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Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn wie Wasserbäche, und er neigt es, wohin er will.
Die Bibel
Das endende Jahr war in Aufruhr. In der Türkei war bittere Kälte eingebrochen. Selbst um die südlichen Küsten tobte winterliche Sturmflut. Die lichte Stadt Venedig war bedroht. Die Schiffahrt ruhte, so schwerer Nebel lag über den Meeren. Aber noch immer – fast war es ein ungeheuerliches Wagnis – fuhr eine Fregatte zwischen den Gestaden Britanniens und den Häfen des nördlichen Deutschland hin und her. Und der Segler barg doch nichts als einen Brief und immer wieder nur einen Brief als seine Ladung.
Es war, als sollte es nicht enden, ehe es sich nicht erfüllt hatte als ein eigenes Geschick: daß heimliche Schreiben hin und her getragen wurden zwischen dem Königsschlosse zu Berlin und dem St. James Palace zu London.
Wie wenig hatten Winter und Meer für die behenden Boten zu bedeuten.
Wo Berge und Schluchten den Erdteil durchschnitten, blieb vor haushoch aufgewehtem Schnee den Reitern und Wagen jeder Weg verwehrt. Da war es gut, daß die heimlichen Briefe nur durch die nördlichen Ebenen gebracht zu werden brauchten; denn über den flachen Äckern und den ebenen Wäldern ohne Höhen war es zu kalt, als daß Schnee hätte fallen können.
In diesem Jahr blieb König Friedrich Wilhelm nicht in seinem großen Winterschloß zu Berlin. Unter dem Vorwand guter Jagdgelegenheiten trennte er sich, noch ehe die Christzeit herankam, vom Hofe. Er brach mit der alten Gepflogenheit. Er ging zum Winter nach Potsdam. Den ältesten Sohn nahm er mit sich. Er wollte allein sein mit ihm, den neuen Menschen aus ihm zu erschaffen, der ihn vertreten konnte bei ›Dem König von Preußen‹, wenn es schlimmer werden sollte mit der Krankheit. – Der König gab seinen ältesten Sohn nicht mehr her.
Die Gattin verblieb indessen in dem alten Schloß, das Leben des neuen Kindes ihrer späten Schwangerschaft zu bereiten.
Auch an den rauhesten Tagen stand der König um fünf Uhr auf, fuhr zwei bis drei Stunden im offenen Wagen oder setzte sich beim ersten Morgengrauen zu Pferde. In der bittersten Kälte nahm er im Freien ein eisiges Frühstück ein. Pasteten und Butter waren gefroren, das Brot schien niemals knusprig gewesen; auch gab es keinerlei Picknickservice. Die Jagdgäste suchten sich, auch wenn man ihnen Becher vorenthielt, durch starkes Getränk zu erwärmen; aber der König war, als wolle er in allen Stücken seine Krankheit leugnen.
Friedrich sollte sich dicht bei ihm halten. Er sollte jagen lernen wie er, dessen Leib schon manche schwere Wunde von den Jagden trug. ›Der König von Preußen‹ befahl es ihm: im Osten war ja die Jagd noch Notwehr und Notwendigkeit, die Jagd gegen Bären, Wölfe und Elen! Auf seinen Winterjagden prüfte der König neue Bediente und Pagen auf ihren Mut und ihre Behendigkeit; in diesem strengen Winter erprobte er den Sohn. Nun war der Zwang, mit dem Vater zu jagen, nicht mehr mit dem Sankt-Hubertus-Tag von Wusterhausen aufgehoben.
Sie jagten bei Potsdam. Wildschweine brachen ihnen durch den Wald entgegen, als triebe die unbarmherzige Kälte sie an die Städte heran. Es waren jene jähen, flüchtigen Jagden zwischen Heeresdienst und Schreibarbeit, zu denen König Friedrich Wilhelm nicht einmal den Weidmannsrock anzulegen pflegte. Er ritt in seiner Uniform hinaus, im blauen Rock und Eckenhut, ohne Jagdmuff, ja, vergangener Schmerzen nicht gedenkend, selbst ohne Handschuhe.
Aber der Kronprinz trug Handschuhe, sehr weiche, elegante, wärmende Pariser. Der Vater ritt auf ihn zu, und es gab ein gewaltiges Schelten, so gewaltig, daß unmöglich dies der Anlaß sein konnte, wenn der Prinz die schmalen, blassen Hände schützte. Dies konnte nicht so fürchterlichen Zorn heraufbeschwören! Sollte der Sohn sich die Hände erfrieren? Friedrich setzte sie den ganzen weiteren Tag mit kühlem Lächeln dem schneidenden Froste aus. Dies alles sicherte ja nur die Mittel zur Befreiung. Um so eher würden ihn die fremden Potentaten zu sich holen ... Dies neueste war nur ein Schritt voran ... Die fremden Höfe würden es nicht mehr lange mit ansehen wollen, um der mächtigen Verwandtschaft seiner Mutter willen ...
Die wenigen Tannen vor dem schwarzen Wall der harten Kiefern waren tief verschneit; ihre breiten Zweige waren weiß beladen. Dann taute der Frost in ihren Ästen und Stämmen; weiter und dunkler wurden die Tannen. Es war, als solle man noch einmal die volle Schönheit ihrer Sommer sehen, so satt war das Grün ihrer Zweige, vom starken Mittagswind entfaltet und aufgewühlt.
Den König zog es hinaus. Er dachte an die kommende Ernte. Der Kronprinz sollte ihn begleiten. Der König bestimmte ihm selbst ein Reitpferd; denn der eigene Rappe des Sohnes war zum Beschlagen fortgeführt. Der Stallmeister machte den König darauf aufmerksam, daß das Pferd, das der Herr ihm bezeichnete, ein Durchgänger sei. Der König fuhr ihn an und hieß ihn schweigen.
Als sie Potsdam hinter sich hatten, riß ein Windstoß dem König den Hut vom Kopf. Der Hut wirbelte dicht am Pferde des Prinzen vorüber; das scheute und ging durch. Der Prinz besaß die Geistesgegenwart, die Zügel loszulassen und sich zu Boden zu werfen. Dabei verletzte er sich an den Knien, an der Hüfte und am Halse. Der Degenkorb schlug ihm so heftig gegen die Rippen, daß er Blut spuckte. Wer es in Potsdam nur irgend mit der Königin- und Kronprinzenpartei hielt, erhob ein Lamento. Der König erbitterte sich darüber und befahl, daß sein Sohn am nächsten Tage beim Aufziehen der Wache erscheinen solle. Der Kronprinz tat es auch, trotz seiner Verletzungen, war aber nicht imstande, den Arm in den Ärmel seines Waffenrocks zu zwängen.
Als der König über Neujahr mit dem Prinzen von Potsdam nach Berlin kam, begegnete ihm in allen Blicken und Worten der Vorwurf. Die Gesandten fügten den Neujahrsgratulationen an ihre Höfe die Bemerkung bei, der Prinz sei so geknechtet, daß man ihn sich mit Leichtigkeit zu ewigem Dank verpflichten könne; und es sei hohe Zeit, den Prinzen stärker in die politischen Berechnungen einzustellen als den König.
Der König hatte es nicht mehr erzwingen sollen: das Reiten und Jagen im Winter. Mochte er auch ein Mann erst am Anfang seiner vierziger Jahre sein – er war krank. Nun mußte er viel liegen, seit er zum Neujahrsfest in Berlin weilte. Er bemühte sich, gut zu sein zu seiner schwangeren Frau. Und er wollte, daß die Kleinen wieder zutraulicher würden. Sie mußten in den Krankheitstagen viel am Bette des Vaters sein; stand er auf und ging durch die Räume, so folgten sie ihm wie arme Gefangene. Er hatte manche Klage über Sophie Dorothea Maria und Anna Amalia gehört. Er bemerkte, daß alle hier am Hof seine Kinder mit den Augen der Gemahlin sahen; er hörte – wenn er ein paar höfische Phrasen abzog – aus jeder Redewendung, jedem Urteil allein die Sprache der Gattin.
Er aber hatte keine Zeit, seine Kinder, soweit sie spätere »Apanagierte« waren, wirklich kennenzulernen. –
Sophie Dorothea Maria, dieses gute und verständige Kind, an dem es nie etwas zu tadeln gab, war also gar so lähmend nüchtern? Selbst ihre abgekehrte Art war nur ein Mangel an geistiger Regsamkeit?
Die Königin betrachtete diese Tochter, die zur Erinnerung an ihre große Zeit der Gegnerschaft gegen Clement ihren eigenen Namen trug, als eine der herbsten Enttäuschungen ihres Lebens. Sie nannte die Trägerin ihres Namens mit einer nur zu deutlichen Wendung gegen den Gatten so holländisch, eng, kleinlich, bürgerlieh und auf eine aufreizende Weise gediegen. –
Der König vermied es, mit seiner Frau noch jemals von den Kindern zu sprechen, obwohl diese jüngeren Töchter und Söhne doch kein politisches Kampfobjekt wie die beiden Ältesten waren. – Er schien besser gelaunt; doch war ein Zwang darin spürbar. Er wollte sich selbst die bohrenden Fragen verjagen. – Warum hatte er dem Sohn das getan? Daß er ihm den Durchgänger zum Pferde gab – nun, der Effeminierte sollte endlich einmal sicher reiten lernen; und radikale Kuren waren doch nun einmal am besten. Aber, daß er ihn, der Blut gespuckt hatte, zur Wachtparade bestellte –?
Der König wurde in seinem Grübeln gestört. Er war dankbar dafür. Selbst daß es der Freiherr von Gundling war, der ihm submissest zu dem neuen Jahr seine Glückwünsche darzubringen begehrte, verstimmte ihn nicht. Denn der Professor wußte, sobald er nur nüchtern war, doch am besten von allen zu erzählen, und als Kommentator der ausländischen Zeitungen stand er nahezu einzig da. Selbst auf Grumbkows Herrenabenden mußte er jetzt manchmal aus den Zeitungen vorlesen und seine Meinung zu dem Weltgeschehen sagen. Man mochte es kaum glauben, daß er, seit ihn der Dessauer wie einen Deserteur von seiner Flucht zurückholte, so tückisch geworden war. Einen vornehmen Herrn, dessen Name ängstlich geheimgehalten wurde, hatte er mit einer Muskete ohnmächtig geschlagen. Einen Kammerdiener überfiel er im Bett, ihn zu erwürgen. Der König wußte auch, ohne daß man ihm solche Meldung hinterbrachte, von den Stunden seiner Verzweiflung und Verkommenheit – in die auch er selbst ihn immer wieder stoßen mußte: so furchtbar war der Gegner aller, Gundling. Aber sobald man an Tagen der Nüchternheit an seine Gelehrsamkeit appellierte: oh, welche Weisheiten in den Reden des Professors da immer wieder erstanden, wie er da gleich die erhabenen Gewölbe und ragenden Hallen der Welthistorie durchschritt! Es hatte, so kündete der Professor von dem neuesten Ergebnis seiner Forschungen, vor langer Zeit ein Herrscher gelebt, so gewaltig, so groß und zornig wie der Zar. Der trug schwer an dem entsetzlichen Geschick, daß alle, die er je mit seinen furchtbaren Händen angerührt hatte, dem Tode verfielen. Er hatte Mörderhände. Professor Gundling stellte es sehr dramatisch dar.
Dieser Herrscher eines längst verschollenen Landes und einer weit versunkenen Zeit geriet in harten Streit mit seinem einzigen Sohne. Da ließ der König sich die Hände binden, an jedem Morgen von neuem. Aber der Zorn war gewaltiger als alle seine Königsmacht. Als sie ihm den ersten Tag die Hände banden auf seinen Befehl, bestimmte er für seinen Sohn ein wildes Pferd. Am zweiten Tage ließ er ihn die Bären und die Stiere seiner Zwinger hetzen; und der Knabe tat es fröhlich, denn er wußte: dies alles war Gnade- so furchtbar waren die Hände des Vaters gezeichnet; so furchtbar, daß der Vater sie hündischer fürchtete als der Sohn.
König Friedrich Wilhelm hörte zu und schien gnädig, denn er forderte den Freiherrn und Professor auf, der Neujahrstabagie im kleinen Kreise beizuwohnen. Diesmal trieb der König sehr viel Spott in seiner Tabaksrunde. Er selbst trank viel. Dem Professor wurde am reichlichsten und häufigsten eingeschenkt. Und keine Würde, Größe, Bedeutung, kein Rang, kein Dünkel, keine Gelehrsamkeit, kein Gedanke an den unersättlichen Ehrgeiz, keine Furcht vor Stockhaus und Mistwagen gab Gundling die Kraft, zu widerstehen. Er betrank sich bis zum Tierischen. Er redete wirr. Er rülpste wie einst in Polterhansen Bleusets Schenke und wurde verlacht; und taumelnd hin und her gestoßen; und vom Gelächter überbrüllt. Das wollte der König. Alles sollte ein lächerlicher Unfug sein, was der hemmungslose Säufer und Schwätzer je geplappert hatte. Alles, alles sollte nur ein schlechter und gemeiner Witz, eine Zote für Trinker gewesen sein. Auch das sollte nichts gewesen sein als Wahnwitz, Torheit, Lüge: daß es einen Herrscher gegeben habe, der sich so vor seinen Händen fürchtete, daß er sie sich binden ließ; und daß es seinem Sohne eine Gnade war, wenn der Haß des Vaters ihm ein wildes Pferd bestimmte, statt daß der Vater ihn nur anrührte ...
Die Schatten unter den Augen des zechenden Königs waren faltige, schwere Säcke geworden. Seine Blicke gingen unstet hin und her. Und immer wieder, unbewußt, hafteten sie lange auf Gundling. Von den Gedanken zu Tode verwundet, begehrte der König nach dem Trost, daß die Weisheit dieser Welt nichts und gar nichts anderes sei als Zote und Narrheit; so munterte er die Offiziere auf, es mit dem trunkenen Professor schlimm zu treiben. Aber er selbst tat nicht mehr mit. Er sah auf das Bild: die Weisheit tropfte als Speichel der Betrunkenheit von den Lippen des Klügsten.
Dem schaute der König zu. Er trank auch nicht mehr.
Die Verzweiflung des Königs unter den Zechern war groß, denn im letzten Grunde litt er daran, daß die Gedanken sich nicht fassen ließen und daß er verdammt war, immer nur das Bild zu sehen. Wer je die übergroßen Augen des Königs voller letzten Ernstes betrachtet hätte, würde es wahrgenommen haben, daß sie unentwegt von jagenden und übermächtigen Bildern gebannt waren. Aber keiner seit dem Abenteurer Clement hatte ihn so angesehen. Vielleicht wußte noch der Prediger Roloff etwas davon, daß so wie König Friedrich Wilhelm nur in die Welt blickte, wer durchschauert war von dem Worte der Schrift: »Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.«
Gottes Wort und das Bild: die waren sein Schicksal geworden.
Da der König während seines Berliner Neujahrsaufenthaltes die Heiratsaffäre überhaupt nicht mehr erwähnte, fühlte Königin Sophie Dorothea sich vollkommen sicher. Zum ersten Male sprach auch sie verhältnismäßig wenig von der ganzen leidigen Geschichte und kam dadurch, in oberflächlichen Liebenswürdigkeiten, der ältesten Tochter wieder ein wenig näher.
