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Einer der Flüche unseres Lebens hier draußen ist – im malerischen Sinne gesprochen – der völlige Mangel an Atmosphäre. Es gibt bei uns keine nennenswerten Halbtöne. Die Menschen heben sich alle kraß und roh gegen den Horizont ab; es gibt nichts, das einen versöhnlichen Schimmer über sie würfe, nichts, gegen das man sie messen könnte. Sie verrichten ihre Arbeit und fangen allmählich an zu glauben, daß es außer ihrer Arbeit nichts gibt, ja, daß nichts über die Arbeit geht und daß sie selbst der Mittelpunkt sind, um den sich die ganze Verwaltung dreht. Hier ein Beispiel! Ein eurasischer Schreiber war an einer Kasse angestellt, um Formulare auszufüllen. Er bemerkte zu mir: »Wissen Sie, was passieren würde, wenn ich auf diesem Bogen eine einzige Zeile hinzufügte oder wegließe?« Und im Tone eines Verschwörers fügte er hinzu: »Sämtliche Zahlungen des Schatzamtes im ganzen weiten Umkreis des Gouvernements würden in Unordnung geraten! Stellen Sie sich das einmal vor!«
Hätten die Menschen nicht diese Illusion von der alles überragenden Wichtigkeit ihrer eigenen speziellen Arbeit, ich glaube, sie setzten sich eines schönen Tages hin und machten ihrem Leben ein Ende. Aber ihre Schwäche ist mitunter lästig, besonders wenn der Zuhörer sich darüber klar ist, daß er an genau dem gleichen Fehler leidet.
Selbst das Indische Sekretariat glaubt, daß es Gutes tut, wenn es einen überarbeiteten Beamten von der Exekutive auffordert, in einem Distrikt von fünftausend Quadratmeilen eine statistische Erhebung über den Kornwurm anzustellen.
Es war einmal ein Mann vom Auswärtigen Amt – ein Mann, der in seinem Dienste bereits die mittleren Lebensjahre erreicht hatte, und von dem respektlose junge Unterbeamten behaupteten, er könne Aitchisons »Verträge und Sunnuden« nachts im Schlafe von hinten nach vorne auswendig aufsagen. Was er mit seinem aufgespeicherten Wissen tat, wußte allein der Staatssekretär, und der spürte begreiflicherweise keinerlei Neigung, darüber etwas verlauten zu lassen. Dieses Mannes Name lautete Wressley, und es war seinerzeit zu einer stehenden Redensart geworden, zu behaupten, daß Wressley über die Staaten von Mittelindien besser Bescheid wüßte, als sonst irgendeine lebende Seele auf Erden. Wer das nicht erklärte, galt für einen Mann von beschränktem Verstande.
Heutzutage ist der Mann, der behauptet, das wirre Gewebe zwischenstammlicher Beziehungen jenseits der Grenze zu kennen, ein nützlicheres Individuum, aber zu Wressleys Zeit wurde viel Aufmerksamkeit auf die mittelindischen Staaten verwandt. Sie wurden als »Foci« und »Faktoren« bezeichnet, kurz, erhielten alle möglichen und unmöglichen Namen.
Und hier machte sich der Fluch anglo-indischen Lebens heftig fühlbar. Wenn Wressley seine Stimme erhob und über diese und jene Erbfolge von diesem und jenem Throne sprach, schwieg das ganze Auswärtige Amt, und die Departementchefs wiederholten nur die letzten zwei, drei Worte Wressleys und setzten ihr »Ja, ja« darunter in dem erhabenen Gefühl, daß sie »das Reich in seinen schweren politischen Entscheidungen« unterstützten. So ist es aber in fast allen großen Betrieben: ein oder zwei Leute verrichten die Arbeit, während die anderen daneben sitzen und reden, bis der Ordenssegen sich über sie ergießt.
Wressley war der aktive Teilhaber der Firma »Auswärtiges Amt«, und um ihn bei der Stange zu halten, wenn er Spuren der Ermüdung zeigte, verhätschelten ihn seine Vorgesetzten und rieben es ihm unter die Nase, was er für ein Prachtkerl sei. In Wahrheit hatte er einen Sporn gar nicht nötig, denn er war ein zäher Bursche; was er jedoch an Lob erhielt, bestätigte ihn in der Meinung, daß es auf der Welt niemanden gäbe, so absolut und zwingend unentbehrlich für den Bestand des Indischen Reiches wie Wressley vom Auswärtigen Amt. Er arbeitete damals unter einem Vizekönig, der genau wußte, wann es an der Zeit war, einen widerspenstigen großen Mann zu »streicheln« und einen im Joch schwitzenden müden, kleinen zu ermutigen; folglich arbeiteten seine sämtlichen Gespanne glatt und reibungslos. Wressley gab er die oben geschilderte Meinung von sich selbst, und sogar zähe Burschen werden mitunter von den Lobpreisungen eines Vizekönigs ein wenig aus ihrer Bahn geworfen. Es war einmal ein Mann – – – aber das ist eine andere Geschichte.
