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»Einmal«, so sagt Modratschek aus, »einmal, es war viele Jahre vor dem Kriege, erschien bei mir ein polnischer Genosse, der in Prag lebte. ›Genosse Modratschek, ich komme nur, um Ihnen einen Gruß vom Genossen Lenin auszurichten.‹
›Von wem?‹ fragte ich erstaunt.
›Vom Genossen Lenin. Sie wissen doch, wer das ist?‹
›Freilich weiß ich, wer das ist. Das ist der Linke von der russischen Partei. Aber ich kenne ihn nicht persönlich.‹
Nun war das Erstaunen auf seiten des Polen: ›Sie kennen ihn nicht? Ich komme gerade aus Krakau‹ (er kann aber auch ›Warschau‹ gesagt haben, ich erinnere mich nicht mehr genau), ›und da hat Lenin zu mir gesagt: Wenn Sie wieder in Prag sind, müssen Sie zum Genossen Modratschek gehen und ihn von mir grüßen. Ausdrücklich hat er mir das eingeschärft.‹
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich beim Überbringer des Grußes zu bedanken, aber erklären konnte ich mir das nicht, denn ich hatte Lenin nie gesehen, und daß er mich vom Hörensagen kennen sollte, war ausgeschlossen, weil ich außerhalb der tschechischen Partei niemals hervorgetreten bin.
Mindestens ein Jahr später kommt der Genosse Nemec vom Internationalen Kongreß in Brüssel zurück und sagt mir: ›Du, Modratschek, Genosse Lenin hat mir aufgetragen, dich herzlich zu grüßen.‹
Jetzt war die Sache noch geheimnisvoller. Denn 52 im selben Jahr, 1912, also zwischen dem ersten Gruß und diesem zweiten, hatte in unserem Parteihaus die Reichskonferenz der russischen Bolschewiken stattgefunden und ich wußte, daß Lenin dabei war. (Er hatte, glaube ich, im Hotel ›Myschka‹ am Rand der Vorstadt Žižkov gewohnt, ohne zu ahnen, daß dieses Hotel von Polizeistreifen geradezu betreut wurde, wenn auch aus Sittlichkeitsgründen.) Also, wenn mich Lenin wiederholt grüßen läßt, warum besuchte er mich nicht bei seinem Aufenthalt in Prag? Ich fand absolut keine Antwort auf diese Frage.
Dann kam die russische Revolution und aus ihr hob sich die Gestalt Lenins heraus, des Mannes, den zu kennen ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte – und ich habe ein gutes Gedächtnis! – und der mich grüßen ließ.
Da sah ich Lenins Bild und rief meine Frau: ›Sakra, weißt du, wer dieser Lenin ist? Das ist unser Mayer!‹
Meine Frau beugte sich nun auch über die Zeitung und sagte: ›Natürlich ist es der Mayer.‹
Um darüber Sicherheit zu haben, begann ich meine alten Papiere daraufhin durchzustöbern, ob sich – obwohl ich während des Krieges alles verdächtige Material verbrannt hatte – nicht Reste meines Briefwechsels mit Mayer darin fänden.«
Während also der alte Modratschek alte Papiere nach Beweisen für die Identität des Mayer mit Lenin durchsucht, wollen wir erwähnen, daß an einem Märztage im Jahre 1900 aus den Dörfern von Minussinsk alle politischen Verbannten in die Kreishauptstadt kamen, um Abschied zu nehmen von ihrem jungen Führer. Seine fünf sibirischen Jahre waren um, er kam nach Minussinsk, um die Hände der Genossen und Leidensgefährten zu drücken und weiter zu eilen. Er kehrte heim – »heim«, das hieß für ihn (und alle wußten es): in die Arbeit der sozialistischen Organisation. Alle küßten ihn, denn sie hofften auf ihn, auf Wladimir Iljitsch. 53
Weiter ging seine Fahrt. Der Schlitten durchschnitt die Scheiben gefrorenen Windes, die entlang des Jenissej standen; dreihundert Werst saust der Schlitten am Ufer, ganze Tage und ganze Nächte, der Frost brannte Wunden ins Fleisch, aber Lenin hatte den Pelz abgelegt, ihm war heiß. Er fieberte, denn jeder Schritt der Pferde brachte ihn näher ans Ziel, wo er mit der Verwirklichung seiner zu Schuschenskoje ausgearbeiteten Pläne beginnen konnte, vor allem damit, ein russisches Zentralorgan zu schaffen, die »Iskra«, den Funken, der überspringen sollte auf den zaristischen Zunder.
