Egon Erwin Kisch
Abenteuer in fünf Kontinenten
Egon Erwin Kisch

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Ein Schnellzug wittert Morgenluft
(1932)

Der kleine, sehr elegante Japaner kritzelt etwas in sein Notizbuch, vielleicht die Abfahrtsstunde, vielleicht die Taxispesen. Das Notizbuch ist in rotes Maroquin gebunden und trägt in der Ecke des Einbands ein goldgepreßtes »S«, über dem sich harmlos zwei goldene Zylinder kreuzen. Sieh mal an.

Wieviel wir für die Rubel bezahlt haben, fragt ein deutscher Herr. Er habe sie billig bekommen, bei einem Bankier in Spandau. In Spandau? Sieh mal an.

Auf dem Moskauer Bahnhof stürmte ein junger Mann heran, schwang sich mit dem Koffer auf das bereits fahrende Trittbrett und stieß erleichtert und siegreich ein »Porco di bacco« aus. Er habe sich verspätet, weil er zwischen der Ankunft auf dem Weißrussischen Bahnhof und der Abfahrt vom Nordbahnhof einem Herrn Grüße von seiner Tochter in Rom bestellen wollte, erzählte er uns. Er stellt sich vor: Corrado Sofia, Kriegsberichterstatter der »Gazetta di Popolo«, Turin. Sieh mal an.

Übrigens bedarf es bald keiner Indizien und keiner Zufälle mehr, um zu erfahren, welcher Art die Fremden sind, die der Transsibirische Expreß zusammenrattert. Lang ist die Fahrt, tagelang, wochenlang, kaum gibt es auf dem Erdball einen Schnellzug von so langer Fahrt wie diesen. Aus dem Fenster zu schauen, ist unmöglich, denn undurchdringliches Farnkraut aus Frost wuchert auf den Scheiben. Wo der Zug Station macht, kann man zwar aussteigen, um die Gliedmaßen zu strecken, jedoch die Kälte zupft und zwickt und zerrt an den 297 Ohrläppchen, im Nu laufen sie blau an. Der Atem glaciert Schnurrbart und Vollbart; auf jedem Bahnsteig bestaunt man eine andere Kollektion kandierter Bärte.

Was sonst zu sehen ist, erscheint den Herren Transitreisenden mitnichten interessant. Noch ein Zug mit Traktoren, noch ein Zug mit Turbinenbestandteilen, noch ein Zug mit Erntemaschinen. Nur eins scheint den Herren Transitreisenden interessant: der Krieg. Der ist ihr Traktor, ihre Turbine, ihre Erntemaschine. Darüber spricht man auch offen, hockt man doch wochenlang immerfort beisammen . . .

Der kleine, elegante Japaner, der ein »S« mit den gekreuzten Kanonenrohren, das Wappen der Waffenfabrik Schneider-Creuzot, goldgepreßt auf seinem Notizbuch und das Bändchen der französischen Ehrenlegion in seinem Knopfloch trägt, fährt selbstverständlich erster Klasse. Den ganzen Tag tippt er auf der Schreibmaschine und läßt dazu sein Grammophon spielen. Im Speisewagen kommt man mit ihm ins Gespräch. Er ist ein richtiger Japaner, das heißt, er war während des Weltkriegs Offizier in der amerikanischen Armee, ist japanischer Generalvertreter eines großen französischen Industriekonzerns (er nennt ihn zwar nicht, aber wir haben das Notizbuch gesehen), seine Frau, eine Deutsche, ist mit den Kindern in Deutschland. Jetzt kommt er direkt vom Völkerbund.

Nachdem er sich vergewissert hat, daß kein Deutscher am Tisch sitzt – ist keiner dabei, ist keiner dabei! –, erzählt er eine Episode: Nach der Rheinlandräumung kam zur Feier des deutschen Jubels auch Minister Dr. Curtius nach Heidelberg. Ein Schulkind sprach das Freudengedicht – die Tochter unseres japanisch-französisch-amerikanischen Mitpassagiers. »Brav, brav«, belobte sie Herr von Curtius, »ich hoffe, du wirst immer eine gute Deutsche bleiben.« – »Ich bin keine Deutsche, ich bin eine Japanerin.« – »So, so«, räusperte sich Curtius verlegen, »kannst du mir etwas auf japanisch sagen?« Die Kleine besann sich nicht lange und sagte 298 das Wort, das sie am häufigsten aus dem Munde ihres Papas gehört, das Wort, das sie auch schon allen ihren Mitschülerinnen beigebracht hatte: »Du bist ein Trottel.« – »Brav, brav«, sagte der Außenminister befriedigt und schritt unter dem Gelächter der Schulkinder weiter.

Mit dieser Geschichte hat unser Mitpassagier sicherlich die Völkerbundsdelegierten in Genf sehr gut unterhalten, aber er bringt auch Auffassungen von dort mit, die er, nachdem er sich vergewissert, daß kein Russe und kein Russenfreund am Tisch sitzt – ist keiner dabei, ist keiner dabei! – uns darlegt. Der Fünfjahrplan der Sowjetunion sei nichts weiter als ein militärischer Aufrüstungsplan, so angelegt wie zweifarbige Vexierbilder: setzt man eine grüne Brille auf, so werden alle grünen Striche unsichtbar, und man sieht nur die roten. Die roten Striche aber seien der Sinn des Bildes: Kriegsvorbereitung. Kollektivwirtschaften? Nur dazu da, damit der Bauer nicht auf seiner Scholle bleibe, wenn der Feind anrückt! Industrialisierung? Nur dazu da, um auf Kriegsbedarf umgestellt zu werden! Säuglingspflege? Besserung der Verpflegung? Arbeitersanatorien? Nur dazu da, um gesündere Rekruten zu haben! Schulen? Nur dazu da, um Offiziers- und Unteroffiziersmaterial heranzubilden!

