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»So – so! Nein, so ein Unglück!« sagte die Neuhoferin. Aber Thorgut sah ganz deutlich, wie sie diese Worte hervorstieß, nur um etwas zu sagen. Er sah, wie in ihren wässrigen, blauen Augen die Furcht zitterte. Und wie sie danach fieberte, von der geschwätzigen Alten fortzukommen.
Grimmig lächelte Thorgut. Welche Macht gab diese Unsichtbarkeit, in alle die geheimen Kammern zu blicken, die die Menschen in ihren Seelen vor den anderen verschließen! Man pfuschte dem Herrgott und dem Teufel ins Geschäft. Es kam nur darauf an, wie man diese Macht dann nutzte. Das »Wie« – das war es!
Die junge Frau brachte es schließlich fertig, die geschwätzige Nachbarin abzuschütteln. Sie packte ihren Eimer und verschwand schleunigst ins Haus. Hinter ihr, als unsichtbarer Schatten, glitt Thorgut über die Schwelle. Mit dem Eimer in der Hand lief sie durch die Küche in das Schlafzimmer.
Das war noch dunkel. Doch Thorgut unterschied in einem der niedrigen Holzbetten die Gestalt des Neuhofer, der wacker in den Morgen hineinschnarchte. Vor dem Bett lagen seine schweren Schnürstiefel, seine Lederhose und seine Joppe. Alles wirr durcheinander, so, wie er es eilig hingeworfen, als er sich in der Nacht schlafen legte. Mit Schmutz bedeckt waren die Stiefel. Von schwerem Marsch im Gebirge zeugend. Doch ihr Abdruck war es nicht, den Thorgut auf der Wiese des Hirschensprung gesehen hatte.
Die Stiefel eines Bauern waren es. Die Spuren oben stammten von denen eines Herrn.
Die Frau stellte ihren Eimer nieder, eilte zum Bett und rüttelte den Schläfer unsanft in die Höhe.
»Mann, steh auf!« schrie sie. »Um Himmels Christi willen – steh auf!«
Mühselig rappelte sich der Bauer in die Höhe. Ein mächtiger Kerl war er. Mit einem großen Schädel voll dicker, schwarzer Haare und einer dicht behaarten, breiten Brust. Liebenstein hatte schon recht, als er Thorgut gratulierte – es gehörte eine ziemliche Portion Kraft dazu, diesen brutalen und bärenstarken Menschen zu überwältigen.
Jetzt starrte er mit blöden Augen auf sein Weib, das an ihm herumriß und -zerrte.
»Was is denn? Was is denn?« knurrte er unwirsch.
»Was is? Mann, tu doch nicht so! Auf dem Hirschensprung haben's den Thorgut erschossen aufgefunden –!«
Im Nu war Neuhofer munter. Mit allen seinen Sinnen bei sich. In wildem Satz fuhr er aus dem Bett. Starrte die Frau an –.
»Den Thorgut –?«
»Mann! Wir zwei sind ja jetzt allein –! Sag um aller Heiligen willen – hast du ihn – hast du ihn umgebracht?«
Der Mann erbleichte unter seiner braunen, von Sonne und Wind zerrissenen Haut.
»Ich – ich?«
Vor ihm lauerte Thorgut. So dicht war er vor ihm, daß er seinen heißen Atem spürte. Die Frau hielt den Neuhofer umklammert, wollte ihn zwingen, ihr ins Gesicht zu sehen. Thorgut war zwischen ihnen, in ihnen, auf ihnen. Die Erregung fieberte in ihm, als wollte er dem Menschen das Geständnis mit der Zunge aus dem Munde reißen.
»Ich –«, stammelte der Neuhofer, »ich habe ihn nicht erschossen. Verdient hält' er's zwar um mich, der Hundsfott, der miserablige – aber ich schwör dir's, Pepi, bei meiner Seele Heil, ich habe ihn nicht erschossen. Ich nicht.«
Er machte sich von seiner Frau los und tat einige Schritte im Zimmer, um seine Aufregung halbwegs niederzudrücken. Thorgut war von ihm zurückgewichen. Ihn konnte man nicht anlügen. Er sah, daß der Mann die Wahrheit sprach. Poldi Neuhofer war nicht sein Mörder.
»Wo – sagst –«, wandte sich der Bauer nach einiger Zeit an seine Frau, »hat man ihn gefunden?«
»Die Meislbäu'rin ist g'rad herübergelaufen kommen und hat mir's erzählt – auf'm Hirschensprung haben's ihn heute nacht g'funden –«
Der Neuhofer blieb stehen, starrte vor sich hin, als sähe er einen Gedanken vor sich auftauchen, dem er selbst noch nicht recht traute.
