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Im Kloster von Koya San

Ich beschließe meine Wanderung durch Yamato mit einer Pilgerfahrt nach dem Berge Koya-San, dessen Gipfel das berühmteste Kloster Japans ziert. Es liegt im tiefen Schatten vielhundertjähriger Koniferen. Nie sah ich heiligeren Hain. Von allen Bäumen, die ich kenne, ruft die Cryptomeria am zwingendsten und stärksten religiöse Assoziationen wach. Sie hat das Düstere der Zypresse, das Hoffnungsfreudige des Lebensbaums; zugleich das Hehre, Kosmisch-Gewaltige, Naturhaft-Unsterbliche der Tanne.

Das Kloster ist eine typisch japanische Anlage; es sind niedrige Holzhäuser mit schöngeschwungenen Dächern, von zierlichen Gärten umringt; ich erwartete eine gleiche Atmosphäre des Feinsinns und der Lieblichkeit einzuatmen, wie sonst bisher, wenn ich ähnliches vor Augen hatte. Statt dessen umweht mich eine Luft, die mir von Europa her wohlbekannt ist, aber die ich trotz allem, was ich zugelernt, in Japan einzuatmen doch nicht erwartet hätte: die Luft christlich-mittelalterlichen Klostertums. Es liegt etwas Herrisches, ja Kriegerisches, Machtvolles, Weltgewaltiges in dieser Luft, trotz der sanften Anmut aller Einzelgestaltung. Die Mönche hier kann ich mir ebensogut kämpfend als betend vorstellen, die Äbte am besten als Kirchenfürsten im mittelalterlichen Sinn. Und das ist ein buddhistischer Wallfahrtsort! – Wie fern bin ich jenen heißen Gegenden gerückt, wo sanfte braune Menschen vor friedlichthronenden Buddhas Blumen opfern! Der Geist, der zu Koya herrscht, ist kein Geist des Duldens und Nichtwollens, kein Geist der Sehnsucht aus dem Drang der Welt hinaus; er ist dem Geiste Indiens ganz fremd. Er ist wesentlich eins mit dem, der unsere Vorfahren von den Karolingern an bis zum Ausgang des Mittelalters beseelt hat.

Ich vergegenwärtige mir, was ich von der Geschichte des japanischen Buddhismus weiß. In dem Grenzgebiet zwischen Indien und Zentral-Asien, dem Lande Gandhâra, entwickelte sich im Lauf der ersten Jahrhunderte nach Christo eine wundersame Religion. Der Filiation des Buchstabens nach war sie Buddhismus, dem Geiste nach eine Abart der Bhakti, der emotionalistischen Ausdrucksform des Brahmanismus, welcher die Gottheit persönlichen Charakter trägt und Glauben und Liebe als Kardinaltugenden gelten; aber den dogmatischen Vorstellungen nach war sie ein für Indien völlig Neues: eine Erlöserreligion im Sinne des Christentums. Damals erfüllte Erlösungssehnsucht die ganze Welt. Allenthalben kamen Gemeinschaften auf, deren Mittelpunkt ein gewesener, gegenwärtiger oder künftiger Messias war, Offenbarungserwartung schwängerte die Luft, und der Zeitgeist erschien von einer Einheitlichkeit von Alexandrien bis zum Fernen Osten, wie dies seither wohl nie mehr der Fall gewesen ist Man lese nebeneinander: E. A. Gordon » World Healers, or the Lotus Gospel and its Bodhisativas, compared with early christianity« (in Japan erschienen, aber erhältlich in London bei Eugene L. Morice, Cecil court, Charing Gross Road), und Max von Wulff: Über Heilige und Heiligenverehrung in den ersten christlichen Jahrhunderten (Leipzig 1910, Fritz Eckhardt Verlag). Man wird staunen über die Gleichartigkeit der Gestaltungen jener Zeit vom Nil bis zum Ochotskischen Meer.. Indische Lehren waren bis nach Ägypten gelangt und umgekehrt, syrisch-kleinasiatische, unter diesen das Christentum in seinen vielfachen Abarten, drangen mit den Händlern bis gen China vor, der hellenistische Ideenkreis faßte mit griechisch-parthischen Fürsten im Kabul-Tale festen Fuß, was zur Folge hatte, daß alle lokalen Religionen vom universellen Geist jener Epoche, wenn nicht umgestaltet, so doch befruchtet wurden. Auf diese Weise entwickelte sich im Westen das Christentum – ursprünglich der beschränkte Glaube einer obskuren Sekte – zu einer grandiosen allumspannenden Weltreligion; gleiches geschah mit dem Buddhismus in Gandhâra. Der Mensch Gautama verwandelte sich zum Gott, welcher zum Heil aller Kreatur Menschengestalt angenommen hatte; die spezifisch indische Lehre von der Erlösung durch Erkenntnis machte mehr und mehr der damals katholischen einer Erlösung durch den Glauben Platz, und der Buddhismus wurde zuletzt aus einer philosophischen Weltanschauung, die weder Gott noch Seele kannte, zu einer Kirche, die sich von der christlichen in nichts Grundsätzlichem unterschied.

