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Marie saß in der Fliederlaube, ein Buch lag auf ihren Knien, den Kopf hatte sie zurückgezogen und schaute durch die blauvioletten Blüten wie durch ein Gitter in den blauen Himmel. Sie erlebte jetzt eine bedeutsame Zeit. Zum ersten Male fühlte sie sich leben, fühlte ihren Körper und ihr Blut, sie fühlte sich als etwas, das wundersam blüht; zum ersten Male sah sie sich leben und wartete gespannt, was ihre Liebe und ihr Schmerz sie zu tun und zu denken heißen würden. Ob sie nun hier in der Fliederlaube saß und an Felix dachte oder in den Park ging und auf der Steinbank saß, auf der er diese Nacht sitzen würde, ob sie des Abends zum Mond aufschaute oder des Nachts aufwachte und weinen mußte oder sich von den heißen Schauern ihres Blutes schütteln ließ, alles war neu und erregend.
»Da bist du, Kleine«, weckte die Stimme der Prinzessin Agnes Marie aus ihren Träumen, »hier bei dir ist es schön kühl, ich will mich mal zu dir setzen.« Sie setzte sich auf die Bank, erhitzt und atemlos von ihrem Gange schwieg sie einige Augenblicke, und ihre kleinen, von den fetten Lidern beengten Augen sahen Marie scharf an. »Nun, meine Tochter«, begann sie endlich, »wie lebst du? Was tust du?«
»Nichts, Tante«, erwiderte Marie ziemlich verdrossen.
»Das sehe ich«, fuhr die alte Dame fort, »hier bei euch wird nicht viel getan, aber für dich ist das nicht gut. Du mußt eine Beschäftigung haben, eine Einteilung.«
»Warum gerade ich?« fragte Marie.
»Weil du es mit der Gesundheit zu tun hast«, erwiderte die Prinzessin, »und ein stilles Leben führen mußt, und da ist es gut, etwas zu haben, wofür man lebt. Da ist die Wohltätigkeit, du könntest eine Kochschule gründen für die Mädchen des Dorfes oder eine Nähschule und ihnen zu Weihnachten bescheren.«
»Ich verstehe nicht zu kochen und nähe sehr schlecht«, sagte Marie, und ihr Gesicht nahm einen immer eigensinnigeren Ausdruck an.
»Das macht nichts«, meinte die Prinzessin, »man ist Protektrice, man geht hin, fragt, schmeckt, läßt sich die Arbeiten zeigen, das genügt.«
Marie schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen: »Ich will aber gar nicht eine Kochschule oder eine Nähschule gründen.«
»So, du willst nicht?« versetzte die Prinzessin, und ihre Stimme wurde streng und scheltend, »was willst du denn? Stillsitzen und warten, bis das Glück um die Ecke biegt? Es biegt aber nicht um die Ecke. So hat schon manche gesessen und gewartet, bis sie alt und sauer wurde. Sieh, mein Kind, ich bin mein Lebtag gesund gewesen, habe gesunde Lungen und ein gesundes Herz gehabt, und doch habe ich nicht geheiratet. Das ist mit Prinzessinnen jetzt so eine Sache, da ist es denn gut, wir sehen uns nach etwas um, was unserem Leben einen Inhalt gibt, um nicht einsam und lächerlich zu werden. Die Wohltätigkeit ist da noch das beste, nicht so dieses sogenannte Gehen in die Hütten der Armen, dort kriegt man nur Krankheiten und Flöhe, aber eine Kochschule, eine Nähschule, so was. Mit der Wohltätigkeit ist zwar auch nicht viel los, kein Mensch ist uns dankbar dafür, aber es bleibt uns nicht viel anderes übrig.«
Jetzt lächelte die Prinzessin und schaute Marie in das zornige Gesicht. »Ja, das hörst du nicht gern, aber die alte Tante Agnes hat doch recht. Mit dem Heiraten kriegt auch nicht jede eine Anweisung auf das Glück. Sieh nur deine Schwester Lore an. Nein, das Leben ist eben kein Tanzsaal. Jetzt will ich noch einen Spaziergang machen.« Sie strich mit zwei Fingern über Maries heiße Wange, erhob sich und ging. Marie schaute ihr nach, die kurze runde Gestalt im grauen Seidenkleide, den großen Sommerhut auf dem Kopf, wie sie mit kleinen, festen Schritten den Weg entlang ging, erschien ihr als die Verkörperung der Einsamkeit und Freudlosigkeit. Wie glücklich war Marie eben gewesen. Über ihr selbst und über der Welt hatte ein geheimnisvoller und heiliger Schimmer gelegen, und nun war diese alte Frau gekommen und hatte alles wie mit Spinnweben verhängt, und das Leben sah grau und traurig aus. Nein, lieber wollte Marie sterben, als das Leben der Tante Agnes leben, als die einsame, kränkliche Prinzessin sein, die für die Dorfkinder wollene Hauben strickt. Sie wollte heute nacht in den Park gehen, um Felix zu treffen, so unmöglich ihr das auch erschien, sie wollte alles tun, was Tante Agnes mißbilligte. Sie wollte sich an das Süße, Wilde, Verbotene des Lebens klammern.
