Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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Nun verbrachte Marie täglich eine qualvolle Stunde drüben bei dem alten Pflaumenbaume. Blaß, mit erregten Augen ging sie zwischen den entblätterten Johannisbeerbüschen hin und her und warf zuweilen einen angstvollen Blick auf das Gartengitter. Oft war sie nahe daran fortzulaufen, sich im Park zu verstecken, Armin Biber mochte nun kommen oder nicht; allein sie fürchtete sich vor Hildas Verachtung, sie wollte ja auch ein modernes Mädchen sein, und endlich zog dieses Erlebnis, das sie so angstvoll erwartete, sie dennoch unwiderstehlich an. Es war am dritten Tage nach Hildas Besuch, daß Marie am Gartengitter einen Herrn sah, der von seinem Rade sprang, das Rad gegen das Gitter lehnte und zu ihr hinübergrüßte. Er trug einen braunen Radfahreranzug und einen kleinen, schwarzen Filzhut. Regungslos blieb Marie stehen und starrte den Fremden an, dann ging sie langsam und wie mechanisch auf das Gitter zu. Der Fremde zog wiederum seinen Hut tief ab und verbeugte sich. War das Armin Biber, dieser kleine Herr mit dem geröteten Gesicht, dem glattrasierten bläulichen Kinn und dem langen bleichen Munde? Jetzt trat er nah an das Gitter heran, lächelte und zeigte dabei eine Reihe weißer Zähne, in denen eine Goldplombe blank hervorglänzte. Marie sah das alles ganz genau. Nun begann er zu sprechen, ja, das war Bibers schöne, tiefe Stimme.

»Durchlaucht haben befohlen«, sagte er, »hier bin ich.«

»Das ist sehr freundlich«, hörte sie sich sagen, und sie sah, wie ihre Hand zwischen den Gitterstäben hindurch sich Armin Biber reichte. Er ergriff sie und küßte sie.

»Ich wollte Ihnen so gern danken«, fuhr Marie fort, »für den großen Genuß damals im Theater.«

Armin Biber wurde ernst, und Marie fand in seinen Augen etwas von Karl Moor wieder. Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Ach, Durchlaucht«, versetzte er, »das ist ja der eigentliche Lohn unseres oft dornenvollen Berufes, daß unsere Kunst zuweilen in einem vornehmen und edlen Herzen wiederklingt.«

Was soll ich jetzt sagen, dachte Marie, aber da sagte sie schon: »Es muß sehr schwer sein, solche Rollen zu spielen.«

»Nun ja«, erwiderte Armin Biber, »die Hauptsache ist, daß man die Rolle fühlt, und da muß man schon einiges an Nervenkraft und Herzblut zusetzen.«

»Das kann ich mir denken«, bemerkte Marie. Eine Pause entstand, und Marie dachte: Wie soll das enden?

Aber Armin Biber begann wieder zu sprechen: »Ich hätte gern als Erinnerung an diese bedeutungsvolle Stunde Euer Durchlaucht mein Bild mitgebracht, allein ich wagte es nicht.«

»Wie schade«, meinte Marie, »aber vielleicht geben Sie mir als Andenken die kleine, gelbe Blume dort am Wege.«

»Die dort?« fragte Armin Biber und kniff seine Augen zusammen, »bon, ich fliege.« Er sprang zu der gelben Blume hin, pflückte sie und reichte sie lächelnd durch das Gitter.

Marie versuchte auch zu lächeln, als sie die Blume entgegennahm. »Ich danke Ihnen«, sagte sie, »jetzt aber, glaube ich, muß ich gehen.«

Wieder streckte sie die Hand durch das Gitter, und wieder erfaßte Armin Biber sie und küßte sie. »Es wird mir eine unvergeßliche Erinnerung sein«, versetzte er leise und innig. »Adieu, Durchlaucht, adieu.« Er schwenkte seinen Hut, sprang auf sein Rad und fuhr schnell und elegant die Landstraße entlang.