Es wird wohl nie entschieden werden können, welchen Einflüssen bei dieser Wandlung die Hauptrolle zugekommen ist; aber bei der großen Plastizität des Mahâyâna, bei der allgemein-orientalischen Neigung, Gestaltungen metaphysisch nicht ernst zu nehmen, und der spezifisch-indischen, innerhalb des Verschiedenen das Gemeinsame zu betonen, darf wohl vorausgesetzt werden, daß alle Einflüsse mitgewirkt haben, die überhaupt in Frage kamen; unter anderen der des Christentums, das in seinen gnostischen, ophitischen und nestorianischen Abarten in Mittelasien eben damals zu einer geistlichen Großmacht heranzuwachsen begann. Dennoch blieb das Mahâyâna auf lange hinaus rein indisch dem Wesen nach; Indiens überlegener Geist beseelte den Vorstellungskörper, welcher Abstammung dieser immer sein mochte. Auch in China blieb der neue Buddhismus wesentlich indisch. Aber wie er nach Japan gelangte, da verwandelte er sich bald von Grund aus: er wurde (was in China kaum geschehen war) nachhaltig beeinflußt vom praktischen Geist des Konfuzianismus, welcher kurz vorher nach Japan gedrungen war, und bald vermählt und teilweise verschmolzen mit dem einheimischen Götter- und Ahnendienst. Dieser war eine Soldatenreligion. Dem Rittersinne paßte sich der Buddhismus in Japan mehr und mehr an. Daher kommt es, daß sein Geist hier so sehr an den unseres Mittelalters erinnert.

Der japanische Buddhismus ist allerdings grundverschieden von dem, welchen der Asket Gautama einstmals begründet hatte. Aber wer daraufhin sagt, er sei gar nicht Buddhismus, sondern Christentum, dem könnte ein Japaner mit Recht entgegenhalten, daß dann auch unser Christentum nicht als Christentum gelten dürfe. Der Erlöserbegriff, den beide Religionen heute gemeinsam haben, eignet dieser ursprünglich nicht mehr als jener: erst Paulus hat den jüdischen Messias zum hellenistischen σωτήρ transfiguriert. Die Seele jenes ägyptischen Mönchtums, dessen Beispiel mehr zur Bekehrung des Westens beigetragen hat, als alle Evangelien und Apostelbriefe, war nicht Jesu, sondern ägyptisch-neuplatonische Weisheit; die Lehre des Origenes (von der Gnosis zu schweigen) war dem Geiste Irâns und Hindustans gemäßer als dem Palästinas, und was schließlich unter die Barbaren des Nordens drang und zum Glauben der Kreuzfahrer ward, ist ein vom Urchristentum völlig verschiedenes. Dennoch geht jener auf dieses zurück – wesentlicher auf dieses als auf scheinbar Verwandteres, so daß wir ein volles Recht haben, uns Christen zu heißen. Die spirituellen Kräfte, welche tätig in das geschichtliche Leben eingreifen, nehmen verschiedene Gestalt an, je nach den Naturen, in welchen und durch welche sie wirken; sie können das, weil keine bestimmte Gestalt ihnen notwendig und wesentlich eignet. Das Erlebnis der Liebe im christlichen Verstand kann dem Weib wie dem Mann, dem Täter wie dem Dulder, dem Priester wie dem Kriegsmann zuteil werden, und bei jedem prägt es sich anders aus, so sehr, daß die Äußerungen sich oft stracks widersprechen. Dennoch fühlen sie sich als eines Geistes Kinder und dies mit Recht: die Modalität des Erlebens als solche macht den Christen, nicht dieses oder jenes Bekenntnis, diese oder jene Verhaltungsart; die aber hatten weder Hindus noch Neuplatoniker gekannt, die geht einzig auf Jesus zurück. Eine bestimmte Qualität der Liebe ist das eigentliche des Christentums, die aber ist sich gleich geblieben durch alle Wandlungen in der Erscheinung hindurch, von Jesu Tagen bis zu unserer Zeit. So ist auch der japanische Buddhismus, trotz aller fremden Einflüsse, die seinen empirischen Charakter geformt haben, wesentlich Buddhismus. Er ist es vielleicht nicht ganz im gleichen Sinn, wie das Christentum Christentum ist: die spezifische Carität, die ihn beseelt, ist mehr allgemein-indisch als spezifisch-buddhistisch, mehr Krishna vielleicht als Gautama gemäß; aber diese indische Liebe durchdringt ihn durchaus. Und wenn sie sich in Japan sehr anders darstellt als in Indien, so ist das eine Parallelerscheinung dessen, was innerhalb der Christenheit geschah: auch die buddhistische, gleich der christlichen Liebe, ist vielfacher Gestaltung fähig, beide bleiben wesentlich, was sie sind, wie immer sie sich darstellen mögen. Wohl erscheinen die Gestaltungen weder hier noch dort als gleichwertig vom absoluten Ideale her gesehen, aber sie erweisen sich doch praktisch als gleich heilsam, zumal vom Standpunkt der buddhistischen Carität, die da verlangt, daß jegliches Phänomen nur am Maßstab seiner eignen möglichen Vollendung gemessen werde. Jungen, energischen, tätigen Männern ist nicht zuzumuten, daß sie Liebe und Mitleid empfinden sollen wie eine Maid; sie sollen vor allem im Sinn des Guten handeln. Wenn sie kämpfen, so sei es um ein Ideal, wenn sie aufbrausen, so geschehe es aus Zorn ob der Bedrückung von Schwachen; so wird das Ideal auch von ihnen der Verwirklichung näher gebracht. Und dieses schneller als man denkt. Stetiges Handeln im Sinn einer Idee, und werde diese noch so wenig verstanden, bereitet deren Bewußtwerden vor; noch so haßbeseeltes Kämpfen für das Ideal der Liebe bildet die Liebesfähigkeit aus. Es steckt tiefe Wahrheit in dem Mythos von einer »Vorsehung«, die in stiller, langsamer Arbeit, oft allem Anschein entgegen, doch alles zum Guten lenkt: die spirituellen Kräfte, die mit Christus und Buddha in die Erscheinung traten, wirken wirklich ununterbrochen fort, und statt schwächer zu werden im Lauf der Zeit, werden sie mächtiger von Jahrtausend zu Jahrtausend.

