Egon Erwin Kisch
Geschichten aus sieben Ghettos
Egon Erwin Kisch

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Der kabbalistische Erzschelm

Es ist beileibe nicht bewiesen, daß er den um fünfzehn Jahre jüngeren Sabbatai Zewi ausdrücklich als Messias anerkannt, direkt zur Sekte der Sabbatianer gehört hat. Nehemia Chija Chajon war Abenteurer, Narr oder Schwindler auf eigene Faust.

Um 1650 ist er in Sarajevo geboren, aber er lügt bald den Ort seiner Geburt um, behauptet ein Safetianer zu sein oder Obergaliläer, auf der Wallfahrt seiner Eltern ins Heilige Land zur Welt gekommen. Neunzehnjährig taucht er wieder in Bosna-Serai auf, heiratet angeblich; gewiß ist, daß er an einem Sabbat die Sklavin eines gewissen Molina entführt.

In Valona nimmt man ihn einige Jahre später aus einer uns unbekannten Ursache fest, ahnungslos ernennt man ihn in Uesküb zum Rabbiner; bald seines Amtes entsetzt, verschwindet er aus Albanien, keineswegs jedoch vom Balkan; abermals erscheint er in seiner Geburtsstadt, dann in Belgrad, in Adrianopel, auch in Livorno und Saloniki, und geht am Ende des siebzehnten Jahrhunderts in die palästinensischen Städte. Als Bettler, Hauslehrer, Prediger, Kaufmann, Frömmler, Schwindler, Zauberer.

In Smyrna beginnt er 1708, an Hand eines sich sehr gelehrt gebenden Manuskripts, seine Tätigkeit als religiöser Propagator; der Smyrnaer Rabbi entlarvt ihn als Ketzer, und das Rabbinat von Jerusalem, wohin sich Chajon wendet, tut ihn in strengen Bann. Er wandert nun nach Ägypten und nach Italien, hat wenig Erfolg, obwohl die Venezianer Rabbinatsbehörde aus Schlamperei und mehr noch aus Angst, sich als Nichtversteherin der kabbalistischen Mystagogie bloßzustellen, seiner Broschüre »Raza di Jehuda« ihr Placet erteilt; diese Schrift aber lehrt eine Trinität (vom heiligen Uralten, vom heiligen König und der Dame Schechina) und läuft dem Geist des Judentums polar zuwider; der Autor hat es mit spielerischem Zynismus gewagt, den Anfang des zotigen Gassenhauers »la bella Margherita« in seine neue Lehre zu verflechten. Aus Venedig, Rom und Ancona muß er flüchten und aus Livorno, wo ihn Joseph Ergas, selbst ein Kabbalist, entlarvt.

Also nirgends hat er sich behaupten können, am Balkan wurde er auf unlauteren Wegen ertappt und verfolgt, in Afrika hat man ihn gefühlsmäßig durchschaut, in Kleinasien verstandesmäßig überwiesen, aus Italien vertrieben. Wo kann der wanderlustige Abenteurer noch sein Glück versuchen? In Prag.

Prags Juden sind seltsam. Hier mischt sich Wissen mit Mystik, in keiner so weit nach Westen vorgeschobenen Gemeinde prägt sich die Identität von Glauben und Aberglauben deutlicher aus. Hier ist David Oppenheim Oberrabbiner, in den Dunstkreis der Kabbala eingesponnen und bibliophilen Neigungen hingegeben (seine Bibliothek ist heute der Kern der »Bodleyana« in Oxford), und der Kabbalismus seines Sohnes Josef Oppenheim ist noch weniger kritisch. Auch Naphtali Kohen hat in Prag ein Refugium gefunden, betreibt die Beschwörungskabbalistik, und in seiner Rabbinatswohnung hängt als Talisman gegen Feuersgefahr ein mit Kritzeleien gefüllter Hirschkopf.

Es treffen sich sonderbare Schwärmer aus böhmischen Provinzstädten und aus Mähren, wo Landeshauptmann Graf Dietrichstein Kundmachungen gegen die Ausschreitungen des Sabbatianismus vergeblich erlassen hat und die messianische Narretei noch immer epidemisch ist. Sehr gelehrt und geehrt ist in Prag der junge Jonathan Eibeschütz, der später durch krypto-sabbatianischen Hokuspokus die Judenheit der Welt in Aufregung versetzen wird. Löbele Proßnitz hat den Namen Gottes in Rauschgold auf die Brust geklebt und mit phosphoreszierender Substanz beschmiert; in dunklen Konventikeln entblößt er den Busen, und wie früher die mährischen Landjuden staunen jetzt die Prager das leuchtende Wunder an. Mose Gerson Kohen aus Mitau taucht auch in Prag auf, studiert bei Eibeschütz den Talmud, wird sich bald taufen lassen, in Helmstädt den Namen Karl Anton annehmen und nun vom christlichen Standpunkt aus die Schwindelamulette gutheißen, die sein ehemaliger Lehrer Eibeschütz gegen Kindbettfieber ausgestellt hat.

