Egon Erwin Kisch
Geschichten aus sieben Ghettos
Egon Erwin Kisch

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Ex odio fidei . . .

In der Teinkirche liegt, das ist sicher, der Knabe Simon Abeles begraben. Tritt man vom Ring aus durch den Haupteingang ein, so findet man im rechten Schiff unterhalb des Chors die braune Grabplatte irgendeines Bürgers in die Erde eingelassen; unter ihr, behauptet der Kirchendiener steif und fest, sei auch der Kupfersarg des Simon Abeles. Nach alten Chroniken aber soll dieser in der Kreuzkapelle liegen, und zwar an der Epistelseite des Kreuzaltars, nicht weit von Tycho de Brahes Grab, unter der Marmortafel, auf der vierundzwanzig lateinische Zeilen eingemeißelt sind:

»Simon Abeles, ein zwölfjähriges Judlein, folgte Gott und flüchtete in das Kollegium Clementinum der Gesellschaft Jesu, der heiligen Taufe zuliebe, im September des Jahres 1693; nach wenigen Tagen aus der Gastfreundschaft verräterisch verschleppt, durch Schmeichelei, Drohungen, Mißhandlungen, Hunger und abscheuliche Haft zu Hause heimgesucht, erwies er sich stärker als dies alles und starb durch die Hand seines Vaters und dessen Freundes am 21. Februar 1694. Der heimlich beigesetzt gewesene Leichnam wurde am sechsten Tage exhumiert, behördlich untersucht und war bis zur Versiegelung des Sarges ohne jeden häßlichen Geruch, von natürlicher Farbe, gänzlich unerstarrt, angenehm anzusehen, und rosenfarbenes Blut entströmte ihm. Aus dem Altstädter Rathause wurde er mit wunderbarem Leichenprunk unter einzigartigem Zusammenlauf und gerührter Teilnahme des Volkes getragen und hier beigesetzt am letzten März 1694.«

In der Sakristei der Teinkirche hängt ein Porträt, der Judenbub herzig idealisiert, rotes Wams, weiße Perücke, Galanteriedegen, Kruzifix in der Hand, und in einer Kartusche die Inschrift: »Hic gloriose sepultus est Simon Abeles Catechumenus, ex odio fidei Christianae a proprio parente Hebraeo occisus.«

Die Beisetzung des Judenkindes in der Christenkirche geschah während eines Prozesses, der Erregung und Aufsehen hervorrief. Das Jahrhundert der dreißigjährigen Religionskriege sank seinem Ende zu. Die Enkel der Rebellen, der Fensterstürzer, der Hingerichteten, der Eingekerkerten und der Vertriebenen hatten den neuen Adel, die neue Beamtenschaft, die neue Lehre und sogar die neue Staatssprache anzuerkennen gelernt. Aber tief unter ihrem Bewußtsein fraß, vererbt als Komplex, das Gefühl, unterworfen worden zu sein. Hatte das alles sein müssen? Sehet her: die Juden, vielhundertjährig verfolgt – sie haben noch ihre Religion und ihre Gebräuche und ihre Sprache! Die Brüder vom Orden Jesu, als religiöse Besatzungstruppen des militärisch unterworfenen Landes hereingekommen, fühlten nur allzuwohl, daß sie erweisen müßten, Verkünder der alleinseligmachenden Kirche zu sein, für jeden, der anderen Glaubens sei, also nicht nur Feinde der Böhmischen Brüder und anderer Protestanten, sondern auch Feinde der Juden. Gustav Freytag hat über den Fall des Simon Abeles die kleine Schrift der Jesuitenpatres Eder und Christel gelesen, welche im Jahre 1694 unter dem Titel »Mannhafte Beständigkeit des zwölfjährigen Knaben . . .« erschienen ist, und auf Grund dieser charakterisiert er die große Affäre so: »Wer den Jesuitenbericht unbefangen beurteilt, wird einiges darin finden, was die Erzähler zu verschweigen wünschen. Und wer mit Abscheu auf die fanatischen Mörder sieht, der wird den fanatischen Priestern keine Teilnahme zuwenden. Sie werben durch Spione und Zuträger, durch Versprechungen, Drohungen, Aufregungen der Phantasie ihrem Gott, der dem Gott des Evangeliums sehr unähnlich ist, Scharen von Proselyten zum ›Abwaschen‹; sie benutzen einen jammervollen Mord mit der Geschicklichkeit erfahrener Regisseure, um ein wirkliches Trauerspiel in Szene zu setzen, und den toten Leib eines Judenknaben, um durch Pomp, Flitter und massenhafte Aufzüge, womöglich durch Wunder, ihren Glauben bei Christen und Juden zu empfehlen. Ihr Fanatismus, im Bunde mit der bürgerlichen Obrigkeit und willfährigem Gesetz, steht gegen den Fanatismus eines geschmähten, verfolgten, leidenschaftlichen Stammes – List und Gewalttat, Frevel und verkümmerte Sittlichkeit hier wie dort.«

