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Der König und der Abenteurer

Weissagung ist in dem Munde des Königs; sein Mund fehlt nicht im Gericht. Viele suchen das Angesicht eines Fürsten; aber ein jegliches Gericht kommt vom Herrn.

Die Bibel

Der Herr war nach Potsdam gegangen, als wolle er an die Affäre Runck und Stieff noch nicht rühren. Traf sie ihn so sehr? Sah er sie so gering an? Er änderte seinen Plan nicht; er ließ zur Fahrt nach Potsdam anspannen. Alle Unterlagen für seine Arbeit befanden sich bereits dort, und damit war seine neue Stadt mit einem Schlage seine Residenz geworden. Er schien die Stunde sehr genau festgelegt zu haben, in der er sich mit dem häßlichen Vorfall im Schloß, dem Vergehen des Schlossers und des Kastellans, befassen wollte. Ihn als den Hausherrn betraf es. Der Betrag, der außer den alten Münzen noch gestohlen war – er war nicht so wichtig, wenn auch der König den Verlust so vieler tausend Taler nicht ganz leicht verschmerzte. Schlimmer war, daß dieser Vorfall gleich zum Sinnbild wurde: wann und wo der König nur den Rücken wandte, ließ er einen Runck und Stieff zurück, die ihr Schlüsselrecht an den Truhen des Königs mißbrauchten. Die große Reise hatte es gelehrt.

Nun verlachte man seine Bitterkeit ob solchen kleinen Diebstahls. Man erkannte nicht, daß er dem König längst ein Gleichnis für Größeres und Ärgeres geworden war. Angesichts dessen erschien es ihm auch geringfügig, als ihn heute die Botschaft erreichte, ein anderer Kastellan habe sich mit zwei Manschettenknöpfen erschossen, weil er das Geld für das Laternenöl unterschlug.

Tief bedrückt fuhr der König nach Berlin zurück, als die Stunde schlug, die er sich gesetzt hatte. Am Lietzenburger Schloß der Mutter ließ er halten. Die Meldungen hatten ihm von dem überraschenden erfolgreichen Eingreifen der jungen Kastellanstochter berichtet; er wollte mit dem Mädchen selber sprechen. Aber dann setzte er den Fuß nicht aus dem Wagen. Es war, als erkenne er, was ihn zu der Charlottenburgerin zog. Sie machte sich ihm leicht, wo alles andere auf ihm lastete, wo jeder ihn beschwerte und alles ihn verwirren wollte, jeder forderte, jeder ihn band, keiner fragte, was er tragen mußte –.

»Weiter!« rief der König am Charlottenburger Tor sofort. Er wollte sich in nichts belügen. Er brauchte das Mädchen nicht zu sehen. Es sollte vor die Richter kommen und von den Richtern auch den Lohn empfangen.

Mancher, der dann den Gerichtsverhandlungen des Kriminalkollegiums beiwohnte, stellte sich im geheimen die Frage, wer hier wohl angeklagt sei. Es hieß zwar: der eitle Kastellan in der Armesünderbank, der törichte Schlosser in dem runden Hut und der hochgeknöpften Weste ihm zur Seite; aber es schien: auch jeder der Richter.

Ein Wort des Königs machte überall die Runde; er habe überall im Lande Runck und Stieff getroffen und nirgends einen Richter, über sie den Spruch zu fällen.

Nun stürmten sie über dies unverständliche Wort dahin mit mächtigen Reden und kündeten völlige Sühne an für den Frevel, der an Seiner Majestät begangen war. Der König wollte nur als bestohlener Hausherr behandelt sein.

Ein erlesenes Gremium alterfahrener, menschenkundiger, rechtsgelehrter Advokaten und Richter, so versicherte man dem Herrn, sei am Werk, zu erhellen, zu erklären, zu fixieren. Aber der König konnte sich nur davon überzeugen, daß statt der wichtigen Charlottenburger Zeugen und des Fremden aus dem Goldschmiedsladen lärmende, komödiantische, durchtriebene Prokuratoren auftraten. In Scharen waren sie aufgetaucht, Winkelschreiber, einstige Lakaien, Wucherer, eine Pest der Justiz, angewiesen auf Sporteln, die mit der Länge der Prozesse wuchsen; wer weiß, aus welchen Schlupflöchern sie kamen, aber alle waren sie bis in den letzten Schachzug eingespielt mit den Richtern, aus der klaren Sache ein dauerhaftes, einträgliches Geschäft für sie alle zu machen. Streit und Händel wurden gesucht mit unersättlicher Begier, ja erregt und angestiftet und die Einigung hintertrieben. Wühlmäuse waren sie, hervorgehuscht aus dem Unrat, witternd, daß hier eine Probe aufs Exempel gemacht werden könne, ob Prozesse, in die der König selbst einbezogen war, nicht erheblich anders angefaßt werden durften als Gezänk, Verlust und Klage des gemeinen Volkes.

Die Richter behaupteten, für heute ein gigantisches Maß an Arbeit geleistet zu haben. Der König konnte aber auf ihre angebliche Überanstrengung keine Rücksicht nehmen. Gleich nach der Gerichtsverhandlung bestellte er sie zu sich; im Sitzungssaale fanden sie auch ihre höchsten Vorgesetzten vor, vom Herrn selbst zitiert.

Nun wurde die vom König einberufene Konferenz zu einem eigenen Gerichte. Das Unfaßliche wurde wahr: die Richter und die Advokaten waren angeklagt! Den preußischen Prozeßverfahren sollte das Urteil gesprochen werden!

Der König sah die Akten und die Protokolle, die er von seiner Reise mitgebracht hatte und die nun hier vor ihn auf seinen Platz gelegt worden waren, mit keinem Blicke mehr an; er erwähnte sie im einzelnen mit keinem Worte, begnügte sich mit dem Gleichnis dieses einen Prozesses. Seine Hand lag schwer auf dem gewaltigen Aktenstoß. An den Abenden seiner Reise hatte er all die alte Sudelei geprüft, indes sich die Kuriere mit den neuen Meldungen in der Affäre Runck und Stieff zuletzt fast überstürzten.

Sehr ruhig begann der König zu sprechen: »Die preußischen Richter vermögen nichts zu entscheiden, solange es noch klar ist. Erst muß ein Wust von Akten daraus geworden sein! Was habe ich Konfusionsräte nötig; ist in den letzten fünfzehn Jahren zum Exempel ein einziger Prozeß für die Krone gewonnen worden? Nicht ein einziger!«

Danach erklärte er, bei der Führung der Verhandlungen möge man sich nur von dem einen Gedanken leiten lassen, daß in allen Verfahren gegen diebisches Gesinde die verletzte Treue der Hauptgrund der schweren Strafe sei. Sein Recht, Urteile zu mildern oder zu verschärfen, möchte er nie aus persönlichen Gründen mißbrauchen; und schließlich und endlich wünsche er in diesem und in ähnlichen Fällen einen Kurzprozeß von höchstens drei Monaten Dauer.

Als ob einer im Römischen Recht jemals solchem Ansinnen, Begriff und Verfahren begegnet wäre! Die Herren Richter hatten einen roten Kopf und geschwollene Adern bis zu dem Ansatz der weißen Perücke. Der König wünschte eine von Grund auf veränderte Handhabung aller Prozesse überhaupt! Und er selber hatte auf der Reise längst schon alles vorbereitet, dem alten Rechtsbrauch das Genick zu brechen, hatte Kommissionen eingesetzt, die ihm die Gründe für die Verschleppung und Verteuerung der Rechtsprechung gründlichst und schleunigst auskundschafteten.

»Ich warne Sie«, fuhr der König fort und pochte auf dieses sein Material, »es ist noch Zeit! Und es ist besser, alle Profite aus den Prozessen fahren zu lassen, als auf der Festung zu karren. Ich muß leider mit so starken Ausdrücken sprechen, weil die schlimme Justiz zum Himmel schreit und weil ich die Verantwortung auf mich selber lade, wenn ich's nicht remediere.«

Plötzlich, mit dem Frevel seines Gesindes, war es an den Herrn herangetreten und in sein Bewußtsein eingeschrieben, daß er ein Herr war auch der Folter, daß sie in seinem Namen verhängt, in seinem Namen auch geendet wurde. Er hatte gebetet, Gott möge ihm die Richter und die Rechtsgelehrten an die Seite geben, die ihn davor bewahrten, daß Gebot und Aufhebung der Folter jemals zu Unrecht geschähen. Die Richter waren seine größte Not geworden. Die Richter waren bestechlich. In Preußen war die Hölle aufgebrochen.

War er am Ende seiner Reise, in den Tagen unmittelbar vor jener Sitzung, von Stadt zu Stadt gefahren, endlich wieder seiner Residenz zu – hatte er auf Straßen und Wällen, auf Kirchen und Äcker noch genauso prüfend Ausschau gehalten wie am Anfang der Fahrt, so dachte er doch im geheimen nur noch an das eine: das Recht seines Landes, das Recht, über das so hartes Gericht verhängt war.

Schnitt er am Tisch einer Posthalterei die Briefe auf, die ihm entgegengesandt worden waren, vollzog er Unterschriften und prüfte er Belege im abendlichen Quartier – plötzlich ließ er doch die Arbeit liegen und warf in raschen Zeilen Thesen aufs Papier, die ein krankes Recht in seiner faulen Wurzel treffen, die ein neues, die das einzige Gottesrecht niederzwingen sollten in die Grenzen seines Landes. Die Zettel trug er in der Tasche bei sich.

Er stand jetzt auf, schob alle Aktenbündel zur Seite, zog das säuberlich gefaltete Päckchen loser Blätter aus der Tasche seines Uniformrocks und legte all die schmalen Seiten in sehr genau bestimmter Ordnung vor sich. Vierundsechzig Punkte waren aufgesetzt. Er begann noch ruhiger, ja fast zu bescheiden den neuen Teil seiner Rede. »Ich verstehe nicht Ziviljura, wohl aber Landrecht –«

Die Herren waren entsetzt. König Friedrich Wilhelm stieß gegen das gesamte Recht vor. Er kämpfte eine große, eine entscheidende Schlacht in vierundsechzig raschen, heftigen Attacken. Da war keine, die den Feind nicht warf! Alle Verschanzungen eines listigen Rechtes, das längst schon in Unrecht verkehrt war, waren im Nu umzingelt und erstürmt. Der erste Schlag war, daß er das Richteramt von allen Nebenämtern trennte und die persönliche Qualifikation der Richter und der Advokaten eingeführt wissen wollte. Der letzte und der schwerste Hieb war in einem Aufruf an die Fakultäten geführt, den der König über seine höchsten Richter hinweg bereits erlassen hatte: »Sie sollen die natürliche Billigkeit vor Augen haben und Sorge tragen, daß das Recht auch von dem gemeinen Mann kann verstanden werden. Das Römische Recht soll beibehalten werden, soweit es sich für den Zustand des Landes schickt und mit der gesunden Vernunft übereinstimmt. Die römischen Kunstwörter sollen auf deutsch gegeben und das Latein soll durchgehend daraus fortgelassen werden. Das Landrecht soll dem Römischen Recht so stark nicht folgen, noch an die römische Prozeßordnung, Formeln, Gebräuche und anderen alten römischen Sachen sich kehren, so aus der römischen Historie ihren Ursprung haben. Verbesserungsvorschläge aber sind von jedermann erwünscht.«

Das Ungeheuerlichste war geschehen. Der König rief sein Volk auf, mitzuschaffen an dem Rechte seines Landes, mitzuwachen über Preußens Redlichkeit.

Die Akten aller Kriminalprozesse aber wünschte der Herr selbst vorgelegt zu bekommen.

Wieviel Stunden hatte König Friedrich Wilhelms Tag? Wie herrisch vermochte der Dreißigjährige seinen Schlaf zu kasteien?

Es raubte ihm die Nächte, daß er ein Herr war auch der Folter.

Auch der Henker stand in seinem Dienst.

Über den Henker und sein Opfer hatte der König Rechenschaft zu geben. Da hatte die Jurisprudenz ihn entflammt in brennender Glut seines Herzens und in einem Fegefeuer der Seele.

Wie vermochte er noch Recht zu sprechen in alten, römischen Formeln!

 

Einen von den Briefen, die der König als besonders wichtig selbst in die Sitzung mit den Richtern mitgenommen hatte, öffnete er wegen des fremden Wappens und Siegels, wunderlich und schön geprägt, sehr behutsam. Eine angenehme Schrift bedeckte die Seiten, eine Handschrift, die frei war von den vielen Ornamenten und Schnörkeln, wie sie Mode geworden waren. Die Anrede war kurz gefaßt, dabei durchaus respektvoll und sicher in höfischer Form; der Stil war klar und frei von jeder überflüssigen Wendung. Das ganze Schreiben, und dies war völlig überraschend, war in deutscher Sprache gehalten. Es wunderte den König, daß dieser Brief mit seinem reichen Wappenschmuck als Unterschrift nur den einfachen Namenszug trug: Clement.

Der König wußte um die Verdienste des Barons Michael Clement von Rosenau in dem Prozeß gegen seine Bedienten. Daß der Baron nun seinen Dank und Lohn kassierte, erschien nach diesem Schreiben ausgeschlossen. Ein Phrasenmacher und ein Beutelschneider war der nicht. Die Gründe, aus denen er um geheime Audienz bat, hatten nichts zu tun mit der Affäre Runck und Stieff. Die Argumente, welche eine Zusammenkunft erforderten, leuchteten ein. Die Dringlichkeit, bescheiden betont, schien tatsächlich vorhanden. Und was der Schreiber dieser seltsam erregenden Zeilen noch ganz besonders wünschte, war auch dem königlichen Empfänger nur zu angenehm: die Begegnung sollte möglichst außer Hof stattfinden. Aller Ehrgeiz eines fremden Kavaliers lag also fern.

Außerdem wohnte er beim Prediger Roloff im Alten Pastorate von Sankt Peter. Das war immerhin bemerkenswert.

Schrift und Sprache, die ganze Art, ein ungewöhnliches Anliegen vorzutragen, mußten den Herrn an diesem Briefe sehr beeindruckt haben. Denn schon zum frühen Nachmittag war die Begegnung angesetzt, pünktlich um drei Uhr am Anfang des Weidendamms an General Lingers Garten.

Es war nichts Außergewöhnliches, daß der König nach Tisch einen kurzen Spaziergang unternahm oder sich zu einem Ritt entschloß. Der Dreißigjährige begann recht stark zu werden. Dem Rastlosen blieb nur die Muße für eine Mahlzeit; dann aber schien er unersättlich und schlang, ohne zu zerbeißen. Und da er die Geschmeidigkeit auf Jagd und Exerzierplatz nicht verlieren wollte, waren Ritt und Wege nötig. Zum höfischen Ereignis wünschte er sie nicht zu stempeln. Zwei Jäger oder auch nur ein paar adrette Burschen unter den Bedienten waren sein ganzes Gefolge. Unterhaltung und Geleit wären König Friedrich Wilhelm höchstwahrscheinlich nichts als störend gewesen. Denn mit jedem Schritte wurden Regimenter eingekleidet, Etats bewilligt, ungerechte Richter abgesetzt, versumpfte Weiden ausgetrocknet, Straßenzeilen neu gezogen, Handelsverträge geschlossen, Allianzen erwogen, Visitationen vorbereitet.

Heute ging der König ganz allein. Beinahe lässig – oder aber war es zögernd? – promenierte er durch die Gärten und Wiesen vor der Stadt auf den Weidendamm zu. Er wollte nicht zu früh erscheinen. Aber der Fremde war schon vor ihm da; er vermutete in dem Offizier, der da auf ihn zukam, den König; er ging ihm rasch, doch gemessen entgegen. Der König beschleunigte seine Schritte nicht; er blieb sogar, und das war unbewußt, stehen; und gerade diese kleine, unbeabsichtigte Geste ließ ihn seine Würde deutlich wahren. In der ungewohnten Lage, sich vorstellen zu müssen, sagte König Friedrich Wilhelm kurz: »Ich bin der König von Preußen. Baron Clement?«

Und der, förmlicher und herkömmlicher als in seinem Schreiben und als gelte es doch, eine leichte Befangenheit zu überwinden, sprach mit tiefer Verneigung: »Euer Majestät gehorsamster Diener.«

Clement hatte sich vom König von Preußen ein anderes Bild gemacht, als nun die Wirklichkeit es bot. Überall, wo Clement bisher weilte, hatte das Gerücht den zweiten König von Preußen zum wilden Titanen, einem Zaren, einem Schwedenkönig gemacht. Er hatte einen großen, ungestümen, jungen Mann mit wildem Zarenbart zu sehen erwartet, einen Krieger und Jäger, rauh und grob und ungeschlacht. Aber der hier vor ihm stand, war trotz Uniform und Degen durchaus ein friedlicher Bürger. Der Ansatz zum zarischen Barte war schon nach vierzehn Tagen wieder gefallen, als ein größerer Empfang bevorstand. Rock und Stiefeletten waren ohne Stäubchen, die Handschuhe ohne einen Fleck; der Hut saß gerade und korrekt auf ordentlich frisiertem Braunhaar. Der König war nicht sonderlich groß, und ein leichter Ansatz zur Behäbigkeit war trotz der schlanken Beine und der festen Schenkel, die gelbe Lederhosen knapp umschlossen, unverkennbar.

Aber jenseits aller dieser Ordnung, Blankheit und Gemessenheit war etwas Heißes und Fremdes im Blick dieses Königs und etwas Schroffes, Abgerissenes auch in der höflichsten Redewendung seiner Begrüßung. Der König hatte sich, als er die Hand reichte, artig den Handschuh ausgezogen. Den Druck der kühlen Rechten empfand Clement angenehm; und soweit es ihm die Schicklichkeit erlaubte, betrachtete er die Hand, die sich ihm bot; sie war an Schlankheit, Festigkeit und Ebenmaß die vollkommenste, in der seine Finger je ruhten.

Als sie dann weitergingen, prüfte er den Preußenkönig flüchtig von der Seite. Kontur und Profil des Gesichtes waren nicht ausgeprägt. Stirn und Nase gingen in verhältnismäßig gerader Linie ineinander über, die Nasenflügel waren etwas hochmütig gewölbt. Der Mund, nicht groß, doch voll, war schwer geschwungen; Stirn und Wangen wirkten rund. Aber um Mund und Augen zeigte das volle, blühende Gesicht, das frisch durchblutete, dauernd die leichte Unruhe einer äußersten Angespanntheit der inneren Vorgänge. Das Bild des Bürgers, der auf dem Weidendamm spazierte, ging nicht auf. Zu vieles ließ Clement erstaunen: der Glanz der von langen Wimpern tief beschatteten Augen; die Schwermut ihres Ausdrucks; die starke Meißelung der Augenhöhlen – dies alles gab dem hellen, glatten Antlitz einen Hauch von einer großen Fremdheit.

Der König widersprach durch sein Verhalten all den Gerüchten, die über ihn im Umlauf waren. Wer konnte in höflichen Erkundigungen nach Reise, Vorhaben und ernsten Eindrücken gewandter sein als der König von Preußen?

Clement tat dem Herrn Bescheid und gab ihm die Gelegenheit, mit seinen Fragen immer weiter vorzudringen. Der Übertritt zum lutherischen Glauben beschäftigte den König am meisten. Aber er sah nun den Partner des Gespräches mit viel Bedacht an. Der war, wenn auch nicht groß, ein schöner Mensch, sehr dunkel und sehr ernst. Warum er gerade in Berlin zum anderen Glauben übertreten wolle, fragte der König noch genauer.

»Es ist ein Unrecht vor der Heiligen Schrift, gewiß; und ist doch sehr verständlich, Majestät: es hängt am Manne, hängt an Ihrem Prediger Roloff.«

»Der Roloff weiß wirklich mehr von Gott – als wir«, sagte der König; mochte ihn verstehen, wer es konnte.

Einen Augenblick war in Clements Blick und Stimme Mitleid spürbar. Dann zerriß er das Gespräch, ließ den König nicht denken, nicht noch weiter disputieren.

Vergaß er die schuldige Achtung?

Sie schritten fest und rasch dahin am Ufer; plötzlich blieb Clement stehen, rief wie in einem Ausbruch höchster Erregtheit: »Majestät!«, riß seinen Rock auf, zog einen Brief hervor -. Der König sah nur die Veränderung der Augen. Ihr Grün war dunkel bis zum Schwarz geworden.

»So geben Sie«, sprach König Friedrich Wilhelm, »ein schwerer Brief-.«

»Briefe, Majestät, ein Bündel! Es ist keine Stunde zu verlieren! Ich durfte Sie nicht weiter reden lassen, Sire!«

»Ja«, sprach der König von Preußen, »ja, mein Herr – Sie haben recht.«

Denn er hatte die Hülle schon abgelöst. Er las im Stehen. Blatt um Blatt nahm ihm der Fremde ab.

Dann blickte der Herr auf den Fluß. Blätter trieben im Wasser. Besonnter Nebel zog um die Weiden. Lächerlich erschien es dem König, seine Zeit damit zu verspielen, Flüssen einen anderen Lauf zu geben und Dämme für ein paar bedrohte Hütten aufzuwerfen, statt sich zu wappnen gegen das Furchtbare, das kommen mußte – schon eingetreten war.

Der Herr hatte Clement Brief um Brief zurückgereicht; er fragte plötzlich: »Wer sind Sie?«

Clement sah ihn an, fast schmerzlich, nahezu gequält, öffnete die Lippen – und sagte kein Wort. Er preßte das Bündel Briefe König Friedrich Wilhelm wieder in die Hände.

Als der König in das Schloß zurückkam, ließ er den Ersten Kabinettssekretär rufen und gab noch zur selben Stunde die Geheimverfügung in Umlauf, daß die preußischen Gesandten in Hannover, London, Wien und Dresden ohne jede Nachricht über das, was in Berlin vorgehe, zu bleiben hätten. Mehr wagte er im Augenblick nicht zu tun.

Wirt Bleuset stand hinter dem Schanktisch. Die Vögel in den blanken Bauern bei den Kräuterbündeln zwitscherten und hüpften, alles Zinnwerk war mit Eisenkraut geputzt; es war sauber und hübsch um den Wirt.

Vor dem Schanktisch lärmten die Zecher, und um die Bänke war Unrat und Wust.

Städte entstanden, Heere wuchsen, künftige Könige reiften heran – in Bleusets Schenke änderte sich nichts mehr.

»Alles ist, wie es war, als du das letztemal hier weiltest, Bruderherz!«

Der Bruder war da, der Allotriatreiber, der Faxenmacher, Erzschelm und herrliche Sänger, Polterhansens Bruderwaise, die er zur Knabenzeit bemutterte, ein mächtiger Kerl! Er war wieder heimlich gekommen!

Singt, meine Vögel! Blitzt, meine Kannen! Lärmt, sauft und würfelt, meine Zecher! lachte Polterhansens Herz. Und denkt nicht daran, daß König Friedrich Wilhelms Werber und Hurenbolde nächtens durch die Gassen streifen und das Bruderherz zu schnappen suchen. Eben waren sie hier. Nun ist für eine Weile Ruhe.

Bleusets Bruder kam aus dem Versteck hervor, goß sich einen neuen Becher ein und fuhr im gleichen Satze fort, in dem er unterbrochen worden war.

Man höre doch dies und das, fragt der Bruder, als stehe es nicht gut um manchen noblen Gasthof? Ob der Bruder die Gelegenheit nicht nützen wolle, seine Schenke zu vergrößern, zu verbessern?

»Nein, das gedenke ich durchaus nicht zu tun«, sagte Polterhansen Bleuset. »Das, was hier ist, ist gut. So soll es bleiben. Denn was da ein so großer Wirt erlebt – es spielt sich turmhoch über allem ab, was unsereiner je erfährt. Freilich, es ist schlimm für einen alten Wirt, wenn die erste Hure, die in seinen Gasthof kommt, seine eigene, späte Tochter ist und ihre Wehen bald die Gäste aus den Sälen und den Kammern treiben werden! Denn es ist kein goldenes Gespann vom Zaren Peter gekommen, sie in sein Moskowiterland zu holen. Nein, nein, es ist nicht gut, wenn junge Mädchen zu hübsch zwitschern können. Aber ein Mann, der singen kann – trink, Bruderherz, und stimme an –, der ist ein Tausendsasa und ein Rattenfänger! Selbst des Zaren vergessene Liebste vermöchte er wohl noch zu trösten!«

Kam Polterhansen Bleusets Bruder nicht wie ein Flüchtling nach Berlin? Waren ihm nicht die Werber auf den Füßen? Mußte er nicht bald, sehr bald in Nacht und Nebel wieder davon?