Der Schlitten jagte bis Ufa. Dort mußte sich Lenin verabschieden von der Getreuesten der Getreuen, von der Krupskaja, ihre Verbannungszeit war noch nicht abgelaufen. In Pskow machte Lenin Aufenthalt, um – die berühmte Pskower Beratung – die Legalen Marxisten für »Iskra« und »Sarja« zu gewinnen. Dann wollte er ins Ausland zu den Alten, zu Plechanow, Axelrod und Vera Sassulitsch.
Aber die Ochrana war ihm auf der Spur und in St. Petersburg verhaftete sie ihn. Er hatte das Gründungskapital des Blattes bei sich, zweitausend Rubel, und auf einem Bogen Notizen über die Verbindungen mit dem Ausland; sie waren mit Milch geschrieben, und darüber mit gewöhnlicher Tinte ein harmloser Brief. Gierig warf sich der Kommissar auf das dem gefährlichen Häftling abgenommene Schreiben. Er fand nichts, was darauf schließen ließ, es könnte, mit einem Chiffreschlüssel gelesen, einen geheimen Sinn ergeben, und legte es zu den Akten.
Eine und eine halbe Woche saß Lenin in der Zelle: werden sie auf die Idee kommen, das Papier zu erwärmen?
Sie kamen nicht auf die Idee, der Arrestant Uljanow wurde am zehnten Tage vorgerufen, man gab ihm die abgenommene Habe zurück, darunter zweitausend Rubel und einen Privatbrief, schärfte ihm ein, sich jeder revolutionären Tätigkeit zu enthalten, keinen Versuch zu machen, sich ins Ausland zu begeben, und entließ ihn. 54
Und Lenin begibt sich ins Ausland, wohin ihm nach Jahr und Tag seine Lebensgefährtin folgt, da auch ihre Verbannungszeit zu Ende ist.
In ihren »Erinnerungen an Lenin« erzählt die Krupskaja, wie sie nach Prag fuhr, in der Annahme, daß sich Lenin dort unter dem Namen Modratschek aufhalte. Das war die Adresse, unter der er sich ihre Briefe hatte schicken lassen. Aber der letzte Brief, den Lenin, in den Deckel eines unpolitischen Buches eingebunden, an sie gesandt hatte und der seine Münchner Adresse enthielt, war der Krupskaja nicht zugekommen. So telegraphierte sie nach Prag die Stunde ihrer Ankunft und war maßlos erstaunt, Wladimir Iljitsch nicht auf dem Bahnsteig zu sehen. Sie wartete noch eine Zeitlang, mietete dann, in großer Verlegenheit, bei einem Kutscher eine Droschke, ließ ihre Koffer aufladen und fuhr los. In der engen Gasse eines Arbeiterviertels, vor einer Mietskaserne, in deren Fenstern eine Unmenge von Bettzeug zum Lüften ausgehängt war, hielt der Wagen. Nadeshda Konstantinowna lief ins vierte Stockwerk hinauf, wo ihr eine blonde Tschechin öffnete.
»Modratschek, Herr Modratschek«, stieß die Krupskaja hervor.
Ein Arbeiter erschien in der Tür und sagte: »Modratschek, das bin ich.«
»Nein«, murmelte die Krupskaja bestürzt, »Modratschek ist mein Mann.«
Modratschek begriff, wen die Frau suchte: den Russen, dem er die Briefe nach München nachschickte. Das heutige Telegramm hatte er per Post an ihn weitergesandt.
Die Krupskaja schreibt: »Modratschek widmete mir einen ganzen Tag. Ich erzählte ihm von der russischen Bewegung, und er mir von der österreichischen. Seine Frau zeigte mir ihre gehäkelten Spitzen und fütterte mich mit tschechischen Knödeln.«
Aber es waren nicht die Knödel, die das Hauptgericht jener Prager Mahlzeit ausmachten, das wahre 55 Hauptgericht hätte sich Genossin Krupskaja noch besser als die Knödel gemerkt, wenn sie geahnt hätte, was sie da in Prag vorgesetzt bekam: es war ein Gulasch aus Pferdefleisch, obgleich, wie fast zu jeder Fleischspeise in Böhmen, Knödel beigegeben waren.