Marie schaute ihm nach, und ein angenehmes Gefühl unendlicher Erleichterung erfüllte sie. Eilig schritt sie dem Schlosse zu, sie war froh, daß es vorüber war und stolz, daß sie das erlebt hatte. Als sie in ihrem Zimmer ankam, bemerkte sie, daß die kleine gelbe Blume ihr unterwegs entfallen war.

*

Der Winter setzte dieses Jahr früh mit starkem Schneefall ein. Nur selten drang die Sonne durch die niedrig hängenden hellgrauen Wolken. Immer wieder schneite es, jeden Morgen war der Park mit seinen Bäumen, der Garten, das Schloß wie in große Wellen weißen Musselins gehüllt. Der Baron Fürwit trippelte mit kleinen Schritten durch die Zimmer und regulierte ihre Temperatur. Graf Streith kam im Schlitten mit hellem Schellengeläute angefahren. Marie hustete viel, und nach Weihnachten wurde sie ernstlich krank. Mit hohem Fieber lag sie in ihrem Bette, und die kärglichen Erlebnisse ihres Lebens umschwebten sie in ihren Fieberphantasien, Armin Biber kam, aber er schwebte eine Spanne hoch über dem Boden, und seine Beine schwangen hin und her wie der Pendel einer Uhr. Britta stand neben ihm, lachte und sagte: »Ticktack, ticktack.« Auch Felix Dühnen erschien, er verzog seinen Mund zum höhnischen Knabenlachen und schlug Marie auf die Hand. Aber sie hatten alle etwas Gespenstisches und Feindseliges, Marie flüchtete angstvoll vor ihnen, flüchtete aus dem Traum in das Erwachen. Sie schlug die Augen auf, an ihrem Bette saß ihre Mutter und lächelte ihr zu.

»Geschlafen, mein Kind?« sagte sie.

»Ja«, erwiderte Marie. Die klaren, braunen Augen ihrer Mutter taten ihr wohl, es war, als wehte etwas angenehm Kühlendes aus ihnen herüber, als läge in ihnen etwas, das den Durst löschte.

»Schlafe nur, meine Tochter«, fuhr die Fürstin fort, »und wenn wir kräftiger sind, dann reisen wir dorthin, wo die Sonne ganz warm ist, an ein warmes, blaues Meer, dort werden wir ganz gesund.«

Marie versuchte zu lächeln, seufzte tief und schloß wieder die Augen. Jetzt war ihr wohl, sie sah diese gelbe, warme Sonne und das warme, blaue Meer, eine große blaue und goldene Stille. Dann kamen wieder Bilder, aber dieses Mal friedliche, halb Erinnerung, halb Träume, ein Zimmer im Schlosse Birkenstein, Marie mußte noch sehr klein sein, denn das Zimmer erschien ihr unendlich hoch und die Möbel sehr groß. Sie saß auf dem Schoße ihrer Mutter, saß da ganz in veilchenblauer Seide und spielte mit einem kleinen, goldenen Herzen, das an einer Kette auf der Brust ihrer Mutter hing. Vor ihnen aber im Zimmer ging ein Herr hin und her und sprach laut und schnell. Marie wunderte sich, daß auf das goldene Herz, mit dem sie spielte, zuweilen warme Tropfen fielen. Und dann wieder lag sie in ihrem kleinen Bette, es war Nacht um sie her, aber das Zimmer nebenan, wo die Schwestern schliefen, war hell von Mondenschein. Und plötzlich erschienen da in der bleichen Helligkeit zwei kleine Gestalten in langen, weißen Hemden, und sie faßten einander und tanzten. Marie sah deutlich auf dem hellbeschienenen Fußboden die rastlos tanzenden Füßchen. Allmählich verblaßten die Bilder, und Marie sank in tiefen Schlaf.