Aber die Brüder standen am Schanktisch und redeten von andrer Leute Sorgen, Geschäften und Plänen. Das sind nun die Menschen. Der Wirt kniff die Augen zusammen. Singt, meine Vögel! dachte sein Herz. Blitzt, meine Kannen! Duftet, meine Kräuter! Lärmt, sauft und würfelt, meine Zecher! Nun heißt es nur, ein Loch aus der Stadt und einen dunklen Winkel an Brandenburgs Grenze zu finden – dann werden wir Brüder uns nicht mehr sehen. Behalt den struppigen, den blonden Schopf, dein Bärenfell, die harten, weißen Zähne und den roten Mund zum Lachen; laß deine dunklen Augen weiter voller Argwohn blinzeln; sie sind wie geschaffen dazu: lang und schmal geschlitzt! Die Welt ist schlecht! Die Herrscher brauchen Krieger! Singt, meine Vögel! Mein kleiner Bruder ist ein Riese, jagt hunderttausend Türken in die Flucht!

Thulmeier, der Schweigsame, der hinter der Spreegassenbrücke wohnte und die heimlichen Briefe besorgte, stand bei den Brüdern. Sie sollten nicht von ihrer Sache sprechen; das war das einzige, was er ihnen sagte. Er hatte vom Reden zuviel Unglück kommen sehen; das waren nun die Menschen: hatten den aufrechten Gang und die Sprache vor den Tieren voraus; ach, lauft, so kerzengerade wie ihr wollt; nur sprecht nicht!

Bleusets Bruder horchte manchmal zur Seite; er wollte mehr vom König reden hören. Eben hatte einer Übles gegen ihn gesagt. Das vernahm er gern. Mitten im Singen und Reden wollte er nur davon hören. Maßlos haßte er den König, der ihn unstet umherjagte, mit seinen Werbern verfolgte. Er haßte ihn, wie er die Freiheit liebte, die schönste und vermessenste Lüge der Menschen. Warum durfte er nicht, der allerfröhlichste von allen Sängern und Zechern, an seines Bruders Schulter an dem Schanktisch bleiben, Kannen schwenken, Becher putzen, Zoten reißen, Lieder singen, Münzen in die braune Lederschürze streichen? Den Argwohn in den schmalgeschlitzten, dunklen Augen – den hatte der König von Preußen gesät. Dreimal, dreimal schon hatte er mit den Werbern des Königs gerungen!

Sie hatten ihn betrunken gemacht, hatten den Tisch voller Taler geworfen, einen Beutel mit Dukaten obenaufgestellt, ihm den Federkiel schon in die Hand gedrückt – aber er schlug auf die Werber mit dem Lederbeutel voll Dukaten ein und schrie: »Die Freiheit, die Freiheit!«

Dann hatten sich einige, die das gleiche Schicksal bedrohte, an der sächsischen Grenze zusammengefunden, mit Waffen, falls die Wachen an der Grenze doch am dunklen Waldpfad streiften. Die Wachen waren verdoppelt und verdreifacht. Einem der Kumpane wurde die Blase im Leibe zertreten; Bleusets Bruder tat dem Werber das gleiche, ganz das gleiche wie er dem Kumpan.

Das dritte Mal –. Doch davon wußte keiner außer dem Schweigsamen hinter der Spreegassenbrücke. Der war mit geheimer Botschaft und mit Talern vom Polterhansen gekommen, gerade als der Bruder den Werber verscharrte. Der Thulmeier schwieg; nicht, um das Unrecht zu schützen; nur, um die Leiden nicht zu mehren.

Heute abend aber; als die Werber durch die Schenke streiften, da hatte der Schweigsame geredet, viel und schnell, bis Bleusets Bruder versteckt war. Nein, was der Schweigsame für Witze wußte! Die Werber konnten nicht vom Fleck vor Lachen; und guter Laune zogen sie ab. Neue Gäste polterten herein, Bleusets Bruder kam wieder hervor, und Thulmeier von der Spreegassenbrücke war, als ob er nie geredet hätte.

Nun blickte der Schweigsame schon lange zur Tür. Keiner außer ihm merkte, wer kam. Er sah unverwandt auf die Tür.

Der auf der Schwelle zauderte, wehrte den Qualm von Nase und Augen, wich noch einmal zurück; dann aber, würdevoll und gespreizt und zugleich taumelig vom Trunk, bahnte er sich zwischen den Zechern und Schelmen seinen Weg zu dem Schanktisch. Der Polterhansen hängte gerade Tücher über sein Vogelbauer. Da war Nacht für die Vögel, gute, tiefe Nacht.

»Ich habe nichts für Euch, Professor Gundling,« sagte er ohne Erstaunen zum nächtlichen Gast, als wäre der erst gestern von ihm gegangen im zerschlissenen Rock und altes Bettgefieder im Haar.

Gundlings Rock war besudelt. Aber er war vom edelsten Samte und strahlte von Goldgewirk, wenn auch die Ornamente Hasen darstellten. Gundling hatte den Dreispitz nur noch lose auf den Locken hängen. Aber selbst im Qualm und Gestank dufteten sie nach kostbarem Puder, auch wenn sie ihm zum Hohn von Ziegenhaar geflochten waren.

Mit großer Geste wehrte Gundling jede Torheit ab, die ihm jetzt einer hätte sagen können. Er zog ein Goldstück aus der reich gestickten Börse und legte es vor den Wirt.

Der goß ihm den Branntwein in den Becher. Mit beiden Händen umschloß der Professor den Nachttrunk, hob den Becher auf – und setzte ihn langsam wieder zurück, ohne getrunken zu haben. Hart stieß er ihn auf den Schanktisch, breitete fassungslos die Arme aus, brach in die Knie und schlug mit der Stirn auf die Kante des Schanktisches auf, daß er meinte, zu bluten. Aber es waren Tränen, was da rann.

»Er verträgt noch immer nicht viel«, hatte Polterhansen Bleuset zu rügen, als hätte er erst gestern Gundling auf den Hof geführt. Dann beugte er sich über die Kannen und Becher zu ihm herab. Gundling kniete vor ihm; noch strömten die Tränen. Die Arme hielt er noch emporgehoben; er schluchzte, rülpste, stammelte, er wolle zurück, hier, hier sei es noch gut gewesen.

Ein Vogelbauer war noch nicht verhängt. Bleuset besann sich und nahm das letzte Tuch.

»Ja, kommt nur heim«, sprach er zu Gundling – und fegte hinter dem Schanktisch hervor, den er seit Jahr und Tag nicht mehr verlassen hatte, setzte mit seinen langen Beinen über die Tische und Bänke hinweg, schlug mit den Händen auf die Ledertasche an der Schürze.

»Schert euch alle fort und zahlt!«

Betrunkene erschrecken leicht; das war eine seiner Wirtsweisheiten. Die Aufgescheuchten zahlten, murmelten und gingen; und trugen wohl am Morgen nichts nach.

Bleusets Bruder und der Schweigsame hatten Gundling auf die Ofenbank gelegt; sie gossen sich den Becher Branntweins auf die Hände und rieben ihm Schläfen und Stirn.

Da setzte Gundling sich auf, und wahrhaftig, es war eine Pose von nicht geringer Großartigkeit, wie er da saß: die Ziegenhaarlocken wirr ums bleiche, aufgedunsene Gesicht, die Arme so verschränkt, daß er sich selber an den Schultern packte; die Hände waren kaum mehr sichtbar im Gewirr der spinnwebfeinen Spitzen seiner Ärmel. Er redete nüchtern und entsetzlich tonlos. Sie mußten ganz nahe an ihn heran, ihn zu verstehen. Das Widrige des Fusels waren sie gewohnt.

»Sprech Er nur. Sprech Er nur.« Das hatte der Schweigsame gesagt.

»Der König hat mich verlassen«, stammelte Gundling, »der König ruft mich nicht mehr zu sich. Ich habe in der Tabagie umsonst auf ihn gewartet, mit meinen Karten und meinen alten Historien. Er kam nicht. Die anderen, die Offiziere, sie haben nach der Tür geblickt wie ich und gewartet, nun schon den vierten und fünften Abend vergeblich. Sie haben sich die Zeit mit mir vertrieben, mir eingeschenkt, daß ich ins Reden käme. Ich habe getrunken; ich habe geredet. Ich dachte: nun muß er doch kommen. Was habe ich geredet? Was habe ich geredet? Sie haben sich die Bäuche gehalten, sich auf die Schenkel geschlagen, mich an der Perücke gerissen. Heute aber« – er geriet ins Stocken; die Zähne schlugen ihm aneinander; er schüttelte sich – »heute, als es wieder so war, stand mit einem Male der Herr in der Tür, kam auf den Tisch zu, nahm einen Leuchter zur Hand, riß eine Landkarte vom Pfeiler, ging stumm durch den Saal – aber als er mich sah, hielt er an und sprach leise: ›Er Narr.‹ Dann trat er mit der Kerze und der Karte auf den Gang hinaus. Dort stand Clement. Der nahm dem Herrn den Leuchter ab und ging ihm in seine Zimmer nach, wie jeden Abend jetzt. ›Was hat der König gesagt?‹ schrien nun die Offiziere. ›Wir müssen ihn zum Narren taufen!‹«

Ganz ruhig sprach nun der Professor; er löste seine überkreuzten Arme von den Schultern.

»Sie haben mich zum Narren getauft.«

Aber wie er nun den Kopf zur Wand zurücklehnte, war doch noch immer der Abglanz unendlichen Hochmutes spürbar. Nur seine Müdigkeit schien groß, er war so völlig erschöpft, daß er das Aufschrecken der anderen nicht wahrnahm. Von ferne nur hatte er das Poltern im Hausflur gehört. Kamen Betrunkene zurück? Warum hatte Bleuset seine Tür nicht verschlossen? Ihm war es gleich.

Der Wirt und sein Bruder kannten den Schritt; der Lärm von Trunkenbolden war anders; es mußten viele da sein; die Schritte waren überall zugleich, im Flur und im Hof. Entsetzt blickten die Brüder sich an. Erst war es noch, als wollte der junge Bleuset nach dem Messer greifen und zum Sprung ansetzen. Aber alles war nur noch eine leere und verzweifelte Gebärde; Flucht war unmöglich. Die Werber waren da. Die Werber hatten ihn nur in Sicherheit gewiegt, als sie am Abend Hof und Schenke durchsuchten, sich zufrieden gaben und verschwanden.

Als die Werber die Tür zur Schankstube aufrissen – weitauf in den Angeln, denn sie waren eine große Rotte –, sank Polterhansen Bleusets Bruder nur auf einen Schemel. Er legte nur den Kopf auf den Tischrand.

Die schweigenden Werber, die plötzlich Verstummten, waren am furchtbarsten. Einer nahm das Talglicht von der Ofenbank und stellte es dicht vor den jungen Bleuset auf den Tisch. Der Werbesergeant zog ein Schriftstück hervor. Es brauchte nicht unterschrieben zu werden. Es trug bereits den steifen Namenszug des jungen Bleuset. Es trug ihn schon lange, schon seit der trunkensten Nacht; und seit er das Geld für ein Mädchen und seines Mädchens Kinder brauchte, kleine Bleusets mit dem dichten Bärenfell.

»Die Freiheit –«, stöhnte der trunkene Gundling auf der Ofenbank, als hätte er alles begriffen. Aber er dachte an die eigene Not, nur an die eigene.

Nun führten sie Bleusets Bruder hinweg.

Thulmeier, der in dem Winkel hinter der Spreegassenbrücke wohnte, ging heim, schweigend und frei.

Polterhansen Bleuset hockte auf dem Schemel des Bruders, sah zu, wie das Talglicht zerfloß; zählte, wie oft der Docht wohl noch flackerte.

Gundling, den Kopf zurückgeneigt, schlief sitzend auf der Ofenbank, als trüge er noch den zerschlissenen Rock und Federflaum und Unrat im Haar; als hätte ihn der König nie geholt.

Morgen sollte Bleusets junger Bruder den Rock des Königs erhalten; ihm war, als läge ein Sterbekittel bereit.

 

Das Fräulein von Wagnitz, auf dessen Lippen der Name des Königs erloschen schien, begann noch einmal von ihm zu reden. Noch einmal war die Verlassene ihrer Einsamkeit und Müdigkeit entrissen. Der Fremde, dem sie im Goldschmiedsladen begegnete, war noch manchmal über ihren Weg gekommen, und nach seinem ersten Gespräch mit dem berühmten Goldschmied war es bewußt von ihm so gefügt. Eben darum aber, daß er ein Fremder war, der nicht wie alle anderen um ihren Frevel zu wissen brauchte, war die Wagnitz ihm als erstem wieder aufgeschlossener gewesen. Er konnte stundenlang, so kostbar seine Zeit auch war, auf ihre Stimme hören. Die Worte waren ihm gleich; er lauschte nur auf ihre Stimme, die Gebrochenheit, das Hauchende, Verwehende in ihr, die Wärme und die leise Hast, die ihrer Art zu reden eigen waren. Denn Clement, der so viel herumgekommen war an den Höfen und unter den Menschen, schien zu der Überzeugung gelangt, daß es gut sei, Frauen zu lieben, die mit einer großen Liebe abgeschlossen haben; sie waren so wunderbar behutsam; sie fragten nicht, erwarteten nicht, forderten nicht; sie machten sich niemals zur Last. Sie waren nur voll sanften Erstaunens, daß jenseits aller Trümmer und Verwüstungen dem Herzen noch immer ein blühendes Reich zu erstehen vermag.

»Alles geht neu an«, sprach die Wagnitz leise vor sich hin, als sie eines Abends noch durch stille Wege fuhren, und suchte in der Dunkelheit den helleren Schein seiner Hände zu erkennen. Es war zu wenig, sie zu fühlen. Und noch einmal sprach sie: »Alles geht neu an.«

»Schönstes und schrecklichstes Signal des Lebenskampfes«, nahm Clement ihre Worte auf, und es war mehr Verbundenheit darin, als diese bloße Antwort sie verraten konnte. So wissend, so bitter, so schwer war die Sprache der Liebenden.

Es mußte wohl recht heruntergekommen sein, das adlige Fräulein, daß es so dahinfuhr auf den Abend, ohne Ziel; und daß es solche Dinge redete; und den König noch liebte; und Clement zu lieben begann.

So spät im Herbst war der König noch einmal hinaus nach Wusterhausen gefahren. Niemand hatte geglaubt, daß er noch kommen werde. Die Jagdzeit war um, der Jahrestag der Schlacht von Malplaquet vorüber, zu dem er seine alten Offiziere aus dem großen Krieg nach Wusterhausen hatte laden wollen, alljährlich den Soldatentanz aus der Schenke von Malplaquet zu wiederholen. Nun nahm man an, der König wollte noch den Sankt-Hubertus-Tag, das ihm sehr liebe Fest, auf seinem Jagdschloß verleben. Aber der Herr verlangte nicht den grünen Rock. Er band sich seine grüne Schürze um, streifte die Ärmelhüllen über, ließ Hunde und Pferde im Stall und ging an den Schreibtisch. Es galt recht seltsamer Post!

Der König ließ jetzt nämlich alle Briefe öffnen, die Berlin verließen, und auch die abfangen, die in Berlin eintrafen. Gewaltige Säcke voller Briefe hatte er beschlagnahmt; ein großes Lastfahrzeug hatte sie nach Wusterhausen bringen müssen. Dort las sie nun der König; er war ganz in die Briefe vergraben. Noch immer folgten neue Sendungen von Postsäcken nach.

Nicht einmal Clement wurde zu ihm berufen; darüber wunderte sich jeder; denn man sah den Herrn nicht mehr ohne den fremden Baron. Dagegen wurde kein Minister mehr empfangen. Selbst in der Tabagie ließ sich der Herr nicht mehr blicken, obwohl er kürzlich den ganzen Kreis der Tabaksrunde umgestaltet hatte. Die Einladungen an seine Tafel hatten aufgehört. Die ganze Lebensweise war verändert.

Das Ungeheuerlichste jedoch von all diesem Neuen wußte nur Ewersmann; und diesem hatte die Kammerfrau Ramen das Geheimnis entlockt; ohne sie, die sein Schicksal am Hofe bestimmte, vermochte der Schwere, Ernste nicht mehr zu handeln, vor ihr, der Lächelnden und schwebend Leichten, auch nicht zu schweigen.

Nur ihr und sonst noch keinem hatte er gesagt, daß der König jede Nacht jetzt mit zwei Pistolen zu Bette ging. Er tat es auch auf Wusterhausen; und auf einem Schemel vor seinem Bette lag der Degen, der Degen ohne Scheide. Und überall und immer, Tag und Nacht, hatte er auf seiner Brust in einem flachen Lederbeutel die Briefe aus Dresden, Wien und Berlin bei sich, die eine so entsetzliche Gewißheit zu bergen schienen.

Verflogen war dem König der Glaube, er habe die verschleppten, alles verzehrenden Kriege beendet. Wien und Dresden, der deutsche Kaiser und der König von Polen und Kurfürst von Sachsen befanden sich im Rüsten gegen ihn, und die großen katholischen Mächte hatten sogar nach dem protestantischen Hannover und England Fäden gesponnen, um zu erfahren, ob man nicht auch dort gewillt sei, Brandenburg aufzuteilen, ehe es weiter durch ein Heer erstarke, das seiner Größe nicht mehr entsprach, und in der Mitte Europas ihrer aller Politik durchkreuze, so verschiedene Ziele sie auch suchen mochten. Niemals sollte der »König in Preußen« sein neues Heer gegen einen von ihnen zu führen vermögen. Er sollte entführt, sein heimlicher Staatsschatz beschlagnahmt werden. Sein kleiner Sohn war schon zum König auszurufen; eine Regentschaft und Vormundschaft, die sie alle gegen das Haus Brandenburg sicherte, war einzusetzen; die Kuratoren waren bereits ernannt; Anerkennungsverträge mit den fremden Mächten waren schon geschlossen, Belohnungen und Abfindungssummen aus der Hinterlassenschaft des Königs zugesichert! Auch stand fest, daß Preußen verpflichtet sein würde, nur noch eine sehr bestimmte, eine sehr kleine Anzahl von Truppen zu halten; wenig Truppen, schlechte Truppen für ein armes Land, eine kärgliche Ebene zwischen Meer und Gebirge, von beiden getrennt, von Flußläufen durchschnitten, die ebensoviel Einfallstore für die Feinde waren, dabei weder im Besitz ihres Quellgebiets noch ihrer Mündungen. Nach allen vier Himmelsrichtungen lag dieses Unglücksland offen, allen Stürmen ausgesetzt, ein deutsches Polen. Und dieses Preußen nun hatte in die Vorschläge, ja, die Vorschriften der Widersacher gewilligt; die Namen einiger Großer bürgten für die Durchführung der neuen Politik! Preußen hatte sich verpflichtet! Der Herr vermochte es nicht zu fassen: er war nicht mehr Preußen. Jede Stunde konnte es mit ihm zu Ende sein. Es war, als hätte man ihn für vogelfrei erklärt.

Er umgab sich nicht mit einer Wache. Er setzte nicht die Armee ein. Er blieb allein. Einsam trug er die Erbitterung seines Landes und den Haß Europas. So sehr es ihn zum Handeln drängte, glaubte er doch nicht, sein Volk zu früh beunruhigen, den Gang der Staatsgeschäfte vor der Zeit stören zu dürfen. Noch wußte niemand, daß die Briefe sich in seiner Hand befanden. Unerläßlich war allein sein Eingriff in das Postgeheimnis. Aber daraus brauchte noch keiner die richtigen Schlüsse zu ziehen. Absonderliche, strenge und plötzliche Maßnahmen war man von ihm gewohnt.

Freilich durfte er nicht dulden, daß nun noch weitere Korrespondenzen eingeleitet würden. Schleunigst war das Netz zu zerreißen, das von Wien nach Warschau, von Berlin nach Dresden über seinen Thron geworfen worden war. Die Mittelsmänner mußten verschwinden, einer nach dem anderen. Die Gegner mußten unsicher werden. Ach, Mittels-»männer«. – Der König lachte böse auf. Hofdamen der Königin hatten sich in die erste Reihe der Spione und der Diplomaten hinaufgespielt. Die Königin durfte nicht eingeweiht sein. Über sie hinweg wurde Frau von Blasspiel, die Favoritin unter allen ihren Damen, unter nichtigem Vorwand entlassen. Aber der Herr hieß ja zu oft schon ungerecht; noch immer blieb sein Geheimnis gewahrt.

Drei Geheime Räte wurden verhaftet. Derartiges war auch schon früher geschehen – auch dies, daß man plötzlich begann, gegen vermögende Privatleute und hohe Beamte Untersuchungen über die Herkunft ihrer Gelder einzuleiten. Die Generalfiskale, die liebsten Kinder Creutzschen Geistes, die Häscher und Späher, gehaßt und gefürchtet, waren hinter allen Reichen her; sie trieben wieder ihr grausames Wesen als Kontrolleure aller öffentlichen, privaten und geheimen Kassen.

Gespräche inkognito zeigten dem König, wie sehr man sich vor seinen Fiskalen fürchtete; niemals aber duldete der Herr eine falsche Bezichtigung. Erfolgte sie dennoch, so mußten die Fiskale die Prozeßkosten tragen.

Die drei hohen Beamten aber, welche festgenommen worden waren, wurden zu Recht verhaftet: der Herr erlebte die ersten Fälle von Spionage in seinem Lande, und zwar im engsten Umkreis seiner Räte. Für einen Tag hatte der König den Minister Ilgen, der den auswärtigen Affären vorstand, von solchen Vorgängen zwischen dem Ausland und Preußen jedoch erst durch den König erfuhr, allein und heimlich nach Wusterhausen berufen. Der König, so schwer getroffen er auch war, vergaß keinerlei Fürsorge für den greisen, treuen Diener des Brandenburgischen Hauses. Freundlich hatte er dem alten Herrn bestellen lassen, er werde ein gutes Bett und eine warme Stube und alles proper finden. Er behielt ihn eine Nacht bei sich, um ihm die geheim zu haltende Order zu geben, »aus gewissen erheblichen und wichtigen Ursachen ohne die schriftliche Erlaubnis des Königs geheime Affären niemand mitzuteilen, an keinen Menschen in der Welt, er mag Namen haben wie er will«.

Er hatte ihm diese Weisung nicht brieflich geschickt; war es darum geschehen, daß er in diesen schweren Tagen das Antlitz eines Treuen sehen wollte? Vor Ilgen machte all sein banger Argwohn halt.

Aber nun ging es um Grumbkow. Das konnte das Fanal sein. Das konnte wohl den offenen Ausbruch der inneren Rebellion und der äußeren Krise heraufbeschwören. Die Schreiben von Grumbkows Hand lagen gesondert. Ein einzelner Brief war ganz beiseite geschoben. Der hatte nichts mit alledem zu tun. Der betraf die Gelder seiner Ostgebiete.