»Auf dem Hirschensprung?«
Eine Zeitlang wurde es still in dem kleinen Zimmer. Der Bauer ging fortwährend auf und ab – halblaut vor sich hinmurmelnd. Die Hände hatte er auf dem Rücken verkrampft – von Zeit zu Zeit blieb er stehen, schüttelte den Kopf, als debattierte er mit sich selbst. Verschüchtert saß das Weib auf dem Bett und blickte ihm nach. Thorgut rührte sich nicht. Er wartete.
»Bring mir ein Wasser zum Waschen – ich muß mich anziehen –« sagte der Neuhofer seiner Frau. »Aber tummel dich, denn ich will gleich weg.«
»Das wird auch gut sein, denn – Poldi, du warst die ganze Nacht draußen – ist es denn so ausgeschlossen, daß sie dich für den Mörder halten? Ich hab's der alten Gans, der Meislbäurin, deutlich angemerkt, wie sie mir die Botschaft hineingerieben hat. Jesses, Mann, wenn der Gendarm kommt und dich gar holt!«
»Ich hab's nicht getan«, knurrte der Neuhofer trotzig. »Was können sie also von mir wollen?«
»Du warst die ganze Nacht draußen. Wie willst es beweisen, daß du nicht am Hirschensprung warst? Du weißt, g'redt hast so schon Blödsinn g'nug. Vorgestern erst hast im Gasthaus das Maul so voll genommen!«
»Was hab' i denn g'sagt? Daraus kann man mir keinen Strick drehen. Aber recht hast schon, g'scheiter ist es, daß sie mich nicht finden, bevor ich nicht –«
»Was hast denn vor?«
»Ah – nix – schau nur, daß d' mit'm Wasser kommst, und koch mir einen Kaffee! Ich will gleich fort!«
In wenigen Minuten war er gewaschen, hatte seinen Kaffee getrunken und setzte sich den Lodenhut auf.
»Wo hast'n das Gewehr?« fragte ihn die Frau.
»Wo soll ich's denn haben! Droben im Stadl. Dort findt's keiner. Also b'hüt dich Gott! Wann ich nicht z'rück – komm – – triffst mich heut abend, wenn's dunkel ist, oben am Stadl. Ich mein' wirklich, je mehr ich's mir durch den Kopf gehen laß', 's ist g'scheiter, ich laß' mich vorerst nicht blicken.«
»Willst du mir nicht sagen, was du im Sinn hast?« Sie hängte sich an ihn, bange Sorge in den Augen. Er beugte sich zu ihr herunter und flüsterte ihr ins Ohr:
»Ich hab' ihn nicht erschossen, Pepi, aber ich glaub', ich weiß, wer es getan hat.«
Im selben Moment klopfte es vorn an der Haustür. Das Weib sprang an das Fenster und zuckte mit hellem Schrei zurück.
»Jesses Maria, da ist er schon, der Gendarm!«
Mit wildem Fluche fuhr der Mann rückwärts durch die Küche hinaus. Thorgut sah ihn über den Hof durch den Obstgarten hinauf in den Wald rennen –
* * *
»Wo ist der Neuhofer?« fragte der Wachtmeister, als ihn das junge Weib einließ. Jetzt hatte es sich bereits in der Gewalt und schaute dem Gendarm mit einem halb frechen, halb unschuldigen Blick gerade ins Gesicht.
»Wo soll er denn sein? Fort'gangen is er halt.»
»Wohin denn?«
»Ich glaube, nach Molln hinunter. Dort hat er ein Geschäft.«
»So – so! Wann kommt er denn z'rück?«
»Er hat halt g'sagt, nicht vor'm Abend.«
Der Gendarm schaute die Frau mißtrauisch an.
»Ist er wirklich nicht z' Haus?«
Sie riß die Tür weit auf.
»Wenn S' mir nicht glauben, dann schau'n S' halt selber nach!«
Das tat der Gendarm dann auch – und seine Laune wurde nicht viel besser, als er merkte, daß sich die Frau ganz offen über ihn lustig machte.
»Na, dann kommen Sie halt mit!« herrschte er sie an.
Jetzt verließen Frechheit und Trotz sie im Augenblick. Der Schrecken packte sie, und ganz weich wurde sie.
»Ich?« stotterte sie. »Wo soll ich denn hin?«
Der Gendarm machte eine Handbewegung, als wollte er sagen: Das weißt du doch selbst!