Wunderbar, wunderbar, wie ein gleicher Sinn überall eine ähnliche Gestaltbildung bedingt. Leider steht unsere Zeit solchen Prozessen noch recht verständnislos gegenüber. Die Geschichte des Christentums wird häufig als fortschreitende Entartung beurteilt, weil die Entwickelung vom Urchristentum abgeführt hat, und nicht anders diejenige des Buddhismus. Ich lasse für den Augenblick die Auffassung gelten, daß Urchristentum und Urbuddhismus die höchsten Stadien verkörpern: selbst unter dieser Voraussetzung bedeutet es ein Mißverständnis, die späteren Bildungen niedrig einzuschätzen, weil ein höchster Zustand nur wenigen Auserwählten erreichbar ist und eine Weltreligion, welche alle erlösen will, auch auf alle Rücksicht nehmen muß. Sie muß vorläufige Zustände gelten lassen, muß den Menschen liebevoll durch dieselben aufwärts führen, muß ihm Mut zusprechen, wo er verzagen will. Das hat die christliche Kirche, gerade in ihrer mittelalterlichen Gestalt, auf meisterhafte Weise verstanden und geleistet, und nichts anderes bezwecken die späteren Formen der buddhistischen. Aber Urchristentum und Urbuddhismus verkörpern gar nicht die höchsten Menschheitszustände, womit das ganze Argument zusammenfällt. Christus und Buddha waren möglicherweise die größten aller Menschen und haben beide wahrscheinlich ihre äußerste Vollendung erreicht, aber sie waren eben doch bestimmte Menschen, ihre Vollendung war die eines bestimmten Typus, des asketischen, schloß alle übrigen Vollendungen aus. Dementsprechend waren Urchristentum sowohl als Urbuddhismus nicht berufen dazu, der Menschheit die Wege zu weisen. Sie mußten entweder beschränkte Sekten bleiben oder aber, wenn sie weitere Wirkungen anstrebten, ihren Horizont erweitern. Diese Erweiterung hat in beiden Fällen stattgefunden, und in beiden Fällen hat das die Religion vertieft. Die katholische Kirche ist gegenüber der urchristlichen das tiefere System. Es klingt ja wohl wie ein bedenklicher Kompromiß, dieses Begründen des Krieges auf die Liebe, der Intoleranz auf die Weitherzigkeit, der Unzulänglichkeit auf die Vollkommenheit im Jenseits: in Wirklichkeit führt sie damit nicht Niederes auf Höheres zurück, sie führt das Niedere dem Höheren zu und weiht das Unzulängliche zur Etappe auf dem Wege zum Ziel. Fern davon, daß die »wahre Lehre« im Urzustande begraben liege, winkt jene vielmehr als Zukunftsideal. Unstreitig werden die Aussprüche Jesu heute tiefer verstanden, als dies je früher geschah. Aber dies bedeutet nicht, daß wir besser erkennen, wie Jesus es meinte, sondern, daß wir den wahren, d. h. objektiv richtigen Sinn seiner Weisheit tiefer erfassen, gleichviel, ob Jesu selber sich seiner bewußt war oder nicht. Wahrscheinlich war er es nicht; seine unmittelbaren Jünger waren es sicher nicht, und Mißverstehen hat lange die meiste christliche Gestaltung regiert. Aber dieses Mißverstehen hat der Erkenntnis den Weg bereitet; ohne Katholizismus, Reformation und Gegenreformation, ohne Dogmenstreit und Textkritik wären wir nie dahin gelangt, den reinen Sinn des Christentums zu schauen. – Im gleichen Verstande bedeutet der nördliche Buddhismus, ganz wie seine Bekenner es haben wollen, keine Entartung, sondern die Krönung des Hinâyâna. Schwerlich gehen die meisten seiner Lehren auf Gautama zurück. Aber sie sind der Wahrheit sehr viel näher.