In dem Augenblick, in dem ein so schwerer Kampf unausweichbar erschien, war König Friedrich Wilhelm wiederum ein armer Mann geworden. Alles verfügbare Geld war ins Ostland geworfen; und auch die großen Summen reichten nicht aus; und er vermochte jetzt nicht, neue Mittel zu schaffen. Alles war in Stockung geraten. Der König von Preußen war ein Spion geworden und hatte zu gar nichts anderem mehr Zeit; nur zu ein paar Zeilen an den Freund in Dessau reichte ihm der Tag noch aus; an Ilgen, und an diesem Freund allein war nicht zu zweifeln. Umhäuft von Schriftstücken, die Schicksal bedeuteten, schrieb ihm der König diese wenigen Worte: »Ich muß Euer Liebden sagen, daß jetzt meine Affären in der größten Krise sind und in der Welt alles sehr konfus aussieht, ich weiß sehr viel, aber ich kann es der Feder nicht anvertrauen. Wenn ich das Glück haben werde, Euer Liebden zu sprechen, da werde ich Ihnen Sachen sagen, daß Sie sich sehr verwundern und sagen werden: es ist Italienisch. Werde nit hinter die Wahrheit kommen. Die gantze Sache mit Clement ist so curieus wie man sein Dage was gehört hat.«

Diesen Brief gab er dann Clement zur Weiterbestellung nach Berlin mit. Nun war Clement doch noch hinauf aufs Jagdschloß gekommen; und König Friedrich Wilhelm atmete auf. Der einzige kam, der einzige außer dem in Dessau; denn Ilgen war ein Greis, auf den der König seine Zukunft nicht mehr bauen durfte. Der Fremde fand sich bei ihm ein, der so unendlich viel für ihn tat, nur darum, weil er nicht zum anderen Glauben meinte übertreten zu können, ehe er nicht sein Gewissen von unheilvoller politischer Mitwisserschaft befreite!

Der Fremde, der um die Geheimnisse des Erdteils und die Verborgenheiten des menschlichen Herzens ein seltsam tiefes und schweres Wissen zu tragen schien, mußte, ehe die Nacht anbrach, dem König – Träume deuten; denn Herr Friedrich Wilhelm hatte begonnen, sich vor seinen Träumen zu bangen.

Den ganzen Tag hindurch war er von seinem letzten Traum begleitet worden; er hatte sich in einem schön geschmückten Saale befunden; in dessen Mitte stand ein Tisch, und auf dem Tische standen drei Becher. Zwei von ihnen waren ganz, der eine halb mit Wasser gefüllt. Allmählich verdunkelte sich der Saal und gewann einen so düsteren Anblick, daß der König, von Angst befallen, sich schnell entfernte; fast fliehend im Traum, erwachte er.

Clement lehnte die Deutung ab. Der König drängte ihn sehr; er gab ihm die Versicherung, daß er für sich und niemand etwas zu befürchten habe, wenn die Erklärung des Traumes nichts Gutes ergebe. Gutes erwarte er kaum noch.

Da legte der Traumdeuter dem König seinen Traum von den drei Bechern aus. Der schön geschmückte, sich mehr und mehr verfinsternde Saal sei König Friedrichs Reich, das der Herr übernahm, von goldenem Zierat strahlend, und in dem er allen Prunk auslöschen ließ, bis er es endlich dumpf und düster machte. Die wassergefüllten Becher seien die Tränen der bedrückten Untertanen – bald sei das Maß der drei Gefäße voll! –, und die Flucht des Königs aus dem Saal verkünde, daß er seinen Thron verlieren werde.

 

In diesen Tagen, in denen sich aller hohen Militärs und Beamten, ja, sogar der Bauern, die mit ihren Marktwagen abends plötzlich in Berlin zurückgehalten wurden, eine maßlose Unruhe bemächtigte, war allein Herr von Creutz die Sicherheit und Kühle in Person. Er hörte von Vernehmungen, Verhaftungen, Entlassungen; aber in Ruhe richtete er sein neues Palais ein, einen mächtigen Bau im vornehmsten Viertel an der Klosterstraße; denn ein Palais war ihm nun angemessen; er war der Präsident der Generalrechenkammer geworden.

Und gerade in diesen Tagen, in denen er allenthalben schlimme Veränderungen wahrnahm und schwere Erschütterungen spürte, erschien es ihm wunderbar; es ging mit seinen Rechnungen nicht auf. Jeder hatte doch jetzt angezweifelt zu werden! Und keiner war sich im unklaren, daß all die unerfindlichen Verdächtigungen nur von seiten des neuen Günstlings kommen konnten. Ließ man nun ihn selbst, so fragte sich der Präsident von Creutz, in ungestörter Ruhe weiter wirken, nur damit er ohne Unterbrechung Geld, Geld und abermals Geld für das Unglücksland schaffe? War das Fräulein von Wagnitz, die einstige Verbündete, freundlich oder feindlich mit im Spiel? Jedenfalls war nicht mehr unbeachtet und unerörtert geblieben, daß man sie an der Seite jenes Fremden sah! Oder – was nicht ohne Schwierigkeiten für die Zukunft war – hielt Clement den Einfluß des Präsidenten der Generalrechenkammer auf den Herrn für so gering, daß er ihn unbehelligt lassen zu dürfen glaubte? In diesem Falle sollte Clement sich verrechnet haben. Noch lag Creutz der Aufpasser von einst im Blute. Er war inzwischen zum großen Plusmacher und Fiskal gestempelt, und aus dem Spottnamen und Schimpfwort war ein mächtiger Titel geworden; aber er hatte indessen doch auch heimlich und eifrig das Amt des Spähers weiter ausgeübt, ohne Lohn, doch nicht ohne Hoffnung. Er hatte den Fehlern in dem neuen Staatsgefüge nachgespürt.

Denn der Tag des Königs hatte nur die vierundzwanzig Stunden. In denen mußte er Kriege beenden, Konfliktsstoff aus dem Wege räumen, Schulden bezahlen, Ströme neuen Geldes in sein Land zu leiten suchen, die Armee errichten, die ihm seine Arbeit schützte, und wie man neuerdings nun wußte, auch noch aberhundert Briefe lesen. –

Bis er nicht alles überblickte, riet Creutz – durch geheime Boten, nicht durch Briefe – seinen Auftraggebern im Ausland, für die er im neuen Preußen bisher so erfolgreich spekulierte, jegliche finanzielle Operation innerhalb der Unternehmen Seiner Majestät zu unterlassen. Er mußte sich die Freunde im Ausland erhalten. Da war zum Beispiel jener Vernezobre, der in Frankreich, vielleicht als einziger, an den Lawschen Aktien gar so viel gewann, daß er mit seinem Geld im Ausland eine »Puissance« zu werden gedachte. Eines Tages konnte sich wohl als nötig erweisen, daß ein Creutz die preußischen Dienste und Grenzen verließ. Creutz setzte nicht mehr unbedingt auf den König von Preußen. Er traute dem jungen Staate nicht mehr. Schließlich: der König war der erste Preuße. Er brauchte nur einen Rechenfehler zu machen, nur einen falschen Schritt zu tun, und Preußen war nicht. Leider ließ sich über Preußens Zukunft gar nichts Vernünftiges mehr erwägen, resignierte Creutz, ehe man nicht Clements Vergangenheit kannte. Es ließ sich kein Projekt mehr entwerfen, ohne Clement einzubeziehen.

Einen Menschen aber erfüllte es mit Seligkeit: die einstige Hofdame von Wagnitz. So unermeßlich also sollte der Geliebte steigen! Er würde bleiben, weiter jeden Tag den König und zu ihr vom König sprechen! Dies war nun ihr Glück. So groß ist ein Herz.

 

Über die junge Tochter des Charlottenburger Kastellans war am Tage des Gerichtes über den Schlosser und den Kastellan eine große Traurigkeit gekommen, daß sie ein Urteil über Menschen heraufbeschworen hatte – eine Trauer, die so quälend war, daß ihr Vater sich aufmachte zum König. Die geringen Leute wurden ja noch vorgelassen, wie auch zuletzt in seiner Tabaksrunde nur noch einfache Bürger Zugang gefunden hatten, bis er auch unter ihnen nicht mehr erschien. Der König aber wußte, daß die Trauer des Mädchens nicht minder den Gerüchten galt, die um ihn selbst und die junge Charlottenburgerin im Schwange waren. Da sprach er noch einmal mit der Sanften.

»Ich werde dir den Eheliebsten suchen, einen, der gut zu dir ist, der dich nicht mit Fragen martert – wo alles so klar ist.«

Das Gesicht des Mädchens ruhte auf der starken, schönen Hand des Herrn. Der ließ ihr diesen Trost und Frieden; so fern war er schon den Träumen des Blutes.

Hatte sich das Mädchen je gequält, daß es um des Königs willen dazu beitrug, zwei Ungerechte an den Henker auszuliefern: nun war wieder Friede in ihm wie vordem.

Es ahnte, daß das Ungerechte vor dem Rechte des Königs fallen mußte wie eine faule Frucht und zerstieben gleich der Spreu im Winde, wie unter dem Befehl der Schrift: »Man tue den Schaum vom Silber, so wird ein reines Gefäß daraus. Man tue den Gottlosen hinweg von dem König, so wird sein Thron mit Gerechtigkeit befestigt.«

Es erkannte – und wuchs damit über alles, dem es zugehörte, empor –, daß auch die größte Liebe nie ein Recht erlangt auf einen König. Die Sanfte wurde ganz zur Untertanin ihres Landesvaters – in den wenigen Augenblicken, in denen ihr der König seine schlanke, starke Hand gewährte.

Der König dachte: man sollte nicht so viel Aufhebens machen um die Geburt von Söhnen, bis auf die des einen – Töchter haben ist nicht minder gut. –

So fern war er schon den Träumen des Blutes, angesichts dieser Tochter. Ob er ihr seine Hand entzog oder ob sie das von allen Tränen stillgewordene Gesicht selbst von seiner Rechten aufhob, hat weder er noch sie gewußt.

Als sie ihm dann doch noch nacheilte, geschah es, weil sie sich auf eine größere Not denn die eigene besann.

So erfuhr der König, daß ein Kind des Zaren in Berlin geboren werden sollte und daß die Geliebte des Zaren zwei Fürsprecherinnen von sehr ungleichem Stande besaß, die er beide recht gut kannte: ihre einstige Zofe, die hier vor ihm stand, und das Fräulein von Wagnitz, das ein vielgenannter Gast im väterlichen Gasthof gewesen war.

 

Den Abend, an dem Professor Gundling vor seiner Qual und Schande unter Reitknechten, Jägern und Mohren floh, verbrachte Clement über seinen Schriften. Er war sehr nachdenklich von der Abendmahlzeit aufgestanden, bei der er von dem geistlichen Herrn selbst die ihn seltsam erregende Nachricht erfuhr. Droben in seinem Giebelzimmer verwendete er ungleich mehr Zeit als gewöhnlich darauf, die vielen kleinen Flakons mit den verschiedenen Tinten auf seinem Sehreibtisch aufzubauen und all die Federn zuzuspitzen, Petschafte auszuwählen und die Siegellackfarben zu vergleichen.

Der Schreibtisch stand an einem der Pfeiler, welche die Bettnische vom Zimmer abtrennten. Clement hatte ihn dorthin gestellt. Er liebte es, rasch von der Arbeit aufzustehen und sich für einige Augenblicke auf sein Bett zu werfen. Heute blieb er lange so liegen. Die Vorbereitungen zum Schreiben schienen überflüssig. Er lag und sann. Er vernahm in der tiefen Stille, wie die Mägde Geschirr und Reste des Abendbrotes über den Hausflur zu der Küche trugen. Dann wurde noch einmal die Schelle am Haustor gezogen und, wie es schien, der Geistliche verlangt, vielleicht zu einer Nottaufe oder zum Abendmahl für einen Sterbenden. Nun war auch Roloffs Stimme ganz deutlich zu hören. Er brach in Eile auf. Die Tür schlug zu; noch einmal drang das Flüstern der Mägde herauf; dann lag die tiefe Stille wieder über dem ganzen Pastorat. Aber Clements Gedanken wollten nicht mehr ruhig werden; er fand die Sammlung nicht für seine wichtigen Briefe; es erfüllte ihn nahezu mit Unruhe, daß er den Pfarrherrn nicht mehr drunten wußte und daß es unmöglich war, ihn jetzt noch zu sprechen. Er schloß sein Zimmer ab und ging noch einmal hinunter; er suchte den Diener oder die Magd. Die wußten Bescheid. Hochehrwürden waren zu einer Sterbenden gerufen. Sie hatten den Pfarrherrn in den Kochschen Gasthof am Potsdamer Torhaus geholt; der gehörte noch in sein Kirchspiel.

Als Clement wieder in die Giebelstube trat, steckte er sogleich mehr Kerzen an, als er sonst zur Arbeit brauchte. Ihn verlangte nach größerer Helligkeit; er war sehr abgelenkt, doch zwang er sich wieder zum Schreiben; er malte sorgsam Initialen, verglich verschiedene Briefe, zerriß das mühevoll Entworfene.

Die Fetzen des zerrissenen Papieres wollte er sogleich verbrennen. Das Feuer war schon matt. Er legte noch ein Holzscheit und noch eines in die Glut. Das gab noch einmal gute, hohe Flammen. Fast hätte es behaglich scheinen können; denn es war der erste kalte Abend, und auf den schmalen Leisten vor den Fenstern häufte sich der lockere Schnee. Die weißen, duftigen Streifen leuchteten im Dunkel.

Clement malte, schrieb, verglich und prüfte, zerknüllte und verbrannte Briefe. Aber er war mit den Gedanken nicht bei seinen wichtigen Geschäften.

Der greise Wirt Koch hatte heimlich noch den Eidam und künftigen Wirt seines Gasthofes zu bestellen gesucht. Seitdem spielte er den friedlich Schlafenden, den Tauben, den Blinden, den Lahmen, den Stummen. Selbst seine feine Zunge verleugnete der Alte. Terrinen und Assietten wurden nicht mehr an seinen Lehnstuhl getragen. Nein, nein, er könne nicht mehr kosten, wehrte der Alte ab; auch so kann ein Leben erlöschen, auch so. Nun glaubten es ihm alle, daß er sterben werde, ehrenvoll in seinem reichen Gasthof, ohne von der Schande der Tochter zu wissen.

Die lag allein. Niemand war da als die Wagnitz. Sie öffnete Roloff die Tür, führte ihn ans Krankenlager, hielt ihm die Kerze und schlug den Vorhang vor dem Bette zurück. Sie hatte alles Personal des Kochschen Gasthofs aus der Kammer der Wirtstochter entfernt. Das junge Mädchen lag regungslos; die Hände waren blaß und fast bläulich wie im Krampf. Auf Fragen gab die Kranke keine Antwort.

Was das Fräulein, das selbst noch sehr im ungewissen tastete über das, was hier sich ereignete, dem Pastor erklärte, war alles recht seltsam. Die Demoiselle sollte in einer Gasse, in die sie für gewöhnlich niemals kam, einen Unfall gehabt haben. Man hatte sie in einem armen Hause rasch fürs erste aufgebettet und erst sehr viel später nach Männern, die sie holen sollten, in den väterlichen Gasthof geschickt. Zwei sonderbare Schwestern waren es, die ihr die erste Hilfe hatten angedeihen lassen und ihr den Liebesdienst, sie aufzunehmen, erwiesen: die sogenannte Dicke Schneider, die in Männerkleidung Huren fürs Spandauer Spinnhaus abfing, und ihre jüngere Schwester, die Kadettenwäscherin, die einen guten Griff fürs Ungeziefer hatte und Haare zu schneiden verstand, vordem aber in der Gasse, welcher auch ein Creutz und eine Ramen entstammten, die Engelmacherin hieß.

Es war nicht leicht für das adlige Fräulein, solches Gespräch mit dem Pastor zu führen. Verwandte waren nicht da. Der Vater der Kranken war zu hinfällig und alt, sich um solches Leid noch selbst zu kümmern. Die reiche, junge Demoiselle Koch besaß recht eigentlich niemand, der ihr beizustehen vermochte. In der äußersten Not, die über sie hereingebrochen war, hielt sie sogar die einstige Zofe, die Charlottenburger Freundin, von sich fern und sah nur noch die eine Möglichkeit, eingedenk der alten Bekanntschaft – denn sie hatten in den bittersten Zeiten des Fräuleins von Wagnitz einst Kammer an Kammer hoch über den noblen Gästezimmern gewohnt – das adlige Fräulein rufen zu lassen, das von Menschenschuld und Frauenschmerz gewiß viel wußte. Das Fräulein hatte zum Arzt und dann zum Pastor geschickt. Der Doktor hatte, wie jeder und wie stets, zur Ader gelassen und den Grund des schlimmen Zustandes nicht gefunden, ihm auch nicht gar so rege nachgespürt, um in den nächsten Tagen noch manchmal bei der reichen, jungen Demoiselle Koch Nachschau halten zu können. Dennoch ahnte das Fräulein viel mehr, als es dem Prediger Roloff vorerst anvertrauen durfte.

Es rief zwei alte Mägde aus der Wirtshausküche als Wächterinnen zu der Kranken und bestand darauf, den Pastor zu begleiten. Es mußte unbedingt noch diesen Abend seinen Gast und Schüler Clement sprechen; denn der sollte morgen für die Kranke etwas Wichtiges beim König selbst erledigen, etwas, wovon ihr ganzes Wohl und Wehe, ja vielleicht ihr Leben abhing.

Der Geistliche hatte nach dem Ungewöhnlichen des Verlangens und der Umstände nicht zu fragen, und auch in seinen Gedanken vermied er, nachzugrübeln, Vermutungen aufkommen zu lassen oder Verknüpfungen zu versuchen, wiewohl auch ihm der Name des Fräuleins von Wagnitz nicht fremd geblieben war. Sein Gast vermochte etwas für ein todkrankes Mädchen aus dem Kirchspiel von Sankt Peter beim König selber auszurichten – das war eine glückliche Schickung, die nicht versäumt werden durfte.

Nur, daß er seinen Ornat ablegte; dann führte Roloff selbst die junge Dame hinauf zu seinem Gaste. Durch den Türspalt drang noch heller Lichtschein. Sie redeten einen Augenblick durch die geschlossene Tür miteinander. Clement ersuchte, einzutreten. Er stand am Schreibtisch, um noch rasch seine Briefschaften und den sonderbaren Aufbau seiner Materialien an Federkielen aller Stärken, Tintenflaschen aller Färbungen, Petschaften und Siegeln aller Formen und Größen beiseite zu schließen. Er sah nur flüchtig auf, so sehr war er damit befaßt, und bat, die Tür sogleich zu schließen. Aber der Pfarrherr, den Leuchter in der Rechten, ließ sie noch zur Treppengalerie geöffnet; denn draußen stand das Fräulein im Dunkeln. Ein heftiger Luftzug drohte das Licht auszulöschen, und er hielt die freie Hand gewölbt vor die Kerze.

»Die Tür zu – oder das Fenster – ah, so schließen Sie doch«, rief Clement sehr erregt und beinahe ungezogen. Mit beiden Händen stützte er sich auf den Schreibtisch, damit ihm all die losen Blätter, die er noch nicht weggeschlossen hatte, nicht davongewirbelt würden. Aber einige Blätter flogen doch weit weg, bis auf die Diele an der Galerie hinaus. Das Fräulein war flink und gefällig, sprang hierhin und dorthin, den weißen Flecken auf dem dunklen Boden nach.

Aber sonderbar: der völlig außer Atem schien, war Clement. Nun hatte er alles, was erreichbar war, in seine Schreibtischlade gestopft, nun wollte er dem Fräulein seine aufgelesenen Blätter abnehmen; die Wagnitz warf noch einen Blick auf die Bogen, ob auch nichts zerknittert sei, verwischt oder befleckt.

»Ich hatte alte Korrespondenzen verbrannt und auf den Abend noch ein Feuer angezündet – es war viel Rauch« – Clement wies auf das offene Fenster; er wollte sich damit wegen des unruhigen Empfanges und wegen der Mühe, die er verursacht hatte, entschuldigen.

»Es ist sehr viel verwischt«, sagte das Fräulein bedauernd. Und Clement, noch immer sehr befremdet, es hier zu sehen, bemerkte beinahe etwas ungeduldig: »Oh, bitte, grämen Sie sich nicht. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

Hastig griff er nach dem Briefe, den die Wagnitz noch in der Hand hielt. Sie gab ihm langsam dieses letzte Blatt, auf das vor allen anderen ihr Blick hatte fallen müssen. Über und über war es mit dem gleichen Namenszug bedeckt, einer Schreibübung gleich. Der Namenszug war: Friedrich Wilhelm.

Bleich stand die Wagnitz vor Clement am Schreibtisch. Sie sah ihn unverwandt an, und Roloff, das Eigentümliche der Begegnung spürend, zog sich zurück.

»Wie soll ich jetzt mit dir von dem sprechen, was mich hertreibt«, sprach das Fräulein weniger hart als verzweifelt; und als es dann noch hauchte: »Darauf also beruht deine Macht –« war nur Angst in den Worten und kein Hohn.

Clement war verstummt. Nur einmal brach es noch aus ihm hervor, und fraglos war es wie in großem Schmerz: »Diese Briefe waren die letzten; für immer; sie sollten alles ungeschehen machen, die Brücken bauen, auf denen ich noch einmal zurück konnte, weg von allem – und mit dir.«

Das Fräulein stand und horchte regungslos; daran hatte es noch nicht gedacht; noch immer war es ihm zu wunderbar, daß es noch einmal lieben sollte.

»Wir haben dem König nichts Gutes gebracht«, sagte das Fräulein von Wagnitz, und wieder war der schwarze Ring in der Iris seiner perlengrauen Augen. Aus den Worten klang Verbundenheit mit Clement. Der nahm es wohl wahr.

»Die Kranke –.« Das Fräulein schreckte auf und legte flehentlich die Hand auf Clements Arm: »Du mußt noch morgen zum König.«

»Ich will den König nicht mehr wiedersehen. Ich kann es auch nicht.« Tiefe Falten traten jetzt auf Clements Stirn; er war sehr blaß, und was er sagte, klang tonlos.

»Wir machen alle die gleiche Erfahrung« – es war, als spräche das Fräulein ihm Trost zu – »er ist zu groß für Abenteurer und für Kurtisanen, für alles, was die Höfe umlagert –«

Und wirklich, so hart diese Worte auch waren, klang dennoch eine große Milde aus ihnen. Auch fügte die Freundin noch hinzu: »War ich denn besser als du?« Und solche Rede war wärmer, inniger, verzehrender als jedes Wort der Liebe zuvor.

Clement nahm ihren Kopf in beide Hände. Die Schatten über den geschlossenen Augen der Geliebten waren tief. Aber sie sprach gesammelt wie in großer, innerer Ruhe.

»Diese Briefe mußt du noch zu Ende schreiben. Danach verlassen wir Berlin.«

Clement löste die Hände von ihrem Gesicht. Er trat zum Schreibtisch zurück und suchte der Geliebten zwei kleine Bilder hervor: Miniaturen des Herzogs von Orleans und des Königs von Dänemark. Er selber trug, in erschreckender Verschmelzung, die Züge beider Fürsten im eigenen Antlitz.

»Dieses ist meine einzige Rechtfertigung«, sprach er und zog nun noch einen Brief aus seinem Rock. »Dieser Brief ist echt.«

Und so war alles eingestanden, was die anderen Schreiben betraf. Der Brief war ein eigenhändiges Schreiben des Königs; er bot ihm einen hohen Posten an.

Das Fräulein legte Brief und Bilder nieder.

»Es bleibt bei deinem Entschlusse. Wir werden gehen.« Mehr sagte es nicht mehr; nur daß es sich doch ihrer beider Worte entsann: »Alles geht neu an – schönstes und schrecklichstes Signal des Lebenskampfes –.« Es fragte nicht, woher die Mittel kommen sollten, in fremdem Lande zu leben. Es wollte nur mit Clement fort vom König; um ihrer beider willen, des Königs und des Abenteurers wegen, war es auch zum Untergang entschlossen.

Schwer war, was vor der Baronesse lag. Sie hatte Clement zu schützen und mußte in einem auch den König vor Erschütterungen bewahren; denn noch niemals hatte er einem Menschen so wie Clement vertraut. Jedes ihrer Gefühle, jede ihrer Handlungen hatte ein zweifaches Ziel, und dabei blieb die bittere Frage offen, wie der König es aufnehmen würde, wenn er von den Beziehungen seines Günstlings zu ihr, der von ihm selbst Verstoßenen, erfuhr! Das Fräulein war so sehr bereit, alles zu tun, was es vermochte. Es konnte nur das eine nicht über sich bringen: das Wunder einer zweiten Liebe zu ersticken, zu verleugnen. Es war ohne Liebe undenkbar, das adlige Fräulein; es konnte nur lieben oder nicht mehr sein. Und deshalb war vielleicht in seinen grauen Augen, in seiner verhaltenen Sprache, in der Erregtheit seiner schmalen, festen Hände und selbst im Glanze des schwarzen Haares etwas, das vom Glücke reicher bedachte Frauen, Präsidenten- und Ministersgattinnen, wie eine Frau von Grumbkow oder Frau von Creutz, das arme Fräulein heimlich doch beneiden ließ.