Wie Schuppen fällt es uns von den Augen, über die wir die grüne Brille gelegt haben. Das also ist der wahre Sinn des Sozialismus, so also haben es Marx und Engels ausgeheckt, nichts als Kanonen und Giftgase und Massenmord schwebten ihnen vor, als sie vor neunzig Jahren die Prinzipien einer neuen Gesellschaft formulierten! Brot und Arbeit für alle Werktätigen, freie Entfaltung der Kräfte – alles nur dazu, um geeigneteres Kanonenfutter zu erzielen!

Zum Glück helfe das den Russen nichts. Sie haben nämlich einen Fehler begangen. Sie enteigneten die Putilow-Werke, die der Firma Schneider-Creuzot gehörten. Deshalb liefert Schneider-Creuzot ihnen nichts. Und ohne Schneider-Creuzot kann man keinen Krieg 299 gewinnen. Selbst England weiß das. Schneider-Creuzot macht Kanonen, die mehr als doppelt so weit tragen wie die »Dicke Berta«. Die Franzosen können von Frankreich aus London zusammenschießen und brauchen ihre Geschütze nicht einmal am Ärmelkanal aufzustellen. Es genügt die Linie bei Marquise.

Das alles erfährt man während einer Mahlzeit im Zug, dessen Waggons die Aufschrift »Riga-Moscow-Manchouria« tragen und unaufhörlich fernostwärts rollen. Eben überschreiten wir den Ural, ohne daß wir es merken, die Bahn steigt gar nicht an, obwohl sie eine höhere Region erklimmt – das hat sicherlich mit dem Unterschied zwischen relativer und absoluter Höhe etwas zu tun, den wir schon in der Schule nicht verstanden haben.

Vor Swerdlowsk führt uns der junge Schaffner auf die Plattform des Waggons hinaus, um uns das Gestein zu zeigen, das grün aus dem Schnee blinzelt, Chromeisenstein, einziges Lager der alten Welt; ohne den Betrieb von Chrompik könnte man außerhalb Amerikas kein Chromleder erzeugen. Unter uns im Tal von Omsk sehen wir Riesentürme in Bau. Hochöfen? Bohrtürme? Nein. Das Tal ist kein Tal, es ist der Fluß, er ist gefroren, und die gerüstumkleideten Türme sind die Pfeiler einer neuen, mächtigen Brücke.

Dort drüben ein Andenken aus der Zeit der Zaren, die das Volk nur deshalb knechteten, weil sie eben – anders als die Sowjets! – friedliche Absichten hegten. Die Festung von Omsk, darin Dostojewski gefangen saß. Wie fern von Europa dachten wir sie uns, als wir die »Memoiren aus einem Totenhaus« lasen, und nun sehen wir sie, obwohl wir doch erst am Anfang unserer Reise sind.

Die Strecke entlang fahren Autos auf schneeiger Landstraße, versuchen mit unserem Zug um die Wette zu fahren. Hier schleppten sich die Kolonnen der Verbannten kettenrasselnd des Weges, heulten die hungrigen Wölfe, das war einst Asien . . . Jetzt stehen und erstehen allerorts Betriebe wie in Moskau oder 300 Leningrad, jetzt warten Autobusse am Bahnhof, die Speicher von »Sojus-Chleb« bilden längs der Strecke, in Europa wie in Asien, ein ununterbrochenes Spalier.

Nur der Frost erinnert daran, daß wir in Sibirien sind. Die Uhr mußten wir bereits um vier Stunden zurückdrehen, weil wir ostwärts fahren, das Thermometer geht noch stärker vor, es zeigt Dezember, sibirischen Dezember, obwohl wir erst März haben. Auf jeder Station wird das dichte Konglomerat zitronengelber Stalaktiten abgehackt, das sich unterhalb der Toiletten immer wieder bildet. 42 Grad unter Null. 42 Grad über Null war vor ein paar Monaten die ständige Temperatur, unter der wir uns im Baumwolland der Sowjets befanden, in Tadschikistan. Damals schworen wir schwitzend, nie mehr über Kälte klagen zu wollen, jetzt schreit man auf vor Schmerz, wenn man handschuhlos die Eisenstange der Plattform berührt.

Läuft man auf den Stationen ein paar Schritte umher, so pflegt man jeden entgegenkommenden Passagier in die Höhe zu heben, aus Übermut und um sich zu erwärmen. Chinesen und Japaner heben einander nicht in die Höhe, sie gehen stumm und feind aneinander vorbei. Unter den Chinesen sind Studenten der Charlottenburger Technischen Hochschule, sie kehren zurück, weil man ihnen von zu Hause kein Geld zum Studium mehr schicken kann. Ein junger Chinese sitzt still im Abteil, er spricht während der ganzen Fahrt kein Wort.