Ich kenne wenig Tieferes, als die Lehren des Açvagosha Sein Hauptwerk liegt bisher unter dem Titel The awakening of Faith in zwei englischen Übersetzungen vor: einer von Teitaro Suzuki (Chicago 1900, The open court Publishing Company) und einer von Timothy Richard (im Band The new testament of Higher Budihism, Edinburg 1910, T. a. T. Clark). Die beiden Übersetzungen ergänzen sich insofern, als Suzuki den vieldeutigen chinesischen Text als Philosoph, Richard als Theologe interpretiert hat., nichts Hellsichtig-Umfassenderes als das Mahâyâna-System, und dieses Hegt der japanischen Kirche zugrunde. Aber freilich ist diese nicht das, was sie unter Indern vielleicht geworden wäre; wie bei uns, hat auch hier Mißverstehen die äußere Gestaltung regiert. Alle die Auswüchse, Miß- und Rückbildungen, die bei uns für den Katholizismus einerseits, den Protestantismus andrerseits charakteristisch sind, können auch innerhalb des japanischen Buddhismus von heute nachgewiesen werden. Es gibt Sekten, die sich vorzüglich mit Thaumaturgie befassen, andere, in denen ein hieratisches System alles individuelle Leben erstickt, wieder andere, die alle überkommene Weisheit verwerfen und den einzelnen ganz seiner persönlichen Meinung überantworten. Selbst das Äußerste, was sich erwarten ließ, ist nicht ausgeblieben: aus einer Religion, die auf Einsicht den Hauptnachdruck legt, ist eine des blinden Glaubens geworden. Zu einer solchen bekennt jeder sich am liebsten, dem das Denken Schwierigkeit verursacht. Was ursprünglich nach Japan kam, war eine Weltanschauung, die nur Indern, dieser philosophischen Nation par excellence, als solche gemäß erscheinen konnte; sie mußte sich wandeln, um unter Japanern zu bestehen. So geschah es auch. Früh traten Reformer auf, die das vieldeutige Mahâyâna zu bestimmten Lehren formten, die dem Japanertemperamente besser entsprachen; immer mehr wurde Erlösung durch den Glauben zum Grunddogma des nördlichen Buddhismus. Und heute droht die Shinshu-Sekte, die oberflächlichste von allen, nach der bloßes Anrufen des Namens Amidas und Vertrauen auf die Wirksamkeit dieser Übung genügen soll, um dem Gläubigen die ewige Seligkeit zu gewährleisten, alle anderen in Japan zu verdrängen.

 

Es ist mir viel wert, daß ich mit dem japanischen Buddhismus am ersten auf seiner Hochburg persönlich bekannt geworden bin: hier dominiert seine Eigenart absolut über dem, was er mit anderen Buddhismen gemein hat. Nie hätte ich für möglich gehalten, daß aus Indischem dermaßen – Westliches werden könnte: denn westländisch weit mehr als asiatisch wirkt auf mich die Religion der Mönche von Koya-San. Diese sind mittelalterlich-christlichen dem Typus nach erstaunlich ähnlich; gerade ihr Bestes scheint weit eher eines christlichen als des buddhistischen Geistes Kind, wofern ich diesen aus dem abstrahiere, was ich auf Ceylon und in Birma geschaut. Es gibt so etwas wie einen spezifischen Ekklesiastikerkopf, der sich bei allen Völkern wiederfindet. Immerhin: niemand möchte einen Brahmanen mit einem katholischen Prälaten verwechseln. Ein japanischer Abt nun könnte ohne weiteres als letzterer passieren; seine Züge sind von naheverwandtem Geist geformt. Dies kommt augenscheinlich daher, daß beide Religionen in verwandtem Sinn Objektivationen bedeuten. Selbst die Tantrikas, die Ritualisten unter den Hindus, welchen strikte Observanz als einziges Heilmittel gilt, sehen die Erscheinung immerhin als Mâyâ an, nicht als notwendig mit dem Wesen verknüpft. Dem Katholiken ist die Kirche der wahrhaftige Leib des Christentums, von dessen Seele nur durch den Tod zu trennen, und ähnliches scheint beim japanischen Buddhismus der Fall. Zwar bekennt dieser kein entsprechendes Dogma, im Gegenteil: soweit er Weltanschauung ist, nimmt er die Erscheinung nicht ernster als der Brahmanismus; auch in Japan gelten sich ausschließende Konfessionen als gleich orthodox. Aber der hieratische Sinn der Chinesen, deren Urneigung, allen Gehalt in der Erscheinung unmittelbar und restlos auszuprägen, hatte dem Buddhismus schon früh einen hochorganisierten Körper erschaffen, der dann in Japan, unter beweglicheren Menschen, aus einem Kunstwerk mehr und mehr zu einem lebendigen Wesen erwuchs.