Die Fürstin schaute sinnend den blonden Kopf ihres Kindes an, das Gesicht, über dessen weichen Zügen eine mutlose Erschöpfung lag, ein Ausdruck, wie Menschen ihn haben, die bei einer zu schweren Arbeit matt niedersinken. Wie dieses arme kleine Leben kämpft, dachte die Fürstin. In ihren Ohren klang Maries Stimme: Soviel ich sehe, ist jetzt für mich kein Vergnügen in Aussicht, das rührte sie so stark, daß es wehe tat. Sie wandte den Blick ab und schaute zum Fenster hinaus. Trotz der bleichen Wintersonne irrten doch einige große Schneeflocken langsam durch die Luft. Aus der Ferne klang das Schellengeläute eines Schlitten herüber. Die Gedanken der Fürstin suchten nach etwas, das nicht wehe tat, das tröstete, sie dachte an das Jagdschlößchen, an Streith, wie er in den dunkeln Garten hinausgeht und zu dem erleuchteten Gartensaale hinuntersieht. Sie kannte diesen Gartensaal, die Wände mit den vielen Ölbildern, die ihren Firnisgeruch in den Duft der ägyptischen Zigaretten mischten, die Möbel mit ihren seltsamen himbeerrot- und grüngestreiften seidenen Überzügen und den vergoldeten Zieraten auf der Lehne, den schwarzen Mamortisch mit den geschweiften, vergoldeten Füßen und das Tigerfell vor dem Kamin. Gut müßte es tun, dort abends zu sitzen ohne Gedanken, ohne Sorgen, denn draußen im dunklen Garten geht einer umher, der alle Härten des Lebens, ja auch das Schmerzvolle der Vergangenheit von ihr nimmt. Und sie steht dann auf, tritt in die offene Tür, schaut in die Nacht hinein, die ihr süß nach Rosen und Nachtviolen entgegenduftet. Er kann sie jetzt im Türrahmen stehen sehen, und sie will rufen. Ein leises Stöhnen ließ die Fürstin aufschrecken, sie schaute wieder auf das Bett, Marie schlief, aber über ihr Gesicht zuckte es wie eine Qual, und die Hand, die auf der Decke lag, wurde unruhig. Die Fürstin beugte sich vor und schaute ihr Kind angstvoll an. Sie war mit ihren Gedanken so weit von ihm fortgewesen, und es schien ihr, als hätte sie ihm ein Unrecht, eine Grausamkeit angetan. Sie neigte sich auf die ruhelose, fieberheiße Hand der Kranken nieder und küßte sie. Dann erhob sie sich und verließ das Gemach.

Draußen ging sie langsam und bekümmert durch die stille Zimmerflucht, in ihrem Boudoir setzte sie sich nieder, lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Sie war krank vor Mitleid, Mitleid mit ihrem Kinde, Mitleid mit sich selbst. Irgendwo im Hause ging eine Türe, und das Parkett knarrte unter einem bekannten Schritte. Die Fürstin richtete sich auf und lächelte. Ach ja, Streith ist da, ging es ihr durch den Sinn.

*

Zwei Jahre waren verflossen, und an einem schönen Maientage saßen die drei Schwestern wieder unter dem alten Pflaumenbaume, der jetzt ganz in Blüte stand. Die Großfürstin Dimitri und die Erbprinzessin von Neustatt-Birkenstein waren nach Gutheiden gekommen, um in der alten Heimat einige Tage beisammen zu sein, ganz wie einst in ihren Mädchentagen. Nun gingen sie ihren Erinnerungen nach. Auf dem besonnten Rasen waren Decken gebreitet worden, auf welche die Damen sich niedergelassen hatten. Roxane saß wie früher aufrecht da, unter ihrem roten Sonnenschirme, sie war sehr stattlich geworden, die regelmäßigen Züge hatten sich ein wenig verschärft, die Augen mit dem ruhigen Edelsteinglanz schauten gerade vor sich hin, so saß sie da wie eine sinnende Göttin unter ihrem roten Baldachin. Eleonore hatte sich bequem hingestreckt, sie war etwas stark geworden. Das Gesicht, wenn es lachte, war noch das freundliche Mädchengesicht von früher, es war jedoch blaß und, wenn es ernst dreinschaute, lag es über ihm wie verdrossene Müdigkeit. Marie lag platt auf dem Rücken und schaute zum Himmel hinauf. Die Jahre hatten ihre Gestalt schlanker und mädchenhafter gemacht. Das blonde Haar lockte sich noch ebenso eigensinnig über der kurzen Stirn, und die runden Augen schauten noch ebenso erwartungsvoll und kritisch in die Welt hinaus. Die Schwestern hatten lange geschwiegen, jetzt begann Marie zu sprechen: »Nun, erinnert ihr euch?«

»Dazu sind wir ja da, Kleine«, erwiderte Roxane.