Clement brachte die Geliebte zurück in den Gasthof zur Kranken, und die Straßen, die sie durchschritten, wurden ihnen zum Wege in die Kindheit des geheimnisvollen Mannes. Das Fräulein horchte und sann, und Clement wußte nicht, was die Geliebte dachte. Aber ihr Gesicht, wenn er im Lichtschein einer Laterne einen Blick auf sie warf, war ohne Härte und Entsetzen. So leugnete er nicht; so verschwieg er nicht; so sagte er das Wahre: daß er nicht wußte, wer er sei, und daß seine Erinnerungen nicht weiter zu dringen vermochten als zu den Leiden seiner Knabenjahre, in denen er, ohne gefragt und gehört oder auch nur vorbereitet zu werden, von einem fremden Hause ins andere gebracht worden war, in armselige Waisenhäuser, in vornehme Knabenkonvikte und endlich in die Klosterschule. Manchmal erschienen fremde Männer, die in ihren langen, dunklen Reisemänteln sehr unheimlich auf ihn wirkten, und prüften sorgsam all die Briefschaften und zwei Miniaturen, die Clements Begleiter ihnen übergaben; auch leuchteten sie dem Knaben mit hocherhobenen Kerzen ins Gesicht. »Nein«, sagten sie dann, »er kann es nicht sein.« Und Clements Begleiter ereiferten sich sehr, er wäre es dennoch.

Im Kloster hatte Clement alte, zerrissene Schriften, die sehr kostbar und gefährdet waren, getreu in jeder Letter nachzumalen gelernt und es zu solcher Vollendung gebracht, daß man ihn all den anderen Klosterschülern fernhielt und Farben, Goldtinktur, Sepiasaft und bunte Tinten eigens für ihn destillierte; einer der niederen Brüder saß auf einem Schemel neben Clements Schreibpult und spitzte ihm die hundert Federn an.

Der Prinz Ragozy, der mit ihm im Kloster war, hat sich den Schreibkünstler später in seine Dienste geholt. Er hat seinem Sekretär die Bilder des Herzogs von Orleans und des Königs von Dänemark gezeigt; und Clement fand ihrer beider Züge in erregender Ähnlichkeit in sich vereint.

Von nun an lag ein schillerndes Licht auf all den Rätseln seiner Kinderjahre, und Clement glaubte, ein Prinz aus großem Hause zu sein. Und weil niemand wußte, welchem Lande er entstammte, und weil im jenen Jahren nahezu jegliche Thronfolge Europas umstritten war, hielt er die Augen offen in all jenen Ländern, in die ihn die verwegenen Reisepläne und die geheimen Missionen seines munteren, jungen Brotherrn führten; nur, daß dessen Munterkeit allmählich eine nicht geringe Gefährlichkeit verbergen zu sollen schien. Clement wachte darüber, was die Prinzen dieser Erde täten und von welcher Art sie wären; und meist fand er, die Fürstensöhne wären schlecht und handelten übel.

Sein junger Herr aber flehte damals den einstigen Klostergefährten Clementius an, ein einziges Mal noch seine alte Kunst zu üben und eine fremde, wenn auch diesmal keine alte Handschrift abzumalen und ihn aus furchtbarer Bedrängnis zu erretten. Und das hübsche, junge Gesicht war von einer Angst entstellt, die es sehr verfallen ließ.

Als er davon berichtete, sah aber nun die Geliebte, daß auch Clements Züge verfielen, und erkannte, indes er weitersprach, aus der Veränderung seines Antlitzes noch mehr: daß Clement, durch alle seine Gaben und Geschicke immer wieder in die Nähe der Throne getrieben, stets von neuem von unwürdigen Trägern der Krone enttäuscht, entwürdigt, mißbraucht, ausgenützt und verraten worden war. Sein Haß besaß einen guten Grund und sein Wille ein mögliches Ziel: die Verwirrung eines zum Untergang reifen Europa; und durch die Wirrnis sollte endlich der eigene Aufstieg zur Macht gelingen, einer Macht, die er kraft seiner Klugheit und seines Ernstes und dank seiner natürlichen Gewalt über Menschen niemals übel angewendet haben würde.

Er hatte die alte Kunst, in fremden Handschriften zu schreiben, allmählich für sich selbst geübt, um nicht mehr ein Spion sein zu müssen, sondern als ein Fürst handeln zu dürfen. Er schrieb als Wahrheit, was er nur ahnte; denn er hatte die Großen zu belauschen und zu betrachten gelernt; er ergänzte, was er vermutete, er verknüpfte, was nur Bruchstück war; er zeigte die Kräfte entfesselt, die man nur im geheimen und für keinen faßbar walten wußte; er strebte nach dem Lande in der Mitte Europas, in dem, nach allen Erkundigungen und Gerüchten, die heilloseste Wirrnis aufgebrochen sein sollte: nach Preußen. Er traf mit selbstgeschriebenen Briefen ein, die in Berlin zum raschen Abschluß bringen sollten, was er langsam in Warschau, Buda, Pest und Wien, im Haag, in Dresden, Madrid und Paris vorbereitet hatte. Er gedachte, sein Meisterstück zu vollbringen, indem er die Spannung zwischen den Höfen Europas mit der dumpfen, inneren Gärung in dem jüngsten Königreich verkuppelte – der Gärung gegen den ungestümen Herrn, die nicht nur den aufsässigen Adel, sondern auch die Amtsstuben der trägen und betrügerischen Beamten und die Schenken der Armut und des Lasters erfüllte. Er hatte sich, ein einzelner Mann, auf Preußen gestürzt wie ein mächtiges Heer: und traf den einzigen König seiner Zeit, als wäre er nun, nur anders, ganz anders, zu dem Ziele gelangt, nach dem allein er suchte. Von diesem einzigen König aber kam er nicht mehr los; und aus den Verwirrungen, die er um ihn angestiftet hatte, vermochte er sich nicht mehr zu lösen. Er konnte nicht mehr für sich selber kämpfen. Er durfte aber unter den Augen dieses Königs auch nicht das hohe Amt bekleiden, das Preußens Herrscher ihm angetragen hatte. Um den König allein war es ihm noch zu tun.

»Was soll werden – was?« rief das Fräulein leise in die Nacht und sprach die Worte nach: »Um den König allein ist es zu tun.«

So dachten die Liebenden, die Kurtisane und der Abenteurer, ohne es auszusprechen, das gleiche: daß den verletzten Rechten eines Königs nicht genügt werden konnte durch die Flucht des Schuldigen.

Alle echte Buße sucht die Sühne; und diese beiden waren Büßer geworden. Sie fügten sich der Erkenntnis, daß sie sich trennen mußten – in einem Augenblick, in dem sie auf der Welt nichts als einander hatten. Vom Auslande her mußte Clement die Verstrickungen zu lösen suchen, in die er Preußen gebracht hatte; er mußte schleunigst reisen; doch er floh nicht. Die Geliebte durfte ihn nicht begleiten. Sie hatte in Berlin über vieles für ihn zu wachen. Und nach ihr verlangte die unglückliche, reiche Demoiselle Koch; wo anders als bei dem armen, adligen Fräulein und der einstigen Zofe in Charlottenburg war sonst noch eine Hilfe für sie auf der Welt!

 

Noch übten Clements Briefe ihre alte Macht.

Alles war von Anfang an durch sie gewirkt.

Der Brief von Roloffs großem Lehrer, dem verstorbenen, der Brief, der Clement an den Lieblingsprediger des Königs von Preußen empfahl, war gefälscht, und unter allen listigen Mitteln stand er an vorderster Stelle. Gefälscht waren auch die Schreiben von noch ungleich größerem Gewicht. Die Zeilen Augusts des Starken von Sachsen und Polen, er könne Brandenburgs Aufkommen nicht dulden, waren die Malereien eines Betrügers und wirkten dennoch mit der vollen Kraft der Wahrheit und der Wirklichkeit. Nicht anders war es mit den Briefen des Prinzen Eugen von Savoyen am kaiserlichen Hofe zu Wien.

Die gefährlichste Wirkung all der Clementbriefe aber lag darin, daß sie derart abgefaßt waren, daß sie Erkundigungen und Bestätigungen, ja, jede Antwort als gefährlich scheinen ließen. Was diese Technik anging, so verdienten sie die Berühmtheit, die sie nur zu bald erlangen sollten.

Die Vermutung, daß der König von Preußen in den Besitz wichtiger Geheimkorrespondenzen gelangt sein müsse und daß verschiedene Entlassungen nur im Zusammenhang damit erfolgt sein konnten, hatte die Panik ausgelöst, die ganz Berlin verwirrte und nun auch schon auf andere Höfe übergriff. Denn in der Tat gab es geheime Korrespondenzen, von denen König Friedrich Wilhelm nicht erfahren durfte; es waren wirklich solche Briefe vorhanden, und die allgemeine Unruhe hatte ihren Grund. Daß sie mit Clements Ankunft ausgebrochen war, daran vermochte niemand mehr zu zweifeln. Der junge Herr war viel gereist, von Hof zu Hof durch ganz Europa. Er kannte alle Welt, also vielleicht auch jenen hohen Herrn, mit dem man selbst im Reich und Ausland Briefe wechselte. Es hieß von neuem wieder einmal »piano zu gehen«. In keinem Falle durfte man den Anschein erwecken, als wäre man von Clements Weitblick und Scharfsinn nicht entzückt. Es gab ja gar keinen sichereren Beweis für das eigene gute Gewissen, als daß man Clement über alle Maßen bewunderte und mit ihm sich zu zeigen begehrte. Was er bereits enthüllte und wen er schon bloßgestellt hatte, blieb den Geängstigten noch Geheimnis. Es war bedrückend, wie unzugänglich jener fesselnde junge Fremde sich zeigte.

Die kleinen Leute, die den Hof umgaben, erschöpften ihre Klugheit darin, dem neuen Königsgünstling zu schmeicheln und sich seiner Bekanntschaft zu rühmen. Creutz und Grumbkow waren dazu schon zu groß und zu klug. Gefahr, die sie gemeinsam bedrohte, führte die Gegner zusammen: Creutz, der aus der Gasse kam und Herr der königlichen Kassen werden wollte, und Grumbkow, dem der höchste Rang bei Hofe und im Staate – von Ahn und Vater her – seine Erde und sein Himmel waren, ohne die er nicht bestehen konnte.

Noch fehlte einer, und dann waren sie Partei und Macht, die drei einst gegnerische Kräfte verband, noch fehlte Leopold von Anhalt-Dessau. Ihm wurde von den beiden Rivalen, die seine Bundesgenossen zu werden begehrten, bedeutet, daß es gut sei, wenn er sich von Zeit zu Zeit selbst überzeuge, was neuerdings bei Hofe vorging. Es handle sich, so ließ man ihm übermitteln, hier nicht um engstirnige Intrigen und höfische Kabalen; es rühre an die große Politik Europas.

Niemand war klarer im Bilde als der Feldmarschall. Er war ja der einzige, der in diesen Wochen der Wandlung Briefe vom König erhielt; und einer dieser Briefe gab ihm den Auftrag, seine fähigsten Offiziere unter dem Vorwand der Werbung nach Österreich, Sachsen und Polen zu schicken, damit sie Erkundigungen einzögen über Zahl und Zustand der kaiserlichen und der königlich-polnischen, kurfürstlich-sächsischen Truppen.

Grumbkow und Creutz indessen waren weiter genötigt, mit aller Vorsicht mit dem Fremden zu paktieren, auf dessen seltsame Ähnlichkeit mit zwei fürstlichen Herren jetzt immer häufiger hingewiesen wurde, so daß das Rätsel seiner Herkunft alle Welt zu beschäftigen begann und man noch achtsamer mit ihm umging. So maß man auch dem Umstand, daß er seinen Titel eines Barons von Rosenau so beharrlich nicht führte, immer größere Bedeutung bei und erwies ihm nahezu fürstliche Ehren.

Nur Ihre Majestät, vor der nichts galt, was nicht in London und Hannover begutachtet war, verharrte in eisigster Ablehnung; der fremde Baron hatte ihr ja ihre Frau von Blasspiel genommen. Seltsam war nur, wie sie allmählich ihre englische Familienkorrespondenz, überhaupt ihren regen Briefwechsel mit den zweiunddreißig Verwandten vom Geblüte, mehr und mehr einschränkte; Briefe schienen ihr zur Zeit in jedem Falle zu gefährlich.

Es gab da einige frühere Billetts, die sie nicht sogar ungern verleugnet hätte.

Da sie nach der Entlassung der hannoverschen Märtyrerin, der Blasspiel, niemand mehr besaß, niemand von Stande, vor dem sie offen ihren Ärger hätte zeigen können, nahm sie, durch ihr Temperament sehr unheilvoll auf rege Aussprache angewiesen, zur Kammerfrau Ramen ihre Zuflucht.

 

Fürst Leopold kam nicht nach Berlin. Verwicklungen der äußeren Politik in diplomatischer Verhandlung zu lösen oder wegzuleugnen – es war nicht seine Sache. Stand es so schlimm um Preußen, nun, so gehörte er erst recht auf seine Exerzierwiese vor Halle. Nein, nach Berlin reiste er unter den gegenwärtigen Umständen, so dringend sie nach ihm zu rufen schienen, gerade ihrer Dringlichkeit wegen nicht. Und der König hat es ihm als Treue angerechnet. Der Dessauer exerzierte. Hundert Briefe liefen hin und her – durch Boten übermittelt, nicht im öffentlichen Postdienst; geheime Konferenzen wurden vom Staats- und Kriegsminister von Grumbkow und vom Präsidenten der Generalrechenkammer abgehalten; die Königin hatte Audienzen zu gewähren, wie ihre kühnsten Träume sie nicht erdachten; ein gewaltiger Aufwand an Strategie war gegen Clement aufgeboten – und niemand ahnte, daß schon alles überholt und nichtig war: daß Clement wich, doch nicht den leidenschaftlichen Gegnern und Neidern, sondern vertrieben von der Größe eines königlichen Herzens und dem schweren Ernste einer Gottesknechtschaft.

 

Clement stand hinter dem König am Schreibtisch, die letztgefälschten Briefe in der Hand. Er wäre nicht mehr zum König gekommen, hätte ihn nicht die Bitte der Geliebten für die Not ihres Schützlings im Kochschen Gasthof gedrängt. In dieser Fürsprache lag etwas, das wie eine ferne Möglichkeit einer Sühne war.

Der König ließ sich Clements neue Briefe reichen, las sie zweimal und dreimal ohne ein Zeichen der Bewegung und gab sie zurück. Er erschien nun überhaupt wieder sehr ruhig und sprach gemessener und feierlicher als sonst.

»Sie können sich der Dringlichkeit solchen Rufes nicht entziehen, Baron. Und vielleicht ist es gut, daß Sie für eine Weile gehen müssen. Ich habe mich zu sehr daran gewöhnt, die Ereignisse der letzten Wochen mit Ihren Augen zu sehen. Es ist nötig, daß wir eine Zeitlang nicht mehr miteinander davon sprechen. Ich muß mich sammeln und Entschlüsse fassen. Ich darf ja auch in allen den Wirren und Sorgen die tägliche Not meiner Untertanen nicht vergessen, und Sie selber haben mich soeben daran gemahnt, indem Sie mir von der unglücklichen Geliebten des Zaren berichteten. Ich habe von dieser traurigen Sache gewußt. Ein Mädchen, das die Zofe jener Gastwirtstochter war, hat nicht minder dringlich, als Sie es tun, für sie gebeten.

Selbstverständlich sind auch mir Pläne gekommen, wie man sie in solchem Falle manchmal andren Ortes schon erwogen hat: daß man das Mädchen mit einem beliebigen russischen Kavalier eine Scheinehe eingehen läßt, die der Zar zu finanzieren hätte. Ich habe ernster nach Rußland geschrieben. Aber es ist schwerer, als ich meinte, eine Antwort zu erlangen. Selbst die Zarin scheint völlig verstört. Ihre und des Zaren Not ist größer denn die meine. Der Zarewitsch kommt in immer strengere Haft; der Zar läßt seinen Sohn als seinen Staatsgefangenen foltern; er hat die Rebellion erlebt, die einem Fürsten furchtbarer sein muß als alle Rebellionen, die mir gegenwärtig drohen. Der Zar wird seinen Sohn zu richten haben. –

Ich habe die Dinge der Zarengeliebten in eigene Hände genommen; und ich habe dabei auch bedacht, daß das Blut wohl mancher junger Mädchen und sehr vieler junger Herren, höherer und niederer, seine eigenen Wege gehen mag.

Die Macht eines Königs hat Grenzen. Wieweit man Richter über den Leichtsinn eines unfügsamen Volkes sein muß, werden, vielleicht, die Fakten und die Zeit mich noch lehren. Wie aber, wenn ich in dem gefallenen Mädchen die werdende Mutter sehe? Was steht dann zur Debatte? Welchen Sinn hat dann ein Gericht? Geht es um verletzte Sitte, menschliche Schwäche, Leichtfertigkeit, Leidenschaft – oder die von Gott gewollte Fruchtbarkeit der armen Erde, selbst noch im unruhevoll getriebenen Blute der Menschen? Worüber hat ein König dann zu wachen? In meinem Lande werden heute und morgen Kinder ohne Väter geboren werden.

Schicken Sie zu jenem Mädchen: es soll das Kind des Zaren in Frieden gebären; ich will über ihm wachen; denn ich verdanke ihm, meine Blicke auf die Notwendigkeit eines neuen Ediktes gerichtet zu haben. Angst soll in meinem Lande nur haben, wer Gottes Fruchtbarkeit auf meiner menschenarmen Erde vernichtet, mag man mich auch darüber einen lasterhaften Fürsten schimpfen.«

Der König zog die Lade seines Schreibtisches auf. Er nahm den Entwurf des Gesetzes heraus und legte das Blatt vor Clement hin. Der las es mit zusammengepreßtem Herzen: »Alle Strafe der geschmähten und gefallenen Weibspersonen ist gänzlich erlassen, wenn sie sich vor der Niederkunft selber angeben und ihren begangenen Fehltritt gestehen.«

Nun aber fuhr der König erregter fort:

»Ein anderes Gesetz dagegen wird verschärft. Kindsmörderinnen, Baron, wurden bisher nach dem Gesetz in ledernen Säcken ins Wasser geworfen. In Zukunft werden die schuldigen Mütter die Säcke selber nähen.« Der da stand, war kein Richter, der Gnade und Urteil verkündete; er war ein Prediger von der Fruchtbarkeit aus Gott.

Dies dachte Clement, als er noch einmal einen langen Blick auf König Friedrich Wilhelm warf.

»Halten Sie draußen die Augen weiter für mich offen. Niemand hat Ihre Augen, Baron. Wenn Sie aber die Reise als mein Hof- und Legationsrat anzutreten wünschen – noch stehen Ihnen, bis die Extrapost abgeht, so viele Stunden zur Verfügung, daß Sie die Bestätigung empfangen können.«

Aber mit tiefer, schweigender Verbeugung hatte Clement vom König von Preußen schon Abschied genommen: dem einzigen König, den es für ihn gab. Denn er war des Glaubens geworden, Könige seien die Sachwalter Gottes auf Erden und ihr Wandel sei voller Gleichnisse; Tod und Leben, Gnade und Gericht und alle Ordnung sei in ihre Hand gegeben.

Doch zu dieser Zeit hatte Gott nur zu diesem einen König gesprochen: »Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet.«

Und darum ging der Abenteurer. Er hatte zuvor den Glauben an das Wunder fast verlernt. Nun aber hatte er als Wirklichkeit erblickt, was vordem nur Gedanke in ihm war.

Was er dem Herrn noch von der verlassenen zarischen Geliebten zu sagen hatte, die durch König Friedrich Wilhelms Gesetz nicht mehr als Mutter beschützt, sondern als Kindsmörderin gerichtet wurde, gedachte er ihm sogleich zu schreiben. Denn es war ihm nicht möglich, noch weiter zu sprechen. Er hatte ja sein Leben durchgestrichen. Der Rebell verehrte die Ordnung.

Der König machte sich zum Exerzieren fertig. Die große Trommel wurde schon geschlagen. Die Mohren setzten die Querpfeifen an.

Schritte knirschten, Leder ächzte, Griffe schlugen, Trommeln wirbelten: immer vollendeter wurden Strenge und Stille des Dienstes, immer sicherer und ebenmäßiger die Übung des Waffenhandwerks. Das Feuer der langen, der gewaltigen Front, der liegenden, knienden und stehenden Reihen, war ein Blitz und ein Knall. Es war nicht mehr herauszuspüren, wer fremd und neu war in des Königs Regiment. Der Stock der Korporale hatte alle gleichgerichtet. Gleichschritt! Gleichschritt! Rasches Feuern! Geschwindes Laden! Geschlossen anschlagen! Wohl antreten! Wohl ins Feuer sehen! Alles in tiefer Stille! Die Gleichheit war vollkommen geworden.

Wo war der Mönch aus Sardinien? Wo der Handschuhmacher aus dem Königreich Neapel? Der ungarische Pferdehändler? Der Student aus Leiden? Sie waren gleicher Schritt und gleicher Griff und gleicher Rock. Nur einmal fühlte der König einen Blick voll so tödlichen Hasses auf sich gerichtet, daß er im Abschreiten der Reihen stehenblieb und zu dem Grenadier hintrat. Der stand unbewegt und hielt das Gewehr, genau wie die anderen. Die Hände waren ihm vom Stock des Korporals zerschlagen, hatten zerfetzte Haut und blaugrüne Flecken von stockendem Blut. Der König, der auch hier nach Namen, Kost und Löhnung fragen wollte, schwieg. Doch den Namen wollte er dann wissen.

»Andreas Bleuset.«

Der König fragte anders als sonst: »Was fehlt Ihm?«

»Die Freiheit.«

Der König, nicht ohne Unwillen, bemerkte: »Man hat Ihm wohl erzählt, daß ich über kecke Antworten meiner Grenadiere nicht gar so streng urteile?«

Polterhansen Bleusets Bruder senkte den Blick auf seine zerschundenen Hände, sah abermals voll Hasses auf den König und sprach deutlich, daß es alle um ihn hörten: »Nein, Majestät, aber man hat mich darauf hingewiesen, daß Eure Majestät die Wahrheit wissen wollen.«

Der König schritt noch nicht weiter. Er sagte wider alles Erwarten: »Auch ich bin nicht frei.«

Der neue Grenadier ließ von dem Herrn nicht ab, denn er sah sehr wohl, daß König Friedrich Wilhelms Augen seine Wunden an den Fingerknöcheln suchten. Er gab dem König nochmals vermessene Antwort.

»Sie werden nicht mißhandelt, Majestät.«

»Auf eine gewisse Weise doch –«

Damit wandte sich der König ab. Wenn Nöte und Bedrängung einen Höhepunkt erreichen, vermag der Mensch nur an sich selbst zu denken oder er lügt. So warf der König sich vor.

Den Korporalen und den Grenadieren stockte der Atem.