Ganz Indien kannte Wressleys Name und Amt – beide standen sogar in Thacker und Spinks Auskunftsbuch verzeichnet – aber was er als Mensch war, was er eigentlich tat und welches seine besonderen Meriten waren – das wußten und darum kümmerten sich noch keine fünfzig Seelen. Seine Arbeit füllte sein Leben aus und er fand keine Zeit, Bekanntschaften zu pflegen, ausgenommen die von toten Rajput-Häuptlingen mit einem »Ahir«-Fleck auf ihrem Wappenschild. Wressley hätte einen vorzüglichen Clerk im Heroldsamt abgegeben, hätte er nicht im bengalischen Zivildienst gestanden.
Eines Tages – zwischen zwei Gängen auf's Amt – traf Wressley ein großes Unglück; es traf und überwältigte ihn, warf ihn wie einen kleinen Schuljungen einfach über den Haufen, so daß er keuchend und nach Luft ringend auf dem Kampfplatz zurückblieb. Ohne jeden Grund und entgegen den Gesetzen der Vorsicht verliebte er sich auf den ersten Blick in ein frivoles, goldhaariges Mädchen, das auf einem langbeinigen, grobknochigen Wallach mit einer blausamtenen Jockeimütze tief in die Stirn geschoben die Simlaer Hauptstraße auf und ab zu jagen pflegte. Sie hieß Venner – Tillie Venner – und war reizend. Sie eroberte Wressleys Herz im kurzen Galopp, und Wressley entdeckte, daß es nicht gut sei, daß der Mensch allein bleibe; selbst wenn er die Hälfte der Akten des Auswärtigen Amts in seinen Schränken liegen hat.
Dann lachte ganz Simla, denn Wressley als Verliebter bot einen lächerlichen Anblick. Er tat sein Möglichstes, um das Mädchen für sich – das heißt für seine Arbeit – zu interessieren – und auch sie gab sich, nach Weiberart, die größte Mühe, Interesse zu zeigen für das, was sie hinter seinem Rücken als »Mr. Wressleys Wajahs« bezeichnete: sie hatte eine sehr hübsche Art zu lispeln. Sie verstand auch nicht das Geringste von alledem, heuchelte aber Verständnis. Männer haben auch schon vor Wressleys Zeit auf jenen bloßen Schein hin geheiratet.
Jedoch die Vorsehung wachte über Wressley. Er war ganz betroffen von Miß Venners Intelligenz. Er wäre noch betroffener gewesen, hätte er gehört, wie sie privatim und im Vertrauen seine Besuche schilderte. Er hatte eine sonderbare Auffassung von der Art, wie man um Mädchen wirbt. Er meinte, ein Mann sollte ihnen das Beste, was er in seinem Leben geleistet hätte, ehrfurchtsvoll zu Füßen legen. Ich glaube, Ruskin schreibt irgendwo dasselbe; im gewöhnlichen Leben jedoch sind ein paar Küsse wirksamer und weniger zeitraubend.
Etwa einen Monat nachdem er sein Herz an Miß Venner verloren hatte – die Folge war, daß er seine Arbeit elend vernachlässigte – kam Wressley der erste Gedanke zu seinem »Eingeborenenregime in Mittelindien« und erfüllte ihn mit Freude. So, wie er den Plan des Buches entwarf, mußte es ein großes Buch werden – sein Lebenswerk – ein wirklich umfassendes Werk über einen ungemein fesselnden Gegenstand, geschrieben auf Grund all der mühsam erworbenen Spezialkenntnisse Wressleys vom Auswärtigen Amt – ein Geschenk für eine Kaiserin.
Miß Venner sagte er, er beabsichtige Urlaub zu nehmen und hoffe, ihr bei seiner Rückkehr ein ihrer würdiges Geschenk mitbringen zu können. Würde sie wohl bereit sein, solange zu warten? Natürlich war sie bereit! Wressley bezog ein Gehalt von eintausendsiebenhundert Rupien im Monat. Dafür wartete sie, wenn nötig, ein Jahr. Ihre Mama half ihr sogar dabei.
Also nahm Wressley Urlaub auf ein Jahr sowie sämtliche verfügbaren Dokumente – es war ungefähr eine Wagenladung voll – und zog, seinen Kopf heiß von großen Gedanken, nach Mittelindien. Er begann sein Werk in dem Lande, von dem er schrieb. Eine allzu ausgedehnte Amtstätigkeit hatte ihn zu einem kalten Arbeiter gemacht; und er hatte wohl geahnt, daß er für seine Palette der lebendigen Macht des Lokalkolorits bedurfte. Ein gefährlicher Farbstoff für die Versuche eines Amateurs!
