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Susanne Warren wurde herbeigerufen.
Die Augen geradeaus gerichtet, ohne nach rechts oder links zu blicken, schritt sie an den Tisch, an dem die Kommission saß. Ein Gefühl der Angst überkam Thorgut, als er sie da stehen sah. Hoch und schlank – in ihrer herben Schönheit – unnatürlich weiß das Gesicht unter dem schwarzen Haar. Nur die Lippen blutrot. Hart und unerbittlich, wie das Gesetz selbst, schien sie, doch nicht so unbeeinflußbar und gerecht. Thorgut zitterte für Dagmar.
Mit leiser, aber klarer Stimme beantwortete sie die an sie gestellten Fragen. Tonlos war die Stimme. Thorgut aber wußte nur zu gut, welche Glut in ihr fieberte. Er blickte zu dem Staatsanwalt hin, der bis jetzt sich als Meister bewährt hatte. Würde seine Kunst auch hier triumphieren? Würde er vor allen Dingen erkennen können, wer diese Frau war, die zu fragen er sich anschickte? Der Staatsanwalt war das Gesetz. Wie scharf – wie tief konnte das Gesetz sehen?
Von dem Vorfall mit dem Gewehr, von dem Streit zwischen Thorgut und Baron Lohnstein hatte Susanne Warren natürlich keine Ahnung. Sie wußte auch nichts davon, daß der junge Mann noch vor dem Souper das Schloß verlassen hatte. Sie war um halb acht mit dem Kinde nach oben gegangen und – nachdem dieses eingeschlafen war – auf ihrem Zimmer geblieben, hatte hier ein, zwei Briefe geschrieben und dann gelesen.
Und sonst nichts?
Auch sie glühten die erbarmungslosen Brillengläser an. An ihr versagten sie. Prallten von ihr ab.
Nein – sonst nichts. Sie sei erst aufgeweckt worden, als der Förster Leinert mit der Todesbotschaft ins Schloß kam.
Mit bedauerndem Achselzucken gab der Staatsanwalt sie frei. Thorgut sah es und lachte –. Also das Gesetz war doch blind! Mußte blind sein, da es an die Grenzen menschlichen Sehens und Erkennens gebunden war.
Doch er selbst –
Warum verschwieg Susanne Warren, was sie wußte? Warum sprach sie nicht davon, daß sie ein Geräusch auf dem Korridor gehört? Daß sie mit ihm die Tür der Halle offen gefunden hatte? Warum sprach sie von diesen beiden Dingen nicht, die doch gewiß dem Gerichte wichtige Fingerzeige boten? Fingerzeige, die vielleicht sogar auf Dagmar deuteten –?
Er hatte geglaubt, ihre Seele nackt gesehen zu haben. Ganz hüllenlos. Und nun erkannte er, daß er sich geirrt hatte. Mußte sich gestehen, daß auch überirdische Sehkraft versagte, wenn eine Frau ihre Seele verschleiern will.
Der Gendarm führte die Frau des Neuhofer herein.
Nach der vornehmen, kultivierten Erscheinung Susanne Warrens, das vierschrötige, derbknochige Bauernweib. Dort höchste Kultur – hier beinahe animalische Einfachheit. Und doch beide in einem gleich. Beide gleich das Geheimnis verteidigend, das sie nicht preisgeben wollten.
Die Neuhoferin zitterte an allen Gliedern, als der Gendarm sie an den Kommissionstisch schob. Aber sie hatte sich augenscheinlich auf dem Wege zum Schloß das zurechtgelegt, was sie aussagen wollte – daran hielt sie fest, und nicht einen Schritt wich sie zurück. Die funkelnden, nadelscharfen Brillengläser flößten ihr zwar unbändiges Entsetzen ein, doch sie dachte an ihren Mann, den sie zu schützen hatte.
Und sie tat dies mit einer plumpen Schlauheit, an der die raffinierte Kunst des Staatsanwalts zuschanden wurde. Ohne weiteres gab sie zu, daß ihr Mann in der Nacht im Walde draußen gewesen sei.
Wozu?