Nicht weniger als einundsechzig Jahre alt ist der ewig wandernde, ewig vertriebene und ewig zu neuer Aventiure aufgelegte Nehemia Chija Chajon, da er – Oktober 1711 – in Prag eintrifft, diesem Hexenkessel des religiösen Okkultismus und der Schmockerei. Nur wenige Tage will er sich aufhalten, möglichst rasch die Rückreise nach Palästina antreten.

Aber er bleibt mehr als ein halbes Jahr. Warum auch nicht? Wird er doch im Haus des Oberrabbis aufgenommen, und da der Vater meist auf Reisen ist, überhäuft dessen enthusiasmierter Sohn Josef Oppenheim den »palästinensischen Sendboten« mit Huldigungen und Aufmerksamkeiten. Und für den geistigen Kredit sorgt Naphtali Kohen: Er gibt den sophistischen, gegen den Sinn des Judentums verstoßenden Predigten, deren Niederschrift Chajon innerhalb dreier Prager Monate vollendet hat, eine Empfehlung.

Auch David Oppenheim stellt am 9. Februar 1712 dem Buch seine Approbation aus, obwohl er das dicke Manuskript hebräischer Kursivschrift und mystischen Dunkels noch weniger studiert hat als Naphtali, der schon am 4. November 1711 dem Neuankömmling für ein anderes, viel ketzerischeres Buch, den »Eser Lelohis«, ein panegyrisches Vorwort geschrieben hat. (Selbst hohe Autoritäten fühlen sich geehrt, wenn sie gedruckt auf der ersten Seite eines Buches figurieren; und eine Approbation ist – ebenso wie eine zustimmende Kritik – viel bequemer als eine Ablehnung, die man erst genau begründen muß und die nur Feindschaft einträgt.) Im gegebenen Fall ist Naphtali Kohen nicht bloß geschmeichelt, sondern auch von der außergewöhnlich vitalen Persönlichkeit und dem schlagfertigen Sarkasmus dieses Cagliostro geblendet.

Wie alle Welt in Prag. Chajons Predigten erfreuen sich strömenden Zulaufs von weit her, besonders die Jugend schwärmt für den witzigen Rhetor und seine okkulten Metaphern; zwischen den Zeilen seiner Reden deutet er Blasphemien von jener Art an, wie sie von der Witwe Sabbatai Zewis, von dessen angeblichem Sohn Jakob Querido-Zewi und ihrem Kreis zu Saloniki verbreitet werden: Die Sündhaftigkeit der Welt könne nur durch ein Übermaß von Sünde überwältigt werden.

Durch einen aus Venedig mitgebrachten Famulus läßt Chajon seinen Prager Getreuen unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählen, er könne die Gottheit zwingen, sich ihm zu offenbaren, er verkehre mit dem Propheten Elias und mit der Schechina, dem weiblichen Mitglied der von ihm behaupteten Dreieinigkeit, er habe die Macht, Tote zu erwecken und neue Welten zu schaffen. Es finden sich viele, die vieles davon glauben, so daß Chajon offen auftreten, für hohe Honorare Amulette verfassen und in fröhlicher Gemeinschaft L'homber spielen kann.

Viele Monate weilt er bereits in Prag, bevor Naphtali Kohen auf seine Schliche kommt, aber Nehemia Chija Chajon denkt gar nicht daran, die einmal erlangte Approbation seiner Bücher gutwillig herauszugeben, und auf die Vorwürfe wegen des Verkaufs von Amuletten und wegen seiner Gotteslästerungen hat er nur Dreh und Prahlerei zur Antwort. Er kann die Protektion des Rabbi Naphtali schon entbehren, er hat Anhang genug.

Retabliert und akkreditiert verläßt er im Frühjahr 1712 Prag, fährt nach Wien, Nikolsburg, Proßnitz und über Schlesien nach Berlin. Hier läßt er seine Bücher mit den in Prag erschlichenen Empfehlungen drucken und siedelt sich in Amsterdam an, um Kampf und Ausschreitungen zwischen der portugiesischen und der deutschen Gemeinde zu entfesseln; der deutsche Rabbi Zewi Aschkenasi, genannt Chacham Zewi, und der jerusalemitische Talmudist Mose Chages haben gegen die Schriften Chajons, der inzwischen von der portugiesischen Gemeinde ehrenvoll aufgenommen wurde, den Bannstrahl geschleudert. Das portugiesische Rabbinat vermutet hinter diesem Urteil Konkurrenzneid, Gehässigkeit und Einmischung, spricht Chajon von den Beschuldigungen frei, überhäuft ihn provokativ mit Huldigungen, entzieht dem Mose Chages und seiner Familie alle Subsistenz, verbannt und verjagt ihn und hetzt gegen Rabbi Chacham Zewi, und der muß gleichfalls von dannen.