Ohne Zweifel wäre das Urteil des Kulturhistorikers noch vernichtender gegen die Jesuiten ausgefallen, wenn er außer dieser privaten Broschüre der zwei Ordensbrüder, die ihm an sich schon verdächtig vorkam, die offizielle Darstellung gelesen hätte, auf Befehl Kaiser Leopolds herausgegeben unter dem Titel »Processus Inquisitorius, welcher von dem Appellationstribunal wider beide Prager Juden Lazar Abeles und Löbl Kurtzhandl wegen des Ex odio Christianae Fidei ermordeten zwölfjährigen Simon Abeles, als Sohn des ersteren, verführet, und zur mehreren Erhöhung des christlichen Glaubens, auch zur fruchtbaren Auferbauung Jedesmänniglichen samt den dienenden Haupt-Inquisitionsakten und anderwärtigen dabei unterlaufenen sehr wunderseltsamen Begebenheiten in offenen Druck gestellt worden. Prag, bei Caspar Zacharias Wussin, Buchhändlern.«

In dieser Flugschrift, sosehr sie sich bemüht, das Verfahren im Fall Simon Abeles als ein gerechtes und die Justifikation als verdiente hinzustellen, wäre Freytag nicht nur auf manches gestoßen, »was die Erzähler zu verschweigen wünschen«, sondern er hätte auch auf die Vermutung kommen müssen, daß die »fanatischen Mörder« vielleicht überhaupt keine Mörder, sondern im Gegenteil Opfer eines grauenvollen Justizmordes waren – ex odio fidei, aus Glaubenshaß.

So viele Darstellungen dieser Angelegenheit es auch gab – nicht eine durfte sich mit der Verteidigung der Beschuldigten befassen, denen ja nicht einmal ein Rechtsbeistand bewilligt worden war. Hundert Jahre später, im Fall des Toulouser Hugenotten, wurde wie im Fall des Prager Juden weder die Absicht des Sohnes zum Religionswechsel, noch der durchgeführte Mord erwiesen, und hier wie dort fielen die Väter als Opfer von Pfaff und Pöbel. Aber während Jean Calas durch das flammende Libell Voltaires postmortal seinen Freispruch fand, haben Lazar Abeles und sein Freund niemanden gefunden, der ihre Verteidigung übernommen. Nur die Anklageschrift sagt in dem, was sie verschweigt, und in dem, was sie angibt – sehr wider ihren Willen –, genug zugunsten der beiden aus.

Der »Processus Inquisitorius« beginnt mit dem Satz: »Im Jahre 1694 den 25. Februarii wurde bey einer Hochlöblichen Königl. Statthalterei zu Prag . . . eine Schriftliche Denunciation eines in der Prager Juden-Statt an einem Jüdischen Kinde Geschehenen Mordes ohne Namensunterschrift eingereicht, dess ausführlichen Inhalts wie folgt.«

Daß diese Anzeige von den Jesuiten herrührt, geht auf den ersten Blick hervor und wird in jeder Zeile bestätigt; es heißt zum Beispiel darin, daß der Knabe seine Bereitwilligkeit zur Taufe im September des Vorjahres »bey dem Wohl-Ehrwürdigen P. Andrea Müntzer, Sc. Jesu Collegii, allhier zu Prag bey S. Clemens Rectore derenthalben angegeben und in Gegenwart noch etlicher andern Patrum, als P. Guilielmi Dworski, P. Johannis Eder und Patris Johannes Capeta eyferigst gebeten habe . . .« – durchwegs Tatsachen und Namen, die man ja nur im Kollegium wissen konnte.