Na ja – er sei halt ein leidenschaftlicher Jäger, den die Sünde, Gott sei's geklagt, nun einmal nicht aus den Klauen lasse. Was sie ihn auch bäte und bedrängte – nutzlos sei es. Der Wald locke ihn. Der Wald sei stärker als sie.
»Wann ist er denn nach Hause gekommen – Ihr Mann?« fragte der Staatsanwalt.
Das war eine kitzlige Frage, denn die Neuhoferin konnte ja nicht wissen, wann der Mord geschehen war. Nannte sie irgendeine Zeit, so war es ganz gut möglich, daß sie gerade damit ihren Mann ins Gefängnis jagte. Also zuckte sie die Achseln und meinte so leichthin – es werde wohl gegen Morgen gewesen sein.
»Warum ist er denn dann schon so früh wieder fort?«
»Ich glaube, er ist nach Molln hinunter. Dort hat er ein Geschäft.«
»Mit wem denn?«
»Im Sägewerk. Ich weiß es aber nicht genau, Euer Gnaden – er hat nur gestern so beiläufig davon gesprochen. Vielleicht ist er auch nach Leixen hinüber. Wissen Sie, wir reden in der letzten Zeit nicht viel miteinander – wegen dieser verflixten Jagdleidenschaft, die ihn nicht losläßt und ihn sicher noch ins Unglück stürzt.«
Also sicherte sich die Neuhoferin den Rückzug, und der Staatsanwalt konnte sie nicht mehr fassen. Bei der Aussage blieb sie.
Thorgut war's zufrieden. Wenn der Neuhofer tatsächlich wußte, wer auf ihn geschossen hatte, dann war es besser, das Gericht wurde nicht zu früh auf die Spur gesetzt. Thorgut wollte die Sache allein austragen. –
In diesem Augenblick sprengte ein Reiter in den Gutshof. Sprang vom Pferd, warf ihm die Zügel über den Hals und stürmte ins Haus. Lohnstein war es, der sich dem Rufe des Gesetzes stellte.
* * *
Als er die Bibliothek betrat, fiel wieder jenes düstere Schweigen über den Raum. Die Herren vom Gericht blickten ihm entgegen, als er mit raschen Schritten, die Reitpeitsche noch in der Hand, auf sie zukam. Liebenstein und Pyrker, die sich zur Seite hielten, nickte er zu. Vor Dagmar, die den Kopf gehoben hatte, verbeugte er sich tief. Zum ersten Male glitt so etwas wie ein fahles Rot über ihre bleichen Wangen. Thorgut hinter ihr ballte die Fäuste.
Trotz und Hochmut in dem hübschen Gesicht, stand der junge Mann vor der Kommission. Die Sporen an seinen Stiefeln klirrten herausfordernd, als er sie mit ironischer Höflichkeit begrüßte. Hohe – elegant geschnittene Lackstiefel waren es, die er trug – lang, schmal im Fuß und vorn zugespitzt.
Thorguts Augen maßen sie. Ja – das mochten die Stiefel sein, von denen der Abdruck oben aus dem Hirschensprung stammte. Er glitt hin. Legte seine Hände an sie an. Die Maße stimmten. Nicht ganz zwar. Aber das Aneinanderlegen von Händen bildete kein absolut sicheres Meßinstrument und – neben Lohnstein stehend – blickte Thorgut zu Liebenstein und Pyrker hinüber. Auch sie trugen ihre Reitstiefel – genau dieselben wie Lohnstein. Die drei jungen Männer waren alle in der gleichen Statur – Thorgut zuckte die Achseln –
»Herr Baron, wir haben Sie hierher gebeten«, begann der alte Landesgerichtsrat, »weil sich aus dem bisherigen Verhör die Notwendigkeit ergeben hat, einige Fragen an Sie zu richten.«
»Bitte.«
»Sie waren gestern mit den anderen Herrschaften hier anwesend, Herr Baron, haben sich dann früher entfernt, weil Sie mit dem Herrn des Hauses eine Auseinandersetzung hatten. Ist das richtig?«
»Jawohl.«
»Diese Auseinandersetzung betraf wohl einen Gegenstand, der Ihnen sehr teuer ist – die Jagd! Wie wir hören, vertraten Sie eine andere Ansicht hierüber als Herr Thorgut?«
»Jawohl.«
»Haben Sie nun oft, da Sie ja mit dem Hause in regem Verkehr standen, solche Auseinandersetzungen mit Herrn Thorgut gehabt?«
»Nein. Ich habe es im Gegenteil vermieden, mit Herrn Thorgut in nähere Beziehungen zu kommen. Wenn er auch tot ist, so mache ich doch kein Geheimnis daraus, daß ich ihn nicht leiden konnte.«
Der Staatsanwalt schnellte vor.