 

Ganz Berlin, soweit es Große Welt war, nahm nun selbstverständlich an, daß der Baron in königlichem Auftrag die Grenzen Brandenburgs verließ. Er sollte noch in der Stunde seines Aufbruchs vom König ein Präsent von zwölftausend Talern und den Orden de la générosité erhalten haben. Da die Minister und Geheimen Räte nun zu einem Teile ernstlich fürchten mußten, daß er binnen kurzem als ihr Kollege oder Vorgesetzter wiederkehren könne, so setzten sie viele Findigkeit und sogar erhebliche Summen daran, durch Spione zu ermitteln, wohin er sich gewandt haben mochte und welche Korrespondenzen er im Ausland unterhielt. Die Spione erfuhren eine wichtige Förderung von Seiten der preußischen Gesandten im Haag und in Dresden und Wien. Denn diese drangen selber auf Klärung, warum alle Verbindung zu König, Hof und Kabinett wie abgeschnitten sei. So wurden sehr bald die ersten neuen Clementbriefe gemeldet. Dresden und Wien erhielten laufend hochpolitische Schreiben durch Clement zugestellt, darunter auch ein Handschreiben des preußischen Königs. Abschriften wurden erlangt und ausgetauscht; und schon befand sich wieder eine Kopie eines von König Friedrich Wilhelm unterzeichneten Briefes in den Händen Grumbkows. Der hatte sich zudem die Sekretäre der preußischen Gesandten aus Wien und Dresden heimlich nach Berlin bestellt, und im Besitze weiterer Briefabschriften drang er sofort auf seine Vorlassung beim König. Es verfloß nicht eine Stunde, daß ihn der, zum erstenmal seit langer Zeit, empfing. Der Staatsminister prophezeite vor dieser Audienz, als sollte nicht nur Clement in Preußen etwas zu weissagen haben, in kurzem werde hier alles in Feuer und Blut sein.

Aber dieser Tag zum mindesten verrann noch ohne Ereignis. Der König hatte nur bemerkt: »Die Briefe stammen nicht von mir. Ich muß die Originalschrift sehen.«

Damit nahmen offizielle diplomatische Verhandlungen über die Clementbriefe ihren Anfang. Der König schrieb selber nach Dresden und Wien und erlebte, daß man seinen Briefen mißtraute; sie stünden in zu großem Widerspruch zu seinem letzten Schreiben – eben jenem, das er nie geschrieben hatte!

Die Kabinette der Regenten gingen nur sehr zögernd vor. Man hatte es erlebt, wie außerordentlich gefährlich Briefe waren –. Der König von Preußen drängte auf Entscheidung. Es mußte doch erlaubt sein, einen Brief von seiner eigenen Hand zu sehen! Das machte stutzig! Wußte König Friedrich Wilhelm nicht mehr, was er selber geschrieben hatte? Erst, solange es ihm gefiel, spielte er den Grimmigen, Schweigsamen, Zurückgezogenen, gab sich »wie das Heilige Grab inmitten der Ungläubigen«, brach alle Beziehungen ab, wie sie von Hof zu Hof bestehen – dann plötzlich gefiel es ihm, einen Brief von seiner Hand zu präsentieren, den er jedoch gar nicht geschrieben haben wollte; und obendrein erwartete er noch, daß man plötzlich allerseits mit ähnlich geheimnisvollen Dokumenten aufwarten könne!

Der Preußenkönig wurde nun drohend. Wenn der Krieg so nahe war – warum sollte er dann nicht morgen zum Ausbruch kommen? Wenn der eigene Brief nicht ausgehändigt werden konnte – warum sollte er sich dadurch hindern lassen, das Schreiben des Polenkönigs dem Kurfürsten von Sachsen, der an Person, wenn auch nicht immer in der Politik, der gleiche war, vorzulegen, jenes Schreiben vom 17. currentis? –

Es gab aber kein Schreiben Herrn Augusts des Starken vom 17. currentis. Die Reisezüge der Diplomatenkarossen wurden fertiggemacht. Minister aus Berlin, aus Wien, aus Warschau und Dresden waren unterwegs, reisten aneinander vorbei, begegneten sich, fuhren gemeinsam nach Berlin zurück.

Bis dahin schwieg der Herr. Er tat die Dinge des Tages. Er dachte an das neue Edikt. Er fragte nach dem Kinde des Zaren und fand als Antwort Clements Brief.

 

Was sich am Sterbetage des alten Wirtes Koch am Krankenlager seiner Tochter abgespielt hat – niemand als das Fräulein von Wagnitz und der Beauftragte des Königs hatten davon nähere Kunde. Um Mittag holten sie die große Sünderin nach Spandau ab und brachten sie in die Krankenkammern der gefangenen Frauen ins Spinnhaus. Die Dicke Schneider und ihre tüchtige Schwester, die Kadettenwäscherin, waren bei dem Transport der Kranken behilflich; so sicher waren sie ihrer Sache, daß die Kranke schweigen würde, so reich waren beide Schwestern an Erfahrung. Die Kranke zuckte nur zusammen, als sie die Schwestern sah; dann sank sie wieder in Benommenheit.

Das Fräulein von Wagnitz aber ließ sich durch nichts und niemand mehr hindern. Es bat den König um eine Audienz. Die Worte des Gesuches klangen flehentlich. Dennoch ließ der König der früheren Hofdame Ihrer Majestät bedeuten, er sei sehr überrascht, in wie verschiedenen Zusammenhängen sie ihm immer wieder begegne. Doch sprach er mit dem Prediger Roloff von dem Fall. Der kannte seltsamerweise das Fräulein; und er ahnte ja von jenem Abend her, an dem die Wagnitz ihn ans Lager der Kranken führte, sehr viel, wenn nicht alles. Wieder sprach er die Worte der Schrift wie eigene Gedanken des Augenblicks: »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt.«

Der König ließ dem Fräulein durch den Prediger Antwort geben.

Die Wagnitz kam mit einem Schreiben der Gefangenen zu Roloff. Die wußte um ihr Schicksal. Sie würde genesen; man würde ihr den Ledersack zu nähen geben; und am Tage des letzten, mühsamen, qualvollen Stiches würde sie der Henker weit vor der Stadt im steinbeschwerten Ledersack versenken. Sie war erwacht und war sehr klar und begriff, daß all das Grausame nur für ihr totes Kind geschah und daß um seinetwillen viele leben würden. Sie war sich auch des Geringeren wieder bewußt: daß der alte Vater tot war; sie war die Erbin und sie trat ihr Erbteil niemals an. Die Charlottenburger Freundin, ihre einstige Zofe, sollte ihre eigene Erbin sein; und in den schönsten Räumen des väterlichen Gasthofes sollte das Fräulein bei ihr leben. Der Prediger sprach zum Fräulein nicht viel. Es sterbe eine große Sünderin, viele nach ihr vor gleicher Sünde zu bewahren. Aus einem Tode werde vieles Leben. In solchen Gesetzen eines Königs handle Gott an den Menschen, am König genau wie an der Gerichteten. Solches Todesurteil sei Gebot des Lebens. Darüber stehe das Gebet eines Königs, und niemand dürfe daran rühren.

Das Fräulein hatte nichts damit zu tun, als dann – mit vielen Unterschriften versehen – ein Bittgesuch für die Kindsmörderin beim König eingereicht wurde. In dieser Bittschrift wurde an die gesegneten Umstände Ihrer Majestät der Königin und an das Elend des Mädchens im Spandauer Spinnhaus recht mahnend erinnert. Der Herr vermerkte am Rande des Schreibens, man mißverstehe ihn sehr. Der König war in diesen Tagen sehr verfallen, mehr als ein Mann um den Anfang seiner dreißiger Jahre es sein darf.

Er ließ die Diebe hängen, den Schlosser und den Kastellan; er würde die Kindsmörderin im Fluß ertränken lassen; Gundling war als der Narr seines Hofes geflohen. Ach, Hängen, Flucht, Ertränken waren harte Worte –. Und er wußte, daß er sie noch immer wieder hören würde; er würde weiter vernichten – ein Leben lang. Das machte ihn, zum ersten Male, müde. Eines Tages, vielleicht auch morgen schon, würden sie den Krieg von ihm fordern; und alle seine Königsherrschaft sollte nichts anderes mehr sein als eine Orgie des Todes.

»Die Zeiten Neros und Caligulas sind wiedergekehrt«, sagten sie heute schon in Berlin.

 

Fast war es, als ob die Grenadiere in Potsdam die Müdigkeit und erste Schwäche des Herrn zu ahnen vermöchten, als spürten sie, was seine Ferne von Exzertitium und Appell bedeuten wollte. Die festen Reihen waren wie gesprengt, der Klang der Trommeln wurde verwegen. Manchmal begegnete dem zornigen Fluch der Korporale Ungehorsam und ihren Stockhieben offene Auflehnung.

Einer kam zum Feldscher: »Der Korporal hat mich zerschlagen. Ich kann den Dienst nicht mehr tun.«

Ein anderer gab Meldung: »Der Sumpf in Potsdam macht mich krank. Fühlt nur, wie das Fieber in mir rast. Schreibt es nur der Majestät.«

Ein dritter brauchte einen Dolmetsch seiner Leiden. Er war noch fremd im Land und seiner Sprache nicht mächtig.

Ein fremder Wille war da.

Noch war der Gleichschritt Gleichschritt, und die Schüsse waren noch ein Blitz und Knall. Aber der fremde Wille war da: die Auflehnung, der Widerstand; keiner vermochte den neuen Willen zu fassen, keiner zu sagen: Hier ist er.

Ein Schuß fiel vereinzelt. Der Korporal stürzte auf den Frevler zu. Der junge Bleuset hatte seine Flinte hingeworfen und hob die zerschundenen Hände. »Ich kann nicht mehr.«

Aber er sagte es ohne Müdigkeit. Es war wie eine Drohung.

Der Schuß war das Zeichen gewesen.

An den vier Enden der neuen Königsstadt schlug das Feuer empor. Die Grenadiere wurden zu Hilfe gerufen. Ein Haus ging schon in Flammen auf. Die Grenadiere jagten hin und her.

Einer rannte querfeldein aus dem Tor. Der Wächter schleppte Wassereimer; so hatte er ihn nicht gesehen.

Auch als der Brand gelöscht war, wurde der Flüchtige noch nicht vermißt. Denn alle hatte das Entsetzen gepackt. Sie standen in Gruppen und fragten; und immer wieder wurde den neugierig Drängenden das gleiche gewiesen: die Lunte, der Napf mit dem Pulver. –

Die Stellen, an denen das Feuer gelegt war, wurden abgesteckt und bewacht. Dem König war schon Nachricht nach Berlin gesandt. Noch immer mehrten sich die Gaffer und Frager und Schwätzer an der Stätte der Untat; sie meinten und rieten. Da breitete der Schuß der Lärmkanone neue Unruhe aus. Die Sturmglocke läutete, kaum daß der Schuß verhallt war. Das war schlimmer noch als Brand! Sie stürmten alle von den qualmenden Mauern hinweg: Zur Hauptwache! Zur Hauptwache! Die Lärmkanone wurde abgefeuert! Ein Grenadier ist fort! Ein Deserteur! Ein Deserteur!

Die Strafen, wenn er Stadt und Nachbardorf entwischte, waren hart.

Die Kanonenschläge folgten immer rascher. Nun hörte man sie schon im nächsten Dorf. Die Potsdamer Sturmglocke im hölzernen Glockenstuhl läutete fort. In Bornstedt eilte der Küster zum Turm und zerrte das Seil.

Als der letzte Schuß der Lärmkanone kaum verhallt war und die Glocke noch vom letzten Schlag des Klöppels zitterte, brachten sie schon den Deserteur. Polterhansen Bleusets Bruder war gefangen.

Ein Reiter mit der Meldung jagte nach Berlin.

Drei Reiter trabten nach Potsdam.

Hinter dem mittleren Fuchs am Strick taumelte Bleuset, der junge.

Weit in der Ferne lief die Menge johlend nach.

Ob ihr Gegröl dem Wild galt oder den Jägern, – der König hätte die Antwort gewußt.

Der König hörte die Meldung an. Er sah auf; und wer ihn aufmerksam betrachtet hätte, mußte sagen: gequält.

Es war sehr viel für einen Tag: der Brand; die Lunte und das Pulver, die man fand; die Desertion. Wären die Flammen aufgeschlagen, hätte die Glut über Potsdam gelodert, wäre die Stadt in Verwirrung geraten – man würde mehr entwichene Grenadiere gezählt haben! Daran zweifelte der König nicht.

Über das Urteil, das am jungen Bleuset zu vollstrecken war, brauchte der Herr sich nicht zu äußern. Es stand fest. Im übrigen war weiter völlig unverändert Dienst zu tun; die Kasernen waren sofort sorgsam zu durchsuchen; jedes Haus, dem Grenadiere in Quartier gegeben waren, sollte man bis in den letzten Winkel durchwühlen.

»Doppelte Wachen an die Tore! Dreifache! Dreifache!«

Als er das bestimmte, verriet der Herr den Zorn, den Schmerz, die furchtbare Entschlossenheit.

 

Der Polterhansen verhängte alle seine Vogelbauer über dem Schanktisch. Nicht eines vergaß er. Die Gäste schickte er fort. Die Schlüssel trug er zu dem Schweigsamen hinter der Spreegassenbrücke.

»Nein«, sprach er, »du sollst mich nicht begleiten.« Und: »Ja, noch diese Nacht muß ich nach Potsdam. Morgen in der Frühe muß ich dort sein.«

Schon als die Sonne aufging, stand er am Exerzierplatz; er lehnte sich gegen einen Baum, sehr tiefe Schatten um die Augen. Bitterer als der nächtliche Weg war das morgendliche Warten.

Der Dienst geschah wie jeden Tag. Schön und strahlend richteten die Reihen sich aus, mit hohen, blitzenden Helmen und blanken Gewehren, in knapp umschließenden, sehr reinen Uniformen, edel und fest. Die Schenkel in den weißen Lederhosen waren wie Marmor, die Schritte gemeißelt, die Bewegung der Scharen schien voller Klarheit wie das Gesetz, nach dem die Gestirne sich drehen. Vollendet waren Gleichmaß und Stille, nur daß das Leder leise knirschte, das Leder der Riemen und Stiefel.

Heute brauchten die Korporale nicht mit ihrem Stock auf die Köpfe, auf die Hände, auf die Knöchel einzuschlagen. Die Schönen, die Jungen, die Großen in der Göttergleichheit ihrer starken Leiber standen, eingeschnürt in die Montur, fünf Stunden, standen wie eingeschraubt und festgenietet; fünf Stunden lang marschierten sie pfahlgerade, schwenkten sie wie eine Waffe die Reihen ihrer Körper. Ununterbrochen flogen federnde Griffe im Takt.

Fünf Stunden lehnte der Polterhansen am Baumstamm, und die Ringe um seine Augen wurden tiefer. Er schleppte sich den Grenadieren nach. Die stolperten, wie Lahme, todmüde in ihre Quartiere.

Aber sie waren kaum in den Toren, so ging es wieder Hals über Kopf. Die Wäsche war zurechtzulegen, die Flecken waren zu mustern. Wo war ein Stäubchen auf dem weißen Leder? Gewehr, Patronentaschen, Koppel, jeder Knopf – sie blitzten noch nicht genug. Der eine Stiefel war nicht spiegelblank. Flink – Kreide, Puder, Schuhwachs, Schmirgel, Öl und Seife!

Ein Haar in der Frisur lag noch nicht recht. Wenn dich der Korporal sieht, setzt es Prügel! Der Korporal kommt nach der Mittagsrast! Kocht ab, kocht ab: Erdbirnen und Erbsen! Schlingt es hinunter! Hol um einen Dreier Fusel dazu! Hier zum Tausch, noch meinen letzten Brocken Brot! Bring um zwei Pfennig Dünnbier mit!

Jeden, der zur Schenke hastete, hielt Polterhansen Bleuset an. Er wartete vor der Tür. Aber sie stießen ihn zornig zur Seite. Gleich kam der Korporal! Was wollte auch der Polterhansen – er redete nur unverständliche Worte. Jetzt legte sich ihm eine Hand auf seinen Mund. Aber diese Hand war sanft. Der Schweigsame war gekommen; er war dem Polterhansen nachgegangen. Ihn fortzuholen, dazu hätte er beredt sein müssen; er mußte stärker sein. Nun vermochte er nichts, als neben dem Polterhansen zu bleiben.

Nach Mittag schritt der Korporal durch die Quartiere. Er musterte zweihundert aus, zweihundert der Reinen, der Gewaltigen, der Riesen.

Im Gewölbe der Wache schnitt der Profos die Ruten.

Vor der Wache auf dem Markt ragte der hölzerne Esel mit seinen harten, schmerzenden Kanten. Es war, gemessen an dem anderen, eine Lust, für kleine Vergehen stundenlang das Teufelstier zu reiten.

Neben dem hölzernen Pferde reckte sich die Säule. Es war ein Spiel, für eine Verfehlung gefesselt und geschnürt, an ihr zu hängen.

Heute pflanzten sich die furchtbaren Zweihundert auf zur Gasse. Der Profos verteilte die Ruten. Das Tor der Wache tat sich auf. Sie führten Bleusets Bruder heraus. Volk lief herbei. Viele um den Polterhansen murrten; manche ächzten vor Schauer oder Neugier. Und dann war das entsetzliche Geräusch weithin über dem Platz und den Gassen: die stolpernden Schritte des Gejagten; die Schläge, das Stöhnen, der Schrei.

Achtmal jagten sie Wirt Bleusets Bruder durch die Gasse der Zweihundert. Zuletzt stieß der Profos ihn vorwärts, immer wieder vorwärts, wendete ihn am Ende der Gasse und trieb ihn wieder zurück. Einmal war der junge Bleuset am Ende der Gasse dem Bruder ganz nahe. Aber er wußte nicht mehr vom Polterhansen und daß der so nahe sei. Das zerfetzte Hemd wurde ihm vom zerschundenen Rücken gerissen. Das Blut hing, zu Lappen geronnen, herab. Noch schlugen sie weiter, noch stieß der Profos ihn zurück in die Gasse. Aber da stürzte der junge Bleuset, streckte sich, als wollte er kriechen –.

Da sanken die Arme, die Ruten. Die nächsten um ihn packten zu. Sie trugen ihn am Polterhansen vorüber. Der Schweigsame brauchte ihm nicht die Hände aufs Gesicht zu pressen, ihm die Augen zuzuhalten und den Mund zu schließen. Der Polterhansen sah nicht mehr; die Zähne biß er in die Fingerknöchel.

Der Schweigsame, damit alles auf einmal geschehe, sprach: »Dein Bruder ist tot.«

Er sagte es zweimal: »Er ist tot.«

Aus Polterhansens Mund quoll Blut.

 

Von Clement war ein neuer, über die Maßen merkwürdiger Brief beim König angelangt. Von der Reise aus sagte er so ziemlich alles voraus, was gegenwärtig in Berlin geschah: das fluchtartige Verschwinden einzelner Persönlichkeiten, die mit den geheimen Archiven in Verbindung standen; das Eintreffen der Residenten und neuer Bevollmächtigter vom Kaiserhof und aus Dresden; das jähe Anwachsen von Beschuldigungen, Vermutungen und Anklagen, die seine eigene Person betrafen. Bei allem Respekt vor dem König enthielt der Brief doch eine Art von Verhaltungsmaßregeln für den Herrn.

Der hätte diesem Schreiben noch einmal viel Beachtung und Vertrauen geschenkt, hätte nicht jener Brief bei seinen Akten gelegen, der seine Handschrift wies, seinen Namenszug trug – und niemals von ihm selbst geschrieben wurde; jener Brief, der zugleich geheimste Unterredungen zwischen dem König und Clement zur Voraussetzung hatte.

Dennoch, als hörte er weiter auf Clement, ließ der Herr eine Doktordissertation beschlagnahmen, die als Thema die Frage hatte: »Welche Rechte kann ein gefangener oder entführter Fürst ausüben?«

Auch brachte der König einen so merkwürdigen Vorfall wie diesen mit Clements Prophezeiungen in Zusammenhang: der Kriegssekretär Bube war in Frauenkleidern an einem der Berliner Tore auf und ab flaniert; er hatte sich durch Gang und Haltung verdächtig gemacht und war von einem Offizier zur Wache mitgenommen worden. Der König behielt ihn in Haft.

Alle Tore Berlins wurden plötzlich wieder gesperrt, alle Posten verstärkt, die Reisenden angehalten. Patrouillen durchstreiften die Straßen. Niemand sah klar, was Ursache und Zweck war. Viele, die schon wieder sehr sicher geworden waren, fühlten sich von neuem beunruhigt. Endlich ließ der König in die Wohnung des sächsischen Legationssekretärs in Berlin gewaltsam einbrechen, um sich in den Besitz von Papieren zu bringen, auf die Clement hingewiesen hatte. Das entsprach nicht gerade den sonst üblichen Formen des Umgangs zwischen Hof und Diplomatie – aber bestimmte Dokumente durften nun einmal nicht mehr verschwinden.

Über diesen Schriften saß der Herr die halbe Nacht. Aber die Pistolen hatte er jetzt nicht mehr bei sich. Doch lag auf seinem Schreibtisch der Orden de la générosité, den er Clement verlieh, und die Summe, die er ihm auszahlen ließ. Clement hatte sie zurückgesandt; er könne so dem König nicht dienen.

Die Königin schwelgte indes auch auf den späten Abend noch in Diplomatie. Der sächsische Gesandte berichtete an seinen Hof, für die Königin sei alles vom Zepter bis zum geringsten Kammerjunker voll Verehrung. Auch heute füllten sich ihre Räume mit wahren Kapazitäten höfischen Ränkespiels – Kapazitäten, die vom König kaltgestellt worden waren, damit sie sich auf eine für Preußen dienlichere Tätigkeit besännen. – Der gesamte mit dem König unzufriedene Adel übersandte der Königin seine Vertreter: die Alvensleben, die Bernstorff, die Schulenburg, die sich etwas darauf zugute taten, daß eine der Ihren seit langem die Mätresse des Vaters Ihrer Majestät war. Die Verwandtschaft hochgestellter Herren, die seit Clements Auftreten sichtliche Zurücksetzung von seiten des Königs erfuhren, stellte sich ein. Der König hätte ein sehr klares Bild von seiner Gegnerschaft am Hof, im Adel und in den hohen Ämtern gewinnen können, wenn er nur zu solcher Stunde in die Säle seiner Gattin hätte hinübergehen wollen.

Hatte er sich in Clement getäuscht, wurde er von Clement betrogen, so kam dieser Opposition, die hier um Ihre Majestät geschart war, erhebliches Verdienst zu. – Der König wartete ab. Er ließ die Gattin, mit einer heimlichen Bewunderung und leisen Befremdung, gewähren. Die Königin selber aber vergaß, daß nichts, gar nichts Größeres sie in den Widerstand gegen Clement getrieben hatte als ihr Unwille und ihre Empörung über die Maßregelung einer ihrer Damen über ihren Kopf hinweg – eine Maßregelung, die in den Wochen erfolgte, in denen Clement erschienen war und in denen gleich danach die Stellung mehrerer Personen von Rang eine Erschütterung erfuhr.

Während all diese Geschäftigkeit in den Appartements der Königin herrschte, bereitete die Ramen aufs sorgsamste das Deshabillé Ihrer Majestät vor. Die Königin erschien jetzt immer sehr abgespannt in ihrem Schlafkabinett; aber je angegriffener, auf eine angenehme Weise, sie sich fühlte, desto geringer war ihr Widerstand gegen das Bedürfnis, mitzuteilen, was sich ereignete, und auszusprechen, was sie bewegte. Ermattet lag die Stolze unter ihrem Baldachin und redete erregt und lange. Die Ramen betupfte Gesicht und Hände der Herrin mit lauwarmem Wasser und trocknete sie mit einem gewärmten Tuche ab. Die Ramen trug ihr Erfrischungen ans Bett. Es war eine Wohltat ohnegleichen, solche Kammerfrau zu besitzen.

Die Ramen allein war aber auch in all der Spaltung und all dem Zerfall allem und jedem zugewandt, dem Schloß und der Gasse, dem Kochschen Gasthof und Polterhansens Schenke; und manchen hatte sie auf dem Weg von einem Ort zum anderen begleitet, so ewig getrennt sie auch schienen.

Die Behende wußte auch schon wieder, was mit Bleusets Schenke geschehen war und daß an des Polterhansen Stelle nun der Dicken Schneider Schwester, die Kadettenwäscherin, die sich aufs Haareschneiden und die Krätze verstand, dort den Branntwein ausschenkte, die Münze einstrich und die Vogelbauer über dem Schanktisch verhängte. Der Schweigsame, der hinter der Spreegassenbrücke wohnt, hatte den Polterhansen – damit er nicht in seiner Schenke zum Aufwiegler werde – bis an die Grenze eines fremden Landes gebracht, darin der König von Preußen nicht mehr Herr war.