Der Deutsche, der uns nach dem Kaufpreis unserer Rubel fragte, ist ein kleiner Kollege des japanischen Waffenspekulanten. Er fährt dritter Klasse, obwohl er Drehbänke eingekauft hat, an denen man während des vorletzten Weltkriegs Granaten in Spandau drehte. Ausgediente Instrumente, 180 Mark das Stück, zuzüglich 56 Mark Fracht pro Kubikmeter ab Nordhafen Berlin.

Zu unseren Füßen brandet ein Häusermeer, Nowosibirsk. »Sib-Chicago«, das Sibirische Chicago, nennen es die Russen, stolz auf sein rapides Wachstum. Ach, 301 sie würden diesen Vergleich nicht anwenden, wenn sie das amerikanische Chicago näher kennen würden, mit den morschen Pfahlbauten auf Sümpfen der Peripherie, der stickigen, stinkenden Luft hinter den Schlachthöfen, den grauenhaften Elendsquartieren der mexikanischen Arbeiterfamilien, mit den Court-Restaurants, wo feine Leute sich den Nervenkitzel leisten, zur gleichen Stunde mit einem Hinzurichtenden im gleichen Haus das gleiche Abendbrot zu verzehren. Wie können die Leute hierzulande sich die Korruption vorstellen, die das reiche Chicago in den Bankrott getrieben hat. Seit anderthalb Jahrzehnten Kämpfe zwischen den Verbrecherbanden, Alkoholschmuggler im Bunde mit der Polizei und den Behörden. Das sind wohl keine »inneren Wirren«, das gefährdet nicht Ruhe und Ordnung und Zivilisation, das ist wohl nicht so schlimm, wie die Zustände in China, die Japan veranlaßt haben, mit Bombenflugzeugen, Giftgas, Kanonen, Okkupation und Annexion dreinzufahren. Auch der Völkerbund gäbe freilich nicht sein bedächtiges Kopfnicken zu einer Intervention gegen Chicago. Chicago ist nicht China.

Weiter rollt unser Zug, an Krassnojarsk vorbei, über den Jenissej, die verschneit daliegende Taiga entlang, an Irkutsk und seinen neuen Häuserbezirken vorbei, am Baikalsee vorbei und an Werchne-Udinsk, wo die Reisenden umsteigen, die in die Äußere Mongolei wollen.

Auf jeder Station kauft man Zeitungen, die Transitpassagiere lassen sich die Charbiner und Schanghaier Telegramme vorlesen und freuen sich, daß der Krieg vorwärtsgeht, daß das Geschäft vorwärtsgeht, daß der Zug vorwärtsgeht.
 

Je weiter der Transsibirische Expreß ostwärts vordringt, desto mehr drehen sich die Gespräche der Passagiere um die Grenzkontrolle in den neuen Staats- und Kriegsgebieten. Es sei nicht schlimm, versichern die japanischen Praktiker, man sei sehr höflich jenseits der Grenze, nur wer irgendwie des Kommunismus 302 verdächtig sei, mit dem mache man allerdings keine Umstände, man übergibt ihn den Weißgardisten und bumm.

Wieso man einer solchen Sache verdächtigt werde? Ach Gott, das merken die schon. Wenn jemand mehrere Sowjetvisa im Paß hat, oder wenn zwischen der Einreise in die Sowjetunion und der Ausreise eine längere Frist verstrichen sei, wenn einer Russe ist oder russische Bücher bei sich hat – oh, man erkenne schon am Anzug, am Hut, an der Wäsche, am Koffer, ob jemand geraume Zeit unter den Sowjets gelebt habe, die Weißgardisten haben darin Praxis. Ein chinesisches Visum, das in der Sowjetunion ausgestellt sei, mache schon stutzig. Warum hat es sich der Reisende nicht in seiner Heimat besorgt, he?

Sieben Tage nach der Abfahrt aus Moskau stiegen wir in Tschita aus, wir erzählten unseren Reisegefährten, eine Bärenjagd in Transbaikalien sei unser Reisezweck. Das glaubte allerdings niemand von denen, die zu edlerer Treibjagd nach dem Fernen Osten fuhren. Noch mißtrauischer aber waren die Russen im Zug gegen uns: Was ist das für einer, der da immerfort mit den Waffenschiebern beisammensteckt, selbst Ausländer ist und russisch versteht, wozu fährt er jetzt nach Tschita, unserer Grenzstadt an der Mandschurei?

Wozu? Jetzt können wir's schon sagen, Freunde. Nicht um Bären zu jagen, sondern um das chinesische Visum zu bekommen. In Moskau gibt es nämlich keine Vertretung Chinas mehr, da die diplomatischen Beziehungen seit 1929 abgebrochen sind. Nur in Tschita funktioniert noch das Konsulat.

So kam es, daß wir am 13. März 1932 um acht Uhr abends vor dem Bahnhof von Tschita standen. Wir heuerten einen Iswoschtschick, der uns ins Hotel Delowoj führte, Zimmer mit fließendem Wasser, sehr angenehm, man wäscht den Dreck einer siebentägigen Eisenbahnfahrt vom Leibe. Aber um halb neun ist man fertig, steht da mit gewaschenem Hals. Was fängt man in Tschita an zu einer Abendstunde, da das chinesische 303 Konsulat ohne Zweifel schon geschlossen ist. Im Theater spielt man »Chleb« (Getreide) von Kirschon, aber das haben wir schon bei Stanislawski gesehen. Wir gehen in den Zirkus.