Es war so unbegreiflich: der gemeinsame Traum vom Erbe dreier Kronen in dem einen Brautschmuck der Prinzessin von Wales – dieser Traum, den die Königin und die Königstochter doch miteinander hegten, trennte Mutter und Kind allmählich mehr und mehr. Denn dieser Traum, das Zauberwerk der Mutter vor Tochter und Sohn, war ohne Liebe. Er meinte nur den Glanz, die Macht, den Rang; alles, was Sophie Dorothea von Hohenzollern den Fürstinnen auf alten Thronen neidete, war mit einer kalten Leidenschaft und rechnendem Eifer in ihm beschlossen. Und also war sie auch heute schon die erbitterte Neiderin der eigenen Tochter – sie, die so hemmungslos, verwegen und hart für das Glück ihrer Kinder stritt!
Sie dachte aber auch schon mit Gram und Zorn daran, daß die Tochter des Bruders als Königin von Preußen an der Seite des Sohnes so ungleich ehrenvoller und beglückter als sie selbst in Berlin residieren und regieren würde.
Friedrich und Wilhelmine waren zu klug, als daß sie nicht von Jahr zu Jahr immer schärfer erkannten, wie reich an Widerspruch und wie arm und leer an Liebe aller Kampf und Traum und Zauber ihrer Mutter war: ein zorniges Verneinen der Enttäuschungen ihres eigenen Königinnentums und von gar nichts beschwingt als von einer gefährlichen Leichtgläubigkeit, die alle Wirrnis im Heute ableugnen zu dürfen glaubte und alle Lösung mit Beharrlichkeit vom Morgen zu fordern sich erkühnte. Sie besaß geistige Anlagen, die sich aber nicht weiter entwickelten, einen glänzenden Verstand, der indes mehr Tiefe zu versprechen schien, als er hielt, und, wie die Königskinder in der Modesprache sagten, Geschmack für Kunst und Wissenschaft, ohne sie wahrhaft eifrig zu betreiben.
Flink und scharf und hell blitzten den Königskindern die Gedanken auf; fest und kühl begriffen und bemaßen und bewerteten sie die Logik und die Unlogik menschlichen und mütterlichen Handelns. Alles lag vor ihrem Denken bloß. Nur in die heiße Dunkelheit der ungestümen Herzen drang es nicht vor; denn mit den ungestümen Herzen muß man leiden.
So blieb der Vater seinen Kindern in unendlicher Ferne.
So war die Mutter ihnen ausgeliefert. Eins so bitter und schwer wie das andere.
Sie dankten der Königin nicht. Sie liebten sie nicht. Sie forderten nur die versprochene Befreiung von ihr. Sie glaubten an die Macht des großen Hauses ihrer Mutter. So bitter waren sie, die jungen Königskinder; Befreiung – das war all ihre Sehnsucht. So hart war es ihnen geworden, unter dem Angesicht ›Des Königs von Preußen‹ zu leben.
Allmählich war alles Nein dieses Daseins für sie in dem einen Begriff ›Der König von Preußen‹ gesammelt.
Und alles Ja dieser Erde hieß: Das englische Haus.
Der König war Neujahr nicht übelgelaunt gewesen. Der König hatte von den Ehen nicht gesprochen; vor allem: Er ging sehr rasch nach Potsdam zurück. Alles schien gut.
Aber da schickte er ein Ultimatum an die Königin. Endlich hatten sie ihn zu solch politischer Sprache in den Dingen des Hauses und Herzens übermocht. Es war, als habe er sich in Potsdam nur vergraben, um in einer einzigen gewaltigen, gesammelten Anstrengung alles beiseite zu fegen, was ihn hinderte, sein Königsamt zu üben. Erst berief er den Grafen Finck Finckenstein, seinen und seines Sohnes abgedankten Erzieher, zu sich. Dann zitierte er den General von Borcke aufs Schloß; denn der hatte seinen eigenen Sohn in solcher Art erzogen, daß er heut als junger Offizier bereits der Gouverneur des Kronprinzen von Preußen zu sein vermochte ...
Diesen beiden Männern – als vermöchte er ohne Zeugen und Übermittler nichts mehr zu unternehmen – erteilte König Friedrich Wilhelm den Befehl, sich zu der Königin zu verfügen und ihr zu sagen, daß er nach der Behebung der durch sie heraufbeschworenen politischen Gefahren endlich ihrer Intrigen müde sei, die sie mit dem englischen Hofe spinne und die ihm und seiner Familie nur zur Unehre gereichten; ferner, daß er ihr hiermit geradezu verbiete, die Intrigen weiter fortzusetzen; daß er jetzt verlange, sie müsse sich entschließen, ihre Tochter jedem anderen als dem Prinzen von Wales zu geben; und daß er endlich aus einem Überrest von Freundschaft für sie ihr noch die Freiheit lassen wolle, zwischen dem Markgrafen von Schwedt und dem Prinzen von Weißenfels, König Augusts Vetter, für ihre Tochter zu wählen. Der König stellte das Ultimatum, denn er hatte erfahren: Friedrich bedrohte fürstliche Häuser, wenn sie je mit dem Vater Heiratsprojekte für ihn diskutierten! Er hatte, falls etwa jemals die Fürstlich Anhalt-Dessauische Familie mit ihrem Brandenburgisch-schwedtischen Zweige einem ehrenvollen Antrag seines Vaters nicht zu widerstehen vermöchte, seine Rache für die Zeit seiner eigenen Regierung in Aussicht gestellt, andernfalls aber einen großen Abstand für ein Nein verheißen. –
Die Königin und der Kronprinz selbst hatten in ihrem Kreise von ihren Briefen nach Schloß Schwedt gesprochen. Fürst Leopold und seine Schwester von Brandenburg-Schwedt, die Frau Markgräfin Philipp, waren außer sich, als sie erfuhren, daß längst Gerüchte von den Briefen kursierten – jenen Briefen, die sie beide streng geheimgehalten, ja vernichtet hatten.
Der Königin brauste das Blut in den Ohren. Der neue Name, der unerwartete Vorschlag machten sie benommen. Seit der Nacht von Havelberg hatte sie die Rivalität des Schwedters zu fürchten begonnen.
Sophie Dorothea hatte ihre Hände in ihrer Perlenkette verstrickt. Sie schien maßlos angegriffen. Sie gab sich gern dieses Air. Und daher machte sie nun auch das Kind in ihrem Leibe zum Mittel ihrer Politik. Da sie nun bereits in aller Öffentlichkeit als zum vierzehnten Male schwanger galt und mit ziemlicher Heftigkeit geredet hatte, fand sie für gut, sich unwohl zu fühlen. Man rief ihre Kammerfrauen herbei, die sie wieder zu sich brachten. Die Ramen machte das sehr hübsch und verfügte über eine ganz außerordentliche Kunstfertigkeit, es zu erweisen, wie unendlich schwer es sei, Ihre Majestät zum Wohle ihrer Kinder in ihr gequältes Dasein zurückzurufen. Die Königin nahm jedes Stichwort auf. Sie sagte matt: »Man sollte mir in meinem Zustand mehr Schonung erweisen.« Aber mit einer gewissen Frische bedachte sie die Abgesandten des Königs noch mit einigen nicht mißzuverstehenden Anzüglichkeiten, die von maßlosem Hasse gegen ihren Auftraggeber zeugten, und begab sich in sehr sichtbarer Bewegung hinweg. Den ihr überbrachten Brief des Gatten hatte sie zerknüllt in ihren Ausschnitt gesteckt.
Sofort ließ sie die Tochter rufen, weinte heftig, teilte Wilhelmine alles mit, klagte, nun sei alles verloren, und zeigte ihr den groben Brief des Königs. Sie verlangte eine neue Feder, neue Tinte, setzte sich an ihren Schildpattschreibtisch und verließ ihn für Stunden nicht mehr. Sie setzte Friedrich den Entwurf eines Briefes auf, den er an die Königin von England schreiben sollte. Das neue Jahr verlangte nach neuer heimlicher Post. Das gefährliche Korrespondieren setzte wieder ein. Alles war wieder beim alten. Nur, daß die Königin von England sich gewandelt hatte in der Erinnerung an ihre große Liebe, an das verlorene Königreich des Herzens, und darüber zur ernsten Streiterin für das Königtum des Inselreiches geworden war.
Die Ramen bekam die Briefe zur Beförderung anvertraut. Die Königin legte sich nieder und stand erst zum Abendbrot wieder auf. Bis dahin wußte der Gatte in Potsdam bereits, daß sein Sohn von der Gattin heimliche Briefschaft empfing. Er konnte auch genau ermessen, wie lange es dauerte, bis aus England neue Direktiven eingeholt waren. So lange hielt ihn nämlich die Gattin mit ihrer endgültigen Antwort noch hin. Der König trug schwer daran, über seinen Kammerdiener Erkundigungen einziehen zu müssen. Aber es gab gar kein anderes Mittel mehr, den Komplotten auf die Spur zu kommen. Außerdem machte es einen gewissen Eindruck auf ihn, daß ihm alles allein aus Treue und Dankbarkeit hinterbracht zu werden schien. Es war, als wolle er eine Schuld an dem König abtragen, wenn Ewersmann dem König Meldungen über die Partei hinterbrachte – die ihn bezahlte und die er für gewöhnlich mit Material aus den Zimmern des Königs belieferte. Mit keiner Silbe gab er je die Quellen seines Wissens preis. So blieb dem König seine Täuschung über Ewersmann, den treuen Warner, erhalten; der aber litt mehr Übles, als er übel handelte. Wäre dem König je die Vermutung gekommen, daß die Kammerfrau, die seine Gattin des Morgens als erste und des Nachts als letzte sah, so argen Dienst an ihrer Herrin tat – er hätte nicht vermocht, seinen Diener auch nur noch ein einziges Mal anzuhören; denn noch die Spionageaffären des Königs waren von seiner Lauterkeit durchtränkt.
Der König sandte der Gemahlin die zweite Deputation nach Berlin; denn er hatte Kunde erhalten, man wolle Friedrich die Statthalterschaft von Hannover antragen, damit er als Schwiegersohn des Königs von England fern dem preußischen Hofe lebe. Der Antrag hatte etwas Bestechendes an sich. Er war erfolgt, weil Friedrich sich verpflichtet hatte, nach dem Tode des Vaters die gesamten Kosten der hannoverischen Statthalterschaft zurückzuzahlen.
»Wenn ich nicht sehr irre, wird dieser junge Fürst dereinst eine sehr große Rolle spielen« – auch diese Äußerung des englischen Gesandten war dem König zu Ohren gekommen, und die Kaiserlichen, die dafür gesorgt hatten, fügten noch hinzu, daß der Kronprinz von Preußen als Statthalter von Hannover nichts als ein Geisel Englands wäre.
Durch die zweite Deputation ließ der König der Gattin eröffnen, daß allein ihre Einwilligung ihr seine Freundschaft – immer war nur noch von Freundschaft die Rede – erhalten könne und daß er im Falle ihrer Weigerung fest entschlossen sei, gänzlich mit ihr zu brechen und sie nebst dem Kronprinzen – den er bei Fortsetzung der heimlichen Korrespondenzen nicht mehr als seinen Sohn anerkennen würde – nach Oranienburg zu verweisen.
Die Königin, deren Schreibgewandtheit sich bei so unausgesetzter Übung unablässig verfeinerte, antwortete, daß sie sehr gut wisse, was eine Frau ihrem Manne und noch besser, was eine Fürstin dem König schuldig sei. Sie werde es sich jederzeit zur Ehre anrechnen, ihm in allen billigen Stücken Gehorsam zu leisten. Nie aber werde sie ihre Tochter zwingen, einen Gemahl unter zwei Prinzen zu wählen, die, wie sie wisse, dieser zuwider seien, und zwei an Adel jüngere Prinzen dem blutsverwandten Erben dreier Kronen vorzuziehen.
Sie bedachte niemals, daß eben jene drei Kronen einst von Herrn Wilhelm III. von Oranien dem Knaben Friedrich Wilhelm von Brandenburg zugedacht waren und daß die Liburnica des Erbstatthalters der Niederlande und Königs von Britannien schon die Segel gesetzt hatte, um den fürstlichen Knaben in das Inselreich zu entführen. Niemals, wenn es um England ging, erwähnte der König davon ein Wort, und die Königin verstand nicht seinen Stolz, der allem Welfenstolze ebenbürtig war. Ihn, ihn hatte man für Holland und England als Erben des Thrones begehrt; ihn wollte man entführen, ihm die drei Kronen zu geben. Für den Sohn aber barmte, bettelte und schacherte die Mutter, daß er eine englische Prinzeß zur Gemahlin bekäme!
Sophie Dorothea begriff es auch nicht, daß es nur eine große Höflichkeit des Gatten war, wenn er ihr der Form nach noch die Wahl ließ. Sie kannte nur den einen Gedanken: er muß ja doch auf England Rücksicht nehmen!
Die Frage nach dem Recht, das ihr gar nichts zugestand, beschäftigte sie nicht im geringsten. Und nicht einen Augenblick und Pulsschlag lang trauerte sie dem verlorenen unumschränkten Reich des Herzens nach, das ihr vom König von Preußen bereitet gewesen war. Das Größte ihres Lebens war von ihr vergeudet und verkannt. Keiner Frau auf Erden wäre ein königlicheres Geschick beschieden gewesen als der Welfin Sophie Dorothea, hätte sie den großen Spruch des männlichsten Herzens verstanden.
War ihr so das Königliche verwehrt – eins hätte ihr wenigstens noch den Adel zu verleihen vermocht: der Schatten einer Trauer um das Versäumte.
Aber sie schrieb dem Gemahl ohne jeden Anflug eines Schmerzes. Es waren ja Briefe nach England unterwegs! Vielleicht befand sich schon der Segler mit der Antwort auf der Rückfahrt! Der bloße Gedanke machte sie ungeheuer kühn, und ihre vermessenen Reden füllten Bogen um Bogen der ihrem Gatten so verhaßten Briefe; und keine Ahnung, kein Gefühl und keine Einsicht verriet ihr, daß jeder ihrer Federzüge ein Reich zertrümmerte, in dem einer Frau eine unverwelkliche Krone bereitet ist. Sie schrieb, sie schrieb, als vermöchte ihr der Winter in Berlin nicht mehr als der Herbst in Wusterhausen zu bieten. Sie fürchtete die Verbannung nach Oranienburg, dem Witwensitz der Brandenburgerinnen, nicht im geringsten, denn das Tadelnswürdige dieser Handlung werde ganz auf den König zurückfallen. Er könne tun, was ihm beliebe. Sie hingegen sei fest entschlossen, nie gegen die Interessen ihrer Kinder zu handeln. Alles, was sie tun könne, sei dieses: daß sie wiederum nach England schreibe und von ihrem Bruder eine kategorische Antwort verlange. Wenn diese Antwort ungünstig ausfalle, so müsse sie ihre Einwilligung dazu geben, ihre Tochter zu vermählen, wofern man ihr annehmlichere Partien als die jetzigen vorschlage.
Sie stellte Bedingungen, wo sie kein Recht besaß. Sie spielte Schicksal für andere Menschen, obwohl sie ihr eigenes Geschick nicht begriff und ihr Dasein vertat.
Sie tröstete den Bettelkönig herausfordernd damit, daß sie ihm eine kategorische Antwort des Beherrschers des mächtigen Inselreiches einholen wollte. Der Bettelkönig sollte warten lernen. Er sollte sich daran gewöhnen, daß sie über solche kategorische Antwort noch ein wenig heimlich und privat verhandelte. Ihre große Politik brauchte eben Zeit; die mußte sie mit allen Mitteln und auf jeden Fall gewinnen.