Aber die beiden Kirchen – die katholische und die buddhistische – unterscheiden sich doch sehr wesentlich voneinander. Bei jener ist die Objektivation verstandgeboren. So irrational ihre Dogmen sein mochten – deren Verknüpfung und Ausgestaltung hat reine Vernunft besorgt. Es ist ein einziger Geist strengster Vernunftgemäßheit, der alle christliche Gestaltung des Mittelalters beseelt, von der Theodicee bis zur geistlichen Hierarchie, von den Kathedralen bis zur Summa des Thomas von Aquin; nie, weder vor- noch nachher, hat die Menschheit so viel auf Symmetrie gegeben, auf Klarheit und rationalen Zusammenhang. Die japanische Objektivierung des Geistes in der Kirche ist ganz unintellektual, weshalb alle die Vorzüge dieser abgehen, welche Rationalität allein gewährt. Dafür ist sie im höchsten Grade unmittelbar-künstlerisch; ihre Formen sind nie Allegorien, immer Symbole und haben alle Vorzüge eines Ausdrucks, dessen Elemente gefühlsgeboren sind. Ungeheuer überzeugend wirken sie; wie selbstverständlich erkenne ich sie an; unwillkürlich tritt meine Seele in Koya-San auf buddhistisch zu Gott in Beziehung. Und ich beginne zu ahnen, daß, soweit Konfuzius recht hat, die japanische Kirche als Krönung der indischen Weisheit gelten darf. Kungfutse lehrte, daß nur die Weisheit als vollendet zu betrachten sei, welche als Anmut in die Erscheinung trete: das ist hier geschehen. Es ist der echte Geist des Mahâyâna, allumfassend, ernst und tief, welcher diesen Buddhismus beseelt – aber seine Erscheinung ist eitel Schönheit und Anmut. Und dies befremdet mich nicht: nie vielmehr habe ich mich dem Tiefsten der indischen Weisheit näher gefühlt, als während der Anschauung japanischer Buddhabilder.

Nur seltsam: was mich so stark berührt, scheint den Japanern gar nichts zu sagen; nirgends spüre ich ein unmittelbares Erleben der Harmonie von Erscheinung und Sinn; es ist, als hätten sie nicht gewußt, was sie taten, indem sie den Geist des Mahâyâna vergegenständlichten. Und indem ich nun nochmals meine Blicke über das Kloster schweifen lasse, mit seinen goldstrotzenden Tempeln, seiner so dekorativen Klerisei, im großartigen Rahmen des Kryptomerienhains, da verwandelt sich mir die Wirklichkeit auf einmal zum Bühnenbild. Nein, diese Kirche in all ihrer Größe und Schönheit ist ganz unsubstanziell. Sie bedeutet doch nichts, außer als Kunst. Das ganze Pathos der katholischen geht ihr ab. Wo der Christ lebt, stellt der japanische Buddhist nur dar. Wobei dieses Darstellen freilich möglicherweise sein äußerstmögliches Erleben bedeutet ...