Zirkus ist überall gleich, nur das Publikum ist überall verschieden, weshalb auch der Wanderzirkus die logische Form des Zirkus darstellt, und der seßhafte dazu verurteilt ist, früher oder später als Ruine in Rom oder als Großes Schauspielhaus in Berlin zu enden.

Gehen wir heim; mit dem Gedanken an die verschiedenen Todesarten, die die Weißgardisten den Verdächtigen zu bereiten pflegen, und mit dem Entschluß, einige überflüssige Stempelvermerke verschwinden zu lassen, schlafen wir ein, wachen wir morgens auf mit ähnlichen Gedanken.

Tschita hat kein Straßenpflaster, aber neue Gebäude, Verwaltungsgebäude der Transbaikalischen Eisenbahn, Sowjetpalast, Schulen, Klubs; eine Lokomotivfabrik wird gebaut.

Mit Ausnahme der Zeit, die wir auf dem chinesischen Konsulat verbrachten, um den von China visierten Paß endlich in der Hand zu wiegen, haben wir unsere Zeit im Gebietsmuseum namens Kusnetzow verbracht.

Flucht und Verbannung, das ist die russische Geschichte dieses Bezirks. Jawohl, zuerst die Flucht und dann erst die Verbannung. Die ersten russischen Siedler auf dieser Steppe der Mongolen und Tungusen waren die Starowjerzen, die sich den Kirchenreformen des Patriarchen Nikon nicht unterwerfen wollten und deshalb in die fernste Einöde flohen, um hier unbehelligt ihrem Ritus zu dienen. »Eine gute Idee«, sagte Peter der Große, als in dem unwirtlichen Gebiet von Nertschinsk Erzlager entdeckt wurden, »eine gute Idee! Wir schicken einfach die Verbrecher hin.«

An den Museumswänden hängen Bilder der Dekabristen, der Petraschewzen, der Narodowolzen, der Sozialrevolutionäre und der Bolschewiki, die hier ihren Freiheitstraum mit Kerker und Ketten büßten; man sieht Bakunin, Tschernyschewski, Sophie Perowskaja, Wera Figner. Wir sehen auch ein vergilbtes Photo des Journalisten Georges Kennan. Kennan war nicht Amerikaner genug, um sich davon abhalten zu lassen, die Leiden der politischen Gefangenen Rußlands zu schildern, aber er war noch Amerikaner genug, um 1917 darüber entsetzt zu sein, daß diese ehemaligen Sträflinge die Regierung Rußlands übernahmen.

Andenken füllen die Vitrinen, nicht nur an politische, sondern auch an kriminelle Gefangene. Eine Kollektion von gefärbten Brotplastiken; Gruppenszenen aus dem Leben der Flüchtlinge lassen an blutiger Realistik und künstlerischer Gestaltungskraft alles verblassen, was an Bildnerei der Gefangenen in den Polizeimuseen und in den Kabinetten der Strafanstalten vorhanden ist, Photographien von Hinrichtungsszenen und anderen Greueln aus der Zeit des Ataman Semjonow und des Generals Gajda sind die Gegenstücke dazu.

Und damit wir auch hier, im Schreckenskabinett an der chinesischen Grenze, dem 100. Todestag Goethes nicht entrinnen, blickt uns steif und würdig eine Goethebüste an, geknetet in den sechziger Jahren vom Falschmünzer Zeisig aus Berditschew.

Nun können wir abreisen. Eine Stunde hinter Tschita, Station Karymskaja, teilt sich die Bahnstrecke: ostwärts läuft die Linie nach Wladiwostok, unsere geht nach Südost, um Anschluß an die Ost-Chinesische Eisenbahn zu suchen. Bei Mazijewskaja, Halbstation 86, ist Zugkontrolle, Sowjetbeamte überprüfen das Ausreisevisum, forschen, ob man keine Valuta ausführt.

Über das Geleise spannt sich ein großer Bogen mit Sichel, Hammer und rotem Stern, – ferner Bruder jenes Bogens in Njegoreloje, durch den man, aus dem Kapitalismus des Westens kommend, in die Sowjetunion einfährt. Dort stimmt man die Internationale an, und winkt mit beiden Armen den Rotarmisten zu, den ersten Rotarmisten! Hier fährt man still aus dem Land hinaus.

Mandschuria, alles umsteigen. 305

Die Paßkontrolle nehmen Chinesen vor, wahrscheinlich schon Beamte des neuen japanischen Freistaats Mandschukuo, oder solche, die es bald sein werden. Schnuppernd und gierig durchwühlen Weißgardisten jeden Koffer. Ganz unverschämt fragen sie, ob man russisch spreche, als wäre das ein Verbrechen. »Nitschewo russki«, antworten wir in einem Tonfall, der beweist, daß wir weniger als nitschewo russisch verstehen.