Der König des Sandes und der Sümpfe aber brauchte jede Stunde seines Lebens für sein Land. Sehr viel Lebenszeit und Lebenskraft schien ihm schon an »Wind« vergeudet zu sein. Es mußte ein Ende sein mit dem britischen Traum. Dieser Traum war voller Feindschaft gegen das Leben. Und so war das Ultimatum an die Königin von Preußen unumgänglich.
Niemand stellte die Frage, ob nicht der König unter der Geringschätzung Englands leide.
Er hatte seine älteste Tochter lange, sehr lange nicht sehen wollen; nun war es schon der dritte Monat, und das neue Gerücht von seiner himmelschreienden Lieblosigkeit drang endlich auch in alle Öffentlichkeit. Der biedere Junkergeneral, Graf Seckendorff, der seltsamerweise noch nirgends anders gelebt hatte als an den glanzvollsten Höfen, verschwieg geflissentlich, was ihm der König einmal auf der Jagd anvertraute: er könne seine Tochter nicht mehr sehen ohne Tränen in den Augen; man vermöge sie nur noch als Prostituierte zu betrachten.
Das lichte Bild war zerstört. Die englische Heirat war nicht mehr Blüte und Wachstum der Kronen im Bunde des gemeinsamen Glaubens. Da war gar nichts mehr als politische Phantasterei und also »Wind«, den er haßte. Aber der Gattin, der Tochter, dem Sohn schwellte solcher Wind, trotz aller Enttäuschung und Schande, noch immer mächtig die Segel. So kam zum Mitleid der Haß. Der englische Wind, der machte die Seinen noch immer so verstockt, so verschwörerhaft und hoffärtig. Er hatte genaue Kenntnis davon, daß – obwohl seine Tochter von England verschmäht war – der Kaplan der englischen Botschaft tagtäglich bei der ältesten preußischen Prinzeß aus und ein gehen mußte, sie firm zu machen in englischer Konversation und englischer Sitte. Aber Deutsch sprach sie schlecht und tat gar nichts dagegen. Dafür hatte sie gelernt, einen Geistlichen als ihren privaten Gesandten zu verwenden.
Die nächste Deputation, die König Friedrich Wilhelm von Potsdam nach Berlin entsandte, wendete sich, obwohl sie nur Ihre Majestät die Königin zu sprechen begehrte, sehr deutlich gegen die Tochter. Es war, als belagere der König von Potsdam aus Berlin und als wäre der Kronprinz zur Geisel geworden. Den hielt er nun bei sich. Das hatte die von der Politik entflammte Königin nun endlich heraufbeschworen: wie das vierzehnte Kind in ihrem Leibe von ihr zum Mittel ihrer Politik gemacht worden war, so setzte der König seinen Ältesten, den er zu einem neuen Menschen umzuprägen entschlossen war, ebenfalls als politisches Druckmittel ein. Auch das Ende von Wilhelminens jahrelang verschleppten Angelegenheiten wollte er gleich mit dem Anbruch dieses neuen Jahres erzwingen. Diesmal hatten die Generale und der Minister im Flügel der Königin zu bestellen: wenn die Prinzessin wagen würde, sich dem Willen des Königs zu widersetzen, so würde sie in irgendein Schloß eingesperrt werden und aus demselben nie wieder herauskommen; auch werde der Kronprinz eine noch viel härtere Behandlung als bisher erfahren.
Aber alle diese Drohungen machten keinen Eindruck auf die Königin. Sie blieb fest und spielte weiter die Kranke. Sie war nicht imstande, sich auch nur im entferntesten eine Vorstellung von der furchtbaren Veränderung zu machen, die in ihrem Gatten vor sich gegangen war.
Wusterhausen, das alle die Seinen Jahr um Jahr für Wochen der Nähe unter einem Dach umschließen sollte, war ihm von Frau und Sohn und Tochter zerstört.
Nun riß er selber Eltern, Kinder und Geschwister auseinander. Er verstreute sie im Land. Er selber ging, entgegen der Gewohnheit, mitten im Winter aus der Hauptstadt fort. Er holte den Sohn zu sich ins Schloß am Exerzierplatz und steckte ihn in sein Regiment, dessen Rock er als Sterbekittel beschimpft hatte. Er kündigte der Gattin die Verbannung auf ihren künftigen Witwensitz an. Er bedrohte die Tochter mit dem Exil auf abgelegenem Schlosse, als wolle er sagen: Da – nun habt ihr die ersehnte Weite! Nun mögt ihr zeigen, wie ihr zu residieren versteht! An Schlössern fehlt es dem Bettelkönig noch nicht! Der König verteilte seine Familie über seine Schlösser. Er löste die Mutter von den Kindern und trennte die Geschwister in Altersgruppen, damit sich von den Ältesten her keine Partei mehr zu bilden vermöchte! Die Schwestern sahen die Brüder nicht mehr, und die kriegerische Ulrike trauerte um des geliebten Hulla sanfte Bilder. Die Zahl der Gouverneure und Gouvernanten vervielfachte sich; es war, als seien sie zu Wachen bestellt. Dem schwachen grämlichen Jüngsten, dem Prinzen Heinrich, wurden ebensoviel Ärzte wie Gouverneure und Kinderfrauen beigegeben.
Die Königin und niemand ahnte das Schreckliche des inneren Vorgangs, daß der Hausvater von Wusterhausen prahlerisch mit Schlössern um sich warf; und das besagte: daß er sein Herz in Stücke riß!
Der König schien in einer maßlosen Angst zu leben, alles entgleite ihm. Niemals zuvor hatten die Fabriken fieberhafter zu arbeiten, die Äcker ihre Erträge zu steigern, Kasernen und Zeughäuser ihre Kriegsbereitschaft zu erweisen gehabt als in den Wochen, in denen König Friedrich Wilhelm sein Herz in Stücke zerriß. Es war, als müsse er sich stündlich vergewissern, daß man ihm noch gehorchte; daß seine Schaffenskraft noch nicht erlahmte; daß das Gefüge seines Staates nicht zu erschüttern war, auch wenn ihn die Nächsten verließen.
Von Woche zu Woche spürte er mehr, daß die Beamten, die Bauern, die Handwerker und Kaufleute, die Kolonisten und die Soldaten genauso auf das Heil von jenseits der Grenzen hofften wie die eigene Familie. Auf einmal sah er sein Volk, nach dem die Seinen doch noch niemals fragten, eng bei seiner Frau, bei seinem Sohn, bei seiner Tochter stehen. Jedes von ihnen hatte, unsichtbar und doch sehr zuverlässig, gewaltige Armeen hinter sich: Soldaten, die bereit waren, ihre neuen Bajonette gegen den König zu richten; Bauern, die – statt das Dreschen nach ihres Königs neuer Methode zu erlernen – mit ihren Flegeln die Tore der königlichen Magazine zu zerschmettern begehrten; so hart verfuhr er zu dieser Zeit mit seinen Untertanen. Er sah alles in Frage gestellt, den Bestand des Erreichten gefährdet, den Weg in die Zukunft verwehrt. Spießrutenlaufen auf den Kasernenhöfen war an der Tagesordnung; die Gefängnisse füllten sich mit Bestochenen der verschiedenen Parteien, die sich gegenseitig verrieten; die Arbeitshäuser faßten die Menge der Faulen und Böswilligen nicht, die man festgenommen hatte. Wie der König mit Schlössern als Exilen für die Glieder der Familie um sich warf, so trat er jetzt auch mächtig auf als Gebieter über riesige Arbeitshäuser, Gefängnisse, Spinnhäuser, Festungen. Morgens flüsterten sie in den Kasernen: »Der muß heute durch die Gasse.« Mittags hieß es in den Sitzungssälen hochgestellter Räte: »Sie haben gehört – unser Kollege – in die Karre -.« Abends zerrten sie heulende Weiber von Leiterwagen herab ins Spinnhaustor hinein.
Am schwersten litt Potsdam. Denn dort weilte der Herr; und nun gar noch im Winter. Lange vor dem späten Tagesanbruch war er wach, als warte er nur darauf, seine quälenden und erschreckenden Rundgänge halten zu können, vor denen keiner, auch nicht einer, sicher war.
In alledem war in dem Herrn ein maßloser Schmerz. Manchmal, wenn er einen Betrügerischen oder Faulen oder Aufsässigen oder einen, der alles in einem war, am Rockkragen packte und schüttelte, hätte er rufen mögen: Ihr hattet die Wahl –; jeder von euch, jeder einzige, der dem Bettelkönig zu helfen bereit war, damit er bestehen könne vor ›Dem König von Preußen‹; jeder einzelne und kleinste Helfer konnte als der liebste Gast auf meinem liebsten Schloß an meinem Tische sitzen – unter meinen Generalen und Ministern, unter meinen Kindern, neben meiner Frau. Aber ihr habt alle nicht gewollt. Ihr habt mein Schloß als dunkel und eng und meine Wünsche als kleinlich, unköniglich, altvaterisch und engstirnig verlacht. Nun lernt es begreifen – von der Königin bis zum letzten Tagelöhner –, daß der Bettelkönig ein Herr ist über Schlösser, Festungen, Kasernen, Arbeitshäuser und Gefängnisse. Viel weiter als ihr ahnt, ist sein Land, und bis in den fernsten Winkel reicht sein Arm. Nun ist mein Tisch nicht mehr für euch gedeckt unter den Buchen und Linden meines Jagdschlosses. Nun öffne ich die Tore zur Gefangenschaft!
Schweigend exerzierten die Riesen. Nur die Trommeln verkündeten die Befehle und Strafen des Königs.
Schweigend schrieben die Sekretäre in der Rechenkammer, den Amtsstuben, Fabrikkontoren, Handelsfaktoreien. Der König duldete kein Flüstern, kein Lachen, kein Fragen. Seine Aufpasser gingen umher. Hatte er die Herzen seiner Untertanen nicht für ›Den König von Preußen‹ zu gewinnen vermocht, so wollte er doch ihre Zeit für ihn; jede Stunde.
Alles in Preußen schwieg und arbeitete, arbeitete und schwieg. Und keiner sah ein Ende oder fand eine Hoffnung; und jeder kannte nur den Haß gegen den Quäler.
Sie waren wie die Ruderer einer Galeere, die festgeschmiedet und von Geißeln bedroht sind. Preußen war eine Galeere geworden.
Die halben Andeutungen des Königs wurden immer unheilverkündender. Er versprach dem Sohn, alle Tage härter zu werden. »Und ihr wißt, daß ich mein Wort halte«, fügte er noch hinzu. Die Königin rauschte aufgelöst durch ihre Räume. Der König konnte nicht mehr zurechnungsfähig sein! Sie hatte neue Post aus seiner Stadt: Er hatte einen Untertan geschlagen, hatte einen Torwächter am frühen Morgen mit dem Stock aus dem Bett geprügelt, weil er die Fremden in der Reisekutsche vor dem Tore warten ließ! Dann hatte der König sich gar vor den Fremden wegen des Torwächters entschuldigt! Zu derart früher Stunde hielt er am Stock seinen ersten Rundgang.
Die Königin malte der entsetzten Umgebung alle Möglichkeiten aus, wie furchtbar, wie beängstigend es sei, daß man diesem Mann um seiner Krankheit willen ständig einen Stock gegeben habe.
Alles, was zu der Königin hielt oder ihr gehorchen und auf ihren Wunsch erscheinen, mußte, scharte sich um die klagende und aufgeregte Majestät. Nur Prinzessin Wilhelmine ließ sich entschuldigen. Sie hatte eigene Botschaft aus Potsdam; mit dieser mußte sie allein sein. In dem Brief des Bruders stand, er sei in Verzweiflung, denn der König habe sich endlich zu Tätlichkeiten hinreißen lassen und habe ihn aufs grausamste mit dem Stock mißhandelt, so daß er geglaubt habe, der König würde ihn in seiner Wut umbringen. Alle Geduld sei zu Ende – das stand in dem Brief des Bruders; er habe zuviel Ehrgefühl, um sich wie ein Elender behandeln zu lassen, und erlange er nicht bald von seiten Englands das Ende seiner Leiden, so würde er gezwungen sein, andere, entschiedenere Wege einzuschlagen, denen er sich gern enthoben sähe –.
Da brach auch dem kühlen, klugen Mädchen das Herz. Das Ende der Leiden – das verstand die Prinzessin. Gar nichts anderes mehr als das Ende der Leiden erwartete ihre und des Bruders Jugend von dem großen Hause der Mutter. Mehr war den Königskindern nicht geblieben von all den strahlenden Hoffnungen, mit denen die Mutter sie blendete.
Je später es wurde, desto stärker wuchs nach dem düsteren und regnerischen Tage der Sturm. Das Rauschen in den kahlen Bäumen und einer einzelnen riesigen Eiche, die ihr welkes Laub behalten hatte, war unheimlich geworden; und das Gewölk des Himmels war wild und zerrissen.
In der zwölften Stunde jagten sich dann die bleichen, fahlen, gewaltigen Blitze; der Donner drang nur verhalten und allmählich durch den Sturm der Februarnacht. Äste prasselten gegen die Mauern; der Hagel schüttete gegen die Fenster. Aber der König kam nicht ins Schloß zurück.
Die Diener suchten ihn nicht. Keiner wußte, daß der Herr so spät noch weggegangen war. Und der Wache hatte er verboten, Auskunft zu geben.
Am Zwinger hatte er die Bärin losgebunden. Nun trabte sie vor ihm her. Manchmal, vor den weißen Blitzen, blieb sie stehen und wandte sich nach dem Herrn um. Der sah sie nicht. Nichts sah der Herr. Seine Augen waren wie nach innen gestürzt und ohne Ausdruck und Blick. Und die Tränen, so war es dem Herrn, strömten nach innen, über das Herz. Die Tropfen auf den Wangen – ah, die waren auch auf der Stirn, auf den Händen, im Nacken. Das war der Regen. Niemand, der ihn sähe, könnte etwas anderes sagen. Der Regen überströmte sein Gesicht.
Und doch, als fürchte er eine Begegnung mit Menschen, schritt der Herr gewaltig aus – trotz der Schmerzen, trotz der Schwere. Der Stock war eine gute Stütze. Der Stock war sehr gehorsam. Der Stock –.
Er schlug ihn gegen eine Mauer. Er schmetterte ihn gegen einen Baum. Er stieß ihn in den aufgeweichten Weg. Und obwohl er ganz allein stand auf dem weiten Platz, der einst der Faule See hieß, holte er mit dem Stock zu furchtbarem Hiebe aus. Die Schatten machten ihn zum Riesen. Der König wuchs über seine Stadt; er stampfte über sie hin; es war, als sei er daran, sie zu zerschmettern und zu zertreten.
Gundling hielt sich die Augen mit der Linken zu. Denn mit der Rechten verbarg er die kostbare Perücke im Mantel. Sein Haar, verfilzt und wirr, klebte feucht auf der Stirn.
Er hatte sich in ein Torgewölbe geflüchtet, als er so spät, der letzte, vom Zechen kam.
Sie erkannten sich beide in dem fahlen Schein der Blitze. Der König schritt auf Gundling zu. Aber der Professor wehrte ihn ab. Er drückte sich vor der Bärin in den Winkel. Der König winkte ihr. Da legte Grognonne sich sanft auf die nassen Steine der überfluteten Straße.