Die Kammerfrau schien eines jeden Geschichte zu wissen, der nicht mehr Untertan des Preußenkönigs sein wollte. Davon nun unterhielt sie ihre Königin. Und die lauschte ihr gern bis tief in die Nächte. Wollte die Ramen aber noch jemals von der Charlottenburger Kastellanstochter zu reden beginnen, wehrte die Königin ab.

»Es ist alles nur törichtes Gerede, Ramen.«

Und in solchem Augenblicke war sie wahrhaft groß. Aber sie suchte die Größe nur in der Macht.

 

Auch in dem Alten Pastorate von Sankt Peter verlöschten die Kerzen noch nicht zu der Stunde, um die der Prediger Roloff sonst die Feder aus der Hand zu legen pflegte. Noch auf den Anbruch der Nacht hatte Minister von Grumbkow persönlich sich bei Roloff angesagt, und unermüdlich trug er nun jeden Beweisgrund zusammen, der Roloff von der Wichtigkeit der Reise überzeugen konnte. Der Prediger sollte noch morgen nach Holland, Clement zu suchen. Er kenne den Baron am besten; er müsse es erreichen, daß Clement zum König zurückkehre. Der Seelenfriede des Herrn, die Ruhe des Landes stünden auf dem Spiel. Niemand außer Clement vermöge die Verwirrung um König Friedrich Wilhelm zu lösen; und die Verwirrung sei so groß, daß solche Reise ohne das Wissen des Herrn, sollte sie zu seinem Besten sein, geschehen müsse.

Da aber erfuhr der Minister, daß die gleiche Bitte, nach Den Haag zu reisen, bereits vom König selbst an den Pfarrherrn gerichtet worden war und daß er schon am nächsten Morgen die Fahrt anzutreten gedachte. Der Minister hatte nur noch dafür Sorge zu tragen, daß der zweite Platz in Roloffs Extrapost auch wirklich an einen gewissen Oberst Forestier vergeben würde.

Denn der Oberst Forestier fuhr mit fast dem gleichen Ziel im Auftrag des Ministers, um auf weltliche Weise zu erreichen, daß Clement zurückkehre, falls die geistliche etwa versagte.

 

Von der Morgenfrühe an, alle Tage, wenn man das Tor des Spinnhauses aufschloß, hatte die Wagnitz das Haus der kranken gefangenen Frauen aufgesucht. Sie mußte stets von neuem darum kämpfen, die Gefangene, den Schützling, sehen zu dürfen. An den furchtbaren Anblick hatte sie sich, sehr um Fassung ringend, gewöhnt: die Kranke von Tag zu Tag verfallener zu finden, fiebrig und abgezehrt auf einem armen Bett, auf dünner Strohschicht und kärglichem Bettzeug; und das Stroh war feucht vom Niederschlag der Herbstnacht auf den kalten Mauern. Nur manchmal erwachte die Hindämmernde noch zu einer Empfindung der Milde: wenn das Fräulein von Wagnitz, für flüchtige Augenblicke, zu ihr eingelassen wurde; nie vermochte die Tiefe der Erschöpfung zu verhindern, daß sie die Nähe der Beschützerin nicht wahrgenommen hätte. Nach ihrem Kinde verlangte die Gefangene nicht. Denn sie glaubte, die Schmerzen ihres Leibes wären sein wachsendes Leben. Sie glaubte es fest. Der Zar war ihrem Denken entschwunden; hätte sie einer nach des Zaren Majestät gefragt, sie hätte solche Frage nicht begriffen. Nur Katharina Alexejewna, obwohl sie diese nur von ferne hatte sehen dürfen, ging sanft durch ihre Fieberwirren und lächelte das Lächeln des Fräulein von Wagnitz, und das leise Läuten all der kleinen Heiligenbilder an ihrem Kleide war um sie. Das tat ihr wohl. Das andere war fern und ausgeschlossen: daß die Spinnhausfrauen ihr den Ledersack zum Nähen auf eine Pritsche hatten legen müssen; wenn sie vom Fieber genas, so sollte sie nähen. Der große Lederfetzen lag nun Tag um Tag und Nacht um Nacht sehr nahe bei ihrem Strohbett, als sollte sie sich seiner als einer wärmenden Hülle bedienen. Das Fräulein von Wagnitz hatte es ertragen lernen müssen, bei ihr zu stehen und nicht aufzustöhnen, wenn es den Ledersack sah, in dem die Kindesmörderin ertränkt werden würde. Und das Fräulein hatte es vermocht, sehr still zu werden; denn die Hoffnung kam ihm und wuchs, daß die Sünderin den Tod, der Sünde Sold, empfangen würde, noch ehe der Profos sie holen kam; sie würde nicht mehr genesen.

Heute, als die Wagnitz wieder bei dem Wächter klopfte und um Einlaß bat, trug man das Brett mit dem Leichnam an ihr vorüber. Der Totenkeller wurde aufgeschlossen. Die Leichenwäscherin lärmte mit Zuber und Becken. Der Schreibgehilfe wollte Namen, Daten, Fakten wissen. Niemand hatte für das Fräulein Zeit. Es irrte durch den kalten Gang und fühlte sich wie ausgestoßen aus dem Haus der Strafen und Leiden, wahrhaft verstoßen selbst von dieser Stätte des Jammers. Wohin in der Welt sollte es noch seine Schritte wenden? Wo war noch ein Mensch? Wo war Clement? Wann durfte sie zu ihm?

Der war indessen auf der Wache der Hausvogtei in aller Stille eingeliefert worden.

 

Der erste, der den König in dieser erregenden Angelegenheit sprechen konnte, war der Prediger Roloff. Er wirkte bei der Audienz ein wenig schwerfällig, war blaß, und seine Augen hatten nicht ihr Feuer. Er war abgespannt von dem, was um ihn vorgegangen war; er war betroffen und sprach bedrückt. Auch der König war bleich. Er bekundete dem Pfarrherrn sein Bedauern, daß Roloff in eine Tragödie und Katastrophe gerissen worden sei, deren Anfänge er nicht kenne und deren Entwicklung für ihn so völlig im Dunkel liege.

»Aber ich befinde mich fast in der gleichen Lage«, fügte der König hinzu. »Ich habe, als ich Sie nach Holland zu reisen bat, nicht geahnt, daß Sie mir Ihren Konvertiten als Gefangenen zurückbringen würden.«

»Mein Auftrag war beendet, sobald ich mit dem Baron die preußische Grenze erreichte und die Gewißheit besaß, daß er zu Euer Majestät zurückkehren würde. Ich habe ihn nicht zurückgebracht. Was hatte ich mit jenem Oberst Forestier zu tun, der ohne meinen Willen alle meine Wege kreuzte, zuletzt sogar als Kommandant der Grenzwache –«

Soweit hier der König selber verletzt war, verbarg er es.

»Meine Minister haben von Vollmachten, die ihnen zu Gebote standen, Gebrauch gemacht. Sie behaupten, daß genügend Verdachtsmomente vorlägen, die sie dazu verpflichteten, Clement vom Grenzübertritt an als Staatsgefangenen zu behandeln.«

Der Prediger blieb kühl.

»Wenn diese Absicht von vornherein bestand, so hat man mich und mein Amt in verwerflicher Weise mißbraucht. Man kann den Seelsorger wohl nach vollzogenem Urteil in den Gang des Gerichtes einbeziehen; nach dem Urteil, Majestät, nicht aber, wenn es gilt, die Unterlagen für den Urteilsspruch zu beschaffen.«

»Meine Minister werden sich zu verantworten haben.« Der König gab sehr bereitwillig und eingehend Auskunft. Dem Amte des Predigers begegnete er mit großer Ehrfurcht und duldete Roloffs Widerspruch. »Ich habe nicht gewußt, daß ein früherer Oberst Forestier den Platz in Ihrer Extrapost teilte; daß er in Holland immer wieder in Ihrer Nähe sich zeigen würde; daß er die Grenze mit Ihnen wieder überschritt und im Besitze einer Vollmacht war, die ihn die Grenzwachen in Anspruch nehmen ließ. Ich habe Sie als Clements geistlichen Lehrer zu ihm gesandt, um für meine Seelenruhe, für die Ordnung meines Landes und den Frieden Europas die Lösung eines fürchterlichen Geheimnisses zu erbitten. Das Geständnis einer etwaigen Schuld des Barons habe ich nur Ihnen gegenüber erwartet; dann wären vielleicht die Folgen solcher Schuld zu beseitigen gewesen, ohne daß neue Konflikte entstanden. Sie wissen mehr als ich davon, was Gott in Clement wirken mag. Ich hatte den Frieden des Landes und Clements Geschick in die Hände seines Seelsorgers gelegt. Ich habe Ihr Amt nicht mißbraucht.«

»Nein, Majestät«, sprach der Prediger Roloff, und seine Augen gewannen wieder ihr Feuer, »Sie haben mein Amt und das Ihre nie mißbraucht.«

»Aber«, unterbrach ihn der König, »die Völker werden nicht nur geführt von den Königen und den Propheten. Da sind noch die Minister. Es wäre bitter, wenn sie nun mit ihrer List meinem Lande einen Dienst erwiesen hätten. Dann, Pastor Roloff, könnte Ihr eigentlicher Auftrag erst beginnen. Und wenn ich ihn, aus Müdigkeit oder Zorn, dann nicht mehr wiederholen sollte – dann handeln Sie an Clement, wie es Ihnen Ihr größerer Herr geboten hat, daß man an Sündern tun soll, die ihr Gericht ereilt hat.«

Friedrich Wilhelm schellte dem Diener, ließ sich Hut und Mantel bringen, bestellte den Wagen und fuhr zur Hausvogtei hinüber.

 

Weil es ein heller, kühler Tag war, lag auch über der Wachtstube der Hausvogtei ein helles Licht. Clement hatte sich einen Schemel ans Fenster gerückt – die Fesseln waren ihm nun abgenommen worden – und las, als kümmere anderes ihn nicht, in den holländischen Zeitungen, die er am Morgen der Abfahrt von Amsterdam noch gekauft hatte. Er saß ein wenig leger, das rechte Bein über das linke geschlagen; sein Mantel lag neben ihm auf der Erde, so wie er ihm von den Schultern geglitten war. Die Handschuhe hatte er in einer Seitentasche seines Rockes, des nach letzter Mode geschnittenen, stecken. Degen und Hut lagen auf einem zweiten Schemel neben ihm. Den Soldaten im Wachtlokal kehrte er den Rücken zu. Sie würfelten, ziemlich leise, auf einer Bank. Aber nun sprangen sie auf, zerrten am Leibgurt, ergriffen die Flinten und riefen: »Der König!«

Clement legte seine Zeitung auf den Fenstersims. Er trat der Majestät sofort entgegen und grüßte sehr tief. König Friedrich Wilhelm, fast die vielleicht gebotene Zurückhaltung vergessend, rief sofort: »Ich habe Ihnen den Roloff geschickt, Baron.«

Der sagte kühler, als er je zuvor gewesen war: »Und Ihre Minister, Majestät, sandten mir den einstigen Oberst Forestier. Bezüglich der Auftraggeber beider Herren bestand für mich kein Zweifel.«

Der König – die Soldaten waren gleich hinausgeschickt worden – preßte einen Augenblick in unbewußter Erregung die Hände zusammen. »Was ist denn geschehen?«

»Wäre ich, Majestät, von Ihrem Prediger begleitet, nach Berlin zurückgekommen, wie es mein Wille war – es hätte eines einzigen Gespräches zwischen Euer Majestät, dem geistlichen Herrn und mir bedurft, um Ihnen alle Klarheit zu schaffen. Der Prediger Roloff hat in Holland kein anderes Wort von mir gehört, als: ›Ich will mich ganz auf den König verlassen!‹ Nun aber bin ich der Staatsgefangene Ihrer Minister und muß ein geordnetes Verfahren und meine Vernehmung abwarten.«

»Und der Brief?« fragte König Friedrich Wilhelm, weniger heftig als bedrückt, und hielt dem Baron das Schreiben entgegen, das seine eigenen Schriftzüge trug und nicht von ihm stammte.

Der hier unerbittlich schien, war der Gefangene.

»Der Brief, Majestät, wird ein Gegenstand meiner Aussagen sein. Ich bin ein Angeklagter, und ich werde als solcher Rede stehen. Ihren Frieden, Majestät, werden Sie in jedem Fall zurückgewinnen, nur daß nun leider um des Herrn Oberst Forestier und seiner Auftraggeber willen einige Zeit vergehen wird. Ich muß noch mehr um meine Kläger und meine Richter wissen; das ist das mindeste Recht, das letzte, des Gefangenen.«

»Sie machen alles noch schwerer, Baron«, sprach seufzend der König. »Man muß Sie vorerst nun als Staatsgefangenen behandeln. Man bringt Sie nach Spandau. Ich kann lediglich dafür Sorge tragen, daß man Ihre Haft so leicht wie möglich gestaltet. Ich werde veranlassen, daß Sie bis zur Klärung Ihrer Angelegenheit ein bequemes Bett erhalten. Ich werde Ihnen ein Silberservice für Ihre Mahlzeiten bringen lassen.«

Clement verneigte sich und dankte ehrerbietig; in den wenigen Worten erschien er aber angegriffen und erschöpft. Der König erkundigte sich weiter, welche Wünsche der Gefangene noch habe und ob etwa Angehörige eine Nachricht erhalten sollten; vielleicht sei es gut, sie nach Berlin zu berufen; er scheine nicht ohne mächtigen Einfluß. Denn die Gerüchte um die rätselhafte Herkunft Clements hatten den König erreicht.

»Ich habe keine Verwandten«, sagte Clement; und, wider Willen fast, fügte er hinzu: »Denn ich weiß nicht, wer ich bin.«

Das Unheimliche dieser Antwort übergehend, drang der König weiter in ihn: »Oder Freunde? Die Möglichkeit entlastender Aussagen besteht. Wer soll kommen?«

Clement lächelte. »Nur eine soll kommen. Aber die wird sehr belastend für mich sein. Man wird alles versuchen, daß sie es für mich wird.«

Nun fiel zwischen ihnen der Name des Fräulein von Wagnitz. Clement sah den Herrn sehr offen an und sagte mit Sicherheit: »Ich kann keine Schande darin erblicken, eine Frau zu lieben, von der Eure Majestät geliebt worden ist. Auch ist es das erste Recht aller Frauen, nach einer unglücklichen Liebe sich zu wandeln, Majestät.«

Das sprach er wieder fast leichthin, wie wenn sich Kavaliere von den Damen unterhalten.

»Ich muß es überlegen«, meinte der König. Diesmal war er sich noch nicht im klaren. Er verließ das Wachtlokal sehr nachdenklich. Die Soldaten suchten ihre Bank und würfelten weiter.

Im Torbogen der Hausvogtei stand das Fräulein von Wagnitz, etwa wie eine Bettlerin an einer Mauer lehnt oder die Frau eines Verurteilten ein Gnadengesuch zuzustecken begehrt. Das Fräulein vermochte es nicht mehr zu ertragen, König und Abenteurer, die geliebten, in den Gang des Rechts gezerrt zu sehen. Die Rechte seines Herzens wollten stärker sein. Es hatte sich, mit aller erwünschten Zurückhaltung brechend, selber zur Hausvogtei gewagt. Nun mußte die einstige Hofdame Ihrer Majestät den Herrn ganz nahe an sich vorüberlassen. Sie hatte große, glänzende Augen. Denn das Fräulein zählte zu den sehr schönen Frauen, deren Augen strahlender und weiter werden vom Weinen. Daß sie die Hand ein wenig nach dem Herrn ausstreckte – davon hat die Geängstete nichts gewußt. Es geschah so ohne Halt und Denken, wie das wenige geschieht, das Menschen richtig tun.

Der König blieb stehen. »Ich darf Sie bitten, mir zu folgen.«

Schon kehrte er um, schritt die Stufen noch einmal hinauf, schickte die Wache von neuem hinaus, führte das Fräulein zu Clement und harrte selbst an der Tür.

Das Fräulein sank auf die Bank der Soldaten. Vor ihm lagen noch die Würfel, wie sie im letzten Spiel gefallen waren. Clement trat zu der Geliebten, strich über ihr Haar und sprach ruhig und sicher zu ihr. Aber er sah sie nicht an.

»Ich bin von selbst gekommen«, sagte er der Geliebten, »und ich habe den Entschluß auch nicht geändert, als das dumme, dreiste Spiel des Oberst Forestier begann. Ich werde dem König das Geständnis machen, aber nicht heute und nicht morgen. Erst muß ich selbst Gericht gehalten haben, und so lange mußt du schweigen.«

Die Geliebte hörte aus allem nur eines: daß noch eine Frist war; und daß niemand außer ihr von Clement wußte. Sie konnte nicht anders als hoffen. Niemand kann anders als hoffen, solange nicht die Unabänderlichkeiten Gottes über ihn hereingebrochen sind. Nur die Lügner schwärmen manchmal von der Hoffnungslosigkeit; und die das Unglück der Menschheit noch nicht ganz erfahren haben, gefallen sich in ihr.

 

Zu einer Stunde, da die Minister und Diplomaten mit düsteren und verschlossenen Gesichtern umherliefen und auch der König blaß war vor Erregung und sich in Arbeit vergrub, ging ein junger Mann von gutem Wuchse, proper gekleidet, mit einem munteren, heimlichen Lächeln durch die Straßen, immer näher aufs Schloß zu. Ihm wurde auch nicht bänger, als er am Portal stand. Er hatte einen feinen Brief im Rock. Ganz gewiß, so viel Schlimmes geschah, so Arges man munkelte – ihn würde der König empfangen. Der König hatte selbst an Herrn von Creutz geschrieben, daß er den jungen Burschen sehen wolle. Jawohl, stand in dem Brief des Königs, er sei über die ganze Angelegenheit im Bilde, und Creutzens Schützling möge nun erscheinen.

Da stand der junge Nicolai nun vor dem Herrn: drei Bücklinge bis tief zur Erde – und nun kerzengerade Haltung, und die Augen auf den Herrn geheftet!

König Friedrich Wilhelm schätzte den jungen Mann sehr sorgsam ab. Der erschrak jedoch kein bißchen.

»Wie ich höre, will Er heiraten?« begann der König freundlich zu fragen und suchte Creutzens Brief hervor, in dem der Präsident der Rechenkammer, verantwortlich auch für den Aufschwung der Berliner Gasthöfe, den noch vom alten Wirt Koch selbst erwählten Eidam und Verwalter nachdrücklich empfahl.

Nicolai mußte ihm auf der Stelle berichten.

»Also Er verwaltet den Kochschen Gasthof?«

Der König unterbrach ihn nur im Anfang ein einziges Mal.

»Seine Aufgabe ist nicht leicht. Um unseren schönsten Gasthof in Berlin geht ein Gerücht vom Laster und Tod, und er ist in großer Gefahr; es hat sich alles geändert, und sein Verfall wäre mir bitter. Darum habe ich selbst nach dem Tode der unglücklichen Erbin die Testamentsvollstreckung und Verwaltung an den Präsidenten der Generalrechenkammer übergeben, der den Gasthof und seine Erfordernisse einmal sehr genau kannte; als junger Rat hat er ja selbst dort gewohnt. Der hat Ihn eingesetzt; und wie man mir berichtet, macht Er seine Sache gut, so schwierige Verhältnisse Er auch antraf.«

Der Präsident von Creutz nun hatte allerlei gute Gründe entdeckt, dem jungen Verwalter des Gasthofs dessen Erbin, die einstige Zofe der Wirtstochter, als künftige Braut zu empfehlen, da der König trotz aller schweren Schuld der Demoiselle Koch deren Testament unangefochten ließ. Aber gegen solchen Vorschlag einer nützlichen, wahrlich recht einträglichen Ehe – wenn er nur dem Gasthof wieder emporhalf – hatte der junge Nicolai nicht schlecht gewettert. Dergleichen sei ein übler Rat und eine schlimme Sache.

Wenn die Erbin ihn in seiner Stellung ließ – das war seine Meinung – nun, so wollte er vom Eigenen sparen und sich das Mädchen holen, das ihm einmal gefiel. Nun hatte aber der Zufall – als er daran dachte, mußte er lächeln – gewollt, daß er, nachdem er die Erbin des Gasthofs, die Kastellanstochter aus Charlottenburg, das eine und das andere Mal gesehen hatte, gar nicht mehr nach dem anderen Mädchen, das vielleicht noch irgendwo zu finden wäre, Ausschau zu halten begehrte.

Etwas Hübscheres, Sanfteres, Gesetzteres an Frauenzimmer könne Majestät sich gar nicht denken, versicherte er dem König, obwohl Majestät doch ganz gewiß mit sehr schönen und vornehmen Damen zusammenkämen.

Genau so sagte der junge Mann, und König Friedrich Wilhelm mußte es glauben. Der junge Wirt und Freier sprach auch in der allerhöchsten Gegenwart vergnügt und unbefangen in den Tag hinein; es war ihm nicht anzumerken, daß auch er, eben in dem Kochschen Gasthof, schon Zeuge sehr trauriger Eindrücke war. Jene Legatin, der man nach dem Testament der Gefangenen vom Spandauer Spinnhaus das schönste Appartement im Kochschen Gasthof überlassen sollte, das gnädige Fräulein von Wagnitz, hatte ihm gesagt, die junge Erbin, die Tochter des Charlottenburger Kastellans und einstige Zofe der unglücklichen Demoiselle Koch, habe auch ihn nicht übel befunden und wisse ihm sehr vielen Dank für alle Mühe, die er sich mit ihrem Erbe mache. Aber, so meinte das adlige Fräulein, er dürfe die Jungfer, was Verlöbnis und Heirat anginge, nicht gar so sehr drängen. Die Charlottenburgerin habe einen großen Kummer zu überwinden, und der Tod der Freundin bewege sie sehr.

Wie sollte der junge Nicolai wissen, wieviel Tieferes die Erbin und die Legatin des Kochschen Gasthofes verband, viel mehr als die bloße Hinterlassenschaft und das Vermächtnis der Zarengeliebten an sie beide: nämlich, daß sie, die einstige Zofe und die Dame von Stand, den König von Preußen geliebt hatten und ihre eigene Sprache miteinander reden lernten über die Ferne des Ranges und der Herkunft hinweg.

Der König schien wieder einmal alles von seinen Untertanen zu wissen; so wollte es Nicolai scheinen. Denn der Herr nahm sein Wort auf und sagte: »Ja, die Charlottenburger Jungfer hat einen großen Kummer gehabt. Aber«, so fügte er besonders freundlich hinzu, »Er scheint mir der Rechte, der Jungfer zu einem blühenden Gasthof und einer glücklichen Ehe zu verhelfen.«

Und nun stellte er Fragen nach der Wirtschaft; und der Prüfling schnitt gut ab und zeigte sich ebenso tüchtig wie munter; und seine Munterkeit war ohne Kälte, tat wohl und verletzte nicht die, welche das Leben nicht mehr lachend anzupacken vermögen; sie verwundete nicht jene, die schon zu der großen Einsicht und Vorsicht gelangten.

Aber nun hatte auch der Fröhliche ein paar Falten auf der glatten Stirn und zeigte sich ein wenig bekümmert; es sei nun einmal, gestand er, ein gar zu schlimmer und nicht zu vertreibender Schatten über das herrliche Gasthaus gefallen; bald nach der bunten Zarenzeit nahm es den Anfang. Nun mieden viele Vornehme die Säle und hübschen Appartements, und mancher Wein im Keller würde gar zu alt. Es müsse etwas geschehen, daß der Ruf des Kochschen Gasthofes sich wieder hebe.

Der König, die Audienz beendend, stand auf. Der letzte Punkt war kein Problem. Er reichte Nicolai die Hand.

»Wenn Er mir gut umgeht mit der kleinen Lietzenburger Kastellanin, wenn Er sie mir bald zur Madame Nicolai macht und der Gasthof dadurch einen anderen guten Namen erhält, nämlich den Seinen – so will ich euren Gasthof selber dann und wann besuchen und, wenn es an der Zeit ist, bei euch Pate stehen.«,

Und der König trug ihm einen Gruß an die künftige Braut auf; und weil er gegen den Aufschub einmal erst gefaßter Pläne war, schlug er die Weihnachtszeit und Jahreswende für das Hochzeitsfest vor. Auch für den Kummer der Jungfer schien es ihm am besten so. Das Leben mußte weitergehen.