Wir sind nämlich, seit wir in Tschita einen neuen Zug bestiegen haben, ein ganz anderer geworden, ein ruhiger, sauber rasierter Ausländer mit Hut und Glacéhandschuhen und gebügelten Hosen, der im Speisewagen mit Dollar bezahlte und sich die in zyrillischen Buchstaben gemalten Namen der Stationen von freundlichen Passagieren vorlesen ließ.

Der weißgardistische Grenzhelfer der Japano-Chinesen verlangt den Transitschein über unsere Barschaft, den wir, als wir aus Deutschland in die Sowjetunion einreisten, erhalten haben müssen. O weh, daran hatten wir nicht gedacht. Der Russe besteht auf dem Schein, mit dem vielleicht Valutageschäfte getätigt wurden. Nun, wir haben ihn nicht, wir versichern dem Herrn, daß wir den Zettel soeben, nach Passieren der russischen Grenzstation weggeworfen haben, mitsamt allen Bestätigungen, und daß wir im Speisewagen einen Dollar und wieder einen Dollar wechselten. Der Weißgardist schüttelt den Kopf und begibt sich zu dem dicken chinesischen Offizier, der tief in die Pässe vertieft ist.

Fünf Passagiere pochen an die offene Tür, deren Politik zu verfolgen der ehemalige Kaiser und neue Präsident der Mandschus öffentlich versprochen hat. Da ist der Sekretär der chinesischen Gesandtschaft in Helsingfors mit seiner zierlichen Chinesenfrau, da ist ein geheimnisvoller Polizeibeamter aus China, der beim Völkerbund über Opium referieren sollte, und Agnes Smedley zu kennen vorgibt, da ist ein italienischer Militärattaché für Flugzeugwesen. Sie alle sind mit mächtigen, auseinanderzufaltenden Wunderpapieren 306 versehen, während der fünfte, meine Wenigkeit, nur ein scheußliches Büchel sein eigen nennt, aus dem der dicke Chinese irgendwelche Geheimnisse herauslesen will. Endlich gibt er den Paß zurück mit einem Gesicht, als ob er sagen wollte, was geht's mich an, bald kommst du an eine andere Front, dort werden dich die Japaner kalibrieren – ihre Sache, ob du ihnen gefällst.

Jetzt können wir weiterfahren. Weiterfahren? Ja, Pustekuchen! Der Zug fährt heute nicht ab, erst nach dreißig Stunden. Unser Gepäck lassen wir in den Waggon tragen, dort dürfen wir auch übernachten. Wir wechseln unser Geld, ein Dollar ist gleich vier Chinesendollar und 70 Cents.

Über dem Bahnhof weht die Fahne der Ost-Chinesischen Eisenbahn, oben die Sonne Chinas, darunter der Stern der Sowjets mit Hammer und Sichel. Wir überqueren das Bahngeleise, um uns die Stadt Mandschuria (Manchouli) anzusehen. Zwei fremde Herren, jeder für sich, gehen hundert Schritte hinter uns. Sie haben zufällig den gleichen Weg wie wir.

In der Hauptstraße dominieren russische Firmentafeln, man könnte glauben in einer Sowjetstadt zu sein, wenn der Eigentümer »Mosselprom« hieße oder »Teshe« oder wie sonst ein staatlicher Trust, aber hier heißt der Eigentümer Aismann, Tuliatos, Lung-Fi-Du. Privater Handel. Einen Kilometer weiter westlich würde der Besitzer dieser Branntweinbrennerei schwerlich seinen Namen so großmächtig aufs Firmenschild setzen. Ach, drüben gibt es manches nicht einmal staatlich, was es hier privat gibt; drüben gibt es kein »Gos-Bordell«, während hier mindestens ein Bordell besteht, wie wir dem Schaukasten des Photographen entnehmen. Die Straßen heißen Doktorskaja Uliza (Doktorstraße), Petrowski Pereulok (Petrowskigäßchen), das sind Namen russischen Ursprungs.

Wir gehen an ebenerdigen Lehmhäusern vorbei, ein ganzer Block ist niedergebrannt. Vor den Geschäften sind verschiedene Gegenstände auf Galgen ausgehängt, Reklame für Analphabeten. Nur für chinesische 307 Analphabeten, wir zum Beispiel wissen durchaus nicht, was die Holzscheiben, Tierschädel, Käfige mit lebenden Vögeln bedeuten, welche Ware sie anzeigen. Eine Trommel aus Pappe, buntbeklebt und buntbebändert und mit Papierblumen geschmückt, eruieren wir als Wirtshausschild.

Marktbuden halten Burennüsse feil, kleine Fische, Tee, Melonenkerne, Sonnenblumenkerne, schadhaftes Konfekt und Sojustabak-Zigaretten in vergilbten Schachteln; freier Handel, der seine Ware aus der Konsumgenossenschaft bezieht. Vor den Häusern flicken Spezialisten zerbrochene Porzellantassen, indem sie in die Scherben je einen Nagel einschlagen und Draht darumschlingen. Alle Waren, alle Menschen sehen ausgemergelt, verstaubt aus. Man darf Mandschuria nicht mit seiner Sowjetnachbarstadt vergleichen. Tschita ist viel größer. Aber doch – dort traten Schulen in Erscheinung, die neuen Gebäude, das Museum des Verbannungswesens.