Zum Diner kam Streith. Die Prinzessin Agnes begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. »Freut mich, lieber Graf, Sie zu sehen; Sie sehen gut aus. Älter geworden, natürlich; wir alle werden alt, davor kann man sich auch hier in der Einsamkeit nicht verstecken.«
Der Graf lachte. »Gewiß, nur daß hier in der Einsamkeit nicht so viele da sind, die es einem sagen.«
»Das mag sein«, meinte die Prinzessin, »aber so alt sind Sie doch eigentlich nicht, daß Sie nicht noch dem Lande nützen könnten, statt hier Ihren Kohl zu bauen.«
»Ich denke«, erwiderte der Graf, »das Land braucht auch Kohl.«
»Ach was, Kohl gibt es genug in der Welt«, versetzte die Prinzessin ärgerlich, »aber das ist so eine Art Hochmut. Man hält sich zu gut für die Welt und zieht sich daher in die Einsamkeit zurück. Na, und in der Einsamkeit, da kommen unnütze Gedanken.«
Der Graf verneigte sich. »Ich freue mich, daß Durchlaucht wieder einmal geruhen, mich auszuzanken.«
Die Prinzessin nickte: »Ja, ja, mit der alten Prinzessin Agnes läßt sich nicht spaßen.«
Während des Essens wurde von Birkenstein, von Karlstadt und anderen Höfen gesprochen. Marie hörte nicht zu; nur, als der Name Dühnen an ihr Ohr schlug, horchte sie auf. »Mit dem ältesten Sohn haben sie Sorgen«, sagte der Graf, »er macht Schulden, jeut und scheint undiszipliniert. Dühnen war bei mir und sprach sich recht pessimistisch über den jungen Mann aus.«
Die Baronin Dünhof seufzte: »Sehr schade. Ein hübscher junger Mensch, aber es wird kein gutes Ende mit ihm nehmen.«
»Dühnen ist nicht gefühlvoll«, berichtete der Graf weiter, »er meint, er habe drei Söhne, gelangt es mit dem einen nicht, so sind die beiden anderen als Reserve da.«
»Ganz richtig«, sagte die Prinzessin, »wenn einer nichts taugt, dann fort mit ihm.«
Marie sah die Sprechenden bitterböse an. Was wußten die alten grausamen Leute von Felix? Die Tränen waren ihr nahe.
Nach dem Diner spielten die Prinzessin und die Fürstin mit Fürwit und Streith Whist, die Baronin Dünhof spielte mit dem Major Halma, während Fräulein von Dachsberg und Fräulein von Reckhausen zusammen saßen und miteinander flüsterten. Fräulein von Reckhausen erzählte von den Schwierigkeiten ihrer Stellung. Marie hatte sich zu den Halmaspielern gesetzt, als wollte sie ihnen zuschauen, sie schaute aber unverwandt auf die dunklen Scheiben der Glastür und dachte nur das eine: In diese schwarze Nacht muß ich heute noch hinaus.