Wieso hier dieses Detail eines längst verdauten Mittagessens behauptet werden kann, wenn die Teilnehmerin selbst nichts davon wußte? Nun, die Gastgeber wußten es und wissen es noch heute genau. Sofort nach dem Erscheinen der »Erinnerungen an Lenin« haben wir uns an den alten Pionier der tschechischen Genossenschaftsbewegung, František Modratschek, gewandt, da nur er und kein anderer der in den Memoiren erwähnte Modratschek sein konnte. Er gab bereitwilligst Auskunft über seine Beziehung zu einem geheimnisvollen Fremden und dessen Gattin:
»Die Redaktion des Parteiblattes, des ›Pravo Lidu‹, die sich zu jener Zeit auf dem Palacky-Platz befand, hatte im Sommer 1900 einen russischen Genossen zu mir geschickt, der mit mir etwas besprechen und auch bei mir übernachten sollte. Ich wohnte damals in der Vorstadt Vršovice an der Ecke Kollarovà und Nerudovà; die Wohnung führte auf den Hof hinaus und war so klein, daß ich keinen Raum hatte (und eine Matratze auch nicht), um dem Fremden eine Lagerstatt zu bereiten. So schlief er nicht in meiner Wohnung.
Von ihm erfuhr ich, daß er geheim aus Rußland nach dem Ausland reise, nachdem er in Sibirien als Verbannter gelebt. Er sah durchaus nicht wie ein exaltierter Nihilist aus, sondern machte auf mich eher den Eindruck eines Geschäftsreisenden von etwas ausländischem Typus. Er war von mittlerer Größe, weder dick noch mager, aber etwas breitschultrig. An seinen Bart erinnere ich mich nicht. Sein Benehmen war gemessen, obwohl er, wie ich fühlte, in Eile war. Er sprach gut Deutsch.
Er wollte, daß ich ihm einen Paß auf den Namen eines Mannes verschaffe, der ihm einigermaßen ähnlich sehe. Ich versprach ihm, daß ich das versuchen werde, aber es gelang mir nicht. 56
Am nächsten Tage reiste er ab, nachdem er mit mir vereinbart hatte, er werde an mich Briefe und Geld aus Rußland schicken lassen und ich möge alles an eine von ihm angegebene Adresse weiterleiten. Meine Ausgaben würden gegen Ausstellung einer detaillierten Rechnung vergütet werden.
Der Fremde nannte mir seinen Namen nicht, sondern sprach den Wunsch aus, ihn in Briefen nur ›Genosse Mayer‹ zu nennen.
Nach seiner Abreise begannen wirklich zahlreiche Sendungen aus Rußland einzutreffen, gewöhnlich in Abständen von vierzehn Tagen, und ich schickte sie nach München an die mir angegebene Adresse. Dann kamen aus Deutschland und aus der Schweiz Pakete mit russischen Zeitschriften und Broschüren, beinahe jede Woche. In den Verlagsräumen der Sozialdemokratischen Druckereigenossenschaft, bei der ich tätig war, packte ich sie um und verstaute sie in Kisten, um diese an eine mir mitgeteilte Adresse nach Krakau zu expedieren.
Einige Monate nach der Abreise des Russen hielt zeitig morgens vor unserem Haus in der Kollarovà eine Droschke, der eine schwächliche, etwa dreißigjährige, einfach gekleidete Frau von sympathischem Äußeren entstieg – die Gattin Mayers; sie ereiferte sich zunächst über den hohen Fahrpreis, den ihr der Kutscher abverlangt hatte. Etwas gesprächiger als ihr Gatte, ziemlich gut deutsch sprechend, erzählte sie, daß sie mit diesem in der Verbannung und dann im Hause eines reichen russischen Kaufmannes als Lehrerin tätig gewesen sei, nun aber mit ihrem Mann in der Fremde leben wolle.
Ich befand mich damals in recht elenden Verhältnissen, so daß meine Gattin der Fremden nichts anderes vorsetzen konnte als einen armseligen Kaffee und ein Gulasch aus Pferdefleisch. Eine Nachbarin hatte uns seit einigen Tagen zugeredet, es einmal mit Pferdefleisch zu versuchen, statt unausgesetzt fleischlose Mahlzeiten zu haben, und gerade an diesem Tage hatte meine Frau zum erstenmal diesen Rat beherzigt. Wir zitterten, daß die fremde Genossin es bemerken und sich mit Ekel vor 57 diesem Essen abwenden würde, aber sie war anscheinend sehr hungrig, denn es schmeckte ihr alles gut, wie übrigens auch uns.
Die Genossin, die die Fahrt von Rußland ohne Unterbrechung zurückgelegt hatte, war sehr abgespannt, weshalb ihr meine Frau unser Bett zurechtmachte, darin die Fremde einige Stunden schlief.