Die beiden Herren, hundert Schritte hinter uns, haben noch immer den gleichen Weg. Eine Frau trägt Zeitungen aus, Weißgardistische Blätter aus Charbin: »Rußkoje Slowo«, »Rupor«; gerne möchten wir wissen, wie vorgestern die Präsidentenwahl in Deutschland ausgefallen ist, ob die Japaner Schanghai genommen haben, ob der Krieg weitergeht, was in der Mandschurei los ist, aber wir werfen keinen Blick auf die Zeitungen, die wir ja doch nicht lesen können.

Am Abend verspüren die beiden Herren hinter uns zufällig Lust ins Bahnhofrestaurant einzukehren. Ein naheliegender Einfall, hundert Schritte vor ihnen ist er uns auch gekommen, und hundert Schritte vor ihnen haben wir ihn verwirklicht. Wie wohl das tut, wenn endlich wieder einmal Kellner katzbuckelnd und schweifwedelnd um uns scharwenzeln! Sie legen russische Emigrantenzeitungen vor uns hin, sowjetische gibt es nicht in diesem Bahnhof, auf dessen halber Flagge Hammer und Sichel sich kreuzen. Eine russische Bilderzeitung durchblättern wir, die Zeitungen schreien 308 uns vergeblich ihre Titel zu, wir hören nichts, denn am Nebentisch sitzen die beiden zufälligen Herren. Wirt und Gäste sind dicke, glatzköpfige Herren mit Knebelbärten. Sie sehen wie Zaren aus.

Da wir aus dem Restaurant auf den dunklen Bahnhof treten – lohnt es denn, für fünf schäbige Passagiere einen weitläufigen Grenzbahnhof zu beleuchten? –, erhebt sich am anderen Ende des Korridors ein Huronengebrüll und eine unsichtbare Horde jagt auf uns zu. Unser Herz steht still. Kleine Gestalten umzingeln uns bedrohlich. Ein Stein fällt uns vom Herzen, als uns ihr Schlachtruf verständlich wird: »Dajte kopejetschku! – Schenken Sie ein Kopekchen!«

Hier also haben die Besprisorni, die zerlumpten Bettel- und Verbrecherkinder, die man noch vor einigen Jahren in Sowjetrußland auf Schritt und Tritt traf, ihr letztes Refugium gefunden. Die hartnäckigsten von ihnen setzten den Weg ins bisherige Leben fort, indem sie über die Grenze gingen, wo es keine Kinderheime, keine Arbeitskommunen, keine Kinderstädte gibt, wo man nicht von den Erwachsenen und Altersgenossen statt Almosen Moralpauken bekommt, wo man Tabak und Alkohol und Opium nach Herzenslust kaufen kann.

Sie laufen hinter uns her auf den Bahnsteig hinaus, wir besteigen den lokomotivlos dastehenden Zug, sie schimpfen wütend hinter uns her: »Bolschewik! Bolschewik!« Die beiden Herren, die zufällig auch auf den Bahnsteig getreten sind, lächeln . . . Aus dem Fenster unseres Abteils, in dem wir heute als Hotelgäste, nicht als Passagiere nächtigen werden, sehen wir die beiden Herren am Bahnsteig stehen.

»Ost-Chinesische Eisenbahn.« Dieser Name hat nichts mit Ostchina zu tun, er bedeutet, daß die Bahn von Westen nach dem Osten durch China geht, direktenwegs nach Wladiwostok. Die erste Station auf chinesischem Boden ist Mandschuria, nach anderthalbtausend Kilometern chinesischer (oder mandschurischer) Fahrt betritt man in Pogranitschnaja neuerlich 309 Sowjetboden. Wir aber wollen diese anderthalbtausend Kilometer nicht durchmachen, sondern auf halbem Weg in Charbin umsteigen.

Es ist eine elegante Eisenbahn, gar kein Vergleich mit der Sowjetbahn, aus der wir heute umgestiegen sind. Die Sowjetbahn war ein Arbeitszug, die Ost-Chinesische ist ein Politikum. Viel Geld und viel Blut hat sie schon gekostet. Das Zarenreich wollte sich den geraden Schienenweg nach seinem pazifischen Hafen Wladiwostok 378 Millionen Rubel kosten lassen, aber dieses Budget wurde schon 1899 um 180 Millionen Rubel überschritten; die Zweigstrecke Charbin–Chanchun (250 Kilometer), die den Anschluß an die Südmandschurische Eisenbahn herstellt, kam auf weitere 82 Millionen Rubel zu stehen. Im Vertrag von Mukden, 21. März 1924, wurde die chinesische und die sowjetrussische Parität an der Bahn anerkannt, Juli 1929 haben die Chinesen den Vertrag gebrochen, die russischen Beamten verhaftet und verjagt. Sie wollten die Bahn für sich allein haben, so wie es jetzt die Japaner wollen, doch kam es zu einer Einigung.

Vor dem Schlafengehen plaudern wir mit den Passagieren auf dem Korridor des Waggons. Die chinesischen Grenzbeamten haben unseren chinesischen Mitreisenden erzählt, daß vorgestern die chinesische Garnison gemeutert hat, weil ihr Kommandant die Fahne des neuen mandschurischen Staates, dieser Republik mit dem Kaiser an der Spitze, gehißt hat. Sie blieben China treu, obwohl sie bereits seit fünf Monaten keine Löhnung erhalten haben. Es gab Todesopfer.