In diesem, die Judenheit dreier Weltteile aufwühlenden Fraktionskampf machen sich die Beziehungen, die sich Chajon in Böhmen und Mähren erworben, stark geltend. Aber nicht zu seinen Gunsten. Zeitlich und räumlich hat man nun Distanz zu ihm gewonnen, die unmittelbare Wirkung seiner gewiß suggestiven Persönlichkeit macht kritischer Erinnerung Platz, und man erkennt in Prag, mit wem man es zu tun gehabt. Aus Nikolsburg trifft der Bann gegen ihn ein. Naphtali Kohen legt in einem Sendschreiben dar, daß er seine Approbation längst bedauert habe, schildert die Schliche Chajons, seine Niederträchtigkeiten und Blasphemien. Auch David Oppenheim, der Oberrabbi Prags, erklärt, er mißbillige Chajons Ketzerei. 1714 reist Chajon aus Amsterdam ab und treibt sich jahrelang im Morgenland umher.

Während der Zeit seiner Abwesenheit setzt in Podolien eine große sabbatianische Agitation ein, die hauptsächlich nach Böhmen und Mähren Kuriere sendet, um neue Anhänger für ihren messianischen Glauben zu werben und mit den alten Anhängern in Fühlung zu treten. Ein solcher ist Löbele Proßnitz, der noch immer den phosphoreszierenden Gottesnamen auf seiner inzwischen gealterten Brust trägt, und ein solcher soll auch Rabbi Jonathan Eibeschütz in Prag sein. Als aber der Plan der großen sabbatianischen Restauration verraten wird und sich das bibeltreue Judentum vehement zur Abwehr rüstet, spricht Jonathan Eibeschütz im Verein mit anderen Rabbinern und Tempelvorstehern am 16. September 1725, dem Vorabend des Versöhnungstages, in der Synagoge den Bann über die Sabbatianer aus.

Das ist wahrlich eine sehr schlechte Zeit für Nehemia Chija Chajon, der eben – er ist schon mehr als fünfundsiebzig Jahre alt – zu Schiff wieder nach Europa gekommen ist, sein Glück von neuem zu versuchen. Es scheint, daß dieser ungebrochen tatkräftige und noch immer lebenslustige Greis den Plan hegt, Haupt der Sabbatianersekte zu werden. Um vor Verfolgungen sicher zu sein, geht er zuerst nach Wien, erlangt mit Hilfe christlicher Beziehungen Zutritt zur Kaiserburg und deutet an, daß er durch seine Lehre von der Dreieinigkeit die Juden zum Christentum bekehren wolle; manchmal gibt er sich als Mohammedaner aus. Es gelingt ihm, einen Schutzbrief vom Hof Karls VI. zu erlangen, und in vierfacher Maske durchstreift nun dieser leibhaftige Ahasver Europa: als Türke, als Proselytenmacher für den Katholizismus, als sabbatianischer Thronprätendent und als rechtgläubiger Rabbi. Eine Geliebte mit sich führend, erscheint er in Mähren und sucht Anhang. Erfolglos.

Die Prager, die ihn einst so gefeiert, verweigern ihm den Eingang ins Ghetto. Bloß die Gattin des Jonathan Eibeschütz und dessen Schwiegermutter bringen ihm Speisen auf die Straße, um ihn vor dem Verhungern zu schützen. Chajon läßt Eibeschütz bitten, seine Aussöhnung mit der Judenheit in die Wege zu leiten, aber er erhält nichts als den Rat, sein Wanderleben einzustellen.

Weiter zieht der jüdische Bosniak, bettelnd und hungernd schleppt er sich nach Hannover, wo man seine Papiere konfisziert, nach Berlin, wo er mit seiner Taufe droht, nach Amsterdam, wo man ihn ächtet und verbannt, nach Altona, wo der von ihm und seinen Amsterdamer Anhängern einst bis aufs Blut verfolgte Mose Chages als Rabbi lebt. Schließlich kehrt er in den Orient zurück. Irgendwo in Nordafrika stirbt er, nach sechsundsiebzig Jahren eines Lebens, das unruhvoller und unruhstiftender war als je ein anderes.

Sein Sohn, getauft, tritt später in Rom als sein Rächer auf, beschuldigt das Judentum der Christenfeindschaft und zieht Juden und Judenbücher vor die Inquisition – hüben wie drüben gibt die Religion einem Schelm Gelegenheit zum Ausleben seiner Gelüste.

 


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