 

Zusammen mit den Pilgern, die gemeinsam mit mir nach Koya aufstiegen, besichtige ich die heiligen Stätten. Wie sehr unterscheiden sich diese Wallfahrer von indischen! Nur den bejahrteren unter den Frauen scheint es in religiösem Sinne ernst zu sein; die jüngeren betrachten ihre Reise nicht viel anders als die Männer: als vergnüglichen Ferienausflug, auf dem es viel des Neuen zu sehen gibt, und tragen das Pilgerkleid hauptsächlich aus Stilgefühl, oder aus Freude an dem Mummenschanz. Den Sagen und Wundergeschichten, die mit den einzelnen Tempeln verknüpft sind, lauschen sie mit jener halbskeptischen Gläubigkeit, mit der halbwüchsige Kinder Märchen zuhören, und die Andacht, die sie vor der Stätte überkommt, wo Kôbô Daishi, der Gründer des Klosters, ein großer Zauberer und Wundertäter, noch heute leben soll, des Tages seiner Auferstehung harrend, enthält mehr Neugierde als Weihe. Es ist auch etwas viel, was dem Koya-Pilger zu glauben zugemutet wird. Die Shingon-Sekte, der dieses Kloster gehört, betreibt vor allen am meisten Magie, und der stehen die Japaner von heute ganz skeptisch gegenüber. Sogar die geistlichen Herren scheinen vom Kultus nicht allzuviel zu halten. Sie reden am liebsten über Fichte und Kant und gleiten über meine dogmatisch-kultischen Fragen mit einem leisen Lächeln hinweg, Aber alle, Priester wie Gemeinde, machen doch bei den religiösen Veranstaltungen mit; nicht einer will Spielverderber sein. Sie haben zu viel Sinn für die Form, um nicht alles Ritual mit künstlerischem Ernste zu befolgen. Ihr Ernst ist recht eigentlich der des Komödianten, der sich mit Leib und Seele in seine Rolle hineinversetzt hat. Heute früh hatte ich im Tempel, wo ich hause, die Frühmesse versäumt. Als ich dem Abte mein Bedauern darüber aussprach, erklärte dieser sich sofort bereit, sie noch einmal für mich zu zelebrieren, da mich das uralte, über Indien wahrscheinlich aus Ägypten stammende Ritual gewiß interessieren würde. Natürlich geschah dies aus Courtoisie, und ich weiß ihm von Herzen für sie Dank, um so mehr, als dieser Gottesdienst tatsächlich zu den merkwürdigsten gehört, denen ich beigewohnt habe. Immerhin zweifele ich, ob ein Priester, dem es innerlich ganz ernst ist, in der Höflichkeit so weit gegangen wäre.

Es ist schon richtig: religiöse Tiefe im indischen Sinn fehlt dem Japanergemüte. Nirgends spüre ich etwas von dem inneren Erleben, das die Gesichter der Pilger von Benares oder Râmeshvaram verklärt; und die Gespräche gar, die ich mit geistlichen Herren über die Mahâyâna-Lehre gepflogen, verliefen ganz ohne Belehrung für mich. Aber doch scheint mir der Buddhismus in Japan weit mehr lebendige Bedeutung zu haben, als man nach den ersten flüchtigen Eindrücken glauben sollte. Wohl ist der Japaner nicht im indischen Sinne religiös, auch nicht im christlichen, dazu gebricht es ihm an Erkenntnistiefe und Einbildungskraft; wo er nicht nachdenkt, dort glaubt er, wie das einfache Volk überall, an gewisse wunderbare Tatsachen und Begebenheiten; und wo er zu denken gelernt hat, zweifelt er. Allein das Denken ist ihm nichts Wesentliches: sein Eigentliches, Tiefstes tritt im Empfinden zutage. Ich sage: in seinem Empfinden, nicht in seinen Gefühlen, seiner Seele, seinem Gemüt; in der Art wie die Oberfläche, nicht die Tiefe seiner Psyche auf die Eindrücke der Innen- und Außenwelt antwortet. Das Innenleben des Japaners spielt sich der Hauptsache nach im Reich der Empfindungen ab, wie beim Kind und der jugendlichen Frau. Hier äußert sich auch seine Religiosität. Das Glauben des Kindes ist kein tiefes Glauben, und doch führt es geradeswegs zu Gott. Seine Art aber ist die lieblichste von allen. So hat die japanische Religiosität, die vom Geiste her gesehen flach erscheint, im Reich des Empfindens und der Stimmung Wirklichkeiten geschaffen, die zum köstlichsten Besitz des Menschengeschlechts gehören. Es gibt nichts Duftigeres, als die religiöse Lyrik des Landes der Aufgehenden Sonne, nichts Süßeres, als die Konzeption der Liebe, welche Amida und Kwannon versinnbildlichen, nichts Sinnigzarteres, als die Vorstellungen, die der japanische Buddhist mit dem Leben nach dem Tode verknüpft. Die Missionare, die das Christentum am tiefsten verstehen und zugleich am tiefsten in den höheren Buddhismus eingedrungen sind, sind daher einig in der Überzeugung, daß, wenn unsere Ideen von der Gnade und Liebe auch die tiefsinnigeren an sich sein mögen, die japanischen Vor- und Darstellungen derselben die schöneren sind. Das Konkretisieren spielt sich eben im Reich der Empfindungen ab; in dieser Sphäre steht der Japaner von allen Menschen vielleicht am höchsten. Kein Wunder daher, daß er im Einzelfall, trotz wesentlicher Oberflächlichkeit, an religiösem Empfindungsvermögen alle anderen übertrifft. Vor allem gilt dies von der Japanerin: ich kann mich nicht satt sehen an den lieblichen Kindern, die sich voll Ehrfurcht vor den goldenen Tafeln neigen. Von Glauben in indischem Sinne wissen sie nichts; sie wissen wohl nicht einmal, ob sie glauben; sie lachen, wo sie ernst sein sollten. Und doch beseelt sie unverkennbar die Liebe, deren Ideal Avalokiteçvara verkörpert. Fast möchte ich behaupten, sie alle empfinden, wie in Indien vielleicht nur ein Krishna, bei uns nur ein Franz von Assisi empfunden hat; und in ihrem opferfreudigen Dasein, im Verhalten zu ihren Nächsten üben sie aus, was geistig zu erfassen über ihre Kräfte geht.

