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Am Gran Cañon des Colorado

Vor dem ungeheueren Bilde des Gran Cañon muß ich an Kants Definition des Erhabenen denken: erhaben sei ein Gegenstand, dessen Betrachtung das Gemüt dazu bewegt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu deuten. Hier sind die Ideen, die das anorganische Geschehen regieren, mit einer Klarheit, Großzügigkeit und Kraft zur Darstellung gebracht, wie nirgends sonst. Hier hat ein einziger Strom in rastloser, stetiger Arbeit ein weites Hochplateau so tief und gründlich erodiert, daß der Mensch, der vom Gesimse des Cañons, vom ursprünglichen Flußbette her, auf das heutige blickt, nach unten zu ein ähnliches Bild gewahrt, wie himmelwärts in den Vorbergen der Himalayas; was er sieht, ist eine Hochgebirgslandschaft in der Unterwelt. Dieses Werk eines ruhig dahingleitenden Flusses wirkt erhabener als alles, was plutonische Gewalten je vollbracht, weil es ohne außerordentliche Mittel erschaffen ward; hier erkennt man, ehrfürchtig erschauernd, wie allvermögend die Kräfte des Alltags sind. Am Gran Cañon des Colorado treten die Bahnen, die das Geschehen wandelt, mit unvergleichlicher Klarheit an den Tag, denn die entscheidende, bestimmende Kausalreihe wird von anderen kaum durchkreuzt. Hier hat keine Katastrophe vorgearbeitet, kein Leben die Ecken abgerundet und übermalt. Alles erscheint im ganz Großen unternommen und ausgeführt. Der Colorado hat sämtliche Formationen, von der glazialen bis zur archaischen hinab, durchstochen. Nur seine Anfangsbeschleunigung und die Schwerkraft auswirkend, ist er zielbewußt, schlicht und geradeaus, vorgegangen, ohne andere Werkzeuge, als die er von Natur besaß, ohne kleinliche Rücksicht und ohne Gewaltsamkeit. Wo die Bahn ihm gleichmäßig freilag, hat er sich ausgebreitet, ganze Provinzen flachen Landes dabei zu Gebirgen umwandelnd; wo nur ein Weg in Frage kam, dort hat er seine Kraft zusammengefaßt und die Ausdehnung in Spannung umgesetzt; überall aber war das Ergebnis sehr gut. Hier hat wohl die Idee der Wasserkraft, wie Plato sagen würde, ihren vollendeten Ausdruck gefunden. Die Wasserkraft ist leblos: symbolisch-wirkungsvoller könnte dies kaum zum Ausdruck kommen, als hier geschieht, in diesem größten aller geologischen Aufschlüsse, in dem sich der Strom durch das Leben aller Zeiten hindurch seinen Weg gefressen hat. Die anorganischen Kräfte sind abwärts gerichteten Sinns, sie laufen wie ein Uhrwerk ab, unvermögend sich selbst aufs neue aufzuziehen: in grandiosem Sinnbild stellt dies der Cañon dar, wo das Hochgebirge dem Hades angehört und nicht aufgetürmt, sondern ausgeschnitten erscheint. Hier steckt hinter dem Werk kein lebendiger Geist, hier tritt kein Zweck in ihm zutage. Planlos ist es begonnen, planlos vollendet worden. Und doch ist es ein Denkmal höchster Weisheit. So klug als nur irgendein Techniker hat der Strom alle Hindernisse überwunden, tiefer als jeder Architekt den Eigensinn der Materie verstanden, nicht schlechter als ein größter Landschaftsmaler das Einzelne zum Ganzen in notwendige Beziehung gesetzt. Die Gesetze des berechnenden Verstandes sind eben keine anderen als die Normen der Weltordnung selbst; die Natur handelt immer vernunftgemäß; sie bedarf keiner vernünftigen Leitung. So ist Vollkommenheit ihr Schicksal überall, wo sie Begonnenes ganz durchführen darf.

Der Gran Cañon des Colorado ist nicht allein in diesem Sinne schön: die strengen, von kosmischer Vernunft gezogenen Linien erglänzen in einer Farbenpracht, wie kein Venezianer sie hätte reicher, kein Turner phantastischer erdichten können. Diese tote Welt scheint des ewigen Lebens teilhaftig. Jeden Augenblick drückt sie neue Stimmungen aus, jede Stunde wechselt ihr Charakter. Was unterscheidet die Schönheit, nach der wir streben, von der, die in der toten Natur so herrlich verwirklicht erscheint? – In dieser ist sie ein mechanisches Ergebnis; der Kosmos ist der Endzustand des Chaos, es gibt kein »über ihn hinaus«. Das Ideal der Schönheit ist eine treibende Kraft, es weist uns himmelwärts. Das letzte Wort der Natur, ihr Vermächtnis gleichsam, ist die Zauberformel, die dem Geiste höhere Welten erschließt.

