Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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Es regnete den ganzen Tag über. Streith beschäftigte sich am Morgen mit seinen Wirtschafts- und Rechnungsbüchern, später hatte er eine Unterredung mit dem Inspektor, dann mit dem Baumeister und der Großmagd. Er vertiefte sich mit Eifer in die Gespräche über Düngung, Kühe und Kälber. Das dauerte bis zum Frühstück.

Nach dem Frühstück setzte Streith sich zu seinen Büchern, da lagen auf seinem Tisch ein dicker Band über Forstkultur und eine Broschüre über die Regeneration der konservativen Partei. Er griff zuerst nach dem dicken Bande, las darin, legte ihn wieder beiseite, nahm die Broschüre, schaute hinein und warf auch sie fort. Es schien ihm heute, als stünde auf diesen Blättern nichts, was ihn anging. Er bog den Kopf auf die Stuhllehne zurück; ganz unvermittelt kam ihm eine sehr ferne Knabenerinnerung. Er war Gymnasiast in dem kleinen Städtchen und liebte Emma, die blonde Tochter des Oberlehrers Müller. Er dachte den ganzen Tag an Emma, er ging an ihrem Hause vorüber, um sie am Fenster zu sehen, ging die Straße entlang, um ihr zu begegnen. In dieser Zeit war es auch, daß er seine Schulbücher bitter haßte. In Cäsars Kommentaren, in Xenophons Anabasis stand nichts von Emma; sie waren nur dazu da, um Emma weiter von ihm fortzurücken und zu verhindern, daß er an sie dachte. Seltsam, wenn wir so und so viel Jahre gelebt haben, so sind wir alt, das ist die Ordnung. Allein unser Wesen macht diese Rechnung nicht mit. Was das Leben auch an Erfahrung und Weisheit hinzutut, in uns bleibt doch alles, was wir einst gewesen. In uns versteckt sich immer noch der Knabe mit seinen Torheiten, und taucht er in späteren Jahren wieder auf, dann gibt es die großen Überraschungen des Lebens. Es war doch widersinnig, daß er, Streith, der Abgeklärte, der Lebenskünstler, heute keine Ruhe fand, nur weil es regnete und er nicht die Möglichkeit haben würde, ein achtzehnjähriges Mädchen zu sehen, das ihn nichts anging und das nicht zu ihm gehörte. In letzter Zeit hatte er sich daran gewöhnt, täglich auf seinem Spaziergang Britta zu treffen, sie zu sehen, sie sprechen zu hören, sich als ihren Kameraden zu fühlen, sie wirkte auf ihn wie ein Jugendelixier, und heute, da er sie nicht sehen durfte, hungerte er nach ihr wie der Morphiumsüchtige nach der Morphiumspritze. Es war absurd. Sein Ordnungsgefühl litt unter der Verwirrung, die all das in sein Leben brachte, er schämte sich, denn der überlegene, ironische Kritiker war auch noch in ihm wach, er schämte sich vor sich selbst, vor seinen Räumen, seinen Möbeln und Bildern, die ihn feierlich umstanden, als seien sie sich der Pflicht wohl bewußt, die Umgebung eines weisen, auserlesenen Mannes zu bilden. Er schämte sich vor manchem anderen noch, und es machte ihn oft todmüde, die Gedanken immer wieder von Bahnen abzulenken, auf denen Schmerzhaftes sie erwartete. Aber an alledem war nichts zu ändern, er wußte, dieses Erlebnis mußte durchlebt werden. Es gibt eben Zeiten, in denen unser Leben neben uns herzulaufen scheint wie etwas Fremdes, etwas Selbständiges, über das wir keine Macht haben. Nervös erhob Streith sich von seinem Sessel, schritt einige Male im Zimmer auf und ab, stellte sich an das Fenster und trommelte mit den Fingern auf die Fensterscheibe. Der Regen hatte aufgehört; ein wenig Sonne stach durch die Wolken, große Tropfen fielen vom Dachfirst, und aus der Traufe ergoß sich ein Wasserfall.