Gundling schlugen die Zähne; aber er stieß noch hervor: »Dafür, Majestät, weiß auch die Historie keine Parallele – daß ein König seine eigene Stadt mit eigener Hand zerschlägt.«
Der König stellte sich zu dem Professor unter den Torbogen. Als wäre er am späten Abend noch ein wenig spazierengegangen und von dem Spätwintersturm, dem Vorfrühlingsgewitter überrascht worden – genauso war es. Er redete ein paar Belanglosigkeiten vom Wetter und vom Bau.
Die Mauern des zweiten Stadtrings waren niedergerissen. Dahinter erhoben sich die Gerüste der neuen Häuserzeilen; und sehr viel weiter hin und sehr viel höher ragte das Pfahl- und Lattenwerk der dritten Mauer auf, die er zu ziehen befahl. Unter den wehenden Wolken und zitternden, zerrissenen Blitzen waren die Gerüste wie ein Gitter um die Stadt. Unverwandt blickten der Narr und der König auf die Gerüste. Und manchmal wischten sie die Tropfen vom Gesicht.
Als das Glockenspiel über den Aufruhr hinweg den Choral der dritten Stunde sang, schlug der König seinen Mantelkragen hoch, nickte Gundling von der Seite flüchtig zu, umfaßte den Stock, stieß die Bärin leise in die Seite und ging sehr aufrecht, viel zu aufrecht und schwerfällig davon.
In dem kranken Lichte dieser Nacht war es Gundling erschienen, als habe das als feist und gedunsen verschriene Gesicht des Herrn sich verwandelt. Es war schmal. Die Wangen waren eingesunken. Der Mund war weicher. Die langen Wimpern beschatteten die dunklen Ringe der Augenhöhlen noch tiefer. Die hohe Stirn war zerklüftet von Falten und Gruben unter wandernden Lichtern und Wolken. Als er in die Nacht davonschritt, hatte der König vor sich hin gesprochen. Er hatte gestammelt, als beginne nun wieder das große Selbstgespräch seiner nächtlichen Wanderung: »Ich hasse meinen Sohn und er mich, am besten, wir kommen von einander.« Auch der nächtliche Sturm hatte diese Worte nicht verweht; und der, dem sie am wenigsten bestimmt waren, hatte sie vernommen und auch die Sprache in jeder Geste des Königs verstanden.
Beim Abschiedsgruß hatte der König noch die Hand ein wenig gehoben: eine starke, ebenmäßige Hand, sehr klar und sehr weiß.
Man konnte es sich nicht vorstellen, daß diese Hand jemals vor den Bauern eine Weizengarbe mit dem Strohseil band; oder daß sie einem Grenadier die Flinte hielt, damit er endlich die Griffe richtig erlerne; oder daß sie in ein Kaufmannsbuch die Zahlen des Gewinnens und Wägens einschrieb; oder daß sie Baupfähle herbeitrug, ein verschenktes Grundstück abzustecken; oder daß sie einen Sohn schlug.
Es war nun einmal Jakob von Gundlings niemals und nirgends zu verleugnende Art, sich Gedanken zu machen – auch wenn er nachts betrunken vom Februargewitter überrascht worden war. Die Hand des Königs gab sehr viel zu denken. Nun hatte sie den Stock umklammert. Man hörte ihn auf den Steinen.
Als der König das nächste Mal von Potsdam nach Berlin herüberkam, gingen ihm drei Maurer in sein Schloß voran. Sie vermauerten die Türen zwischen seinen Gemächern und den Appartements seiner Frau. Auch dieses Bild vermochte er sich nicht zu ersparen.
Er ließ der Königin erklären, er beabsichtige, sie in Spandau einzusperren und sich von ihr scheiden zu lassen. Dann, völlig starr am Schreibtisch sitzend, fügte der König dieser Order an seinen Beauftragten noch hinzu: »Und sage Er der Königin, ich selber ließe ihr mitteilen: Ich habe den Kronprinzen mit einer Vorhangschnur gewürgt, und wären nicht Bediente hinzugekommen. – Was weiß ich. Ich weiß nur, was die Königin getan hat.«
Vom Witwensitz Oranienburg war nicht mehr die Rede. Die Feste Spandau war am Horizonte aufgetaucht.
Aber die Königin trieb weiter Weltpolitik. Die älteste Tochter, sofort in alles eingeweiht, fand es nur noch lächerlich und nicht mehr heroisch. Die Schwermut des Königs aber hatte sich darüber ins Unerträgliche gesteigert. Auch angesichts der Verbannung konnte die Königin von Preußen ihre Fürstinnenehre nur von England her erhalten. Das war unendlich bitter für den Bettelkönig; und bitter wäre es auch dann gewesen, wenn er seine Frau nicht so geliebt hätte, derart geliebt!
Die Königin schrieb nach England und schrieb danach in die verbarrikadierten Zimmer des Gemahls zurück, scheiden lassen könne sich der König gar nicht. Diesen Passus zu beantworten, lehne sie ab. Das Bewußtsein ihrer unbestreitbaren Tugend gebe ihr Rechte, welche völlig unantastbar seien. Der König öffnete ihre Briefe nicht. Er weigerte sich auch, die Gattin zu empfangen.
Die Tugend gab Rechte. Aber die Liebe war verwirkt.
Die Königin weinte und raste über den Affront, der ihr vor der Öffentlichkeit angetan war; sie lag in Schmerzen und übergab sich. Man fürchtete eine Fehlgeburt; und Frau Sophie Dorothea war nicht mehr jung. Sie erweckte allgemein geäußertes Mitleid. Man sagte, sie werde noch vor der Entbindung sterben. Täglich mußte der neue Gesandte Sauveterre nach Paris berichten. Der französische Hof betrauerte sie bereits. Allmählich gewannen Sauveterres Briefe bereits den Ton von Kondolenzepisteln: »Wir würden den Tod der Königin von Preußen sehr beklagen. Es wäre ein unersetzlicher Verlust für ihre Familie. Bleibt sie am Leben, so ist doch eins gewiß: das Kind, das sie? trägt, ist das Kind der Schmerzen.«
Ehrlicheres Mitleid als für sie – denn, die Königin war trotz, der Gegnerschaft gegen ihren Gemahl immer unbeliebter geworden, weil sie alle Welt mit ihren Angelegenheiten quälte – hegten der Hof, die Stadt und die Fremden für den Kronprinzen. Was mit ihm geschah, schien furchtbar. Er zitterte vor jeder Rückkehr seines Vaters, und seine jungen Gouverneure saßen bleich und traurig bei ihm. Nur einem gelang es noch, ihn abzulenken: dem dunklen, klugen, pockennarbigen Katte, dessen Auge für Prinzessin Wilhelmine etwas Unheimliches hatte. Der sprach manchmal auch von der Bibel. Ja, seit der kluge, junge Herr von Katte da war, redeten der Prinz und er am häufigsten vom Glauben. Und das erbitterte den Pastorenkönig?! Sie redeten von dem Glauben, daß alles im Leben des Menschen vorherbestimmt sei: das Licht und das Dunkel, die kleinen Freuden und die großen Leiden, auch Übel und Sünde, Ihr Glaube meinte eine andere Bibel als die Heilige Schrift des Königs von Preußen; denn da stand als etwas nie Gekanntes: »Es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von aller seiner Mühe, die er hat unter der Sonne. Was ist's, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist's, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne. Gott tut alles zu seiner Zeit und läßt das Herz der Menschen sich ängsten, wie es gehen solle in der Welt. Denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Ich merkte, daß alles, was Gott tut, das besteht immer. Man kann nichts dazu noch abtun. Und solches tut Gott, daß man sich vor ihm fürchten soll. Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem. Es kommt einer aus dem Gefängnis zum Königreich; und einer, der in seinem Königreich geboren ist, verarmt. Und ich sah, daß alle Lebendigen unter der Sonne wandelten bei dem anderen, dem Kinde, das an jenes Statt sollte aufkommen. Was da ist, des Name ist zuvor genannt, und es ist bestimmt, was ein Mensch sein wird, und er kann nicht hadern mit dem, der ihm zu mächtig ist –«
»Auch das steht in der Heiligen Schrift, Königliche Hoheit«, sagte der Leutnant von Katte zum Prinzen, »und ein König hat es geschrieben inmitten der Propheten, Evangelisten und Apostel, Wenn Ihr Vater Sie so mit der Bibel peinigt – antworten Sie ihm mit der Schrift –«
Der junge Herr hatte eine große Macht über den Königssohn gewonnen. Solche Weisheit war ihm neu, und ihre Tiefsinnigkeit, Schwere und Gewalt riß ihn mit sich. Sie noch von sich abwehrend, lachte der Kronprinz erregt: »Gott scheint mir eine fatale Ähnlichkeit zu haben mit meines Vaters ›König von Preußen‹ –« Und er wendete sich ab und ging, in Gesten und Bewegungen dem Vater sehr ähnlich, ans Fenster. Erst nach einer Weile kehrte er sich wieder seinen jungen Gouverneuren zu. »Es ist sehr schwer, ›das Kind‹ zu sein, ›das an jenes Statt soll aufkommen –‹«
Dem Gesandten de Sauveterre hatte sein eigenes Wort vom »Kind der Schmerzen« ganz ausgezeichnet gefallen. Es war zu schön, um nur in Gesandtschaftsberichten versiegelt und zu den geheimen Akten abgelegt zu werden. Darum verbreitete er es auch mündlich. Nun lief es schnell von Mund zu Mund. Es war in Potsdam, noch ehe der König wieder in seine Stadt ging. Er, der sich doch am liebsten für Monde auf seiner Jagdburg verbarg, fand keinen festen Wohnsitz mehr. Berlin und Potsdam wechselten oft, ohne daß es die Notwendigkeiten der Arbeit bedingten. Der alte Plan, nach dem er sonst den Aufenthalt aufteilte, war überhaupt nicht mehr erkennbar, und solcher Wandel war geschehen, seit er die Seinen über seine Schlösser verstreute – oder nur zu verstreuen drohte! Vermochte er nur, indem er von Schloß zu Schloß fuhr – denn auch Charlottenburg war wieder in Aufnahme gekommen –, die Erinnerung an das zerstörte und um seinen Sinn gebrachte Wusterhausen auszulöschen?
Das Wort vom »Kind der Schmerzen« begrüßte ihn gleich bei seiner nächsten Ankunft in Potsdam und erschreckte ihn sehr. Es verwundete ihn wie Clements und Gundlings und Friedrichs Gedanken. Denn dies neue Kind, auf das solch bitteres Wort geprägt war, mochte wohl das letzte der unendlich fruchtbaren Ehe sein; der letzte Mensch, den er in dieses Leben gab. Die Gattin war nicht mehr jung.
Und nun erreichte ihn noch die bedrückende Nachricht, daß die Schwangerschaft der Königin nicht gut verlief; sie sei wirklich sehr krank, auch wenn ein Grumbkow nach England meldete: »Die ist wohl wie der Fisch im Wasser.« Doch ließ die Ramen – selbst natürlich immer im Verborgenen bleibend – durch Ewersmann schon wieder alles für Komödie erklären, und der Herr war argwöhnisch, gereizt und enttäuscht. Er hielt die Lügen gar nicht mehr aus.
Nachts kam eine Stafette an den König. Er reiste sofort ab und war sehr verzweifelt über den Zustand seiner Frau. Er fand sie fast ohne Hoffnung auf Genesung. Jedenfalls stellte man ihm den Zustand so dar, und die Kammerfrau Ramen wies nur immer stumm auf das Leidensbild der hohen Frau.
Die Königin setzte sich ein wenig auf. So matt sie war, ergriff sie doch mit Leidenschaft den Augenblick und die Gelegenheit, um mit dem Gatten über sein vergangenes Betragen zu sprechen, über den Kummer, den er ihr verursacht und der allein sie endlich in den Zustand versetzt habe, in welchem er sie sehe.
Der König blickte ernst auf seine Frau herab. Er entgegnete gar nichts. Es war nicht die Stunde, mit ihr in den Leiden ihrer späten Schwangerschaft zu rechten.
Die Königin, so schien es ihm, redete fieberhaft. Sie beschwor ihn, sich mit Wilhelmine endlich auszusöhnen und ihr seine väterliche Liebe wieder zu schenken. Ihr englischer Sprachunterricht könne doch unmöglich ein unsühnbares Verbrechen sein. Die Königin erregte sich sehr. Diesmal mutete sie sich mit ihren langen Sermonen tatsächlich zuviel zu; der König achtete immer nur auf ihren Zustand. Er ließ die Prinzessin auch rufen. Die verneigte sich, fast niederkniend, vor dem Vater. Sie sagte ihm, nach ihrer und der Mutter Meinung, die beweglichsten Dinge. Auch netzte sie seine Hände mit Tränen. Der König stand ganz unbewegt und sann den Tränen seiner Tochter nach. Dann endlich umarmte er sie. Es geschah wie aus tiefer Überlegung. Die Königin, vorgeneigt, sah auf den Gatten und die Tochter. Sobald die Gattin den Kopf abwendete und ermattet wieder in die Kissen drückte, stieß der König die Prinzessin mit so zornigem Ausdruck zurück, daß ihr das Herz davor zitterte. Sie begann zu ahnen, wie tief ihre Feindschaft war. Aber es war nur die Klugheit, die es ihr sagte, daß nicht die englischen Lektionen die eigentliche Majestätsbeleidigung ausmachten. Um so sehnlicher wünschte sie die Ferne vom Hofe herbei. Die Königin war binnen drei Tagen außer Gefahr. Der König hatte die Ärzte beschworen, ihre ganze Kunst aufzubieten, um das Leben seiner Frau zu retten. Er hatte die Königin um Verzeihung gebeten. Er hatte ihr versprochen, alles wiedergutzumachen. Er hatte ihr versichert, daß noch nichts geschehen sei, was ihr die Wege übers Meer für immer abgeschnitten hätte.
Der König sah noch lange die Spuren des Leidens in den Augen und den Zügen seiner Frau, auch als die schon wieder längst von Hoffnungen beschwingt einherschritt, lebhaft und laut.
Der König dachte jeden Tag, solange er in Berlin war: Daß es so schwer ist, den neuen Menschen zu bilden. Er wußte nicht, daß er dann immer zugleich den großen Sohn in Potsdam meinte und manchmal überhaupt nur ihn.
Außer dem Worte von dem »Kind der Schmerzen« hielt man auch noch die zarte Geschichte von Doris Ritter für König Friedrich Wilhelm bereit. Friedrich ging in Potsdam, sobald sein Vater abwesend war, heimlich Flöte spielen, im Kantorshause der Nikolaikirche. Die Tochter des Kantors begleitete ihn auf dem Cembalo. Der König konnte nichts anderes als Liebesgeschichten vermuten. Im Zeitpunkt so tiefen Zerfalls mit dem Sohn empfand er sie als eine Herausforderung ohnegleichen. Nicht reiten, nicht jagen, als Oberst Fähnrichsdienste nur auf das elendeste leisten, die Uniform einen Sterbekittel nennen, mit auswärtigen Diplomaten höchst gewagte Korrespondenzen unterhalten, alles frische Leben junger Männer verächtlich abtun und vom Männerleben nichts und gar nichts annehmen als den Hang zum Amoureusen – König Friedrich Wilhelm schäumte!