»Dann erscheint es doch zumindest schwer verständlich, Herr Baron, warum Sie Schloß Sternkron so häufig besuchten?«
In Thorgut schäumte die Wut empor. Welches Recht nahm sich das Gesetz heraus, nach solchen Dingen zu forschen. Hatte denn ein Gericht keinen Respekt vor dem allzu Persönlichen? Er sah, wie auch Dagmar unter dieser Frage zusammenzuckte. Wie sich ihre Augen öffneten und in kaum verhüllbarer Angst von dem Manne, der die Frage ausgesprochen hatte, zu dem hinüberglitten, der sie beantworten sollte. Doch der lächelte nur.
»Ich kam hierher – wie« – er wandte sich dabei um und wies auf Liebenstein und Pyrker – »wie diese meine Freunde hier, meine Schwester und alle jungen Leute der Umgegend, denn Frau Thorgut war unserer aller Jugendfreundin. Wir sind ihr treu geblieben – auch – als sie aus der Komtesse Cronin Frau Thorgut wurde.«
»Haben die anderen Herren, zum Beispiel Herr Graf Liebenstein oder Herr Baron Pyrker, dieselbe Abneigung gegen Herrn Thorgut empfunden wie Sie?«
Hier machte Liebenstein eine Bewegung, als wollte er gegen diese Bezugnahme auf seine Person protestieren. Er tat sogar mehr, er schüttelte den Kopf. Er war es ja auch schließlich immer gewesen, der Thorgut gegen die anderen verteidigte.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Lohnstein.
»Wieso kommt es aber, daß gerade zwischen Ihnen und Herrn Thorgut die Beziehungen so schroff wurden?«
Die dunklen Augen des jungen Menschen flammten den Staatsanwalt mit zorniger Verachtung an. –
»Ich verstehe diese Frage nicht«, sagte er dann kalt und abweisend. »Sie müssen sich schon deutlicher ausdrücken, mein Herr, wenn Sie den Mut dazu haben!«
Das war echter Lohnstein. Unverschämt, tollkühn und unbedacht. Der Staatsanwalt schien aber unberührt davon. Er erhob sich und maß den vor ihm Stehenden von oben bis unten. Klein war er und schmächtig, der Mann des Gesetzes. Ärmlich vielleicht sogar im Vergleich zu diesem Sohne eines alten Adelsgeschlechtes – doch zweifellos in diesem Augenblick der Stärkere. Hinter ihm richtete sich das Gesetz auf – griff nach Lohnstein –
»Herr Baron,« sagte der Staatsanwalt, »Sie stehen hier vor einer amtlichen Kommission. Ihre Drohungen sind daher nicht nur deplaciert, sondern auch kindisch. Wollen Sie wirklich, daß ich meine Frage deutlicher formuliere?«
Kein Laut war hörbar. Stumm standen sich die beiden, durch den Tisch getrennt, gegenüber. Schwer ging und kam der Atem Lohnsteins. Seine Lippen preßten sich zusammen – er ließ den Kopf sinken.
»Ich bitte um Entschuldigung,« sprach er dann, »wenn ich mich zu einer unbedachten Äußerung habe hinreißen lassen. Ich weiß nicht, ob mich die Herren hier nicht vielleicht gar des Mordes verdächtigen. Bitte dann zu fragen, was Sie für gut halten. Aber ich behalte es mir vor, und das ist wohl mein gutes Recht, diejenigen Fragen nicht zu beantworten, die ich nicht beantworten will oder beantworten kann.«
Der Staatsanwalt setzte sich nieder und hielt mit dem Landgerichtsrat einige Minuten lang eine geflüsterte Zwiesprache. Dann wandte er sich zu Lohnstein zurück.