Als das Schloß still und dunkel war, schlichen zwei Gestalten durch die Hintertür in den Garten und eilten dem Parke zu, Marie und die Zofe Emilie. Der Himmel war bewölkt und die Nacht finster. Scheu drängten die beiden Mädchen sich aneinander, alles ängstigte sie, das Aufrauschen der Bäume, das Knarren eines Zweiges, der Flügelschlag eines Vogels in einem Wipfel. Verschüchtert und atemlos stiegen sie die Anhöhe zum kleinen Teich hinan und blieben am Steintisch stehen. Es war so dunkel, daß sie nichts zu sehen vermochten.
»Felix!« flüsterte Marie, da fühlte sie sich von zwei Armen umfangen und auf die Bank niedergezogen. Felix kicherte leise, sie schmiegte sich an ihn, zum ersten Male fühlte sie die wunderbare Geborgenheit vor einer dunklen, drohenden Welt und vor der Unruhe des eigenen Herzens, in zwei sie fest umschließenden Armen und in dem Rausche des eigenen fiebernden Blutes. »Fräulein«, sagte Felix zu Emilie, »dort am Teiche ist ein Baumstumpf, dort könnten Sie ein wenig sitzen.« Emilie verschwand. Marie weinte, die Spannung ihres ganzen Wesens war zu groß gewesen.
»Warum weinen Sie?« fragte Felix.
»Ach, sage nicht Sie zu mir«, sagte Marie, »du bist das Einzige, was ich habe. Ich habe mich so sehr gefürchtet, alles ist schrecklich und traurig, wenn du nicht da bist, wenn du mich vergissest, wenn du mich nicht liebst, dann werde ich eine alte Prinzessin, die wollene Hauben strickt und Kochschulen einrichtet. Du mußt mir schwören, daß du mich nie verlässest.«
»Nun ja, natürlich«, erwiderte Felix, und aus seiner Stimme klang etwas wie Ungeduld, »was ist da viel zu sprechen, wir sind doch nicht hierher gekommen, um zu weinen und zu klagen.«
»Herr Graf«, ertönte Emilies Stimme plötzlich, und die Zofe stand wieder am Steintisch, » ich kann dort nicht bleiben, es hebt sich etwas Schwarzes aus dem Wasser und macht: ›Bu! Bu!‹«
»Unsinn«, meinte Felix ärgerlich, »das ist ja Einbildung. Sitzen Sie nur ganz ruhig noch ein wenig auf Ihrem Baumstumpf, wir sind ja ganz nahe.«
»Ich werde es versuchen, Herr Graf«, erwiderte Emilie und verschwand.
»Von dir sprechen sie auch alle so schlecht«, begann Marie wieder mit klagender Stimme, »warum kannst du nicht gut sein? Um meinetwillen gut sein.«
»Gut?« fuhr Felix auf, »was heißt das? Sind das Vorwürfe? Bin ich dazu in der Nacht hierhergekommen, um auch hier Vorwürfe zu hören? Danke, von denen habe ich bei Tage genug.«
»Ach nein, ich mache dir keine Vorwürfe«, schluchzte Marie, »aber wenn du nicht gut bist, was soll dann aus mir werden? Ich habe doch nur dich. Und da sind deine - deine Verlegenheiten, ich würde dir so gern helfen, Geld habe ich nicht viel, aber ich habe Schmucksachen.«
»Schweig!« herrschte Felix sie an, »ich verbiete dir, von diesen widerwärtigen Sachen zu sprechen, das fehlte mir noch. Ich denke, ich komme hierher, um noch einmal so ein recht süßes Stündchen zu haben, und nun wird von so etwas gesprochen.«
»Jetzt bist du böse«, jammerte Marie, »aber was kann ich tun, du bist ja mein einziges, und wenn du nicht gut bist, was habe ich dann? Lieber will ich dann sterben, als immer die kränkliche Prinzessin sein.«
»Auch das noch«, murmelte Felix.