Er hatte von der simplen Sache nichts gewußt, die im Flügel der Königin natürlich längst schon bekannt war. Denn die Kammerfrau Ramen hatte alles über eine Pastorsköchin, die etwas Besseres war, selbst arrangiert. Die Doris Ritter war eine völlig verrückte Person, ihr Vater, erst unlängst nach Potsdam gekommen, reichlich dünkelhaft. Sie hatte sich eine schwärmerische Geschichte zurechtgelegt, die immer phantastischer wurde, je deutlicher der Kronprinz in dem Kantorshause gar nichts anderes suchte als ein einigermaßen gut gestimmtes Cembalo, erträglich zuverlässige Begleitung und die nötige Geheimnistuerei vor allem, was königlich hieß. Daß das Mädchen eigentlich recht garstig war, störte ihn nur wenig. Der Begrüßungsschwall des Kantors und die ungraziöse Herumknickserei der fraglos musikalischen Tochter bei Ankunft und Weggang mußten eben in Kauf genommen werden, als Stundengeld und Cembalomiete sozusagen. Im Grunde war das Ganze nur zustande gekommen, weil die Kammerfrau Ramen plötzlich Gefallen daran fand, einer Potsdamer Kantorstochter den unschönen und läppisch frisierten Kopf zu verdrehen.
Aber niemand war in dieser Sache der Kopf ärger verdreht worden als dem unruhevollen König.
Er redete immer nur von diesem einen, das ihn beschäftigte.
Für diesen Mann, dachte mancher, der Sauveterres schönen Ausdruck von dem »Kind der Schmerzen« kannte, ist gar nichts mehr da als das Schmerzenskind.
Und doch war die Welt des Herzens für ihn einmal viel weiter gewesen. Da waren Freunde: Der Dessauer und Zar Peter. Da waren Frauen: Englands heutige Königin; jenes Fräulein von Wagnitz aus dem einzigen Blatt einer Chronique scandaleuse, das der preußische Hof unter diesem König je zu diesem umfangreichsten Historienband der Weltgeschichte beigesteuert hatte und auf dem nun Herrn Friedrich Wilhelms Makellosigkeit verzeichnet stand; und endlich jene kleine Kastellanstochter von Charlottenburg, über die selbstverständlich die Gesandtschaftsberichte auch des dates et des notes biographiques festgehalten hatten. Da war der Abenteurer Clement; und König August von Polen; und immer noch, als alle anderen ferner rückten, die blühende Schar der Familie; und über allen die Frau.
Jetzt aber, schien es, war er ganz allein nur noch mit dem Sohne befaßt. Und der war sein Feind.
Das Auge des Sohnes senkte sich, wenn er den Vater erblickte; und der Vater litt in einer nicht mehr bezähmbaren Abneigung seinen Erstgeborenen beim Mahle nicht mehr an seiner Seite, sondern wies ihm den Platz unten an der Tafel an. Schon hieß es, der bloße Anblick des Sohnes sei dem entmenschten Vater unerträglich.
Der König kam vom Abendmahl und sagte: »Ich habe vor Gott und der Welt ein reines Gewissen; ich habe vermahnt, ich habe gestraft, mit Güte und Gnade; es hat alles nichts geholfen; ich habe mehr als hundert Zeugen; das ist mein Trost.«
Es ging nicht mehr an, beieinander zu bleiben. Diesen Morgen hatte Gundling den Kronprinzen in der Gegenwart des Königs Zarewitsch angeredet und den Abend zuvor die Krücke an des Königs Stock als edelste russische Drechslerarbeit, wie von Zar Peters eigener Hand, bewundert. Der König litt Schmerzen im Bein wie nur je. Aber er mied den Stock.
Die Königin, kaum daß sie aus der Tür des Gartensaals getreten war, stützte sich müde auf ihren Schirm, ihr geliebtes Parasol von grünem Damast, mit goldener Campagne ringsum eingefaßt, mit silbernen Ringen am Stiel, ein modernes, elegantes Stück. Mit langem, schwerem Blick sah sie auf ihre Gärten. Zwischen Frühling und Sommer hatte sie Monbijou bezogen, um in ihrem Schlosse die Niederkunft zu erwarten, die sie maßlos beunruhigte – ein Zustand, der ihr bis dahin unbekannt geblieben war. Es war, als suche sie in ihren Gärten Trost und Sicherheit. Monbijou, was auch geschehen sein mochte, hatte sie immer schöner gestaltet: Alleen und Boskette waren in einen Götterhain um antike Statuen verzaubert. Heroen und Nymphen ruhten in dämmernden Grotten oder verbargen sich hinter hohen, viereckig geschnittenen Lorbeerwänden, Laubengänge bildeten mathematische Figuren. In der Menagerie, einem Wunderwerk aus goldenen Gittern, flatterten Lachtauben und Papageien – kicherten, plapperten, neckten.
Die Räume waren Gärten und die Gärten Räume.
Und doch war der Königin ihr geliebtes Monbijou entfremdet und verwandelt. Ein Sommer ging hin ohne alle Feste in Sälen, Galerien, Park und Orangerie. Zwar wurden die Rondelle in immer herrlicheren und schwierigeren Mustern teppichgleich ganz dicht bepflanzt und die Wege mit glänzendem, gläsernem rotem Kies bestreut, aber niemals, wenn nach all dem Rüsten der Abend über den Uferterrassen dämmerte, kamen jetzt noch Diener in den Garten hinaus, Ampeln in den grünen Bogengängen aufzuhängen und den Buchsbaumrand der labyrinthischen Pfade mit kleinen Laternen für eine Illumination einzufassen. Keine Sänfte wurde vors Portal getragen. Keine Karosse rollte durch die Einfahrt an. Die Notenpulte in der Salle à terre standen eng aneinandergerückt in einer Nische; über dem Cembalo hing eine dunkle Seidendecke, die schon seit Wochen niemand aufgehoben hatte; und in den Münznäpfchen der Spieltische klirrten einige vergessene Münzen, wenn einmal wieder Schritte durch das verlassene Rundzimmer hallten.
Wenn es noch etwas von Hoffnung in der Königin gab, so war es nur die Aussicht, daß gleich nach ihrer Niederkunft und der Taufe ihres Kindes der König in die Notstandsgebiete im Clevischen reisen würde; er hatte den Entschluß bereits bekanntgegeben. Aber sonst war kein »Morgen« mehr da, an das die Königin von Preußen noch voller Ungeduld und Erwartung hätte denken können. Das »Morgen« war nicht mehr gut. Sie verlangte nicht mehr ungestüm nach dem kommenden Tage. Mühsam und schwer wie an dem Kind der Schmerzen trug sie am künftigen Tag. Und doch war kaum jemals ein Frühling so voller Hoffnungen gewesen wie dieser.
Sir Charles Hotham war ja übers Meer gekommen; die Frühlingsstürme trugen die Liburnica heran, und über dem Meere war es wie ein Fest, obwohl das Land noch ohne Duft und Blüte lag. Hotham war gekommen, dessen alter Adel bis auf die Zeiten Wilhelms des Eroberers zurückging, ein Diplomat von höchstem Rang, der dazu auch noch seine geheimen Vollmachten von der mächtigsten Partei des Parlamentes hatte!
Die Königin hatte gemeint, der englische Hof wolle ihr endlich den untrüglichen Beweis seines guten Willens und Mitgefühls geben, und auch der König mußte sich trotz allen Grolls geschmeichelt fühlen durch die große Aufmerksamkeit, die man ihm jetzt erwies. Es war kein Zweifel mehr, daß sich der englische Hof jetzt doch für ihn entschied und daß London seiner Sinnesänderung sogar einen gewissen Glanz eben in der Entsendung des Ritters Hotham verlieh.
Man enthielt dem König nur den einen Umstand vor, daß das Verhältnis zwischen England und Frankreich sich so umzugestalten begann, daß zum erstenmal, was Preußen betraf, der Wille der britischen Nation, des Parlamentes und der mächtigen Kaufmannschaft mit den Vorsätzen ihrer Königin zusammenging. Frankreich fand Wege, sich aus der vasallenhaften Abhängigkeit von England zu lösen! Der König von England, so souverän er aufzutreten begehrte, mußte sich der Übermacht fügen, zu der sich die Nation, die ihm Gold, Thron und Krone gab, und die Königin zusammenfanden, die ihm sehr viel zu verzeihen und obendrein zwischen dem Parlament und ihm zu vermitteln hatte, ja, unablässig ihn leitend, ihn noch glauben machen mußte, daß er Mann und Fürst sei.
Als der König die Lage und Absicht Englands zu durchschauen begann, Englands Beteuerungen aber noch für eine glückselige Stunde glauben wollte, war seine alte, unstete, jähe Art der Freude noch einmal zum Durchbruch gekommen. Er feierte die Verlobung seiner Tochter mit dem Prinzen von Wales und seines Sohnes mit der englischen Prinzeß, ohne daß auch nur Braut oder Bräutigam oder auch nur ein Glied ihrer Häuser zugegen war. Er wollte England noch für eine Stunde glauben! Er mußte eilen! Er wollte sich nicht eingestehen, daß jede Lüge in den Gepflogenheiten der alten Höfe noch immer größeren Glanz und höhere Macht besaß als zehn von seinen neuen preußischen Wahrheiten! Er hatte die einfachste Spielregel nicht begriffen, daß man erst den Lohn verhieß und dann die Bedingungen stellte, unter denen er erworben werden konnte. Er hatte nicht einmal verstanden, daß der Ritter Hotham, den die Königin von England ihm schickte, ein anderer war als der Sondergesandte des Hofes – daß die Kluge, Sichere, allen Glückes und aller Liebe Beraubte, ihn noch einmal lenken wollte wie damals, als sie Abschied von ihm nahm.
Er feierte unstet und wild und nur unter Männern, doch ohne den Sohn. Es wurde gewaltig gezecht, und der König machte derbe Spaße über den Austausch des deutschen Dukaten mit der englischen Halbguinee. Die Männer mußten tanzen, als solle der versäumte Tanz der Offiziere vom Wusterhausener Malplaquetfest nun doch noch nachgeholt werden. Er ließ die Töchter und Mütter hochleben. Nun war ja mit einem Male der bittere Kampf aus all den letzten Jahren seiner Ehe nicht mehr vergeblich geführt! Hier, diese Stunde, war das greifbare, beglückende Ergebnis. Selbst die Dienerschaft sollte Luftsprünge machen, und der König hätte gewünscht, daß sich das Gerücht verbreite, es sei alles kurz und klein geschlagen worden, um seiner Frau eine freudige Überraschung zu bereiten. Das heiße, wilde Herz des Königs, zu lange geängstet und aller Freuden beraubt, wollte glücklich sein. Es bejubelte, ohne daß das Gefühl im Gedanken sich klärte, mehr die Errettung der eigenen Ehe als die »Verlobung« der Tochter, die nun die größte Königin Europas werden sollte! Für eine flüchtige Stunde wollte er sich die Täuschung bewahren.
Dann begann er, die Bedingungen nachzuprüfen, unter denen England gar so hohen Lohn versprach. Die erste war die Forderung nach dem Sturz der England nicht genehmen preußischen Minister. –
Das Bild der Welt hatte sich, indes der König von Preußen in seinen Nöten um den Sohn in Potsdam vergraben saß oder unstet zwischen seinen Schlössern reiste, von Grund auf zu ändern begonnen. Und die großen Potentaten und Puissancen hatten dafür zu sorgen gewußt, daß es hinter dem Rücken des Königs geschah, um ihn eines Tages, wenn er von dem Leid um seinen Sohn völlig zermürbt wäre, mit den vollendeten neuen Fakten zu überwältigen. Der Preußenprinz begriff es. Die bloße Nähe Sir Charles Hothams machte Friedrich nahezu tollkühn. Schließlich war der große Gast doch nur seinetwegen auf die preußische Galeere gekommen, sie zur rechten Stunde von Britanniens gewaltigen Liburnicen entern zu lassen.
Als der Sohn ihm so vermessen begegnete, sah König Friedrich Wilhelm plötzlich Sir Charles Hotham als den, der er war: ein Großinquisitor im Dienste der europäischen Diplomatie. Nur gegen die ganz verstockten Ketzer wurde er eingesetzt. Er war der Verdammer des Herzens, das immer nur Unordnung brachte. Aber er kannte die Wärme des Herzens. Und darum war es möglich gewesen, daß der König von Preußen sich für eine wild durchzechte Stunde täuschte.
Die Damen der Königin lachten, weinten und sprangen läppisch hüpfend um Prinzessin Wilhelmine, und die Königin nannte ihre Tochter Meine liebste Prinzessin von Wales und titulierte selbst das bisher von ihr übersehene sanfte Fräulein von Sonsfeld als deren Hofmeisterin Mylady.
Aber da hatte der König sich schon aus der Täuschung befreit und jede Verbindung seines Hauses und jedes Bündnis seines Landes mit Britannien mit den Worten abgelehnt: »Ich habe einen Sekundanten, der besser als Frankreich und England ist. Unser Herrgott, der lebt auch noch, der hat Preußen groß gemacht, der wird's nicht fallen lassen.«
Der König von Preußen wollte eine Allianz nur noch mit Gott. –
Das hatte die Königin von Preußen gebrochen. Sie nannte nun die Launen ihres Gatten unerträglich. Ob ihm Welten erstanden oder Welten zerbrachen: den Seinen war es immer nur gute oder schlechte Laune. –
Die Königin ließ die Launen ihres Gatten, unter denen sie litt, wiederum unverzüglich ihre Umwelt entgelten; selbst die Spielkarten warf sie jetzt manchmal gelangweilt oder heftig hin, kaum daß sie diese mischte, was sie bisher noch immer mit besonderer Vorliebe getan hatte. Es war zum Verzweifeln für die Damen, und am bedrohlichsten wollte ihnen scheinen, wenn die Königin jetzt, ein vordem völlig ungewohnter Anblick, allein in den Alleen ihres Gartens auf und nieder ging und manchmal in einer vordem noch nie an ihr bemerkten Müdigkeit sich auf ihren schönen, grünen Sonnenschirm mit den ziselierten Silberringen stützte.
Einzig und allein die Kammerfrau Ramen hatte sich noch etwas Wunderhübsches zur Zerstreuung der Herrin auszudenken vermocht. Sie ließ die kleinen Boote, die oberhalb des Parks von Monbijou an der Ufermauer angekettet lagen, mit gelbseidenen Kissen und himmelblauen, samtenen Baldachinen herrichten, einige weiße Straußenfedern auf dem Sonnendach der Barke Ihrer Majestät anbringen und einen Teppich zur Rechten und Linken ihres Sitzes hinbreiten, damit die hohe Frau ihre Hände getrost auf den Rand des Nachens zu legen vermöchte.
Dies überraschte die Herrin nun wirklich. Als sie die goldenen Schifflein an der tiefsten Stufe der Terrasse schaukeln sah, durchschritt sie den Park viel behender als jemals in all den Wochen zuvor: nicht mehr so müde, nicht mehr so verdrossen, nicht mehr so teilnahmslos.