»Die Herren vom Gericht sind auf dem Schloß und wollen wissen, wo Ihr Mann heut nacht gewesen ist. Reden S' jetzt nicht!« warnte er sie, als er sah, daß sie irgend etwas entgegnen wollte. »Ziehen Sie sich an und kommen S' mit! Wenigstens werden Sie den Herren was sagen können ...«
»Was soll ich denn sagen können –? Ich – ich – weiß doch nichts ...!«
Aber der Gendarm blieb unerbittlich.
»Keine Faxen, Neuhoferin! Machen S' g'schwind und kommen S' mit!«
Thorgut schwankte. Sollte er dem Neuhofer folgen, den er ja ohne weiteres einholen konnte, oder anhören, was auf dem Schlosse vorging, wo augenscheinlich bereits die Gerichtskommission ihres Amtes waltete? Er entschied sich für das letztere, denn – er wußte ja, wo er den Neuhofer zu finden hatte. Und bei der Verhandlung im Schloß konnte er vielleicht doch manches erspähen, was den anderen verborgen blieb.
* * *
In der Bibliothek war die Kommission versammelt. Der Kreisrichter selbst – ein alter gedienter Landesgerichtsrat, abgeklärt, mit allem Ehrgeiz fertig, die Verantwortung in solch großer Sache fürchtend, der Staatsanwalt – ein junger, magerer Mensch mit scharfem, intelligentem Gesicht, mit fiebernden Händen nach dieser Gelegenheit zur Auszeichnung langend, der Gerichtsarzt und zwei Schreiber vervollständigten die Kommission. Harro Liebenstein war's, der in der Nacht noch daran gedacht hatte, das Gericht zu verständigen. Der dann auch in der Frühe das Auto nach Steyr geschickt hatte, um die Herren herauszuholen.
Nun wuchteten sie hinter dem großen Schreibtisch, vor den einer nach dem anderen aus dem Schlosse treten mußte. Zur Seite des Tisches saß Dagmar – mit schwarzen, unheimlichen Schatten unter den Augen, aber sonst gefaßt und ruhig. Neben ihr war der alte Doktor Haugh, der als erster seinen Befund abgegeben hatte. Nach ihm kam Christen an die Reihe, der darüber berichtete, wie Thorgut mit ihm und den beiden anderen Förstern um elf Uhr in der Nacht fortgezogen sei, die Wilderer zu stellen.
»Der Hirschensprung liegt ziemlich eine Stunde Weg vom Schloß«, erzählte er. »Es wird also so um zwölf herum gewesen sein, als der arme Herr Thorgut hinausgekommen ist. Ich habe den Schuß nicht gehört. Aber der Leinert und der Pacher, die ihm näher waren, haben ihn gehört und sind natürlich gleich hingelaufen. Der Herr war schon tot. Da ist der Leinert zum Schloß herunter, und der Pacher hat mich gesucht. Wir sind dann gleichzeitig mit den Herrschaften und den Knechten aus dem Schloß auf den Hirschensprung gekommen. Das ist eigentlich alles, was ich weiß, Herr Landesgerichtsrat!«
»Haben Sie nachgeforscht, aus welcher Richtung der Schuß kam?« fragte der Richter.
»Nein, daran haben wir gar nicht gedacht in unserer Aufregung. Aber ich meine halt, daß der Schuß vom oberen Rand der Lichtung – Sie kennen sie ja sicher, Herr Landesgerichtsrat! – gekommen ist. Muß schon ein ziemlich guter Schütz' sein, der auf diese Entfernung einen Mann mitten ins Herz trifft.«
»Nun, Sie haben doch sicher Ihre Gedanken darüber, wer dieser Schütze sein könnte, Herr Oberförster?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. Zauderte und wußte nicht recht mit der Sprache heraus.
»Schwer ist es halt, Herr Landesgerichtsrat, da etwas zu sagen. Wer soll die Verantwortung auf seine Seele nehmen, einen Namen zu nennen? Es sind schon ein paar Kerle, die den Herrn gehaßt haben – aber daß sie sich so weit vergessen –«
Der Staatsanwalt warf eine Frage dazwischen.
»Sagen Sie, Herr Oberförster, es ist doch so allerlei bekannt. Hat Herr Thorgut nicht vor kurzer Zeit einen Auftritt mit dem Neuhofer gehabt?«
»Das wohl. Er hat ihn sogar beim Wildern erwischt und windelweich geprügelt –«