Am Abend – die Arbeiter kamen eben aus den Fabriken – begleitete ich sie auf den Staatsbahnhof, den heutigen Masaryk-Bahnhof, von wo sie nach München weiterfuhr.
Eines Tages beschlagnahmte die Polizei eine an mich gerichtete Sendung russischer Bücher, öffnete die Verpackung und gab das Paket erst heraus, nachdem sie ein Verhör über Herkunft und Bestimmung angestellt hatte. Davon benachrichtigte ich sofort den Genossen Mayer in München, und daraufhin kamen keine Poststücke mehr an meine Adresse.
Zu Weihnachten 1901 erhielt meine kleine Tochter von Frau Mayer aus München eine Schachtel mit Figürchen, Sternen und anderen Kleinigkeiten, mit denen Weihnachtsbäume behängt werden. Sie hat von diesem Geschenk einen goldenen, heute allerdings bereits stark geschwärzten Stern mit einem Engel in der Mitte aufbewahrt.
Im Frühjahr oder Sommer 1902 (ich glaube wenigstens, daß es im Jahre 1902 war) kam mit einer Empfehlung Mayers ein junger Russe zu mir, der illegal nach Rußland reiste; wie ich von ihm erfuhr, bestand seine Aufgabe darin, mehrere Kisten mit Büchern hinüberzuschaffen. Er schlief zwei Tage bei mir und fuhr dann nach Krakau weiter. Drei Tage später brachten die Zeitungen eine Nachricht, daß an der russisch-galizischen Grenze ein Nihilist erschossen worden sei, der auf einem Wagen revolutionäre Schriften und Blätter nach Rußland einzuschmuggeln versucht hatte. Ob es jener Russe war, der bei mir gewohnt hatte, kann ich nicht sagen, aber ich vermute, daß er es war. 58
Von jener Zeit an habe ich jede Verbindung mit den ›Mayers‹ verloren und die romantische Bekanntschaft wäre mir gewiß aus der Erinnerung entschwunden, wenn nicht aus der Schweiz mir von Zeit zu Zeit russische Drucksachen zugekommen wären, darunter die Zeitschrift ›Sarja‹, ohne daß angegeben war, wer mir das schicke. Ich dachte mir aber, daß das von Mayer ausgehe.
Auf die Idee, daß auch die merkwürdigen Grüße des mir unbekannten Lenin mit dem Mayer in Zusammenhang stehen könnten, bin ich niemals gekommen. Bis ich dann die Photographie sah. Nun suchte ich, wie gesagt, meine alten Papiere durch, ob sich nicht Reste meines Briefwechsels mit Mayer darin fänden.
Und wirklich fand ich Bestellscheine des Vršovicer Postamtes über eingeschriebene Briefe, Pakete und Geldsendungen. Sie lauteten auf die Adresse: ›Dr. med. Karl Lehmann, München, Gabelsbergerstraße 20a, II.; für Herrn Mayer‹, ferner auf ›Karl Lehmann, München‹ und ›Georg Rittmayer, München‹ – Deckadressen, von denen aus alles an Mayer weitergeleitet wurde. Die älteste der Postanweisungen stammt vom 13. März 1901 und betrifft die Sendung eines Pakets im Gewicht von drei Kilogramm und 200 Gramm und eines Pakets von drei Kilogramm und 700 Gramm.
All das bildete keinen Beweis dafür, daß mein Gast gerade Lenin gewesen sei. Aber da fand ich zuletzt diesen Aufgabeschein des Vršovicer Postamtes, gestempelt vom 3. Mai 1901; darauf wird bestätigt, daß ich an jenem Tage einen Einschreibebrief mit der Adresse ›Frau Uljanow, Moskau‹ aufgegeben habe. Nun hatte ich es staatlich bestätigt, daß der Lenin niemand anderer als der Mayer war. Und die Memoiren der Krupskaja sagen mir nichts Neues. Daß sie damals Knödel vorgesetzt bekam, weiß ich nicht. Daß sie damals Pferdefleisch vorgesetzt bekam, weiß sie nicht.«
František Modratschek, der alte Sozialdemokrat, weiß noch etwas. Er weiß, daß die ersten Hefte der 59 »Iskra« durch seine Hände gingen auf ihrem Weg ins Zarenland, wo sie vier Jahre später den ersten Brand entfachten und nach weiteren zwölf Jahren das große Feuer.
Was aber František Modratschek, der alte Sozialdemokrat nicht weiß, ist das: daß er der Sache der internationalen Arbeiterschaft einen großen Dienst erwiesen hat, aus Gefälligkeit für einen Fremden, der unauffällig aussah und sich Mayer nannte. 60