Ein wenig schwierig war es freilich, die schwangere Königin auf ihre Barke zu führen. Aber die Wasserfahrt tat ihr überaus wohl. Das friedevolle Gleiten in der milden Abendsonne machte sie stiller; daß die Menschen in den Gärten an die Ufer liefen und ihr winkten, stimmte sie milder. Oder war es die Sanftheit der Kammerfrau Ramen, die eine immer tiefere Innigkeit ihres Dienens offenbarte? Sie umhüllte den Schoß der hohen Frau mit einer seidenen Decke; die war ganz mit Pfauen und Flamingos und Reihern bestickt. Die Kammerfrau hockte in der Barke zu den Füßen ihrer Fürstin. Unaufhörlich, wie es ihr gern vergönnt war, sprach sie leise zu ihr hinauf. Von den anderen Nachen scholl Lachen herüber. Die kleinen Wellen, von den Rudern aufgewühlt, pochten an den Bug: gleichmäßig, lind, kaum ein Geräusch zu nennen, nur ein Raunen.
Das Schauen, das Horchen, das Sinnen, die Stille, die noch keiner jemals an ihr wahrnahm, machten die Königin fremd und ergreifend und alt.
Sie waren weit hinaufgefahren. Immer, wenn die Ramen fragte: »Wie weit noch? Noch weiter?« hatte die Königin nur genickt, als strebe sie fernen Meeren und Inselreichen zu. Und als die Abendkühle von den Wassern aufstieg, mußte die Ramen dem Schiffer am Steuer nun selbst ein Zeichen geben, daß er wende.
Das goldene Holzwerk des Kahnes schurrte schon an der Terrassentreppe, und noch immer hatte die Königin nicht gesprochen. Als sie am Ufer stand, war sie erschöpft. Auch schien sie ein leichter Schwindel zu befallen.
Die Diener, welche schon lange auf die Rückkehr der Boote harrten, eilten auf die Herrin zu. Das angeregte Stimmengeschwirr der Damen verstummte. Für einen Augenblick war noch einmal all das verwehte Glück von Monbijou über dem Park und den Ufern gewesen.
Als wolle er sie abzulenken und zurückzurufen suchen, berichtete ein Diener an die Königin: »Seine Majestät ist im Residenzschloß angelangt – mit Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen.«
Ein Anflug von Angst war in dem blassen Gesicht der hohen Frau für alle erkennbar, obgleich der Abend alles Licht hinzunehmen begann.
Der Diener fügte noch hinzu: »Auch der neue Herr Gesandte aus England sind eingetroffen.«
Da wendete sich die Königin zu der Kammerfrau. Sie lächelten beide. Das leise Altern, der spürbare Verfall waren nur wie ein Schatten über die Fürstin gefallen. Nun war er verflogen. Die leichte Müdigkeit, mit der sie die Terrasse hinaufging, rührte wohl nur von der Schwere der Schwangerschaft und von der Ermattung durch die Wasserfahrt her.
Behende schritt sie in ihre Säle, Spielzimmer, Spiegelgalerien und goldenen Kabinette zurück. Zum erstenmal begann sie sich wieder an ihren aber tausend kleinen, schönen Dingen, Vasen und Statuetten, und an den vielen hundert Pagoden und Tierfiguren zu freuen. Auch ließ sie sich noch auf den Abend sechs kostbare Orangentöpfe vom König Augustus mit Blumen füllen und in die Spielzimmer tragen; sie rief die Damen wieder zu sich und zeigte ihnen sogar, was lange, lange nicht mehr geschehen war, all ihre Sammlungen; das Gold, das sie im Fundzustand verwahrte, und endlich auch das vielbestaunte chinesische Schiff König Friedrichs I., das auf dem Tisch mit einem Uhrwerk fuhr und schaukelte.
Von der Königin aus gesehen, war es ohne tiefere Bedeutung, daß der Gatte nun Friedrich wieder nach Berlin mitbrachte. Der Sohn sollte die Archive des Generaldirektoriums besichtigen und die Vorbereitungen einer Königsreise in die Provinzen kennenlernen.
Friedrich jedoch hatte in Berlin sofort wieder eine rege diplomatische Tätigkeit zu entfalten. Guy Dickens, der neue englische Gesandte, schien großen Wert darauf zu legen, den preußischen Thronfolger noch vor dem König selbst zu sprechen. Überraschend kam ihm aber immerhin, daß man sich mit dem Prinzen heimlich und nächtlich, ja, fast verschwörerhaft im Torbogen einer Nebeneinfahrt des Schlosses treffen mußte. Solche Gepflogenheiten gingen dem englischen Stolz nur sehr schwer ein.
Guy Dickens, wie es zu seiner Behäbigkeit nicht übel paßte, gab sich bei aller großen Höflichkeit Friedrich gegenüber ein wenig onkelhaft. Das war die geschickteste Form, sich seines schwierigen Auftrags zu entledigen, der rundweg dahin lautete, dem Kronprinzen von Preußen alle seine Schulden zu bezahlen. Da er für die allernächste Zeit mit nicht unerheblichen Ausgaben rechnete, besaß der Kronprinz Geistesgegenwart genug, die erforderliche Summe mit siebzehntausend Talern anzugeben, obwohl sich seine Verbindlichkeiten nur auf neuntausend beriefen. Danach erkundigte er sich artig, unter welchen Bedingungen so viel Güte zu erlangen sei. Er zeigte sich ganz außerordentlich beschlagen im finanziellen und diplomatischen Geschäftsgebrauch.
Guy Dickens ging nicht so geradezu vor. Er redete davon, daß sich um junge Königssöhne immer Legenden und Gerüchte zu bilden pflegten; die umgäben auch den Nüchternsten und Klügsten mit einem gewissen schwärmerischen, märchenhaften Schimmer; und nun gar erst, wenn solches Flüstern um einen jungen Königssohn durchwoben sei mit all dem Glanz und Klang im Namen einer fremden Prinzessin weit über dem Meer. Da steigere sich das Märchenhafte zur Gefahr; Romanzen von frühem Liebesleide würden erdichtet; es falle gar ein heimliches Wort von kühner Flucht durch ferne Lande und von Küste zu Küste, hin zur Geliebten. Es sei jugendlich und rührend; aber da solche Märchen doch nun einmal in einem hochpolitischen Zeitalter erdacht seien, könnten sich gewisse harte Zusammenstöße mit einer den Legenden und Romanzen sehr feindlichen Wirklichkeit ergeben. Nun sei im besonderen Falle eine starke Beunruhigung unter die Höfe und Kabinette Europas getragen worden, zumal entweder eine große Reise des märchenumwobenen Kronprinzen von Preußen mit seinem Vater bevorstehe, die vieler Länder Grenzen berühre, oder aber eine Zeit sehr langer Abwesenheit des Königs von Preußen zu erwarten sei, während der ganz notwendig Seine Königliche Hoheit der Kronprinz größere Freiheit, namentlich Bewegungsfreiheit genießen müßte, als das bekanntermaßen besonders enge Zusammenleben von Vater und Sohn sie gestatte.
Während der ganzen poetischen Rede hatte Friedrich nicht einmal gelächelt. Er biß sich sogar auf die Lippen und war noch blasser denn zuvor. Man wußte in der Welt etwas zuviel über ihn. Und daß die große Welt seine schmerzvollsten Pläne als jugendlich und schwärmerisch abtat, verletzte ihn tief, ja, es machte ihn gerade in diesem Augenblick, da er sich seinen Leiden entziehen wollte, sehr hart und bitter. Sie wußten draußen viel von ihm – aber sie vermochten sich doch nicht im entferntesten vorzustellen, was er litt! Wenn man sich drei und vier Jahre lang mit solch verwegenem, verzweifeltem Plane herumschlug, so fiel das Schwärmerische wohl von ihm ab!
Friedrich fühlte sich nicht mehr verpflichtet, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er die siebzehntausend Taler von Guy Dickens nahm, um nur neuntausend Taler Schulden damit zu bezahlen.
In seinen Antworten erschien er sich ungeheuer kühl und überlegt. Er glaubte, sich völlig die Entscheidung darüber vorbehalten zu haben, ob er England, Frankreich und das Reich nun vor vollendete Tatsachen stellen würde oder nicht und wie weit er der verworrenen politischen Lage Rechnung zu tragen gedächte.
Aber sein Knabenherz hämmerte wild; und in den übergroßen, schwermutsvollen Augen brannten ungeweinte – so jung der Königssohn auch war –, seit vielen Jahren ungeweinte Tränen.
Weniger die Zusicherungen über alles, was der Prinz nicht tun wollte, als die Gewißheit über das, was bestimmt geschehen würde, war Guy Dickens siebzehntausend Taler wert.
Der junge Herr von Katte, der während der Unterredung bei dem Torbogen Wache stand, bewunderte die Kälte, den Scharfsinn, die Findigkeit und Beherrschung des hohen Freundes grenzenlos. Wahrhaftig, in ihnen, den modernen, kühlen Denkern kam eine neue Zeit herauf, die Königreiche auf Vernunft – die in seligem Rausche neu entdeckte! – begründete und den Gott des Widersinns – der da geredet hatte, er wolle im Dunklen wohnen – aus den Ländern der lichten Erde verbannte; auch aus dem Reiche der vollendeten Unvernunft und Verstörtheit, aus König Friedrich Wilhelms umdüstertem Preußen!
Und er, der jüngste unter den Gesellschaftern des preußischen Thronfolgers, durfte sich sagen, daß er am stärksten die Bahnen seines Denkens bestimmte! Er war der erste, der Friedrich begriff; der erste, der, wie sonst nur die älteste Schwester, verstand, daß der kühne und behende Geist seines jungen Gebieters und Zöglings immer über ein großes Reich zu herrschen verlangte; über Reiche, deren Weite wachsen sollte, je mehr der Vater ihn beengte. Er begann den Prinzen als ein Glück für Preußen und für Europa zu betrachten. Der junge Herr von Katte war nicht Partei. Er war der Freund, der Freund des wißbegierigsten aller Königssöhne; er glaubte auch als der Freund von Friedrichs künftigem Lande zu handeln. Aber zweien war er Feind geworden, den beiden, die da vorerst über Friedrichs künftiges Reich, der hellen Vernunft tyrannisch geboten: dem Koloß und dem Phantom, dem königlichen Vater und ›Dem König von Preußen‹.
Es wurde mehr von der Königsreise geredet als von der Niederkunft der Königin. Der König hatte eine so umfangreiche vorbereitende Korrespondenz eingeleitet und seine ursprünglichen Projekte derart erweitert, daß man wirklich nur mutmaßen konnte, es gehe diesmal um erheblich weiter reichende Pläne als gewöhnlich. Vor allem gab zu denken, daß er auch Post nach Sachsen und in den Süden des Reiches gesandt hatte. Mit unleugbarer Ungeduld wartete er auf die Niederkunft der Königin. Er wollte weg. Es war ganz unverkennbar. Die Königin wurde mit einer solchen Fülle von Ärzten umgeben, daß manche schon die Achseln zuckten.
Die Nachricht von der Geburt eines Sohnes erreichte dann den König an seinem Schreibtisch in Potsdam. Er bestellte den Kronprinzen zu sich.
»Es ist ein Sohn«, sagte der König, »und Ihrer Mutter geht es gut.« Dabei war er aufgestanden, und das wirkte feierlich. Der Kronprinz gratulierte submissest.
»Sehr gut geht es der Königin«, wiederholte der König noch einmal, als müsse er noch immer die Furcht der letztvergangenen Wochen beschwichtigen. Er wanderte im Zimmer auf und ab, und immer, wenn er sich wieder zu dem Sohn gewendet hatte, sah er ihn unablässig an. Dem Prinzen war es äußerst peinlich. Er bat, sich verabschieden zu dürfen, um ein Glückwunschschreiben an die Königin aufzusetzen. Der König hielt ihn noch mit einem Wink zurück, als habe er etwas überaus Dringliches und Wichtiges mit ihm zu besprechen. Aber als der Sohn ihn fragend ansah, redete er nun überhaupt nichts, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und hatte nichts dagegen einzuwenden, daß Friedrich aus dem Zimmer ging. Seine Arbeit brach der König nicht ab. Er begann einen Brief. Er lud selbst die Paten zur Taufe, genau so, wie es längst schon überlegt war: nicht mehr die fremden Potentaten; den Kaiser nicht; die Könige nicht und keine Königin. Die übernahmen immer nur aus der Ferne mit prunkvollem Schreiben und funkelndem Geschenk das hohe Amt der Patenschaft; und über kurz oder lang würden sie in diesem verlorenen und verrotteten Europa doch nur die Feinde seiner Kinder sein.
Der König von Preußen suchte Freunde, die wirklich zu der Feier kämen und seinem Kinde wohlgesinnte, treue Hüter zu sein versprächen. Warum er sich gerade der braunschweig-bevernschen Familie entsann, jenes geringeren Zweigs des welfischen Hauses, kleiner Fürsten im Reich, vermochte damals noch niemand zu ermessen. Man sah nur den Affront, den er den Welfen in Britannien antat. Frau Sophie Dorothea aus dem Hause der Welfen erhielt bei der Geburt ihres vierzehnten Kindes die Diamantohrgehänge der ersten Königin von Preußen, sechsundzwanzigtausend Taler wert. Noch immer hielt König Friedrich Wilhelm kostbare Schmuckstücke seiner Mutter verwahrt, und man war allgemein der Auffassung, daß diese Juwelen der regierenden Königin schon längst zustünden. Herr von Grumbkow gab Seiner Majestät zu bedenken, daß die Königin sie ja doch nur beleihen würde, um ihre Schulden zu bezahlen, sobald er nur Berlin den Rücken kehre.
Die Reise des Prinzen war jetzt gewiß. Der König hatte wirklich nur die Taufe abgewartet, um seine letzten Beschlüsse nun sogleich bekanntzugeben. Die Reisesuite gab dem Prinzen viel zu denken. Der König hatte so eigentümliche Vorkehrungen getroffen. Es schien, als solle verhindert werden, daß nun auch etwa der Kronprinz vorbereitend über seine Reise korrespondiere. Sodann hatte der König befohlen, Friedrichs drei Begleiter – ein General, ein Oberst und ein Oberstleutnant – dürften nicht von Friedrichs Wagen weichen, und unter diesen drei Begleitern war nur einer aus dem Kreis der jungen Gouverneure: Rochow, der Ernste. Der Leutnant von Katte war von der Reisesuite zurückgestellt. Sofort kam er um Werbeurlaub ein. Geschah es, um dem König durch besondere Dienste aufzufallen? War es erdacht, um heimlich doch in die Nähe des Freundes gelangen zu können? Der Kronprinz hatte auch noch manch andere Frage. Nahm ihn der Vater überhaupt nur mit, um ihn besser überwachen zu können? War er etwa nicht schlechter unterrichtet als Guy Dickens? Es war für alle, die mit im Geheimnis waren, so qualvoll, daß man niemals Gewißheit erhielt, was dem König nun eigentlich zugetragen wurde und was man ihm noch vorenthielt oder was sich noch vor ihm verbergen ließ!
Der Abschied, den der König von der Königin nahm, war durchaus zärtlich. Große Entschlüsse schienen vor ihm zu liegen. Sonst wäre seine innere Bewegung nur schwer zu verstehen gewesen. Die jüngste Vergangenheit erklärte nicht solche Ergriffenheit; und auch das neue Kind begründete sie nicht, sprach doch der König auffallend wenig von dem jüngsten Sohne.