Wie ein Lächeln spielen die zarten, schmelzenden Farben auf dem tiefgefurchten Antlitz des Gran Cañon. Schaut nicht auch manches Menschengesicht im Todesschlaf verklärter aus, als je im Leben? Ich stelle mir vor, daß, wie heute wir Menschen ehrfurchtsvoll vor diesem Wunder des Todes stehen, so einst höhere, verklärtere Geister voll Andacht über der Leiche der Erde schweben werden. Unsere mächtigsten Denkmäler werden noch ragen, wenn es längst keine Menschen mehr gibt. Bisweilen werden ihnen die Strahlen der röter gewordenen Sonne den Abglanz des Lebens verleihen. Vielleicht werden die Taten des Geists am erhabensten wirken, wenn ewiger Tod des Lebens Unrast abgelöst haben wird.

 

Sinnend blicke ich in die Unterwelt. Kant spricht von der Unerreichbarkeit der Natur, die erhaben wirke ... Ist die Natur noch unerreichbar? Hat der Mensch sie nicht schon heute übertroffen? Gelänge ihm nicht, was der farbige Strom in Jahrmillionen geleistet, in einem Jahr? – Morgen glückt es ihm sicher. Es gibt keine materiellen Hindernisse mehr, die prinzipiell unüberwindlich wären. Selbst der Wunsch des Archimedes, sein δόςμοιποῦστῶ, wird dereinst wohl erfüllt; am Ende der Zeiten zieht dieser Planet, um der Schmach der Zerkrümelung zu entgehen, vielleicht vor, zu freigewählter Stunde zu zerspringen.

Allein der heutige Mensch herrscht nicht als Gott, sondern als Erdgeist. Materiell dominiert er die Natur, er übersieht sie nicht; anstatt sie seinen Idealen gemäß zu lenken, tut er meist nur das, was die Elemente selber von ihm heischen. Er gleicht jenen Flußgöttern, an welche die Alten glaubten, deren Herrscherwille mit dem natürlichen Gefälle zusammenfiel. Ja, er ist unweiser als diese insofern, als er den Umständen weniger Rechnung trägt, weniger schön und weniger dauerhaft bildet; hätte er den Gran Cañon gegraben, dieser wäre kein Wunder der Schönheit, er gliche einer Fabrik in Ruinen, und die Ruine hielte nicht lange stand. Der moderne Mensch läßt sich von der blinden Natur, deren Eigenwillen er nur halb versteht, sein Streben diktieren. Über grenzenlose Kräfte verfügend, strebt er ins Grenzenlose, des uneingedenk, daß sein Leben streng an Grenzen gebunden ist. Sein Ideal paßt er seinem Vermögen an, nicht umgekehrt; er will unendlichen Reichtum, unendliche Macht, und da er diese für sich nicht zu nutzen weiß, so verschreibt er sich ihnen. Das Geld wird dem Geschäftsmann zum Selbstzweck, dem er sich opfert, den Völkern die Macht; das Interesse des Kapitals verfügt bewußtlos Missetaten, die kein Verbrecher willkürlich vollführte, das Machtstreben der Staaten, in Rüstungen objektiviert, führt zu Vernichtungskriegen, ob auch alle Individuen nur Frieden wollen. Was Jahrhunderte organisch aufgebaut, wird in Sekunden zersprengt; was bewußter Wille geschaffen, dient dem Geist nicht des Lebens, sondern des toten Stoffs. Unser Zeitalter ist eins der Zerstörung wie keins zuvor, weil der Mensch Kräfte nutzt, die für ihn zu groß sind.

Die Mahatmas, die stillen Übermenschen des Himavat, beherrschen sie seit je; doch überantworten sie ihr Geheimnis nur dem Chelâ, der sie wohltätig zu brauchen weiß. Nun ist es der törichten Masse verraten worden ... Dennoch ist dies, so wie die Dinge heute liegen, nicht zu beklagen. In einem Zeitalter, wo keine Kastenunterschiede gelten, wo es heißt: gleiche Gelegenheiten für jedermann! kann nicht mehr die Rede davon sein, daß dem Menschen nur das zuteil wird, wozu er innerlich reif ist: er muß vielmehr heranreifen an der Erfahrung. Deren harte Schule macht schließlich sogar den Narren klug. Sicher bezeichnet sie, wo es nicht einzelne, sondern alle zu belehren gilt, auch den kürzesten Weg. Die Erfahrungswissenschaft hat für die Aufklärung der Massen mehr getan, als die Weisheit der Adepten; die Freiheit, welche jeden seine Dummheit ausleben läßt, hat jene schneller gefördert als brahmanische Bevormundung. So wird gerade der Mißbrauch der Naturkräfte am schnellsten zu ihrer weisen Benutzung führen. Wenn die Mittel zur Zerstörung allzu groß geworden, wird kein Volk mehr leichtfertig den Krieg erklären; die Folgen grenzenloser Ausbreitung werden klar beweisen, daß der Mensch zur Selbstbeschränkung geboren ist. Die Natur der Dinge führt am Ende überall zu eben dem, was die Erkenntnis der Weisen antizipiert hatte.

So darf man nicht verzagen; unsere Zukunft ist licht, wie furchtbare Prüfungen uns auch inzwischen heimsuchen mögen. Hat der Mensch einmal gelernt, die Kräfte außer sich so zu regieren, wie der Weise seine Leidenschaften beherrscht, dann wird der Erdgeist sich zum Halbgott verwandeln. Dann werden die blinden Mächte ein dankbares Mittel sein, das Ideal in der Erscheinung zu verwirklichen.

 


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