Der Himmel allein weiß, wie der Mann arbeitete! Er sammelte seine Rajahs, analysierte seine Rajahs und verfolgte sie samt ihren Gattinnen und Konkubinen bis in prähistorische Zeiten und noch weiter zurück. Er datierte und konterdatierte, pedigrierte und pedigrierte noch einmal, eruierte und kritisierte, inferierte, notierte, kombinierte, selektierte, sortierte und klassifizierte zehn Stunden am Tage. Und weil dieser neue und unverhoffte Glanz der Liebe ihn umspielte, verwandelte er jenes tote Gebein und die unsaubere Geschichte vergangener Missetaten in etwas, über das man nach Wressleys Willen lachen oder weinen mußte. Sein Herz und seine Seele lebten in seiner Feder und flossen in die Tinte über. Für die Dauer von zweihundertunddreißig Tagen und Nächten war er ein Wesen mit Mitgefühl, Einsicht, Humor und Stil, und sein Buch wurde ein Buch. Ihm standen seine ungeheuren Spezialkenntnisse zur Verfügung, aber der Geist, der aus ihm atmete, der menschlich verstehende Funke, die Poesie und die Gewalt der Rede waren über jede Spezialkenntnis erhaben. Ich zweifle indes, ob er der Gabe, die ihm gewährt war, wirklich inne wurde; so ist es immerhin möglich, daß er seines Glücksgefühls zum Teil verlustig ging. Er arbeitete ja für Tillie Venner, nicht für sich selbst. Männer leisten nicht selten ihre beste Arbeit blind, um eines anderen Menschen willen.
Außerdem kann man – eine Bemerkung, die nichts mit dieser Geschichte zu tun hat – überall in Indien, wo jeder jeden kennt, Männer beobachten, die unter dem Banne einer Frau aus Reih und Glied hinaus auf Einzelposten getrieben werden. Taugt der Betreffende was, so wird er, einmal in Bewegung gesetzt, weitermarschieren; aber der Durchschnittsmensch kehrt, sobald die Frau an seinen Erfolgen als Tribut ihrer Macht das Interesse verloren hat, in Reih und Glied zurück.
Wressley brachte das erste Exemplar seines Buches nach Simla mit und überreichte es errötend und stotternd Miß Venner. Sie las einen kleinen Teil daraus. Ihre Kritik gebe ich verbatim wieder: »Ach ja, Ihr Buch! Es handelt ja nur von jenen scheußlichen Wajahs! Ich habe es nicht verstanden.«
*
Wressley vom Auswärtigen Amt war erledigt, zerbrochen – ich übertreibe nicht – durch dieses eine frivole, dumme kleine Mädchen. Er vermochte nur noch zu stammeln: »Aber – aber es ist mein magnum opus! Mein Lebenswerk!« Miß Venner wußte nicht, was er mit magnum opus sagen wollte, aber sie wußte, daß Hauptmann Kerrington bei der letzten Ghymkhana drei Rennen gewonnen hatte. Wressley ersuchte sie, hinfort nicht mehr auf ihn zu warten. So viel Verstand war ihm noch geblieben.
Dann kam die Reaktion auf eine einjährige Überanstrengung, und Wressley kehrte in das Auswärtige Amt und zu seinen »Wajahs« zurück, ein kompilierender, Exzerpte machender, Berichte schreibender Tagelöhner, der schon mit dreihundert Rupien im Monat überbezahlt gewesen wäre. Er ließ es bei Miß Venners Kritik bewenden; das beweist, daß die Inspiration seines Buches eine rein vorübergehende war und mit ihm selbst nichts zu tun hatte. Trotzdem hatte er kein Recht, fünf Bücherkisten voll des besten Werkes über indische Geschichte, das je geschrieben wurde, die er mit ungeheuren Kosten den ganzen Weg von Bombay hatte kommen lassen, unterwegs in irgendeinem kleinen Gebirgssee zu versenken.
Als er wenige Jahre später kurz vor seinem Rücktritt seinen Haushalt auflöste, sah ich mir seine Bibliothek durch und stieß dabei auf das einzige noch existierende Exemplar seines »Eingeborenenregimes in Mittelindien« – das Exemplar, das Miß Venner nicht hatte verstehen können. Ich las es, auf seinen Koffern sitzend, die ganze Nacht hindurch und bot ihm an, dafür zu zahlen, was er haben wollte. Er durchflog, über meine Schulter gebeugt, ein paar Seiten und sagte dann müde:
»Wie zum Teufel bin ich dazu gekommen, einmal so was Anständiges zu schreiben?«
Und zu mir gewandt fügte er hinzu:
»Nehmen Sie 's und behalten Sie 's. Schreiben Sie eine Ihrer Penny-Geschichten über seine Entstehung. Vielleicht – vielleicht – war der ganze Fall überhaupt nur bestimmt, diesem Zwecke zu dienen.«
Und das schien mir, der ich wußte, was Wressley vom Auswärtigen Amt einmal gewesen war, so ziemlich das Bitterste, das ich je einen Mann über sein eigenes Werk habe sagen hören.