Doch verlangte er das Kleine noch einmal zu sehen. Noch betrachtete er es mit einer Scheu. Zuviel Schweres haftete an diesem späten Sohne, dem siebenten Knaben, dem vierzehnten Kinde; zuviel traurige Rede, die im Gedächtnis des Vaters noch nicht ausgelöscht war, wurde um dieses Kind geführt. »Das Kind der Schmerzen« hatten sie den späten Sohn genannt. – »Das ist ein neuer Name in unserem Geschlecht – Ferdinand« – sagte der König. Und er fand, der Kleine sei um einiges runder und kräftiger als die früheren Söhne allesamt gewesen wären. Er faßte vorsichtig die Ärmchen an. Er fuhr ihm mit dem Finger leise übers Gesicht. Das Kind der Schmerzen schlief und war satt. Die Kammerfrau Ramen wiegte es schwebend.
Als die Königin den Gatten so bei dem Söhnchen stehen sah, verlockte es sie, sofort wieder etwas für die Zukunft ihrer großen Kinder herauszuschlagen – namentlich, nachdem sie das gänzlich Unerwartete erfahren hatte, daß das für sie nicht ungefährliche erste Ziel auf seiner Reise Dresden sein sollte. Die Reise, so sagte sie, werde hoffentlich die alten Pläne nicht erschüttern und ein wenig auch dem Willen ihres Sohnes entsprechen.
Sofort war der König verstimmt. »Mein Sohn hat es zu eilig, sich zu verheiraten. Die Reise wird ihn hoffentlich von seinen Gedanken etwas abbringen. Solange er es treibt wie jetzt, muß ich ihn warten lassen. Ich will, daß er keinen Willen mehr hat, sondern daß ich ihn habe. Er wird viel Neues lernen müssen unterwegs.«
Die Königin erschrak sehr. Der König möge wenigstens nichts Direktes gegen England unternehmen, bat sie, nun, wo er zum Polenkönig gehe. Das sagte Friedrich Wilhelm ihr zu.
»Sie fangen an, etwas vernünftiger zu reden«, erklärte Königin Sophie Dorothea reichlich hochfahrend und herausfordernd, denn sie bemerkte, wie Guy Dickens sich um ihren Sohn bemühte, »aber leider führt Sie Ihr Weg nach Dresden ja zuerst über Graf Seckendorffs Güter; und sobald Sie nur den Kirchturm von Meuselwitz sehen, werden Sie ganz anders denken; und nach der Heimkehr von Ihrer Reise werden Sie Ihre Familie wieder rasend machen, und wir werden wie stets leiden.«
Diese Äußerung verriet gewiß viel Einsicht in das Leben, aber wenig Verständnis für den Augenblick und noch weniger Wissen um das Herz des Gatten.
Der König, ohne im mindesten den Eindruck zu verraten, den diese Worte auf ihn machten, erwiderte erstaunlich ruhig: »Ich verspreche es dir, nichts gegen England zu unternehmen. Diese Reise gilt nur unserem Land und unserem Sohn.«
Dann, nach einer für die Königin etwas schwierigen Pause, fügte er ernst und zögernd, ja nahezu schleppend hinzu: »Ich liebe dich zu sehr, liebe Frau. Küsse mich.«
Das sagte er ihr als Letztes vor der großen Reise. Sie überhörte alles, was in seinen Worten lag. Kühl, hochmütig, mißtrauisch, enttäuscht, verbittert und verwegen stand sie vor ihm. Er schritt an ihr vorüber auf die Tür zu. Er ging ganz allein, ohne Diener und Gefolge, zum Wagen hinunter, um sofort nach Potsdam zurückzukehren. Er rief und klingelte keinem.
In den Gewölben, Gängen, Treppenhallen blieb das Wort zurück, das er vor dem Aufbruch zu der großen Reise als letztes zu der Gattin sprach: »Ich liebe dich zu sehr, liebe Frau. Küsse mich.«
In keinem Königsschlosse dieser Zeit wurde solches Wort des Abschieds gesprochen. Keine Königin des kronenschimmernden Jahrhunderts war ihres Mannes »Liebe Frau«.
Der ferne, kühle Kuß, den Sophie Dorothea dem Gatten gewährte, war wie ein Verrat.
Noch in der Stunde des Aufbruchs Seiner Majestät begab man sich nach Monbijou zurück. Es war genug damit getan, daß man dem König die außerordentliche Aufmerksamkeit erwiesen hatte, seinen Abschiedsbesuch im Großen Residenzschloß zu erwarten. Wahrscheinlich hatte er sich überhaupt nur zu der Höflichkeitsvisite entschlossen, weil er sowieso noch so viel in den Archiven des Generaldirektoriums herumzukramen hatte. So mutmaßte man; denn es war aufgefallen, daß der König keines seiner Kinder hatte rufen lassen. Er hatte nur einen Augenblick an der Wiege des jüngsten Sohnes gestanden und war sofort zu seinem ältesten Sohn, dem unglückseligen Gefährten der geplanten Reise, zurückgefahren. Der Kronprinz aber durfte sich von seiner Mutter nur brieflich verabschieden.
Der König war aber noch einmal in Berlin, ohne auch nur irgend jemand vom Hofe zu sprechen. Im rauschenden Regen war er noch einmal gekommen und gleich zur Stätte des Unglücks gefahren. Die Nachricht vom nächtlichen Einsturz des Kirchturmbaus von Sankt Peter mußte dem König nach Potsdam gebracht werden, indes das Gewitter noch in den Morgen hinein tobte. Dreimal hatte der Blitz in den fast vollendeten Turm der Peterskirche eingeschlagen, an dem der König nun schon zwei volle Jahre mit höchster Sorgfalt hatte bauen lassen.
Der König wollte ruhig erscheinen. Er sagte, als er die Hiobsbotschaft erhielt: »Ich dachte wunder, was ihr bringt; ich glaubte schon, der Flügelmann von Glasenapp wäre tot.«
Aber es kam zu spröde, zu gebrochen heraus, und der müde, müde Ausdruck seiner übernächtigen Augen strafte seine Gelassenheit Lügen.
Er lauschte auf das Gottesurteil, indes sie ihm berichteten.
Vierundvierzig Häuser und die Kirche brannten – eine Kirche, die so alt und ernst und dunkel war wie jene, vor denen der Herr als junger König aus Brandenburg geflohen war. Die Angst um das nahe Pulvermagazin war groß. Man deckte es mit nassen Fellen und feuchtem Mist zu.
Der König stellte fünfzehntausend Taler Baugeld und Baumaterial für die vom Brand Betroffenen zur Verfügung. Für den Turmbau gab er keinerlei Weisung.
Aus Rauch und Brandgeruch, Geschrei und Lärmen fuhr er dann ins Reich. Über der Hauptstadt ragten, als er sie verließ, die schwelenden Balken ihres höchsten Turmgerüstes, einer ausgelöschten Fackel gleich, in den lastenden Himmel eines neuen, glühenden Tages.
Auf der Reise war er sehr in sich gekehrt, obwohl er nun nicht mehr den Turmbrand, sondern das, was vor ihm lag, bedachte. Seine Reise sollte vielerlei Stationen und unvergleichlich längere Aufenthalte haben als alle früheren. Eine weite, schwere Königsfahrt lag vor ihm; und dem Sohn, der ihn begleitete, sollte sie zum Fürstenspiegel werden, den ein König reisend seinem Thronfolger schrieb. – Das war der unumstößliche Wille des Vaters. Das war der Inhalt seiner Gebete.
Der Kronprinz von Preußen sollte in Dresden noch einmal das Bild des vom Glück gesegneten, strahlenden Königtums sehen und zugleich erfahren, daß an manchem großen Hofe die Politik des Bettelkönigs noch immer als beachtenswert und für Europa wichtig galt.
Der Sohn des Bettelkönigs sollte in den von harter Not getroffenen Gebieten des Vaterlandes den schweren Weg, einen Staat von den Grenzen her bis zum Thron hin aufzubauen, Schritt um Schritt beschreiten lernen.
Der Stammhalter Brandenburgs sollte in den benachbarten Markgrafschaften der Verwandten im Reiche einen Einblick gewinnen in den Niedergang fürstlicher Häuser, die den Auftrag nicht verstanden hatten, der an die Herren der Erde ergangen war. Er sollte die Pläne des Vaters im Kernstück und Grundgedanken begreifen lernen, die Pläne, die das Haupt des Brandenburgischen Hauses gerade über jene verarmten Markgrafschaften der Hohenzollern drunten im südlichen Reiche zu fassen begann.
Der zum Fähnrichsdienste degradierte Oberst sollte vom Korporal von Potsdam selbst in die entlegensten Garnisonen ›Des Königs von Preußen‹ geführt werden, damit er es endlich verstünde, was es für ein zerrissenes Land – dessen östliche und westliche Bewohner wie fremde Völker voreinander waren – zu bedeuten hatte, daß überall ein Heer im gleichen, in des Königs Rock nach den gleichen Trommelwirbeln das gleiche Reglement übte, im Gleichschritt gleichen Hoheitszeichen folgte.
Friedrich hörte aus allem, was ihm der Vater – als hätte er ihn nie geschlagen bis zur Todesangst! – von ihrer Reise sagte, allein das eine ermüdende, aufreizende, bedrückende, eigensinnige: Er sollte, er sollte, er sollte!
Andere Königssöhne gingen freier auf die Große Tour, die im Leben der alten Höfe und der jungen Fürsten so bedeutsam und unerläßlich zu sein pflegte.
Er bedachte nicht, wie noch niemals eine Reise seines Vaters so weit und groß geplant gewesen war wie diese. Er erkannte nicht, daß der Vater ihn mitnahm, um den Neffen des Königs von England für seines Vaters Land zu gewinnen.
Das Ziel der Fahrten war der Sohn, mit dem er aufbrach! Der König hetzte nicht mehr unstet von Schloß zu Schloß. Seine Fahrten hatten wieder ein Ziel, ein großes, klares Ziel! Und königlicher ist wohl kein Fürst gereist als König Friedrich Wilhelm I. von Preußen mit seinem Sohn. Denn er sah Gott vor sich hergehen als eine Wolkensäule des Tags und eine Feuersäule des Nachts. Und an ihn, den keiner sah, hielt sich der König von Preußen, als sehe er ihn und als habe Gott zu ihm gesprochen, was geschrieben stand: »Schaue zu, daß du machest alles nach dem Bilde, das dir gezeigt ist!«
Auch als er auf die Reise mit dem Sohne ging, geschah es, »zu dienen dem Vorbilde und Schatten des Himmlischen«.
Auch die Königsfahrt war nur ein Bild.
Nichts, gar nichts an Glanz war jener Karneval zu Dresden gewesen, gemessen an dem Prunk, den König Augustus auf der Höhe des besonnten Jahres und im Abstieg seines Lebens im Lager zu Mühlberg zu entfalten begann. Eine sommerliche Maskerade ohnegleichen war ersonnen worden. Dem Soldaten-König gab Augustus kriegerische Feste, und der vollendetste aller Gastgeber Europas war wie berauscht von all den Möglichkeiten neuen Glanzes, neuer Farben, neuer Klänge, die ihm der blanke Schein der Waffen und das Geschmetter der Feldtrompeten gewährten.
Diesmal vergab der Preußenkönig seiner Würde nichts. Zweihundert große Herren waren sein Gefolge; die meisten darunter freilich waren seine Offiziere. Aber die hatte er eigens ermahnt, sich ein wenig »contenter und legèrer« zu zeigen und in Sachsen nicht so steif einherzuschreiten, wie er es in Preußen für angemessen hielt.
An Dresden fuhren sie vorüber. Bei Mühlberg, im Zeithayner Tal, war die Stätte des Festes. Von weitem schon sahen sie die hundert und aber hundert Fahnen über der weiten Zeltstadt flattern. Es war, als blühe plötzlich ein prächtiger Garten in ödem Tale auf.
Die erste Begegnung der Könige fand sehr zeitig, um vier Uhr des Morgens, bei einem prunkvollen Zelte statt. Dem König von Preußen hatten sie inmitten des Lagers einen Feldherrnpavillon errichtet; der war mit Wall und Graben umzogen, und silberne Kanonen bewachten die Einfahrt.
Ein artiger, schöner Knabe empfing die Preußen am Eingang des Lagers: die Gräfin Orsielska, König Augusts Tochter, im weißseidenen Männerhabit, die Schärpe des polnischen Weißen Adler-Ordens um Schulter und Brust.
Abends freilich trug sie statt dessen um Hals und Arme ihre Edelsteine. – »Für einundeinehalbe Million Taler Juwelen«, flüsterte man dem Preußenkönig zu. Des Abends fuhr man nämlich durchs Lager – zur Italienischen Oper! Hinter neu gepflanzten Taxushecken strahlte sie auf, ein edles und kostbares, wenn auch nicht sehr standhaftes Gebäude, für das Glück nur weniger Tage geschaffen.
Während die Fürstlichkeiten und ihr Gefolge den Gesängen der Helden und Götter lauschten – die Götter schwebten diesmal wirklich in erhabener Höhe, denn König Augustus hatte eigens neue Opernmaschinen aus der Kaiserstadt kommen lassen –, lärmte das Volk auf den Wiesen voller Jahrmarktsbuden und Seiltänzerpodeste. In Scharen kamen sie tagtäglich aus den nahen Städten und Dörfern zum Mühlberger Lager hinüber; und den schaulustigen Bürgern und Bauern zog der Schwärm der Bettler wie ein besonderes Gefolge nach. Im Lager von Mühlberg rollte das Geld, ob goldener Dukat oder kupferner Heller – jeder kam zu seinem Teil.
Die Orsielska war zur Fortuna geworden. Allabendlich ließ sie sich zur Volkswiese fahren, war allerliebster Laune auch unter den Derbsten und Ärmsten und gab strahlend alle ihre Douceurs und Revenuen her, große Beträge in kleine Münze umgewechselt, so daß den Polenkönig manchmal schon die Angst ankam. Aber es war zu schwer, einer solchen Tochter zu widerstehen. Niemals war mehr Größe in ihrer Anmut, als wenn sie – das Kind eines Königs und einer einfachen Frau – unter den Armen und Elenden stand, sie zu beglücken.
Die Herren der beiden Höfe drängten sich nicht minder als die Bettler um die Orsielska. Den Preußenkönig machte einer darauf aufmerksam. Das war der neue englische Gesandte in Dresden, Sir Charles Hotham. Plötzlich stand er neben ihm.
Im Lager von Mühlberg waren sie beide Gast des fremden Potentaten. Hier gab es für den Ritter Hotham noch eine Möglichkeit der Verhandlung. Und die mußte gesucht sein, denn so nahe dem Dresdener Hofe konnte der Preußenkönig ja von neuem gegen England beeindruckt werden!
König Friedrich Wilhelm aber hatte es gelernt, daß alle Feste, in denen die Großen der Erde einander begegnen, Schauplätze geheimen, bitteren Ringens waren. Er kämpfte sehr wacker zwischen Parade, Tafel und Oper, den kriegerischen Szenen und den Wasserschlachten; er träumte und feierte auch nicht bei dem Feuerwerk auf der Elbe, als fünfzehn Schiffe, mit funkelnden Sternen behängt und von goldenen Segeln getrieben, durch eine stille, klare Nacht den dunklen Strom entlang glitten.
Und wie er es der lieben Frau versprach, unternahm er nichts Direktes, ja nicht einmal Indirektes gegen England.
Nur darin beharrte er fest bis zum Starrsinn: auch in diesen verzauberten Tagen von Mühlberg nie mehr seinem britischen Traum zu verfallen. Der König des Sandes und Sumpfes hatte es begriffen, daß ihm das weite Meer zum Schicksal wurde – ihm, der die goldene Liburnica seines Vaters an den Zaren verschenkte.