Sie schwiegen eine Weile, Marie starrte in die Dunkelheit hinein, drüben bei den Weiden am Teich rief ein Wasservogel einen hellen Laut eigensinnig und klagend in die Nacht hinaus. Marie schien alles sehr traurig.
»Das kommt davon«, begann Felix wieder, »ihr sitzt in den Schlössern und wißt nicht, was Leben heißt. Wenn wir immer daran denken sollen, was kommen wird, dann können wir überhaupt nicht leben. Nein, nichts denken, all die Widerwärtigkeiten vergessen, die ja doch immer um uns herumstehen und auf uns warten, nur so können wir leben. Sieh, das ist Leben.« Er beugte sich auf Marie nieder und drückte seinen Mund fest auf ihre Lippen. Sie seufzte tief auf. »Ja, das ist Leben«, flüsterte sie.
»Herr Graf«, tönte Emiliens Stimme aus dem Dunkel, sie stand wieder am Steintisch, »Herr Graf, ich halte es nicht mehr aus, es kommt wieder schwarz aus dem Wasser und macht ›Bu! Bu!‹ Wenn Durchlaucht nicht nach Hause gehen, so gehe ich allein. Man kann hier ja vor Angst sterben.«
»Nein, Emilie, ich komme«, rief Marie erschrocken.
»Ach, diese Weiber«, seufzte Felix.
Marie drückte noch einmal ihr tränenfeuchtes Gesicht an Felix' Wange. »Vergiß mich nicht!« flüsterte sie, dann trennten sie sich.
Felix blieb auf der Bank sitzen und hörte, wie die eiligen Schritte der Mädchen sich entfernten. Er streckte sich und gähnte. Nein, das war keine Liebesstunde nach seinem Sinn gewesen. Wie hübsch hatte er es sich gedacht, von einer Prinzessin geliebt zu werden, aber diese Tränen und Klagen, diese Vorwürfe und Traurigkeit, die waren nichts für ihn. Es wurde ihm ordentlich bedrückend und bange hier in dem dunkeln Park, im schwülen Duft des Flieders, dazu noch dieser verfluchte Vogel mit seinem einen, jammervollen Klagelaut, das war ja zum Heulen. Felix sprang auf und eilte aus dem Park hinaus.
Hier draußen wehte eine freiere Luft. Felix atmete auf und begann leise einen Marsch vor sich hinzupfeifen, während er langsam die Dorfstraße hinaufschlenderte, an den stillen, schlafenden Katen vorüber. Er bog in eine kleine Seitengasse ein, in der ein Haus mitten in einem Garten lag. Aus einem der Fenster schimmerte noch ein Licht. Felix blieb vor dem Gartenzaun stehen, der ganz mit Bohnenranken überwuchert war, und fuhr fort, leise seinen Marsch vor sich hinzupfeifen. Von der hinteren Seite des Hauses her wurden Schritte vernehmbar; es war, als sprängen nackte Füße leicht über den Kies und dann über die Gemüsebeete hin, ein Mädchen, in ein dunkles Tuch gehüllt, trat an den Gartenzaun und stützte seine Arme in die Bohnenranken.
»Nun?« sagte Felix und legte seine Hand auf einen Arm, der feucht vom Nachttau war.
»Gleich löscht er das Licht aus und geht zu Bett«, flüsterte das Mädchen, »dann komme ich, warte.«
Damit wandte es sich um und sprang wieder in die Dunkelheit hinein. Felix wartete, er steckte die Hände, um sie zu fühlen, in die Bohnenranken hinein. Von den Gemüsebeeten stieg ein kühler, würziger Duft auf, in den Salatblättern raschelten Kröten, irgendwo in einem Hause weinte ein Kind, und draußen im jungen Korn schnarrten die Wachteln. So war es gut, in der Frühlingsnacht zu stehen und auf ein Mädchen zu warten, da war Leben, da konnte man wohl die Prinzessinschmerzen vergessen, dachte Felix.
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