»Es ist nur merkwürdig«, fuhr Marie fort, »daß es nichts zu erinnern gibt. Es geschah damals nichts.«

»Das ist ja das Schöne«, meinte Eleonore, »eine Zeit, in der nichts geschah. Nur so das bekannte Licht, die bekannten Gerüche.«

»Sehr gut«, plauderte Marie weiter, »aber man kann auch davon zuviel haben. Wenn wir von San Remo nach Hause reisen, freue ich mich auch. Ich denke, zu Hause wird es besser sein. Es ist nämlich sehr langweilig, in San Remo die kranke Prinzessin zu sein, rechts Mama, links die Baronin Dünhof, und es ist nur davon die Rede, ob ich mich erhitzt oder erkältet habe. Gut, wir kommen nach Hause, und dann liegt zu denselben Stunden, in denselben Ecken derselbe Sonnenschein. Wenn wir spazierenfahren, stehen im Dorfe dieselben Frauen an den Fenstern, und dieselben Hunde bellen, und der Baron Fürwit macht dieselben Späße, und der Graf Streith spricht bei Tisch wieder von der Psyche der Franzosen und der Engländer. Das ist dann auch nicht heiter. Übrigens hat sich manches verändert. Mademoiselle Laure ist nicht da, die Dühnenschen Jungen gehen nicht mehr vorüber, sie haben eine andere Badestelle. Felix ist jetzt Leutnant. Er war gestern hier, er sieht lächerlich aus mit seinem Scheitel über den ganzen Kopf. Heute kommt er mit Üchtlitzens zum Tennis, denn Doktor Ruck hat mir Tennis verordnet. Nun ja, und die alte Malwine bekommt das Gnadenbrot, und die kleine Emilie bedient mich, und Professor Wirth kommt nicht mehr.«

»Ach, der arme Wirth«, meinte Eleonore.

Marie lachte: »Ja, der arme Wirth, es hat wohl nie ein Professor drei unaufmerksamere Schülerinnen gehabt als er. Und wie höflich er immer war, besonders mit Roxane. ›Darf ich vielleicht fragen, wie der Volkstribun hieß, von dem wir in voriger Stunde sprachen?‹ Und Roxane war dann auch sehr liebenswürdig: ›Gewiß, Herr Professor, sehr gern, ich glaube, der Name fing mit einem R an.‹ Und Lore war immer so mitleidig, wenn sie nichts wußte. ›Es tut mir schrecklich leid, Herr Professor, aber ich habe es vergessen.‹«

Sie lachten ein wenig, dann brach die Unterhaltung ab, und sie hörten still dem Läuten der Bienen in den Pflaumenblüten zu.

Einmal äußerte Marie noch feierlich: »Nur wer etwas erleben will, erlebt was, sagt Hilda.«

»Ach die«, warf Eleonore hin; aber das ärgerte Marie. »Bitte«, sagte sie, »Hilda ist meine Freundin.«

Vom Hause klangen jetzt Stimmen herüber, und Marie richtete sich auf. »Da kommen sie schon zum Tennis«, meinte sie, »ihr bleibt wohl noch?«

»Ja, wir bleiben noch ein wenig«, erwiderte Roxane.

Marie erhob sich langsam und widerwillig, sie warf noch einen letzten Blick auf ihre Schwestern und sagte: »Roxane ist prachtvoll, wie ein russisches Heiligenbild. Lore ist noch nicht so weit.« Dann ging sie.


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