»Wir sind weit davon entfernt, Herr Baron, Sie irgendwie zu verdächtigen. Unsere erste Aufgabe besteht darin, das Terrain, auf dem wir zu arbeiten haben, vollständig kennenzulernen. Das kann auch nur in Ihrem Interesse liegen. Im übrigen steht es Ihnen natürlich frei, zu antworten. Ich fahre fort:
Sie haben gestern vor dem Souper das Schloß verlassen! Sie sind dann wohl direkt nach Hause geritten?«
»Ja.«
»Sie können daher über den weiteren Verlauf der Tragödie nichts angeben, Herr Baron?«
»Nein. Ich habe erst heute morgen von dem Unglück gehört, als mich Graf Liebenstein telephonisch anrief.«
»Sie waren also die ganze Nacht auf Schloß Lohnsburg?«
Nur eine Sekunde zögerte Lohnstein jetzt. Aber dieses Zögern war verhängnisvoll. Alle sahen's –. Und sein »Ja!« kam zu spät.
Der Staatsanwalt wußte ebensowohl wie Thorgut, daß Lohnstein gelogen hatte.
Wieder besprachen sich die beiden Herren vom Gericht. Der jüngere schlug seinem älteren Kollegen etwas vor, wozu dieser beistimmend nickte.
»Wir wollen die Verhandlung jetzt abbrechen,« sprach er dann, »und den Schauplatz der Tat selbst besichtigen. Wir müssen die Herren sämtlich bitten, unsere Rückkunft hier abzuwarten und sich noch zu unserer Verfügung zu halten.«
Christen mit seinen beiden Unterförstern führte die Kommission hinauf zum Hirschensprung.
* * *
Oben im Kinderzimmer versuchte Susanne Warren, die kleine Ella auf den Tod ihres Vaters vorzubereiten. Das Kind war es gewöhnt, daß jeden Morgen, wenn es die Augen aufschlug, Thorgut an sein Bettchen kam, mit ihr lachte, spielte, plauderte. Als er heute ausblieb, hatte sie gefragt und gefragt. Aber Susanne brachte es fertig, sie hinzuhalten.
»Der Vater wird schon kommen. Er spricht noch mit den Förstern.«
Dann gab sie zu, daß Thorgut krank sei. Er läge in seinem Zimmer – nein – niemand könnte zu ihm; Ella müßte ganz artig sein, dürfte gar keinen Lärm machen – der Doktor hätte das auf das strengste verboten.
Und als sie zur Kommission gerufen wurde, ließ sie die alte Brigitte als Wächterin zurück. Die hatte auf alles Fragen und Drängen des Kindes nur ihre Tränen, ihre Seufzer.
»Ich will zum Papa!« begehrte Ella, als Susanne zu ihr zurückkam.
»Dem Papa geht es nicht gut. Der Doktor hat ihm ein Schlafmittel gegeben –«
»Ist er denn so krank? Bitte, liebe Susanne, laß mich doch zu ihm! Ich will auch ganz still und artig sein!«
Brigitte ergriff die Flucht. Das junge Mädchen mußte den schweren Kampf allein ausfechten. Immer unruhiger wurde die Kleine. Wollte von ihren Lieblingsspielsachen nichts wissen. Wollte keine Märchen hören –
»Ich will zu meinem Papa!« schluchzte sie.
Der stand schon geraume Zeit im Zimmer und hörte das Weinen seines Kindes.
Jetzt kam ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, daß er jenseits, wirklich jenseits einer Grenze war. Die ihn von denen schied, mit denen er bis jetzt gelebt und die einen Teil seines Daseins ausgemacht hatten. Und die Angst kroch ihm ins Herz herauf: gab es ein Zurück über diese Grenze? Sein Kind weinte nach ihm und sah nicht, daß er vor ihm stand. Würde es ihn nie wieder sehen?