Warum ist die »mandschurische« Armee nicht ausgerückt gegen die Meuterer, warum steht überhaupt die von ihrer Heimat abgeschnittene Beamten- und Soldatenschaft an der Westgrenze, warum haben die Japaner noch nicht das ganze Land besetzt?

Der Grund wird uns bei der Weiterfahrt klar: das Land, das wir fünfzehn Schnellzugstunden lang passieren, ist der sibirische Norden der Provinz Hei-Lun-Kiang, ist nichts als Steppenboden, der Rand der Wüste 310 Gobi. Nichts, nichts. Hier und da eine Lehmhütte, hier und da eine Kamelkarawane. Wirtschaftliche Gründe sind nicht vorhanden, diese Zone zu besetzen, politische und militärische Gründe für den japanischen Aufmarsch sind da, aber das ist nicht so eilig. Der Krieg kommt ja nicht schon heute. Erst morgen.

Selbst die Stationsgebäude dieser eleganten Bahn sind mehr als armselig. Zwei Aufschriften bilden an jeder Haltestelle ein Kreuz: senkrecht angeordnet sind die chinesischen Charaktere, waagrecht die russischen Buchstaben. Daneben strömt der Kipjatok, der heiße Sprudel unentgeltlichen Teewassers. In Hailar dominiert eine Reklametafel der tschechoslowakischen Schuhfabrik Bata, überall in der Welt sieht man sie, mit Ausnahme der Sowjetunion.

Nachts um vier nennt das Kreuz auf der Station einen Namen, der in den letzten Wochen jedem Zeitungsleser bekannt geworden ist, den Namen Tsitsikar. Alles wird geweckt. Japanische Offiziere und weißgardistische Zivilisten untersuchen Paß, Koffer, Herz und Nieren. Die Soldaten, längs des Zuges aufgestellt, tragen chinesische Uniform. Da kennt sich der Teufel aus, aber nur der gelbe. Trotz Gewehr mit übertrieben langem Bajonett sehen die Soldaten friedlich drein. Um so martialischer benehmen sich die Beamten und Zivilisten, die die Zugkontrolle vornehmen. In ein Abteil, dessen Passagiere ihrer Perkussion bereits standgehalten hatten, kehren sie zurück, um einen jungen chinesischen Studenten brutal aus dem Zug zu stoßen; er wird ins Bahnhofsgebäude abgeführt, einer seiner Mitreisenden hat ihn einer antijapanischen Äußerung beschuldigt.

Plötzlich überflutet ein Menschenstrom unseren Waggon, – Passagiere eines Zuges, der gestern in der Nähe von Tsitsikar von Banditen angehalten wurde, und die daraufhin in das Bahnhofsgebäude geflüchtet sind. Nun wollen sie weiterfahren, die Prüfungszeremonien dauern ihnen zu lang, sie durchbrechen den Kordon, steigen ein und verjagen die Grenzhüter.

Aus ist's mit der Schlafstelle, für die man eine 311 Platzkarte gelöst hat, aus mit der Ruhe. Die Neuangekommenen erzählen. Der eine, ein Amerikaner, richtet in den Städten des neuen Staates Spielsalons ein und beklagt sich, daß die neuen Minister so hohe Bestechungsgelder verlangen, als ob sie schon ganz fest säßen, und dabei sei die Selbständigkeit der Mandschurei von den Großmächten noch gar nicht anerkannt. Ein Tschechoslowake hat die Verhandlungen zwischen dem Ex-Legionär Vretenar in Charbin und dem Ex-General Gajda in Prag geführt, der die militärische Führung der Weißgardisten übernehmen soll, weil der Ataman Semjonow schon allzu alt ist. Die Verbindung mit deutschen Faschisten hat der Ex-Schwager des Ex-Kaisers Wilhelm, Herr Zubkow . . . alles Ex.

Der Morgen graut, Felder mit Sojabohnen fahren vorbei. Um zehn Uhr, also zwanzig Stunden seit unserem Start von der mandschurischen Grenze, sind wir in Charbin. Variatio delectat: wieder Paß-Untersuchung. Charbin ist der Punkt, an dem sich der horizontale und der vertikale Strich des T treffen. Wir steigen um in den vertikalen. Er ist voll mit russischen Emigranten, die sich anderswo umsehen wollen, in Charbin ist nichts mehr los . . . Kein Mensch in Europa kauft Sojabohnen. Haupt- und Residenzstadt der Mandschurei wird jetzt Chanchun, niemand benutzt mehr die Ost-China-Bahn; wozu durch Kriegsgebiet reisen, wenn man mit dem Transsibirien-Expreß direkt nach Wladiwostok kann.

