

Die Tür wurde weit aufgerissen; vier schwarz vermummte Gestalten erschienen, sie streckten uns Pistolen entgegen, und einer der Männer rief mit Donnerstimme:

»Hände hoch! Das Haus ist umstellt! Seht nach den Fenstern!«

Draußen an den Fenstern standen Männer mit Gewehren im Anschlag, wir waren überfallen.

»Ergebt Euch! Hier die Männer der Gerechtigkeit. Hier Dietrich!«

»Hölle und Teufel! Die Schergen!« schrie da der graue Otter und stürzte mit geschwungenem Dolche auf den Sprecher los. Es dröhnte ein Schuß, der Otter wankte und brach zusammen.

»Hände hoch! Eins, zwei –«

Wir streckten die Hände in die Luft. Wir waren alle wie erstarrt vor Schreck. Die Räuber standen mit bleichen Gesichtern da; ein paar versuchten eine Verwünschung zu stammeln; sie erstarb ihnen auf den bebenden Lippen. Unheimlich standen die vier schwarzen mit ihren Pistolen an der Tür, zu allen Fenstern starrten Flintenläufe herein. Auf den Baretten der Männer waren schwarze Zedern, schwarze Masken deckten ihre Gesichter, schwarze Mäntel fielen über ihre Schultern.

»Es treten alle in der Mitte des Zimmers zusammen,« gebot der Führer, welcher der Dietrich war. Wir gehorchten, bildeten willenlos einen Kreis. Dietrich trat drei Schritte vor und setzte als Sieger den Fuß auf den grauen Otter, der leblos am Boden lag. In diesem Augenblick flammte ein greller Blitz auf, und ein entsetzlicher Qualm erfüllte die Luft. Dietrich wandte sich nach einer Stubenecke. Man sah ihm eine freudige Überraschung an.

»Ah, Prinzessin, Ihr seid da und habt uns photographiert? Verzeiht, daß ich Euch noch nicht bemerkte und daß ich mich augenblicklich nicht zu Euren Diensten stellen kann. Ihr wißt, daß ich Euch sonst, holdeste aller Musen – –«


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