 

Bald nach den Festen war die Königin von einer Tochter entbunden worden. Der König begab sich sofort nach der ersten Gratulation noch einmal zu der Gemahlin zurück. Er hatte das Gefühl, ihr gar zu wenig Freude und Dankbarkeit bezeugt zu haben. Tatsächlich trat auch die Freude an dem neuen Kinde ganz zurück hinter dem Gefühl der Befreiung, wenigstens dieser einen Sorge enthoben zu sein, wie die Gattin nach all den Erregungen der vergangenen Wochen die Niederkunft überstehen würde; dieser Druck war von ihm genommen.

Das Glück der Mutter war noch geringer. Es hätte ja die Krönung ihrer großen Zeit bedeutet, wäre gerade jetzt ein Sohn von ihr geboren worden. Sie hatte, eben darum, das neue Kind nicht minder leidenschaftlich ersehnt als einst die beiden ersten Söhne und nach ihrer beider Tod den dritten. Sie zweifelte nicht an ihrem Triumphe über Clement.

Daß sie darüber trauerte, ihre eigene Apotheose nicht schon jetzt zu erleben, wie es ihrer ungeduldigen Art entsprach, das verriet die Königin dem Gatten nicht, obwohl es ihr immer sehr schwerfiel, nicht alles rasch und sehr ausführlich zu besprechen, was ihr Hirn und Herz bewegte. Die Scheu, dann in den Augen des Königs nicht mehr groß zu erscheinen, gebot ihr hier Zurückhaltung. So klagte sie nur, ihm keinen neuen Sohn geschenkt zu haben; und er war bewegt und tröstete sie, daß ihm dieses Kind besonders lieb sein müsse als das schönste Zeichen jener schweren Zeit, da seine liebste Frau Königin vielleicht sehr viel für Preußen tat durch ihre zarte Ahnung, ihren klaren Blick.

Er hatte beide Hände auf die überkreuzten Hände seiner Frau gelegt. So saß er bei ihr, tief zu ihr herabgebeugt. Sie hatten so lange nicht mehr wie Mann und Frau miteinander gesprochen. Die Wirren um Clement hielten sie einander fern. Die Königin empfand, was sie noch niemals wahrgenommen hatte: daß es schön war, wenn der Gatte ganz allein so nahe bei ihr saß und leise auf sie einsprach. Wahrhaftig, es war schön, ihm zuzuhören, obwohl er keine Komplimente wußte und ihr nur einen ungefaßten Diamanten zum Geschenk gemacht hatte. Aber er sollte nicht aufhören, davon zu sprechen, daß ihre neue Tochter den Namen Sophie Dorothea tragen sollte zum Gedenken an die große Zeit der Mutter. Diesmal, hatte der König gesagt, wähle er ganz allein den Namen aus. Das war der Mutter ein sehr großer Stolz.

In diesen Augenblicken wollte sie ihre hohe Gesinnung beweisen. Sie sprach von Clements Begnadigung und nannte den König den gütigen Herrn über Clements Geschick. Da erhob sich der König, und wieder war er ganz in seiner anderen Welt, in der Tod und Leben ein anderes sind als an Sarg und Wiege im eigenen Hause. Der König sprach wie in einer Abwehr.

»Ich bin nicht der Herr über Clements Geschick. Niemals werde ich in den Gang der Justiz eingreifen. In diesem Fall bin ich mit zuviel eigener Neigung und zuviel eigenem Glauben verstrickt, als daß ich von dem mir zustehenden Rechte der Begnadigung Gebrauch machen dürfte. Meine Aufgeschlossenheit für Clement ist sein größtes Unglück geworden. Ich bin befangen, kann ihn nie begnadigen. Was ich dir sage, werde ich auch vor den Richtern wiederholen, und vor niemand braucht es ein Geheimnis zu bleiben: dieser Mann war mein Freund. An Kenntnissen, Anlagen und Plänen war er ein König, den ich mir zum engsten Genossen wünschen würde, hätte er ein Reich. Er war ein König ohne Land und Amt.«

Und wie der Prediger Roloff sprach er Worte der Schrift wie die eigenen, vom Augenblick ihm eingegebenen Gedanken aus; und es war, als erfülle ihn noch immer eine letzte, ja ungeheuerliche Hoffnung für Clement, als er nun sagte: »Aber es kommt einer aus dem Gefängnis zum Königreich; und einer, der in seinem Königreich geboren ist, verarmt.«

Tiefer als diese Worte berührte die Königin, als sie kurz danach erfuhr, der König habe den Vorschlag des Magistrates abgelehnt, die neue Kirche in der Spandauer Vorstadt Sophie-Dorotheen-Kirche zu nennen. Solches komme, sagte der König, keinem Menschen fürstlichen Geblütes zu; vor der Kirche seien sie sündige Menschen.

An der Seite dieses Mannes gab es nur Augenblicke des Glückes. Alle ihre Freude war verflogen.

 

»Ich tat, was des Königs Minister alle Tage tun. Sie suchen die Minister anderer Mächte zu betrügen und sind an fremden Höfen nur hochgeehrte Spione. Hätte ich einen öffentlichen Charakter gehabt wie sie, so wäre ich jetzt vielleicht auf der Höhe des Glückes, wie ich nun wohl bald auf der Höhe der Galgenleiter sein werde.«

Clement sagte es im letzten Verhör. Man hatte ihn aus dem Kerker geholt. Die große Halle der Spandauer Feste war zum Gerichtssaal hergerichtet. Es war am frühen Vormittag, Aber Kerzen brannten überall auf dem Tisch der Sekretäre zwischen den Stößen der Akten. Neben dem Lehnstuhl des Königs waren hohe Eisenleuchter aufgestellt. Die inquirierenden Minister vor dem Tisch mit den wuchtigsten Leuchtern gemahnten an Priester am Altar. Wie Chorherren saßen zur Rechten und Linken auf schweren Eichenstühlen die Geschäftsträger des kaiserlichen und des königlich polnisch-kursächsischen Hofes. Sie waren, damit man ihren Herrschern Genugtuung verschaffe, zu der Verhandlung zugezogen. Der König wünschte die äußerste Offenheit; Wien und Dresden sollten jeden Einblick haben. Den Wiener Herrn bedrückte es wenig, daß der Angeklagte einmal kaiserlicher Resident von Brabant im Haag mit zwölftausend Gulden Gehalt hatte werden sollen.

Zum erstenmal waren alle Helfer Clements vor den Richtern versammelt. Aus dem Kalandshofe in der Klosterstraße, dem Gefängnis für das einfache Volk, und der Stadt- und Hausvogtei, die den Inquisiten höherer Stände vorbehalten blieb, waren sie hergebracht worden. Alle hatten sie sich selbst verraten. Der kränkliche, grämliche Baron Heidkam, einer der ewig Mißgünstigen von dem großen Höflingssturz beim Regierungsantritt des Königs her, war plötzlich in allerlei schwedische Spionagegeschichten verwickelt; der Herr von Lehmann, ebenfalls einer der Kavaliere von einst, hatte durch seine Flucht nach Dresden mehr Einblick in die wahrhaft bestehende Komplicenwirtschaft an den Höfen des Reiches gegeben, als ein Geständnis über die Lieferung von Unterlagen für gefälschte Briefe vermittelt haben würde. Der Kriegssekretär Bube war schon längst in Weiberkleidern an einem Stadttor abgefaßt worden.

Alle Unzufriedenen, so schien es, hatten sich an Clement geheftet. Alle spielten sie ihr Spiel entsetzlich schlecht und hatten es verloren, als der große Abenteurer sie nicht mehr zu führen bereit war. Gegenseitig trieben sie sich ihren Richtern zu. Nun war auch Grumbkows Erster Sekretär verhaftet.

Bis sie nicht alle Clement gegenübergestellt seien, sagte der Herr, bleibe ein großer Skrupel in seinem Gemüte übrig.

Es war wie eine Totenmesse: die dunkle Halle, die Stille, die Kerzen; Baron Heidkam schluchzte vor sich hin; die schweren Wolken draußen wurden immer dichter, immer düsterer. Ein Vorfrühlingsgewitter über der Havel machte den Tag beinahe zur Nacht.

Clement bat die Barone Heidkam und Lehmann um Verzeihung, daß auch sie nun in sein Unglück einbezogen wurden. Zwei Unzufriedene, die mit dem neuen Günstling wieder aufzusteigen hofften, waren zu Verlorenen geworden. Sie hatten Domänenräte gekannt, die ebenfalls verbittert waren gegen das neue Regime. Die hatten ihnen für Clement alle Buchungsunterlagen beschafft, die er brauchte, um in gefälschten Briefen österreichische und sächsische Pläne über die Entführung des preußischen Staatsschatzes glaubhaft zu machen.

Clement hatte aber dem Herrn auch Kopien von Plänen seines Jagdschlosses Wusterhausen ausgeliefert, deren Originale sich in Händen der fremden Kabinette befinden sollten. Und er hatte die Warnung hinzugefügt, der König möge nicht gar zu sorglos auf Wusterhausen leben, fast ohne Leibwache, nur vier Meilen von der sächsischen Grenze entfernt. Der König hatte an der Echtheit dieser Projekte nicht gezweifelt.

Grumbkows Sekretär berichtete sehr dreist und in offenem Haß gegen König Friedrich Wilhelm. Der Herr sei nun einmal nicht beliebt. Es herrsche allenthalben viel Mißfallen darüber, daß die Leute so viel geben müßten, wie sie gar nicht aufbringen könnten; zu viel Arbeit und zu wenig Besoldung, das schaffe eben eine schlechte Stimmung; selbstverständlich hätten Untergebene und Bediente miteinander räsoniert.

Minister von Grumbkow gab sich äußerst unbefangen. Er könne sich unmöglich um die privaten Unterhaltungen seiner Sekretäre bekümmern. Die Minister, Richter und Räte sahen den Fall ebenfalls nicht so tragisch an. Ein fauler und geldgieriger Schreiber hatte mit unzufriedenen, verarmten Baronen zu konspirieren gesucht und ihnen einige Aktenabschriften, wie sie durch seine Hand zu gehen pflegten, zugeschanzt. Er hatte Clement, durch die Barone, Briefe des Ministers zu lesen gegeben und geheime Pläne von Berliner Bauten verschafft. Ein vereidigter Beamter war er nicht. Das Gericht erkannte auf drei Jahre Festungshaft. Es wußte, daß der König zwanzig Jahre forderte.

Nun, während der Regen immer dichter rauschte und die Blitze immer rascher folgten, ging ein Flüstern durch den Saal. Boten erschienen an der Tür. Meldungen und Rückfragen lösten sich ab. Endlich meldete man der Majestät: »Der Kriegssekretär Bube kann nicht vernommen werden. Ein Schlaganfall hat ihn getroffen.«

Der König, von Beginn an übers Protokoll gebeugt, sprach, ohne den Blick zu erheben: »Schlaganfall? Gift!«

Der Schreiber Nord, der trotz aller seiner üblen Briefe über den König begnadigt werden sollte, hatte sich zur gleichen Stunde die Kehle mit einem Federmesser durchschnitten.

Clement wurde die erbetene kurze Pause, sich zu erholen, bewilligt. Er war völlig überanstrengt. In den Monaten der Haft waren ihm mehr als zweieinhalbtausend Fragen vorgelegt worden. Zu rund fünfhundert Punkten hatte er sich schriftlich geäußert. Seine Niederschrift kam einem dicken Buche gleich. Rätselhafterweise mißtraute der König keiner seiner Aussagen. Noch rätselhafter aber schien, daß der König das Verfahren so gar nicht beschleunigte. Sollte nicht nach seinen radikalen Justizverordnungen ein Kriminalprozeß nicht mehr länger als drei Monate dauern? Warum fiel das Urteil noch immer nicht?

Wieder hatte man Clement eine »letzte« Liste mit noch weiteren dreiundachtzig Fragen zugestellt. Auch hatte er noch einige früher gemachte Aussagen zu bestätigen. Die Pause, die man ihm bewilligt hatte, war vorüber.

Danach bat er, einige Aussagen in französischer Sprache vorbringen zu dürfen, um sie recht bestimmt machen zu können. Die meisten reckten die Hälse, als gäbe es dabei etwas zu sehen. Ein Minister warf vor Neugier gleich den Leuchter um, und Clement lächelte verächtlich.

Der König hörte nun von ihm nichts Neues. Clement entwarf mit Kälte und Genauigkeit die Historie eines Abenteurers, die der König schon längst als die erschütternde Beichte eines Menschen vernahm, der, tief in Schuld und Übel und Unordnung gebannt, den Blick nicht von Kreuz und Krone zu wenden vermochte. Er hatte dem König, ruhig und bewußt in jeder Einzelheit, sein Geständnis an jenem Tage und zu jener Stunde abgelegt, die er sich in Holland vorgenommen hatte. Die Geliebte hatte nur gestammelt: »Nun mußt du es tun«, und noch einmal die ganze Zerrissenheit ihres Herzens erlitten. Sie hatte auch gewußt, daß Clement den Namenszug vor den Augen des Herrn wiederholen würde.

Ganz am Ende der Clementschen Aussagen horchte der König aber auf.

Clement stand hinter den tief herabgebrannten Kerzen. Sein Haar lag wirr und feucht auf seiner schönen Stirn. Die großen, grünen Augen hielt er fest auf den König gerichtet. Er sprach leiser.

»Ich habe Jus und Theologie zur gleichen Zeit studiert. Das hat mich verwirrt. Der Zwiespalt zwischen Gottesrecht und Menschenrechten war zu tief, die himmlischen und die irdischen Ordnungen klafften zu furchtbar auseinander. Daher kam mein übler Wahn, daß in der Welt nichts ohne List und verwirrte Umstände vorwärtszukommen vermöchte und daß jeglicher Sünder sehr wohl König werden könnte, wenn er den sündhaften Fürsten nur an Fähigkeiten überlegen wäre und in seinem Streben höher griffe als sie.

Und weil ich es nicht kann, auch nicht begehre, nach einer solchen Rebellion zu leben, so ergebe ich mich ganz und gar dem, was Majestät beliebt. Einen Umstand aber möge der König als schwerstes Vergehen bewerten: daß ich, ihm aufzufallen und sein Vertrauen zu gewinnen, den Glaubensübertritt vornahm und den von ihm am meisten geschätzten Prediger als meinen Lehrer suchte. Gott aber hat in dem zu mir gesprochen, was ich als Lüge und Frevel begann.«

Die Kerzen waren niedergebrannt. Die Halle hatte sich mit Tageslicht gefüllt. Die Richter in den langen, bauschigen Talaren gingen leise hin und her. Es war wie in einem Dom nach dem Hochamt.

Der König verharrte blaß und regungslos in seinem Armstuhl. Wer sollte richten, wo Gott selbst an einem Sünder handelte? Er fühlte die ganze entsetzliche Gefahr, die der Rechtsgang jetzt für ihn selbst bedeutete. Er war müde, zu töten. Wie durfte er den bekehrten Sünder Gott entziehen?! Was hatte Gott mit einem Menschen vor, den er vom Rebellentum zu solcher Demut vor der Ordnung führte?! Der König wollte so reiche Klugheit und so tiefes Denken, wie sie den Aufrührer eigneten, nicht vernichten; er wollte sie der Ordnung dienstbar machen, wollte begnadigen gegen alles Recht – ein Recht, das er von Grund auf hatte säubern wollen. Hier, an dieser Stätte und in dieser Stunde, rangen das alte und das neue Recht, quälend für ihn spürbar, miteinander. Und schon verschrieb sich der König einem freien Rechte seines Staates und leistete den Verzicht auf jene Machtvollkommenheit des Landesherrn, nach der er Urteilssprüche aus eigenem Ermessen bestätigen, mildern und verschärfen konnte. Aber seine Schwermut wich durch solchen Entschluß nicht von ihm.

Dieser Morgen des Gerichtes war von Erschütterungen zu belastet. Durch Nachtkuriere hatte den Herrn unmittelbar vor der Verhandlung gegen Clement die Nachricht ereilt, der Zarewitsch sei im Folterkeller mit Knuten erschlagen worden, und niemand werde je erfahren, ob den tödlichen Hieb der Henker oder der Vater führte – der Vater, den seine Untertanen noch im tiefsten Haß ihr »Väterchen« nannten!

Für wen, fragte es wie eine fremde Stimme im Herzen des Königs von Preußen, für wen, Zar Peter, baust du deine Städte? Für wen schickst du die neuen, die gewaltigen Schiffe aufs Ostmeer? Für dich und deine kurze Frist? Hat Gott denn dich und mich aus unserem lichten Amte gestoßen und in ein düsteres Reich seiner unentrinnbaren Gewalt verbannt? Sind wir in die letzte Tiefe allen Königtums geworfen, dorthin, wo der König nur noch dem Henker gebietet und nur noch dieses einen Dieners bedarf? Ist dir das Schwerste auf er legt, Bruder Peter: Richter und Vernichter dessen zu sein, der nach dir kommen sollte?

Noch in jedem geheimen, quälenden Gedanken bestätigte der König die Freiheit und Unabhängigkeit des Gerichtes. Er suchte Gesetze, welche größer waren als der eigene Wille. Ihn schauderte vor Zar Peter, dem Freund.

Die Reden der Bevollmächtigten aus Wien und Dresden aber beide hatten sich zur gleichen Zeit erhoben – hörte der König nahezu feindselig an. Funkelnd von Ringen und Orden, strahlend von den goldenen Schnüren ihrer samtenen Röcke, standen sie da, umleuchtet von dem ganzen Glänze ihrer Höfe. Sie sprachen kalt und feierlich. Dieses Gericht, wie es am besten die Teilnahme des Königs und der auswärtigen Bevollmächtigten bezeuge, sei ein Sondergericht, Es könne in einer so hochwichtigen Sache, in die drei mächtige Staaten einbezogen seien, die Anerkennung des Reiches und der an ihr beteiligten Höfe nur erlangen, wenn es die Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. übernehme.

Was war Preußen und sein Recht? –

Wien und Dresden forderten die Hinrichtung. Der Kaiser verlangte die Auslieferung des Verbrechers, um ihn in Wien lebendig pfählen zu lassen. Man wollte Clement der Gnade des Königs entziehen; in dem Unberechenbaren schien etwas gar zu Absonderliches vorzugehen!

Und der König atmete auf – angesichts solcher Herausforderung! So maßloser Anspruch verlangte neue Verhandlungen. Es würde noch Zeit vergehen. Niemand konnte mehr sein versäumtes Cito! Cito! bespötteln.

Clement war noch einmal aufgestanden, drohend und bleich.

»Ich habe nur an einem gefrevelt, und der soll mich richten. Dem Rechte des Königs von Preußen will ich mich fügen und allein in ihm dem Gesetze allen Königtums Genüge tun, wie er allein ein König ist.«

Die Herren Bevollmächtigten belächelten den Wahn und Dünkel des armen Schachers. Aber im Innersten wüßten sie wohl: noch war er stark genug, um zu drohen.

 

Daß er es war – Clement bewies es dem König, obwohl er keine Gelegenheit mehr hatte, ihn zu sprechen. König Friedrich Wilhelm fürchtete für Preußens Recht. Darum hielt er sich fern. Clement bat ihn nicht zu sich. Er wußte, wie der Herr um Recht und Gnade litt. Er erflehte von dem König nur die eine Gunst, ihm eine geschlossene Denkschrift zustellen zu dürfen.

König Friedrich nahm an keiner der nachträglichen Vernehmungen mehr teil. Doch ließ er sich die Protokolle Wort für Wort vorlesen. Clements Denkschrift las er ganz allein. Er zweifelte nicht, daß jedes Wort des Briefefälschers wahr und recht sei. Er ahnte, daß Clements einstige Phantome und Erdichtungen den Kern einer nur zu beunruhigenden echten Prophetie enthielten.

Er blätterte und blätterte und wurde immer überzeugter: hier wurde ihm ein Dienst erwiesen, wie ihn noch keiner für ihn leistete. Es mochte dahingestellt bleiben, inwiefern es mit jenen Plänen, den König von Preußen auf einer Jagd zu »überfallen und aufzuheben« – wie es mit Stanislaus von Polen versucht und mit König Johann Sobieski vor gar nicht langer Zeit geschehen war –, den Höfen zu Dresden und Wien jemals Ernst gewesen war. Von Hannover, Dresden und Wien gemeinsam aber war eine Zerstückelung der brandenburgischen Landschaften in Aussicht genommen; und in der Wiener Allianz hatten Österreich, England und Polen sich verpflichtet, »alle ihre übrigen Kräfte anzuwenden, um dem Feinde in seinen Landen Diversion zu machen, wenn einige derselben so gelegen sind, daß man leichtlich einbrechen kann«. Der Feind war Brandenburg.

Um das neue Preußen zu schwächen, hatte der Kaiser begonnen, den Widerstand des Adels gegen König Friedrich Wilhelm zu stärken.

Ein Feuer glimmte in der Asche der alten Kriege und – der Freudenfeuer zu der Thronbesteigung deutscher Fürsten in fremden Ländern. Die aber, die sich Meister all der künftigen Weltgeschicke dünkten, schienen viel eher die Werkzeuge des einen allmächtigen Willens zu sein: des großen Kardinals in Madrid, Alberoni, des wahren Herrn im ohnmächtigen Spanien der Königin Elisabeth. Der stand in Clements Schrift plötzlich vor dem Preußenkönig als der Antichrist, der dem Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation den raschen Untergang geschworen hatte. Und Preußen war des Reiches wundes, wildes Herz. Europa besaß einen Dämon, den Ketzerverbrenner von Madrid, Toledo, Sevilla, Valladolid und Cuenca. Klein war er, ein Gärtnerssohn, schwarz, breitschultrig und hatte einen großen Kopf und kurzen Nacken. Reich war er an Plänen, Hilfsmitteln und Auswegen, maßlos bis zur Unbesonnenheit und angetan, einen Staat groß zu machen oder zu verderben. Und niemand außer Clement schien den Dämon ganz zu kennen. Niemand als Clement war wahre Verheißung von ihm widerfahren. Von ihm empfing der Abenteurer allen Anspruch seiner Macht. Durch den einen Mann ohne Wissen um Herkunft und Geburt sollte der König von Preußen, durch den Ketzerkönig sein Land, durch Brandenburg das Reich, durch das Reich der Erdteil vernichtet werden. Für einen schweren Augenblick der Weltgeschichte schien alles Geschehen unter den Ländern und Völkern um den Kardinal von Madrid, den König von Preußen und den Abenteurer und Rebellen, der nicht wußte, wer er war, zu kreisen.

Davon schrieb der Briefefälscher, und der König glaubte ihm und wurde zum Eingeweihten der tiefsten europäischen Geheimnisse.

König Friedrich Wilhelm verbarg die Clementsche Denkschrift in seinem Rock. Er rief den Diener und ließ seinen Schimmel satteln.

Noch einmal hatte er das Recht, zu Clement zu reiten, wiedergewonnen. Er kam ja nicht, ihn zu verhören. Er wollte sich ja nicht in das Verfahren mengen. Er suchte ihn nur auf, um ihm zu danken. Und als gehöre dies notwendig mit zu jenem Dank, ließ er der einstigen Hofdame von Wagnitz freundlich Nachricht geben, die Angelegenheiten ihrer Güter seien nun geordnet; es erwarte sie ein neues, gutes, großes Werk, es sei viel an ihren armen Bauern gutzumachen, aber die Möglichkeiten seien nunmehr auch gegeben.

Er wollte das Fräulein von Wagnitz von Berlin entfernen, der Stadt des Gerichtes über Clement. Er wollte der Geliebten des Abenteurers noch den Weg ins neue Leben weisen.

 

Aus der Zeit, in der König Friedrich Wilhelm täglich nach Spandau geritten war, hieß der Schimmel bei den Pferdejungen immer noch »Der Spandauer«. Manchmal war das Tor der Festung noch verschlossen gewesen, wenn der König schon die Gasse zum Turm einbog. Manchmal hatte der Herr noch sein Mittagsmahl in Clements Kerker eingenommen. Täglich hatten sich damals der König und der Abenteurer gesprochen.