Tatsächlich rühmt sich auch P. Johann Eder in seiner Broschüre, er selbst habe einen Konzipisten der Statthalterei, der von einem Juden namens Josel (das ist Josef) Mitteilung von diesem Vorfall erhielt, zur Überreichung der Anzeige veranlaßt: »Nachdem ich Nachricht davon erhalten und der jüdische Angeber mehrmals mit Ernst zu treuem Bericht ermahnt worden war, schrieb er am folgenden Tag den ganzen kläglichen Verlauf nieder, um ihn der hochadligen Statthalterei zu überreichen.« Dieser Satz ist – von dem jesuitisch angewendeten Pronomen »er« ganz abgesehen – vollkommen erlogen, denn »obwohlen man Ihme« (dem Herrn Statthaltereyconcipisten Herrn Constantin Frenkin, den man als Verfasser der schriftlichen Anzeige eruiert hat) »zugleich scharf eingebunden, diesen seinen ersten Jüdischen Anbringer namens Josel zur Stelle zu bringen, so hat er doch solchen zur selbigen Zeit nicht erfragen können«. Die Anzeige des Beamten hütet sich jedoch, eine solche nachdrückliche Befragung oder Ermahnung des angeblichen Gewährsmannes zu behaupten, weil dann erklärt werden müßte, warum er bei einer derart gründlichen Verhandlung den Informator nicht zuerst nach seinem Familiennamen befragt habe.

Am nächsten Tag werden bereits die Exhumierung, Transportierung der Leiche ins Rathaus, eine Menge von Verhaftungen (Krankenwärter Hirschl Keffelet, Friedhofsaufseher Jenuchem Kuranda, zwei Dienstmägde) und Recherchen vorgenommen. Gerüchte durchzüngeln die Stadt, die bald in hellen Flammen der Erregung steht. Die Statthalterei muß in dem Dekret, mit dem sie die Untersuchung dem Appellationsgericht überträgt, dieses gleichsam bitten, man möge ihr »von demjenigen, was etwa in hoc passu nach und nach hervorkommen und in das Publikum einfallen möchte, gleichwolen auch Nachricht geben, damit hiernach respectu erstgedachten Publici jedesmal die gehörige Notdurft zeitlich fürgekehrt werden möchte«. Unter dem Einfluß der vom Eifer der Behörden aufgepeitschten Öffentlichkeit steht nun die ganze Angelegenheit.

In der Anzeige, auf Grund deren die Untersuchung eingeleitet wurde, war nur eines apodiktisch angegeben: daß das Kind vergiftet worden sei, ». . . mit Gift im Wein unerbärmlich hingerichtet«. Während der Examinationen, von deren Foltern wir zwischen den Zeilen lesen können, gesteht also endlich Hennele, die auf dem Kleinseitner Rathaus in Haft gehaltene Köchin des Abeles, daß der kleine Simon durch Gift umgekommen sei. Bisher hatte sie, in Übereinstimmung mit dem Vater und der Stiefmutter des toten Kindes, erklärt, es sei an den Fraisen gestorben, nunmehr aber gibt sie die Antwort: »Ich will die Wahrheit sagen: der Vater hat ihm etwas zu essen gegeben; so ist er darniedergefallen.« Und auf die Frage, was dies gewesen sei, fügt sie hinzu: »Er hat ihm einen Hering gegeben.«

Also ein Geständnis der Mitwisserschaft, strikte Angabe des Giftmords durch eine Augenzeugin! Nur hat sich inzwischen herausgestellt, daß in der Leiche von Gift keine Spur ist. Der Grund zur Einleitung der Untersuchung ist also ebenso falsch gewesen wie die der Köchin abgepreßte Aussage.

Dennoch wagen es die beiden obduzierenden Doctores medicinae und die beiden Chirurgen nicht, angesichts des von Amts wegen inaugurierten Verfahrens und der bereits entfesselten Empörung, einen natürlichen Tod festzustellen; in dem kurzen Exhumierungsprotokoll, das in seiner Leichtfertigkeit der Tatsache hohnspricht, daß achtzig Jahre vorher ein Anatom vom Range des Jessenius in Prag gewirkt hatte, konstatiert man »über den linken Schlaff eine frische runde Wunde von eines Groschens Größe, von einem Schlag herkommend« (tödlich? tief? Hautabschürfung? – nichts wird darüber gesagt), »und ein Bruch der vertebra colli«. Das wären also zumindest zwei Schläge, jedoch das lakonische Protokoll schließt mit den Worten, der Junge hat »von einem gewalttätigen Schlag umkommen müssen«.