Ein jähes Freudengefühl durchzuckte ihn plötzlich so stark, daß er errötete. Dem Fenster gegenüber auf dem Wege erschien Britta, sie trug einen grauen Wettermantel, die Kapuze hatte sie über den Kopf gezogen, sie nickte und lachte über das ganze Gesicht. Streith öffnete das Fenster. »Warum stehen Sie da im Regen?« rief er, »kommen Sie herein.«

Britta schüttelte den Kopf: »Nein, es regnet nicht mehr, kommen Sie heraus.«

»Gut, ich komme.«

Streith nahm sich nicht die Zeit, Oskar zu rufen; hastig holte er seinen Mantel, seinen Hut und Stock und eilte hinaus.

»So, jetzt wird es schön«, meinte Britta.

Streith atmete tief die feuchte Luft ein, alle Grämlichkeit war fort.

Britta sah ihn verständnisvoll an und fragte: »Gut, nicht wahr?«

»Ja, hm, angenehm«, erwiderte Streith, »gehen wir.«

Sie gingen einen schmalen Waldpfad entlang. Die Tannen hingen voller Tropfen, in denen die durchbrechende Sonne kleine, strahlende Lichter entzündete, und überall auf dem Moose, auf dem Kraut der Heidelbeeren und auf den Farnen lag weißer Glanz. Und mitten darin dieses Mädchen im grauen Wettermantel, die Kapuze auf dem Kopf, feucht vom Regen; es erschien Streith so nahe dem Walde verwandt, wie aus ihm hervorgegangen und zu ihm gehörig. »Sie konnten es zu Hause nicht aushalten«, begann er die Unterhaltung, »Sie mußten natürlich in den Wald hinaus.«

»Nein, ich hielt es in unserer Stube nicht aus«, erwiderte Britta, »eine Stube kann schrecklich sein, vielleicht, weil sie so viel von uns weiß.«

»Sehr möglich«, bestätigte Streith ernst, »der Wald ist diskreter.«

»Ach, im Walde«, meinte Britta, »da weiß einer vom anderen nichts, und dann ist es doch immer am gemütlichsten, wenn einer vom anderen nichts weiß.«

»So, hm, das ist neu«, versetzte Streith, »aber was haben Sie den Tag über getan?«

»Am Morgen habe ich Klavier geübt«, berichtete Britta, »so stark und so falsch, daß Mama, die heute natürlich nervös ist, wimmerte. Aber ich war boshaft und spielte nur noch stärker und falscher. Später hielt Mama mir meine Fehler vor.«

»Haben Sie viele Fehler?« fragte Streith.

Britta zuckte die Achseln: »Ja, ich habe viele Fehler. Ich denke zuweilen, wenn die anderen wüßten, wie es in mir ausschaut, dann würden sie Augen machen. Aber die Fehler, die Mama mir vorwirft, habe ich gewöhnlich nicht. Nun, das schadet nichts, sie ist die Mutter und glaubt, sie muß erziehen.«

Streith lachte: »Die armen Mütter, es wird von ihnen erwartet, daß sie erziehen, und so müssen sie denn tun, als verstünden sie diese kleinen Rätsel, die ihre Kinder sind.«

Britta schaute Streith aufmerksam an, sie verstand ihn nicht ganz, plötzlich hob sie ihren Arm, griff nach einem der Zweige, unter denen sie hingingen, und schüttelte ihn. Ein Tropfenregen prasselte auf beide nieder, Britta lachte und blinzelte mit den Wimpern, an denen Tropfen hingen. »Das tut gut«, sagte sie, »das hilft gegen die stärkste Traurigkeit.«

»Allerdings erfrischend«, meinte Streith und wischte sich die Tropfen aus dem Bart.

Der Weg führte jetzt aus den Tannen heraus an einer kleinen Wiese hin, die blaßlila von Schwalbenaugen war.

»Hübsch«, bemerkte Streith.

Allein Britta zog die Nase kraus, sie mochte diese Blumen nicht. »Die sehen aus wie das Sonntagskleid der alten Trine. Aber die dort mag ich«, und sie wies auf den höher gelegenen Teil der Wiese, der gelb von Trollblumen war, »die wollen wir pflücken.« Sie bog vom Wege in die Wiese ab, ungeachtet des hohen, nassen Grases.