Als der Herr jetzt doch noch einmal wiederkam, fand er Clement in Ketten gelegt. Der Gefangene schien nicht darauf gefaßt, daß er den König wiedersehen sollte; und der König nahm wahr, daß Clements grüne Augen sich bis zum tiefen Schwarz verdunkelten, wie immer, wenn er sehr erregt war. In seinen Ketten verneigte sich Clement tief vor dem König; unentwegt sah er ihn an. Der König umschritt erst schweigend den Tisch, blieb stehen, stemmte dann die Hände auf den Tisch und sagte fast heftig, wohl um den Schmerz zu verbergen: »Jeder muß die Tiefen der Schuld an seinem Teil bis zum Tiefsten auskosten. Ein König wird Räuber, Tyrann, Wucherer, Brandstifter, Mörder.«

Der Bleiche, der in seinen Ketten, dem König gegenüber, an dem Pfeiler lehnte, hörte mit gesenktem Haupte schweigend zu. Tränen rannen ihm über das Gesicht und die Hände. Als gäbe es nur diese eine Antwort, sagte er dann leise das Ungewöhnliche und Unvermittelte.

»Gott und der König sind wie die Cherubin über dem Gnadenstuhl, deren Antlitze gegeneinanderstehen. Gott ist ein himmlischer ewiger König, und der König ist ein irdischer sterblicher Gott. Könige, Majestät, Könige im Glauben, sind wandelndes Gleichnis unter den Menschen, sind Hüter der heiligen Ordnung Gottes, für die er sich in seinem Sohne hingab; Haushalter seiner Geheimnisse sind die Könige der Erde – auch dort, wo sie morden.«

König Friedrich Wilhelm entgegnete ihm allzu rasch: »Ich bin ein Mann, Baron, der die Hufen seiner Äcker mit der Meßschnur berechnet, die Warenballen seiner Manufakturen mit Gewicht und Elle prüft, den Etat bis auf den Pfennig kalkuliert, Montur und Proviant der Armee überwacht.«

Der mit den dunkelgrünen Augen nickte.

»Ja, Majestät, und eben darum stellt Gott Sie mitten in seine Geheimnisse. Das Wunder wird nur an den Nüchternen offenbar.«

»Wir reden«, lenkte der König ab, »von Dingen, die Ihnen in Ihrer bitteren Lage fernstehen müssen. Sie sind vom schwersten Schicksal bedroht. Ginge es nicht um das Recht – ich würde Sie begnadigen. Ich würde Sie zum ersten meiner Räte machen. Sie waren weder mein Untertan noch in meinem Dienste und mir im Grunde also durch keine Pflicht verbunden!«

Clement lächelte. Die Tränen vermochte er nicht von den Wangen zu wischen. Die Ketten waren zu schwer, die Haft war zu lang.

»Es ist nicht schwer, zu sterben«, sagte er mit wieder fester werdender Stimme. »Ich bin längst vernichtet. Ich habe den einzigen König gefunden. Keine Vernichtung, Majestät, ist so völlig wie jene, die durch Bekehrung geschieht.«

Weiter zu sprechen, hat der Herr ihm nicht gewährt. Finster gebot er ihm Schweigen.

Aber als dies nun gesagt war, meinte Clement zu dem Herrn so frei wie einer, der nichts mehr zu fürchten, wohl aber noch ein Letztes zu vollbringen hat: »Sire, Sie sind durch Gedanken verwundbar.«

Der König, ohne daß er noch eine Erklärung verlangte oder darauf einging, bemerkte leichthin: »Ich glaube wohl.« Er hatte sich einen Schemel gesucht, ließ sich nieder und sah zu dem Gefangenen auf.

Der hielt ihn mit Blicken und Worten umklammert. »Wer Sie mit Gedanken verwundet, bekommt eine große Macht über Sie.«

Der König schien sinnend und still. »Wenn Gottes Geist in ihnen mahnt«, rang er sich dann ab.

Der Abenteurer suchte Mitleid, Trauer und Bewunderung zu verbergen. Er begann kühl aufzuzählen: »Der erste, der Sie mit Gedanken verwundete, war Professor Gundling. Er mußte gehen. Ich habe es dahin gebracht. Er war der einzige Nebenbuhler, den ich fürchtete.«

Der König wartete nicht ab, was nun folgen sollte. Er fragte nur: »Soll ich Gundling wieder holen lassen?«

»Nun, wo Sie das Geheimnis wissen – ja. Nun kann er Sie nicht mehr verwunden.«

»Nur wachsamer machen«, schloß der König und senkte den Kopf.

Aber noch einmal drängte es Clement zur Rede.

»Ach, Majestät.« Da verschlug es ihm die Stimme, und er vermochte nur zu denken: Du Wachender, Lebendiger!

Der König, als wäre es ihm doch nicht so leicht faßbar, wiederholte es leise: »Ja, ich bin durch Gedanken verwundbar.« Und er fühlte allen Schmerz und alles Fieber, die jene Verwundung ihm brachte, in ihrer unerträglichen Schwere und Glut.

Sie schwiegen jetzt beide. Der König erhob sich.

»Ich werde nicht mehr kommen.«

Die Ketten klirrten nicht. Der Gefangene blieb regungslos.

Nur der Schemel, den der König zurückschob, polterte auf dem steinernen Boden. Die Tür zum Kerker wurde hart geschlossen.

Nun ritt der Herr nicht mehr nach Spandau.

Wie er Städte baute, Regimenter auf die Beine stellte, Handel trieb, Edikte auf Edikte häufte und in dem leichten, offenen Wagen durch die Lande seiner Herrschaft jagte, so ungestüm, so beharrlich begann er sich auf dieses Neue zu stürzen. Er wollte das Wissen um den Sinn seines Amtes ertrotzen, das ihn zwang, einen zu töten, der einem König glich und ein Knecht sein mußte, ein Gefangener.

Wo war der Segen, wo der Fluch, wo die Verwerfung und wo die Erwählung? Bei den Gefangenen oder den Richtern, bei den Knechten oder den Königen?

Als der Herr das letztemal aus Clements Kerker kam, war er beschattet von der Ahnung, daß Könige vermögen müssen, mehr zu leiden und schwerer zu sündigen als andere Menschen.

Könige sind am tiefsten gebeugt unter Gottes Gericht.

 

Ruhelos durchschritt er das Schloß. Es war so still, viel zu still. Die Königin spielte mit ihren Damen schon seit dem Kaffee Toccadilles; und L'hombre, das hübsche spanische Spiel; im engsten Kreise hatte der Herr ihr auch zwei Glücksspiele noch gestattet.

Die größeren Kinder hatten Unterricht. Die Kleinsten lagen noch im Mittagsschlaf. Die Sekretäre waren nicht bestellt, das Arbeitskabinett stand leer.

Jenseits des Ganges war eine Tür nur angelehnt. Der König öffnete sie ganz. Niemand ließ sich sehen. Doch fand er Spuren einer Arbeit, einen Zeichentisch mit Skizzen, eine Staffelei mit aufgespannter, aber unberührter Leinwand; Taburetts mit Farbenbüchsen, Behälter mit Pinseln standen umher. Über einer Sessellehne hing ein Kindermantel von sehr leichtem Hermelin. Der König wußte um die Vorbereitungen für ein neues Gemälde. Die jüngste Prinzessin sollte für die englische Verwandtschaft von Pesne porträtiert werden.

Der König prüfte die Pinsel und Farben. Die alte Lust kam über ihn, was er plante und was ihn bewegte, in flüchtiger Skizze hinzuwerfen. Es war verführerisch, daß er den Pinsel schon in Händen hielt, die Leinwand aufgespannt fand. Er vermochte nicht zu widerstehen.

Litt er um die Not der Bauern – er malte ihren Hof, den Jammer der Frau, den Streit der Männer mit dem Wucherer, die Raben des Unheils über dem Dach.

Ersehnte er gewaltige Geschlechter für seine menschenarme Erde, verlangte er danach, daß der Sand zu blühen und der Sumpf von Ähren zu rauschen begönne – er malte Enaksöhne, ragend und herrlich wie üppige Bäume vor den dürftigen Kiefern der Mark.

Auch Potsdam, die neue Stadt, war ein Bild.

Wo aber gab es je ein Bild des Sinnes?

Er begann, den Denkenden zu malen.

Die Gedanken sollten ihn nicht mehr überfallen aus ewiger Leere heraus, ihn zu verwunden, ihm zu entweichen und unfaßbar zu bleiben.

Er mußte sie bannen, die ungreifbaren, unbegreiflichen.

Ungefüge zog er die Striche, aber leise tauchte er den Pinsel in die Farbe, mit dem Rot des Lebens das Bildnis des Mannes zu durchströmen, der sich betrachtet, wie einer, der ein Bild anblickt oder im Spiegel sich anschaut in der bangen Frage, wer er sei. Er malte den Mann in dem Bild und dem Spiegel: er malte das Bild eines Bildes. Aber die Augen des Menschen waren leer vor Suchen und vor Ausschauhalten, leer und unergründlich in einem, als wären sie, immer nur suchend, selbst niemals mehr für eines Menschen Blick zu finden.

Um den Kopf des Mannes zog der König einen Bilderrahmen, als stünde er wie ein Bild in dem Bilde. Von unten her fügte der König einen Spiegel in sein Gemälde; er warf ihn nur in groben Strichen auf die Fläche. Den Spiegel hielt er dem Mann in dem Bilde entgegen, so hart, daß beide Rahmen aneinanderstießen.

Aus dem Spiegel trat zum zweitenmal das augenlose Antlitz. Mit leeren Augen blickte es sich selber an, zwiefaches Gesicht ohne die Möglichkeit der Selbsterkenntnis.

Der König dachte nicht; er bannte die Gedanken; er malte.

Es war ein Bild von einer harten Hand, ein Bild aus einem schweren Sinn, gemalt von einem, der kurze Rast hielt auf der ruhelosen Wanderung durch die stille, leere, goldene Flucht verlassener Räume, in denen er, ein König, niemals heimisch war.

 

Am Abend traf noch ein Brief vom Fürsten Anhalt-Dessau bei dem König ein. Er sollte zur Jagd nach Dessau kommen. Dem König erschien es noch ein wenig zu früh; aber er verstand. Er verließ Berlin sofort. Er ritt mit dem Fürsten; er blieb stundenlang an seiner Seite. Bei den abendlichen Zechereien erschien der König nicht.

Dagegen hatte er gebeten, daß er sich nach der Rückkehr aus dem Walde, sobald er sich nur ein wenig ausgeruht und umgekleidet habe, in das Arbeitskabinett des Fürsten zurückziehen dürfe. Er bat ferner, ihm gegen acht oder neun Uhr noch einen kleinen Imbiß an den Schreibtisch bringen zu lassen. Zur Nacht verabschiedete er sich nicht mehr. Den ganzen Abend schrieb der König.

Der Fürst bot ihm die eigenen Sekretäre an. König Friedrich Wilhelm dankte. Es handle sich um Affären und Projekte, die er noch gänzlich geheimhalten müsse, vorerst auch noch vor dem Treuesten.

Die Bedrücktheit des Königs war allen so offensichtlich, daß niemand sich wunderte, als der Herr schon vor der Zeit wieder abzureisen verlangte. Er machte der Fürstin, nach ihrem bürgerlichen Blute nicht fragend, einen artigen Besuch. Ihr teilte er es zuerst mit.

Über sein nächstes Reiseziel äußerte sich der König ein wenig unbestimmt; tatsächlich wußte er es selbst noch nicht. Ihn verlangte nur nach Ruhe für die neue Arbeit, für den eben erst gefaßten Plan. Er hatte Woche um Woche verloren über den Geschicken und Gedanken. Nun stürzte er sich wie ein Reuiger auf das Werk; aber noch schwieg er beharrlich. Selbst an dem Abend des Abschieds änderte er nichts an seinem Verhalten und redete sogar von Dingen, wie sie der Dessauer jetzt am wenigsten erwartete. Er sprach von Gundling. Warum, fragte sich der Fürst, in aller Heiligen und drei Teufels Namen gerade Gundling?!

Der Fürst sollte Gundling wiederbeschaffen!

Den Narren? Den Federfuchser? Den Blackscheißer? Den Säufer? Den haltlosen Heuler? Den Undankbaren? Wie kam man zu der zweifelhaften Ehre, mit Verlaub zu fragen, Majestät?

König Friedrich Wilhelm hob die Hand, ein wenig abwehrend. Doch dann erklärte er es ruhig.

Der Fürst hatte in Halle sein Regiment und hielt sich sehr viel dort auf. An der Hallenser Alma mater war Gundlings Bruder ein Professor von Rang. Der mußte von dem Flüchtling etwas wissen.

»Soll er mit Gewalt gebracht werden, Majestät?« Jetzt machte der Gelehrtenfang dem Fürsten schon Spaß.

»Nein«, sprach der König. »Gundling soll Zusicherungen erhalten. Mein Vorleser und Historikus in festem Amt soll er werden. Ich muß ihn wiederhaben.«

Der frische, braungebrannte Fürst, der hochgereckte Mann mit den kühlen, von keiner Schwermut verdunkelten Augen vermochte unmöglich zu ahnen, wie dringend der Herr den eigenwilligen Schwätzer und seine wunderlichen Gedanken, seine absonderlichen Parallelen brauchte und gerade jetzt nach ihnen verlangte.

Fürst Leopold fügte sich; er versprach, auch wenn er den königlichen Freund diesmal durchaus nicht verstand; denn der hatte sehr viel durchgemacht; man durfte ihn nicht gar zu dringlich fragen. Und schließlich galt es nicht mehr, als einem Deserteur nachzustellen. Der Fürst schrieb emsig in der merkwürdigen Angelegenheit. Aber der Alte Schnurrbart schrieb ja so ungeheuer gern, wenn auch wirr und unleserlich und um jeden Preis in jede Silbe ein überflüssiges »h« einschiebend.

 

Erst als sie schon über zwei Meilen jenseits der preußischen Grenze waren, vom Anhaltischen her, gab der König das genaue Ziel an. Aufs Jagdschloß Schönebeck zu sollte man fahren. Nach diesem Schlosse, weil es gar so abgelegen war, hatte er noch nie gefragt. Aber darum war es nun der rechte Aufenthalt für ihn. Da war kein Hof, da gab es keine Gäste, da fand sich weit und breit auch keine Nachbarschaft. Der König hatte vorerst lediglich damit zu tun, das völlig verstörte Kastellanspaar über seine Ankunft zu beruhigen. Seinen Kutscher schickte er gleich in die nächste Stadt, ihm Federn und Tinte und reichlich Papier auf das Jagdschloß zu holen. Der König ließ sich nur zwei Zimmer richten, den kühlen, kleinen Saal mit seinen hohen Bleiglasfenstern nach dem Apfelgarten und, jenseits des gepflasterten Flures mit den Geweihen, eine Schlafkammer. Der Wald stieg nahe ihrem Fenster zu einer kleinen Höhe an. Die Federbetten der Frau Kastellanin waren gar nicht schlecht. Nur einen großmächtigen Waschzuber mußten sie dem König noch holen. Früh, mittags und abends verlangte der Herr eine Kanne Brunnenwasser.

Die anderen Zimmer, alle zu ebener Erde in winkligem Kreise um einen kleinen Mittelhof gelegen, sollten bleiben wie sie waren. An Schränken, Tischen, Spiegeln hatten sie nicht viel: hier standen noch zwei Armstühle vor einem Kamin, dort noch eine Truhe und ein eiserner Leuchter vor rissiger Wand. In der einen und der anderen leeren Stube hatten sich die Kastellansleute sogar mit altem Hausrat, Obstkörben und Handwerkszeug breitgemacht. Der Herr beließ sie ihnen. Seine kleine Geleitschaft schickte er voraus nach Berlin. Er blieb ganz allein.

Aber wenn nun jeden Abend in Saal und Kammer die Lichter angesteckt waren, sah selbst das arme Jagdschloß Schönebeck, das jahrelang wie tot gelegen hatte, nahezu wieder festlich aus. Der flache, schmale Giebel über dem niedrigen Tor trug das kurbrandenburgische Wappen, von Efeuranken umweht; das Schloß lag leicht erhöht in dichtem, wildem Buschwerk; dahinter war der Wald, waren die Kiefern, die Birken, die Sterne.

Die Schönebecker Hunde gewöhnten sich sehr rasch an den Gast. Als der König am Morgen den Küchengarten – er hatte nur die Breite von zwei Beeten – und den strohgedeckten Fachwerkstall mit Kuh und Kalb und Schaf, Ziegen und Hühnern besichtigte, folgten ihm die Hunde schon wedelnd. Tagsüber kratzten sie manchmal an der Tür zum Saal. Aber da hörte der Herr nicht auf sie. Er schrieb und schrieb, wie ein Magister über einem Buche hockt, das ihn berühmt machen soll unter allen Gelehrten der Erde. Nur die weißen Blätter lagen vor ihm und nicht wie sonst die hochgetürmten Aktenstöße, die Urkunden, Rechnungen und Belege. Keine Sekretäre, keine Referenten gingen aus und ein.

Völlig Neues schuf der Herr. Seine Lettern jagten sich nur so. Es war nicht mehr die alte, klare Schrift. Jäh und alle Zeilen sprengend warf er klobige, zerrissene, schiefe Hieroglyphen aufs Papier. Daß er so lange seinem Schreibtisch ferngeblieben war, daß er den Bau von Potsdam außer Augen ließ, daß er sein Regiment nicht mehr an jedem Tage selber exerzierte, daß er viel grübelte und in Gedanken war, voller Sorgen und Fragen, und nur den Sinn des Amtes erfassen wellte, als sei dies dringlicher denn alle Tat – nun erwies es sich als tiefe Ruhe der Besinnung vor dem Werk, als ein Atemholen vor dem Ausbruch königlichen Schöpfertumes.

Als er müßig umhergelaufen war, verwundet und verzehrt von den Gedanken, hatte er dennoch sein Land um keine Stunde seiner Königszeit betrogen. Nun war es erwiesen. Nun war er freigesprochen. Jedes Blatt, das er auf Schönebeck schrieb, war Rechtfertigung, Beweis und ein eingelöstes Versprechen.

Der König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg war daran, die Mark und Preußen, Cleve, Magdeburg und Pommern zusammenzuschmieden. Angesichts der Weltfeindschaft unterwarf er das Zerrissene und Widerstrebende im eigenen Land, das aber tausend Gefahren in sich barg, einer einzigen Ordnung. Fünf Jahre seiner Herrschaft hatten die Notwendigkeit gezeigt, fünf Jahre seiner unermüdlichen Landfahrt hatten ihn die Möglichkeit gelehrt, an die noch keiner glauben wollte. Er gliederte, vereinfachte, glich aus und ergänzte. Er schrieb das einzige Buch seines Lebens: wie sein zerstückeltes, sein allen Feinden offenes, armes Land zu regieren sei, auch wenn er selbst nicht mehr wäre. Aus Landstrichen schuf er ein Reich, aus Ständen den Staat, aus sinnlos vielfältigen und einander widersprechenden Verordnungen ein starkes, klares Gesetz. Er schrieb die erste Verfassung des preußischen Staates; und er hatte die Stunde erkannt, in der solche Niederschrift geschehen mußte. Jeden Tag, wenn er nach Spandau geritten war, hatte er bei sich erwogen, wie alle ihn verließen, mit denen er nun ein halbes Jahrzehnt hindurch täglich persönlich oder brieflich in gemeinsamem Werk stand. Er wußte, wie seine Großen nur auf den Augenblick seines Schwachwerdens warteten. Er hatte Äußerungen aufgefangen, die ihm alles verrieten: »Der Chef steckt bis über die Ohren in der Prozeßgeschichte, ein Glück«, und »Rex hat für gar nichts anderes mehr Auge und Ohr und die Dinge nicht mehr in der Hand!«

Der König war nicht mehr der alte! Man mußte in Bereitschaft stehen. Der in Bereitschaft stand, war der König.

In Schönebeck schrieb er die Antwort auf alle ungeklärten Fragen, zog er den Strich durch alle trüben Hoffnungen. Im nächsten Brief nach Dessau durfte er sich dem Freunde schon enthüllen: »Ich habe alles reiflich überlegt und finde alle Tage mehr, daß es meinem Interesse konvenabler ist. Ich schreibe nun wirklich an der Verfassung und Instruktion selber, sie so zu fassen, wie ich gedenke, daß es gut sein wird. Wenn es erst dieses Jahr bestanden haben wird, alsdann werden sie im neuen Kollegium selber darauf kommen – dann wird sich alles kombinieren lassen, ehe ich gedenke, daß es geschieht. Gott, Euer Liebden und ich wissen es, aber keiner mehr. Also bitte, behalten Sie es bei sich. Die Herren werden mir erstlicher Tage den Kopf warm machen, bis ich ein Exempel statuiere, und dann passire ich in der Welt für einen Cholericus. Ist das meine Schuld? Gott weiß, daß ich gar zu tranquill bin. Wenn ich mehr Cholericus wäre, ich glaube, es würde besser sein, aber Gott will's nicht haben. Ich habe so viel zu tun, alles zu regulieren, daß es gut gehen muß. Hoffe Freitag abend in Berlin zu sein – und völlig fertig, alsdann der Donnerschlag Dienstag geschehen soll.«

Und schon beschied der Herr in strengstem Geheimnis seinen Ersten Kabinettssekretär zu sich. Er forderte ihn auf, des anderen Tages zu ihm zukommen, nachmittags um zwei Uhr, versehen mit Schreibmaterialien, gutem, starkem Papier und schwarzem, silbermeliertem Heftfaden, und sich so einzurichten, daß er ein paar Tage bleiben könne.

Der König diktierte, ließ sich vorlesen, las wieder nach und korrigierte nochmals, um plötzlich wieder einen völlig neuen Abschnitt in einem einzigen, großen Zuge hinzuwerfen.

Er war schon völlig in dem Neuen.

 

Die Bevollmächtigten der auswärtigen Staaten meldeten zu dieser Stunde den vollzogenen Akt der Sühne bereits in jeder dramatischen Einzelheit an ihre Herren und Höfe.

Clements letzte Drohungen hatten zwar noch die Wirkung gehabt, daß Wien seinen einstigen Spion den preußischen Gerichten überließ, aber die preußischen Richter schielten noch ängstlich nach dem kaiserlichen Hof und seinem Rechtsbrauch. Doch der König hatte abermals die Freiheit und Unabhängigkeit seiner Gerichte bestätigt.

Über die Hinrichtung forderte er keinen Bericht an. Niemand durfte auch nur seinen Aufenthalt wissen; nur daß er den Prediger Roloff nach Schönebeck kommen ließ.

Von Clements Folter mit dem glühenden Eisen und seinem Tod am Doppelgalgen schwieg der Pfarrherr von Sankt Peter; auch davon sagte er dem König nicht, daß Clements Leichnam vom Galgen gefallen war und manche ein Gottesgericht darin sahen. Er erwähnte vor dem Herrn allein, daß ein letzter Brief von Clement, in dem er bat, von allen Besuchern verschont zu werden, das »Datum« trug: »Am Tage vor meiner Erlösung.«

Von der Galgenleiter herab hatte Clement noch einmal zu all dem Volk am Richtplatz gesprochen: »Wer unter euch zu beten vermag, den bitte ich, ein Fremder in eurem Lande, für euren König zu beten, daß Gott seine Regierung segnen möge um seiner hohen Eigenschaften willen. Betet mit mir, daß der große Gott den Geist dieses guten Herrschers beruhigen möge. Wenn je das Gute dieses Königs nicht alle Male offensichtlich ist, so haben wohl die Untertanen es selber verdient mit ihren lieblosen und dem Lande schädlichen Urteilen. Ich muß nun, weil ich mich an diesem König verging, eines schmählichen Todes sterben. Die Leiden dieser Zeit sind nicht wert der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden. In den letzten siebzehn Monaten hat Gott es mich begreifen lassen. Als der Gefangene des Königs von Preußen bin ich in viele Geheimnisse des göttlichen Wortes gedrungen. Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit.«

»Die Krone der Gerechtigkeit –«, wiederholte sinnend der Herr, »ein guter Totenspruch – für einen König.«


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