Das Appellationstribunal läßt sich dadurch, daß der angezeigte und bereits »bewiesene« Giftmord keineswegs verübt worden ist, nicht stören und entschuldigt den Irrtum folgendermaßen: ». . . denn es konnte wegen des Gifts und der heimlichen Begräbnus« (auch die Behauptung, der Knabe sei nächtlich verscharrt worden, hat sich nämlich als falsch herausgestellt, die Beerdigung hatte öffentlich stattgefunden) »ohnmöglich so genau und wahrhaft gleich in limine von einem Fremden, und zwar in dem Abelischen Hause nicht sonderlich bekannten Juden ausgesagt werden«.

Demnach sind die Mitteilungen des »Josel« deshalb unrichtig, weil er im Hause des geheimen Mordes nicht sonderlich bekannt war, aber diese Angaben haben nichts mit der angeblichen Angabe zu tun, die Angabe des Angebers gilt doch – der Mord muß verübt worden sein! Das Gutachten der medizinischen Fakultät, »mit nachdrücklicher Verordnung« abverlangt, entscheidet, man müsse auf gewalttätigen Tod des Knaben ermessen und schließen. Die Judenschaft richtet an die Untersuchungsbehörde die Frage, ob die Leiche nicht bei der Ausgrabung beschädigt worden sein könne; diese Anfrage, die zur Einholung des Fakultätsgutachtens Anlaß gab, bleibt unbeantwortet.

Tragikomisch, wie sich nun das Tribunal bemüht, die Widersprüche der Beweisführung (zum Beispiel Giftmord – Totschlag) zu erklären, während es die Tatsache, daß die Aussagen der Beschuldigten und der Entlastungszeugen übereinstimmen, als vorher getroffene Vereinbarung zu entwerten versucht. Alle Festgenommenen geben unabhängig voneinander an, die Schläfenwunde sei der Rest einer abgeschabten Krätze, »welches also vorzusagen, sogar ein kleiner mitvorgerufener Bub von acht Jahren, der nebst ihnen noch im Hause war, angelernt und instruiert war«. Also hatte Lazar Abeles für den Fall der Exhumierung nicht nur Frau und Magd (die jetzt in Haft sind), sondern auch ein kleines Nachbarkind instruiert, obwohl er doch dessen Vorladung nie ahnen konnte!

Die Beschuldigten stellen in Abrede, daß der kleine Simele jemals entlaufen sei, um sich taufen zu lassen. Hier wären die Jesuitenpatres, von denen ja offenkundig die erste Anzeige stammte und die nachher behaupteten, sie hätten mit dem Kinde geradezu eine Disputation geführt, als Zeugen einzuvernehmen. Dies geschieht nicht. Übrigens liegt die angebliche Flucht des Kindes vier Monate zurück und kann daher nicht der Anlaß eines Totschlags sein. Wollte man schon Flucht und Mord als erwiesen und als in gegenseitiger Beziehung zueinanderstehend annehmen, so wäre weit eher die Erklärung möglich, das Kind habe wegen Mißhandlungen eines entmenschten Vaters diesem damals zu entfliehen versucht und sei der späteren Fortsetzung dieser Mißhandlungen erlegen; doch ist auch hierfür kein Anhaltspunkt in den Akten des Processus Inquisitorius.

Das Kind soll von den Jesuiten einem getauften Juden namens Kafka in Logis gegeben worden sein, von dem es Lazar Abeles zurückholte. Dieser Kafka ist abgängig, und die Rolle, die ihm in absentia zugeteilt wird, vollkommen unklar; einmal heißt es, daß ihm das Kind geraubt wurde, ein andermal, daß er im Einvernehmen mit Lazar Abeles gestanden.

Dagegen taucht eine andere Zeugin auf, ein getauftes jüdisches Kind: die kleine Sara Uresin, die in diesem Fall die Sendung Semaels übernommen hat, ist ein dreizehnjähriges, körperlich verkrüppeltes und – wie selbst die Anklage nicht verschleiern kann – sittlich verkommenes Geschöpf, das die Jesuiten, wäre es entlastend aufgetreten, nicht zärtlich als »Mägdlein«, sondern als »freches Judengör« bezeichnet hätten. Sie erscheint »wie gerufen«. Man höre:

»Und da nun ein Hochlöbl. Appellations-Collegium in reifer Erwägung alles dessen, vielmehr dahin angezielt, man möchte sich äußerst bemühen, einige, bevoraus jüdische, Zeugen noch aufzubringen, durch welche eine Confrontation in contradictorio veranlaßt werden konnte (weilen man zum öfteren in denen Jüdischen Inquisitionen wahrgenommen, daß bei ihnen weit mehrers eine Confrontation, da der eine Jud dem andern was ins Gesicht gesagt, als die Tortur selbsten zur Bekanntung der Wahrheit ausgegeben und gewürcket hat), so erscheint auf eine ganz unverhoffte Weis ein gewisses Jüdisches Mägdlein Namens Sara Uresin, gegen dreizehn Jahr alt, welches in wirklicher Christlichen Lehr bey einer Christin sich aufgehalten und von dieser Inquisition etwan von weitem gehört, von sich selbsten und von freien Stücken . . .«

Und diese so prompte Wunscherfüllung namens Sara Uresin (P. Eder erklärt ihr Erscheinen auf übersinnliche Weise) sagt beim Königlichen Obergericht, zu dem sie den Weg allein gefunden haben soll, all das aus, was die Untersuchungsrichter beim gegenwärtigen Stand der Untersuchung gerade wissen wollen: daß sie im Vorjahr im selben Haus gedient (!) habe, gerade als Simon weggelaufen sei, um sich taufen zu lassen, daß dessen Vater gesagt habe, es sei besser, wenn der Bub verrecken würde, ihn dann mit einem Scheit Holz blutig geschlagen habe. Das Mädchen wird mit Lazar Abeles konfrontiert. »Gott soll mich strafen, wenn ich dieses Kind jemals gesehen habe«, ruft er aus. Trotzdem hat ihm doch eben dieses Mägdlein »ganz standhaft, herzhaft und bar aller Scheu oder Schrecken« alles ins Gesicht wiederholt.

Nach dieser ergebnislosen Konfrontation wird Lazar Abeles »in seine vorige, hart an der Uhr des Rathauses in dem Turm bestellte Custodiam, jedoch mit beiden Füßen und eine Hand wohl verwahret, geführet«.

Wenige Stunden nachher wird er erdrosselt aufgefunden.

Die Justiz kam nicht umhin, über diese Tat, die als Selbstmord bezeichnet wird, ihre Verwunderung zu äußern. Denn erstens hat ja das Judenmägdlein »doch nichts als einige Praeliminaria wegen des Christ-Catholischen Eyfers des Knabens ihme ins Gesicht zu sagen gewußt«, und zweitens ist der Selbstmord für einen dermaßen gefesselten, dermaßen bewachten Häftling etwas kompliziert: Er hat »sein harrassenes Band, mit welchem die Juden sich zu umgürten pflegen, vom Leib abgenommen, solches an ein doppeltes eisernes Gatter in der Höhe, wozu er vermittelst eines Stücklein Holzes gelanget, angebunden und sodann, seinen Hals darin steckend, sich selbsten erhenket oder vielmehr erdrosselt«.

Es scheint, sagt die Denkschrift, durch diese belanglosen Vorhaltungen des Mädchens Uresin »sein leichtfertiges, verrohtes Herz und Gewissen dergestalten gerührt worden zu sein«, daß er sich umbrachte.

Trotzdem also eine tätige Reue behauptet wird, kann dies die Leiche nicht vor Verurteilung schützen. Der Tote wird rechtskräftig schuldig gesprochen und das Urteil vollstreckt, das Herz wird ihm herausgerissen und um das Maul geschlagen, sodann der Leichnam gevierteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Seiner Frau und der Köchin Hennele sagt man nichts von dem Tod des Hauptbeschuldigten. Unter Drohungen und der Vorspiegelung, Lazar Abeles habe alles eingestanden, bleiben sie bei der Beteuerung seiner Unschuld. Das Mägdlein, »in privato auf Jüdisch gekleidet«, wird mit der Köchin konfrontiert, die nun zu allem, was das Kind angibt, ihr Ja sagt und schließlich hinzufügen muß, der Vater habe den Knaben umgebracht. Durch Gift. Es folgt die Konfrontation der Köchin mit Frau Lea Abeles, die in der vorhergegangenen Nacht von Herzkrämpfen heimgesucht wurde. Auch sie sieht, da schon die Köchin wider besseres Wissen zur Belastungszeugin gepreßt wurde, daß alles verloren ist. Um ihren Mann zu retten, von dessen Tod sie keine Ahnung hat, gibt sie an, ein Bekannter, der nicht mehr in Prag weilt, ein gewisser Löbl Kurtzhandl, habe das Kind – erwürgt.