Streith folgte ihr, vorsichtig die Beine hochhebend.

Britta machte sich eifrig an das Pflücken. »So pflücken Sie doch, Herr Graf«, rief sie, »Wir wollen einen Kranz flechten.«

Streith gehorchte, die Beschäftigung war ihm ungewohnt, das viele Sichniederbeugen, das Pflücken der harten, feuchten Stengel schienen ihm beschwerlich. Wie sie mich beherrscht, dachte er.

Britta hatte bald die Arme voller Blumen und erklärte, es sei genug; sie verließen die Wiese, Britta setzte sich auf einen Baumstumpf und begann ihren Kranz zu flechten.

Streith saß ihr gegenüber auf einem anderen Baumstumpf und rauchte eine Zigarette. Es war hier sehr ruhevoll unter dem leisen Klingen der von den Zweigen niederfallenden Tropfen.

»Sie waren wohl ein schönes, kleines Kind«, begann Streith.

»Ja«, erwiderte Britta, »ich war ein schönes Kind. Wir wohnten damals in der Stadt, und ich ging jeden Tag mit meinem Kinderfräulein in den Anlagen spazieren. Dort blieben die Leute stehen und sagten: ›Oh, das schöne Kind!‹ Ich muß damals sehr artig gewesen sein, denn dieses Spazierengehen in den Anlagen war doch gewiß kein Vergnügen. Wären wir in der Stadt geblieben, würde ich vielleicht eine Weltdame geworden sein wie Mama.«

»Wozu?« bemerkte Streith.

Britta schaute erstaunt auf: »Sie lieben doch Weltdamen? Alle die vielen Damen, die Sie geliebt haben, waren doch Weltdamen.«

Streith lächelte. »Es ist nun nicht so gewiß«, sagte er, »daß ich so viele Damen geliebt habe, und dann, wenn einer eine Weltdame liebt, so liebt er nicht die Weltdame in ihr, sondern das, was sie noch neben der Weltdame ist.«

»Ach ja«, meinte Britta überlegen, »das gute Herz, natürlich.«

Streith antwortete darauf nicht, er schaute eine Weile schweigend zu, wie sie in dem blassen Gold der Blumen wühlte und ihren Kranz band.

Jetzt war sie fertig, sie streifte die Kapuze vom Kopfe, nahm den Hut ab und setzte den Kranz auf. Die feuchten Blumen streuten Tropfen in das Haar und auf die Stirn, Britta sah Streith an und lächelte befangen.

»Schön«, sagte Streith. Und wirklich, die Bewunderung für dieses goldbekränzte Mädchen vor ihm ging ihm heiß ins Blut, wie südlicher Wein, er hätte niederknien mögen vor diesen Farben, diesem Lächeln, dieser Jugend, er hätte sie an sich nehmen wollen, damit keiner sie ihm raube. Allein er tat nichts von alledem. Donalt von Streith konnte all das nicht tun, es hätte sich für ihn nicht geschickt. Daher sagte er nur: »Melusine.«

»Wer war Melusine?« fragte Britta.

»Das erzähle ich Ihnen ein andermal«, erwiderte Streith.

Britta saß ruhig da, sie wurde ernst und feierlich, wie es Mädchen werden, die sich schön fühlen.

Die Sonne versteckte sich hinter Wolken, über dem Rasen und in den Zweigen begann es zu flüstern, ein Regenschauer ging über das Land.

»Wir müssen nach Hause«, rief Britta, sprang auf und zog die Kapuze über den Kranz. Auf dem Heimwege sprachen sie wenig, dieser Augenblick der Schönheit und der Bewunderung hatte sie ergriffen und einsilbig gemacht. Nur am Kreuzwege, als sie sich trennten, sagte Britta: »Eines wünsche ich mir noch.«

»Was ist es denn?« fragte Streith.

»Einmal auf dem großen, falben Pferde sitzen zu dürfen.«

Streith lachte: »Wenn es nur das ist, das machen wir.«

*


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