»Und Sie?« Wir kommen aus Berlin. »Durch Rußland?« Ja, durch Rußland. »Erzählen Sie, erzählen Sie!« Was gibt's da zu erzählen, wir sitzen doch immerfort im Zug. »Hat man Ihnen gute Dollar für schlechtes Essen im Speisewagen abgenommen, was? Und der Kellner hat sich zu Ihnen an den Tisch gesetzt und hat mit Ihnen aus dem gleichen Glas getrunken, chachacha!« Die Kellner saßen wirklich im Speisewagen, wenn auch an einem eigenen Tisch, aber erst jetzt fällt uns ein, daß in feinen Gegenden der Kellner nicht im gleichen Lokal wie der Gast sitzen darf. 312

»Erzählen Sie, erzählen Sie von Moskau.« Wir haben nichts zu erzählen, wir sind in Moskau nur von einem Bahnhof zum andern gefahren und wieder in den Zug gestiegen. »Womit?« Im Taxi. »Im Taxi? Chacha! Da stellt man also jetzt in Moskau für die Fremden ein Taxi vor den Bahnhof. Sie müssen nämlich wissen: es gibt kein einziges Taxi in Moskau. Schade, daß Sie nicht eine Nacht dort geblieben sind. Da hätten Sie etwas erlebt, die Leute sterben auf der Straße vor Hunger.« Schade, daß wir das nicht erlebt haben. Ein russischer Herr gibt uns seine Geschäftskarte, Artistenagentur. Wenn wir junge Damen wissen, die etwas singen und tanzen können . . . Gerne, gerne.

Fünf Uhr Chanchun, ein Bahnhof wie der Leipziger Hauptbahnhof, wenn auch kleiner, Asphalt, Unterführungen, Büfetts, Vestibül, Aufschriften nur japanisch. Warum? In Leipzig sind sie ja auch nicht nur sächsisch! Was uns auffällt: fast alle Menschen, Zivilisten und Soldaten, tragen einen Verband um die Nase und Mund. Sind das alles Kriegsverletzte? Oder sind das Gegner der neuen Regierung, die auf solche Weise zum Schweigen verurteilt sind? Nein, diese Bandagen trägt der Japaner im Winter, um sich vor Erkältung, und im Sommer, um sich vor Staub und Bazillen zu schützen, fürwahr ein vorsorgliches Volk.

Für 25 Yen lösen wir ein Billett nach Dairen und steigen um. Südmandschurische Eisenbahn. Koffer, Aktentaschen dürfen nicht ins Abteil, dafür ist ein eigener Raum da. Im Schlafwagen gibt es Vorhänge vor jeder Schlafstelle, Hosenspanner, eigene Lampe. Eine Bibliothek für die Passagiere.

Auch diese Bahn ist von den Russen gebaut worden, Ende des vorigen Jahrhunderts, als sich die europäischen Großmächte in China festsetzten, die Deutschen Kiautschou einsteckten, die Russen Port Arthur. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg fiel die Südmandschurische Bahn den Japanern zu, mit allen Unternehmungen längs der Strecke, Kohlengruben, Erzlagern, 313 Elektrizitätswerken. Japan hält seinen Brückenkopf auf dem Kontinent wohlweislich gut instand.

China baut Parallelbahnen, das durchkreuzt Japans imperialistische Pläne, aber da es den Chinesen auf friedlichem Weg nicht verbieten kann, Verkehrsstraßen auf chinesischem Territorium zu bauen, so tut es das eben auf kriegerischem Weg.

Drei junge Japanerinnen setzen sich im Speisewagen an unseren Tisch. Das ist sehr schön. Sie sind voll kostümiert; die Coiffure besteht aus drei flockigen Kugeln und silbernen Kämmen, die hellen Seidenmäntel sind mit Vögeln und Blumen bestickt, um die Brust spannt sich eine farbige Saffianschärpe, an den Füßen tragen sie hölzerne Sandalen, zwischen den Zehen festgeschnallt.

Frühmorgens sind wir in Dairen. Wolkenkratzer, asphaltierte Avenuen, Straßenbahnen, Autos, europäische Schaufenster, amerikanische Kinoplakate. Im Telegraphenamt, umgeben von pneumatischen Röhren und elektrischen Signalapparaten, berechnet der Beamte unsere Telegrammspesen auf einer Rechentafel, einer kleinen, zierlicheren Schwester der russischen Schtschoty. Das und die Rikschas, die zweirädrigen, von einem Menschen gezogenen Droschken, sind das einzige, was uns in der Stadt sagt, daß wir in Ostasien sind.

Im Hafen freilich sagt uns alles, daß wir in Ostasien sind. Unter drohend antreibendem Knallen der Peitsche ziehen die Kulis ihre Bahn und vom Kai zum Schiff, vom Schiff zum Kai, schwankend unter der Last die ganze Schar, Gänsemarsch, die Peitsche knallt.

Widerlich und erschütternd die verkrüppelten Füße der Frauen. Vom Säuglingsalter an abgeschnürt, sind sie wie Zapfen an dem Bein. Auf solchen Füßen kann man nicht gehen, mit den Fersen auftretend, wackeln die Frauen immer.

Dairen (aus dem Wort »Dalni«, »das Ferne« entstanden, mit dem die Russen ihren fernöstlichen Hafen bei Port Arthur bezeichneten) ist Umschlagplatz für 314 alle Waren, die auf dem Landweg aus Europa kommen und auf dem Schiffsweg nach den Häfen des Fernen Ostens weitergehen.

Auch wir müssen auf dem Gelben Meer weiter, nachdem wir vierzehn Tage im Zug gesessen. Am nächsten Tag ankert das Schiff in Tsingtao, am zweiten fährt es in den Yangtsekiang ein, und von dort in den Whangpoo, um im Hafen von Schanghai die Landungsbrücke auszuwerfen. 315

 


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