Kurtzhandl wird in Manetin verhaftet, und die Untersuchung gegen ihn nimmt ihren Lauf. Der Knabe Simon aber wird als ein »in proprio sanguine« getaufter Christ mit beispiellosem Pomp öffentlich beerdigt, wie es der Erzbischof Hans Friedrich von Waldstein nach eingeholtem Rat der Theologen und Kanonici beschlossen hat. Am 25. März 1694, »in ipso festo Simonis Tridentini pueri, aeque a Judaeis martyrisati«, bestimmt eine Kommission, wo das Kind beigesetzt werden soll.

Eine Woche später findet das Begräbnis statt; die Leiche, die am 22. Februar auf dem jüdischen Friedhof begraben, fünf Tage darauf exhumiert worden und einen Monat lang im Rathaus aufgebahrt gewesen ist, wird offiziell als ohne den geringsten üblen Geruch befunden. Auch die zweite Seligkeitsprobe stimmt auffallend: ». . . wie nicht minder die an dem zerbrochenen Genack empfangenen Todeswunden stets und allezeit ohne Unterlaß das frischeste und schönste Blut gleich als eine Brunnenquelle ausgeworfen hatten, bei welcher Gelegenheit sich viel aus den Anwesenden um ihre Schnupftüchlein in diesem rinnenden Blut zu netzen versucht« (versucht!) »haben, welchem Exempel auch sogar ein Wundarzt der Evangelischen Religion nachgefolget!«

Löbl Kurtzhandl, gegen den sich in den Akten auch nicht der Schatten eines Verdachts finden läßt, wird am 19. April 1694 zum Tode verurteilt. Wie er behandelt wurde, geht aus einem Erlaß Kaiser Leopolds I. an das Königliche Appellationstribunal hervor: »Der Inschluß« (eine Beschwerde) »gibt euch des mehrern zu vernehmen, daß der von euch zum Tode verurteilte Löbl Süsel Kurtzhandl, Prager Jude, weder selbst, noch seine Befreundte, von dem wider ihn publizierten Sentenz irgendeine Abschrift und auch keinen Rechtsfreund ex officio erhalten können.« Der Kaiser befiehlt, der rechtlichen Ordnung nach zu verfahren, die Exekution vorläufig zu sistieren und dafür zu sorgen, daß »dem Condemnierten selbsten in carceribus das Leben nicht abgekürzt werden möge, wie es dem Verlaut nach mit seinem Complicen geschehen sein solle«.

Das Appellationstribunal antwortet Sr. Majestät, der Verurteilte wolle nur verschleppen, worauf Leopoldus »in dieser sehr ärgerlichen Criminalsache« dem Kurtzhandl nur eine vierzehntägige Rekursfrist gewährt, schließlich das Halsurteil bestätigt, »weilen an schleuniger Bevollziehung dessen dem Publico so viel gelegen, ohne allen Anstand und Erstattung weiteren Rekurses an ihm exequieren lasset«.

Entkleidet, in die dreischneidigen, den Gliedern unterlegten Brecheisen gebunden, steht er auf dem Galgenberg, damit ihm durch »etlich und dreißig Stöße« von dem achtzig Pfund schweren Rad Ober- und Unterschenkel abgestoßen und der Brustkorb mit Eisenschienen eingedrückt werde. Ein Pater schreit dem Malefikanten ununterbrochen zu, er möge den christlichen Glauben annehmen; nach dem elften Stoß soll Kurtzhandl geantwortet haben, daß er hierzu bereit sei; nun wird er getauft und nimmt den Namen »Johannes« an, worauf ihm die Henker die Augen verbinden und er »den letzttödlichen Stoß auf den Hals empfängt und, durch diesen von den Sinnen verlassen, unter starkem, aus Mund und Nase entsprungenem Blut nach zweyen anderen Stößen selig in dem HERRN entschlafen ist, mit billiger Verwunderung aller Beywesenden, welche die wunderwirkende Hand Gottes und dessen unergründliche Barmherzigkeit nicht genugsam loben und preisen kunnten«.

In der St.-Pauls-Kirche wird der vormalige »verstockte Mörder« Löbl Kurtzhandl als ein »bußfertiger katholischer Christ« namens Johannes beerdigt.

 


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