 

Dieselben Pilger, die beim Besuch der buddhistischen Heiligtümer so wenig Weihegefühl bekundeten, erscheinen bewegt und ergriffen jetzt, wo ein sachkundiger Führer sie durch den Friedhof geleitet. Es ist der beeindruckendste, den ich gesehen; kein Land Europas besitzt ein gleichartiges Denkmal patriotischer Pietät. Wir folgen einer Allee gigantischer Kryptomerien, die eine gute Meile entlang über den Gipfel des Koya hinführt; bei jedem Steinmonument eines Einzelnen oder eines Geschlechtes macht unser Führer halt und nennt die Namen. Und da ist keiner, der nicht mit Japans Geschichte auf ewig verknüpft wäre, und keiner der großen Söhne Japans fehlt. Die berühmten Daimyo-Clans haben hier ihre steinernen Wahrzeichen; hier ruhen die großen Heerführer und Staatsmänner. Wohl sind nicht alle tatsächlich auf dem Koya beigesetzt, aber alle haben auf ihm ihre Gedenksteine, und so ist es, als schlummerte ganz Japan hier ... Ich blicke auf die Pilger, die kürzlich noch so leichtsinnig lachten und schwätzten. Jetzt erscheinen sie wie umgewandelt. Ihr Tiefstes, Innerstes ist aufgerührt. Die zierliche Oberfläche durchleuchtet tiefster Ernst.

Heute, zum ersten Male, habe ich mit Japans Seele Fühlung genommen. Sie tritt nicht im Verhältnis des Einzelnen zu Gott zutage, nicht im Glauben an ein Transzendentes, nicht in dessen geistiger oder lebendiger Verwirklichung: sie äußert sich in dem, wie der Japaner zu Japan steht. Patriotismus ist das Tiefste des Japaners. Sein Verhältnis zu seiner Heimat, deren Größe, deren ruhmreichem Fortbestand bedeutet das gleiche, wie dem Inder sein Verhältnis zu Brahman, dem Chinesen seine Gliedschaft im All. Unsereinem fällt es nicht leicht, sich in diese Tiefe hineinzuversetzen: uns ist sie keine mehr. Aber jeder hat doch Augenblicke gekannt, wo aus dunklem Grund uralte Gefühle in sein Bewußtsein übermächtig einströmten, wo ihm Bluts- und Volksgemeinschaft als tiefere Bindungen erschienen, denn das Verhältnis zu Gott oder zum All. In diesen Momenten war er dem Japaner verwandt.

Wer aus der Erfahrung solcher Zustände heraus die Japanerseele zu erfassen sucht, dem stellt diese sich nicht mehr als oberflächlich dar; der erkennt, daß auch aus ihr das Tiefste, Äußerste spricht. Nur redet sie in einer uns fremden Sprache. Wir können kein Konkretum als tiefsten Sinn verehren, uns kann Loyalität kein Äußerstes sein, wir verstehen die metaphysische Einheit von Land, Volk, Staat, Nation, Familie und Herrscherhaus, die dem nicht allzu verwestlichten Japaner noch heute die lebendige Grundvoraussetzung ist, nur mit dem Verstande, und das Gefühl der absoluten moralischen Verpflichtung dem Heimatland als solchem gegenüber dürfte kein noch so patriotischer moderner Europäer in Friedenszeiten kennen. Das Gefühl, das aus den Versen Take Hirose's, des Helden von Port Arthur, spricht:

Unendlich wie der Dom des Himmels über uns
Ist, was wir unserem Kaiser schulden;
Unermeßlich, wie die Tiefsee unter uns
Ist, was wir unserer Heimat schulden.
Die Zeit ist nun da, unsere Schuld zu bezahlen,

wird er nur nachempfinden, wenn die Kriegsgefahr zeitweilig sein Bewußtsein umgewandelt, die Monade zur Zelle im Volkskörper umgeschaffen, wenn er zeitweilig aufgehört hat, als autonome Individualität zu existieren. Ihm ist die individuelle Seele das letzte irdische Gewand des Metaphysisch-Wirklichen. Auf diese beziehen sich für ihn alle idealen Forderungen, ihr gegenüber aber erscheint das Vaterland als Oberflächliches. Es ist ein Oberflächliches, vom erkennenden Geiste her gesehen, aber dies bedingt doch nicht, daß die Menschen, die wie die Japaner empfinden, flach wären: ihre Vaterlandsliebe bedeutet ein Allertiefstes. Tief ist jede Lebensäußerung, die im Grunde des Lebens wurzelt. Deswegen sind wohl nur solche Gedanken tief, welche objektiv auf den Grund der Dinge zurückgehen – also wirklich tiefe Gedanken in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung –, aber in den Sphären des Wollens und des Fühlens ist Tiefe unabhängig von der objektiven Profundität; dort hängt sie ab von dem Grad, in dem die subjektive Erscheinung das subjektive Wesen spiegelt. Nun wird des Japaners Subjektivität durch die vorhin bezeichneten Vorstellungen definiert; für ihn gibt es kein Über-sie-hinaus. Folglich sind sie tief in bezug auf ihn. Ein wesentlich oberflächliches Volk hätte weder das Rießenreußenreich geschlagen, noch vor allem den zähen Opfermut gehabt, des es bedurfte, um sich in dreißig Jahren von Grund aus zu reorganisieren.

Im Patriotismus kommt des Japaners Tiefstes zum Ausdruck. Dieses Tiefste ist, vom Geiste her gesehen, allerdings ein Oberflächliches, und insofern bleibt das allgemeine Urteil über ihn, daß er der Tiefe entbehrt, zu Recht bestehen. Überall, wo die Erscheinung auf seinen lebendigen Grund, auf Japan, nicht zurückgeführt werden kann, versagt sein Verständnis, seine Leistungsfähigkeit. Religiös im Sinne des Inders, philosophisch im Sinne des Deutschen, überhaupt tief im Sinne der Spekulation ist er nicht und kann er nicht sein. Aber hier, wenn irgendwo, tritt die Wahrheit zutage, daß jede Erscheinung innerhalb ihrer Grenzen den Atman zum Ausdruck bringen kann. Die Vollendung der Rose bedeutet gleiches vor Gott, wie diejenige Buddhas; jene steht Gott näher als dieser ihm stand, ehe denn er vollendet ward. So ist der vollendete japanische Patriotismus metaphysisch mehr wert, als die höhere Einsicht des Westländers, die auf halbem Wege stehen blieb. Und weiter: die Vollendung der Rose ist ein Absolutum; kein Mensch wird diese je erreichen; im Sinne der Rose steht er unter ihr. So sind die individualisierten und tieferdenkenden Völker, wo sie der Ausnahmezustand des Volkskrieges nicht zurückentwickelt, als Patrioten den Japanern unterlegen. Die Inder sind ganz unpatriotisch, da ihr Bewußtsein die Gestaltung tief unter sich sieht, die Chinesen gleichfalls, weil ihr Ideal von China zu hoch ist, um von den Zufällen der Geschichte berührt zu werden; wir Weißen aber, einst den Japanern nahe verwandt, werden in deren Sinne fortschreitend unpatriotischer (trotz des Anscheins vom genauen Gegenteil, hervorgerufen durch die Selbsttätigkeit des bewußten Geists, der durch nationalistische Theorie ihr entsprechende Gefühlsregungen weckt, und die Interessensolidarität aller im modernen Staat), weil die Heimat auch dem vollendet individualisierten, gleichwie dem vollkommen vertieften Menschen kein Äußerstes bedeuten kann, weil Individualismus notwendig Weltbürgertum erzeugt. – Das ist ein Fortschritt vom Standpunkte der Erkenntnis. Jedoch er schwächt den physiologischen Zusammenhang. Dem völkischen Idealzustande steht das Japan von gestern näher als unsere Zukunft.

Ich studiere die Gesichter einiger Offiziere, die mit mir durch den Friedhof schreiten; unverkennbar sind sie Samurais. Aus ihren Augen blickt eine Lebensanschauung, die in Europa nur mehr nachgeborene Söhne vergangener Jahrhunderte bekennen. – Ich frage nach einem überaus prächtigen Denkmal, das kürzlich erst errichtet worden ist. Es gilt dem Andenken der im mandschurischen Kriege Gefallenen, sowohl der Russen als der Japaner. – Den Feind zu ehren, ist edelste Ritterart.

 


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