Aus dem Lager von Mühlberg schrieb er dem Fürsten von Anhalt-Dessau: »Ich mus die sehe fahren, bevor habe kein frieden und Ruhe.«
Diesmal verstand der Fürst von Anhalt-Dessau, Herr auf Bubainen und Norkütten, seinen Freund und König nicht.
Der begehrte nun auch dieses Bild zu sehen: das Meer, in dem die lichten Segler seiner Hoffnungen versanken.
Daß hier härter als in den spielerischen Paradeschlachten der als Spahis und Janitscharen kostümierten Regimenter gekämpft wurde, hatte jeder begriffen, der im Lager weilte und zu den Fürstenzelten zählte; auch bis zur Volkswiese war die Kunde gedrungen, und nun machten sich die Bettler darüber lustig, daß man Krieg für teures Geld spiele, während man ihn doch echt und wirklich auf billigere Weise haben könne.
Aber doch nur wenige ahnten ganz, welches geheime Drama sich im verschanzten Feldherrnpavillon des preußischen Monarchen abspielte – inmitten all des Glanzes und im Gewühl der Diplomaten und Fürstlichkeiten ein Drama, in dem lediglich der König und der Kronprinz von Preußen und jener große englische Diplomat, der nur wie ein Großinquisitor eingesetzt wurde, agierten und in dem die Götter keineswegs auf kaiserlichen Theatermaschinen aufs Stichwort herbeischwebten, alles zu lösen, was rätselhaft und sinnlos war.
König Friedrich Wilhelm hatte seinen Sohn dabei überrascht, wie er den englischen Gesandten fragte, ob er Nachricht darüber erhalten habe, welchen Eindruck sein neuer Brief an die Prinzeß in London erzielte, der Brief, in dem er erklärte, er könne sie unmöglich durch eine Ehe mit ihm den Wutausbrüchen seines Vaters aussetzen.
Friedrich verhandelte also wieder mit den fremden Diplomaten. Nun hatte es der König selber gehört. Und zuvor schon hatte er gesehen, wie hochfahrend und sicher sein Sohn im Lager einherging, seit man Sir Charles Hotham hier traf.
Von solchen diplomatischen Intermezzi ließen der König und sein Sohn kein Wort verlauten, aber beide dachten sie unablässig an das Gleiche und erbitterten sich mehr und mehr gegeneinander.
Zwischen dem Briten und dem Prinzen, zwischen dem Briten und dem König, zwischen dem Briten und dem Hofe von St. James gingen auch im Lager von Mühlberg viele Briefe hin und her. Er überreichte dem König von Preußen eine Note seines durch die Sachsenreise schwer beunruhigten Hofes. Der König gab schriftlich seinen Bescheid darauf, und mitten unter den Theaterschlachten war nun ein großer, wahrer Sieg für Kaiser und Reich errungen, von dem Reich und Kaiser nicht erfuhren!
Beiderseits, von Hotham und dem König von Preußen, wurde jedes weitere Zugeständnis abgelehnt, und der Großinquisitor der europäischen Diplomatie war an dem brandenburgischen Ketzer gescheitert. Da begann er ihn um dieser Niederlage willen zu hassen und sendete aus dem fahnenumflatterten Tal von Zeithayn die Botschaft übers Meer: »Ein Versprechen des Königs von Preußen ist keinen Heller wert, und mit Edelmut erreicht man bei ihm soviel wie mit Sporen bei einem alten abgetriebenen Postgaul.« Damit war der Ketzer in der Kurmark dem Inquisitionsgericht preisgegeben. Und Kronprinz Friedrich vermochte zu ermessen, was da geschah. Er wurde gerächt – auch wenn man ihm nicht zu helfen gedachte. Europa konnte nicht mehr an ihm vorüber, er war dem engen Kreis entronnen, in den ihn ›Der König von Preußen‹ zu bannen gedachte.
Der Kronprinz war wie berauscht davon, daß ihm das im festlichen Lager versammelte Europa die Ehren erwies, die es seiner hohen Geburt schuldete. Das flüchtige Glück der ersten Dresdener Tage kehrte wieder.
Er war noch mehr berauscht davon, daß nun eine Zeit vielleicht schon sehr nahe war, in der das Heil der preußischen Nation von dem kunstvollen Gefüge seiner diplomatischen Unternehmungen abhängen würde; denn Preußen hatte ja nun seit Jahr und Tag das Unglück erlebt, einen Herrscher zu besitzen, der mit all den zarten Fäden zwischen Hof und Hof zu verfahren pflegte wie seine wilde Bärin Grognonne mit Kette und Strick.
Der Sohn begegnete dem Vater mit einer Haltung, die ein Gemisch war aus Triumph, Geringschätzung, Hoffart und Herausforderung. Er fühlte sich so geborgen in der Nähe all der Großen. Jede Artigkeit, die man ihm erwies, versetzte ihn in einen Zustand der Schwärmerei. Er hatte zuviel gelitten, als daß er nicht in einer so veränderten Umwelt dem Überschwang verfallen mußte.
Aber die Trauer wollte dennoch nicht aus seinen großen, kranken Augen schwinden; denn immer kehrten Augenblicke wieder, in denen er den Gegensatz zu Preußen unerträglich schmerzhaft empfand.
Den tiefsten Gegensatz zu empfinden – in dem einen Schmerz, aus dem allein noch hätte Segen wachsen können –, blieb ihm verwehrt; denn davon begriff er unter all seinen Demütigungen nichts, daß ihm bei seinem Vater daheim so ungleich Größeres geboten wurde, als die bloßen Huldigungen vor einem Thronfolger je bedeuten konnten: nämlich, daß er Vertreter und Helfer seines Vaters vor ›Dem König von Preußen‹ sein sollte.
Ob er im Lager von Mühlberg mit den Fürsten feierte oder sich in Potsdam am Schreibtisch in Arbeit vergrub, überall war jetzt dem König alle Wirrnis, alles Leid und alle Sehnsucht dieser Erde ein einziger Mensch geworden. Ob sein Leben darum einfacher war – niemand hätte diese Frage zu bejahen vermocht.
Drei Tage, drei politisch für ihn ungeheuer schwere Tage, sah König Friedrich Wilhelm dem Treiben seines Sohnes zu, hörte er achtsam auf seine vermessenen Reden und beobachtete sein höfisches Gebaren, das er immer herausfordernder zur Schau trug. Am Abend des dritten Tages rief er Friedrich zu sich.
»Du bist wie gebannt von dem feierlichen Zeremoniell«, sprach er langsam und streckte ihm mit gewollt pathetischer Geste den rechten Fuß entgegen, »– dies ist mein Zeremoniell: Küsse dem König von Preußen die Füße, weil Dienerchen zu machen und die Glieder in Posen zu verrenken doch nun einmal deine ganze Lust ist!«
Friedrich hat seinem Vater die Füße geküßt. Er tat es mit der Inbrunst seines Hasses.
Nun war er frei. Der Vater hatte sich der Rechte über seinen Sohn entäußert, der König sich seiner Macht über den Thronfolger begeben, indem er sie ins Maßlose steigerte. Hier war nur noch Tyrann und Sklave. Niemand hatte mehr einen Anspruch auf ihn, so glaubte der Kronprinz. Wenn ein mißhandelter Sklave entlief – keiner würde seinem Peiniger recht geben. Gar nichts mehr war er als ein Sklave. Er wurde auch wieder vom Vater geschlagen und grausam geschmäht. »Ich traktiere Euch wie mein Kind, aber nicht wie einen Offizier«, hatte der König geschrien und danach mit unbarmherziger Ruhe, ja, wie in einer Erschöpfung gesagt, ein anderer Offizier, dem das Gesicht des Königs mißfalle, könne seinen Abschied nehmen; aber er, der Prinz, der Sohn, müsse wohl oder übel bleiben und sich dem König konformieren oder er werde ein saures Leben haben.
Der Königspavillon inmitten des Lagers war nur noch das Szenarium einer heimlichen Tragödie. Und als sie nicht mehr heimlich war, wurde sie dem Prinzen völlig unerträglich; denn er wehrte sich, aber er klagte nicht wie die Mutter. Er spürte es aus tausend bitteren Einzelheiten, was die anderen von ihm wissen mochten. Sie suchten ihn zu lebhaft abzulenken; sie betrachteten ihn zu befangen. Er mußte sich sagen, daß alle diese Menschen, Prinzen, Gesandten, Offiziere und Damen, seine Leidensgeschichte und sein schmachvolles Dasein kannten. Unablässig waren forschende Augen auf ihn gerichtet. In jeder Höflichkeit witterte er Mitleid. Selbst die Anerkennung, die in manchem Blicke lag, verwundete ihn. Und man bestaunte und bewunderte wirklich, wie formvollendet, wie elegant und gebildet und sicher der kläglich Mißhandelte auftrat, obwohl die Schwermut seines Augenausdrucks ihn zu jedem Augenblick, auch im angeregten Gespräch, erbarmungslos verriet. Harte, rohe, unmenschliche Äußerungen des Königs von Preußen liefen um; er habe in seinen Wutausbrüchen gesagt, er in solcher Lage hätte sich totgeschossen, aber Friedrich ließe sich ja alles gefallen.
Auch sollte er von seinem Ältesten den Verzicht auf Kurhut und Krone gefordert haben.
Aber Friedrich wollte König werden. Er harrte sogar sehr ungeduldig darauf. Die Stunde schien ihm nicht ungünstig, seinen künftigen Thron unter den alten Völkern Europas schon heute zu festigen. Den Tag der Thronbesteigung bei dem Vater abzuwarten – das war nicht mehr möglich. Noch von Mühlberg aus gedachte er ins Ausland zu gehen und jenseits dieser fürchterlichen Grenzen seines Vaterlandes auf den großen Tag der Zukunft zu warten. Im Grunde beschäftigten ihn all die tausend liebenswürdigen Leute hier schon nicht mehr. Er wartete auf Katte.
Er malte sich die Auflösung des allgemeinen Aufbruchs aus, in der sein seitab bestellter Wagen bald entschwinden würde. Er sehnte das große Gewoge der Abfahrt herbei, denn die Feste, die sich hier an Feste reihten, eines immer glänzender als das andere, die prunkvollen Schaustellungen und heiteren Bälle bildeten ja doch nur einen harten, schreienden Kontrast zu seinem Unglück. Unruhevoll harrte er der Abschiedsfeier.
Der letzte Morgen schimmerte von Waffen. Zwanzigtausend Mann, mit Goldstoff als Janitscharen maskiert, marschierten durchs Tal, flankiert von den herrlichsten Reitern und von funkelnden Kanonen gefolgt.
Augustus gab dem Heer noch ein Gastmahl. Die Dreißigtausend aßen und tranken an zwei unübersehbar langen Reihen von Tischen, an deren Enden als Trophäen ein Ochsenkopf ragte, dessen Fell die gebratenen Viertel des Tieres noch wie eine Draperie bedeckte.
Zwischen den Tafeln ritten die beiden Majestäten einher, gefolgt von ihren Söhnen, empfangen mit Vivatgeschrei und in die Luft geschleuderten Mützen. Dann nahmen die Könige und Prinzen an einem erhöhten goldenen Tische Platz, von wo sie den Riesenschmaus überschauten. Bei dem Dessert der Fürstlichkeiten kam erst das Wunder des Tages zum Vorschein. Ein von Pagen bewachtes Zelt tat sich auf, und man erblickte einen vierzehn Ellen langen und sechs Ellen breiten Kuchen, zu dem sechshundert Eier, drei Tonnen Milch und eine Tonne Butter als der Urgrund all der köstlichen Gewürze gebraucht worden waren.
Mit zergrübelter Stirn und zerquälten Augen blickten Friedrich Wilhelm und Friedrich auf all diese Herrlichkeit.
König Friedrich Wilhelm gab reiche Geschenke an die Höflinge des fremden Potentaten. Er teilte Medaillen unter sie aus, von denen jede runde hundertundfünfzig Dukaten Wert besaß. Dreißigtausend Gulden erhielten die sächsischen Offiziere; und hunderttausend Gulden, seinem Sand und seinen Sümpfen abgespart, spendete der Bettelkönig der Armee des Gastfreundes – und spendete sie vielleicht nur, weil er die Augen des Sohnes auf sich ruhen wußte. Der sollte ahnen, daß der Bettelkönig nicht gering war.
Während der Vater noch an der Brüstung der Empore ihres Tafelplatzes stand, trat der Sohn mit einem jungen Offizier beiseite, der eben erst eingetroffen war und sich mühsam einen Weg zu der Königlichen Hoheit gebahnt hatte. Er stellte sich ihm als Kattes Beauftragter vor; er wies sich zuverlässig aus. Er brachte Hiobspost: der Leutnant von Katte hatte keinen Werbeurlaub erhalten; er konnte sich nicht mit ihm treffen.
Der Prinz verabschiedete den jungen Rittmeister rasch und ging zur Empore zurück. Der Vater durfte seine Abwesenheit nicht bemerken. Blaß stand der Sohn wieder neben ihm und zermarterte sich in all dem heiteren Tosen und ausgelassenen Lärmen das Gehirn. Nun galt es, alle Pläne völlig umzustellen. Fürs erste mußte er nun doch mit nach Ansbach gehen. –
Über hundertfachem Verabschieden und wirrem, heimlichem Kofferpacken für zweierlei Reise blieb ihm nur ein Augenblick und nur ein Winkel, ein paar verzweifelte Zeilen an Katte auf ein Blatt zu werfen.
Katte sollte desertieren. Er sollte nach dem Haag fliehen. Im Haag sollte er sich nach einem Grafen d'Alberville erkundigen. Der würde er, der Prinz, sein; und seinen Diener werde er durch eine rote Feder kenntlich machen.
»Du kennst«, schrieb der Prinz, »diese Figur unseres geliebten Romanes –« Er kritzelte auch noch ein Billett an den einstigen Pagen von Keith, den ihm der Vater – als Leutnant nach Wesel versetzt hatte. Keith sollte Wesel verlassen. Auch ihn erwartete der Graf d'Alberville.
Friedrich spielte mit Romanfiguren. Aber er war bedacht, die klare politische Erwägung nicht auszuschalten, daß er mit Rücksicht auf den König von Polen und Kurfürsten von Sachsen nicht von Leipzig, Dresden oder Mühlberg aus fliehen könne. –
Mit einer Heftigkeit, die nahezu den Ausbrüchen des Vaters gleichkam, fügte der Kronprinz den Spielereien um die rote Feder seines Dieners und den politischen Argumenten noch die Nachschrift hinzu, in das Haus der Andachten und Schrecken, nach Schloß Wusterhausen, wolle er nie mehr zurückkehren.
Das war seltsam. Er hatte zuletzt in Potsdam gelitten, seit langem schon. Und dennoch galten dem Jagdkastell Wusterhausen seine Worte: Nie mehr zurück.
Die Königin von Preußen gab während der Abwesenheit des Königs viermal in der Woche Gesellschaft in Schloß Monbijou. Die Mühsal der vierzehnten Niederkunft war überwunden. Es wäre alles wunderschön gewesen, wenn nicht der junge Herr von Katte in Berlin zurückgeblieben wäre und Gerüchte über absonderliche Reisegedanken des Kronprinzen ausgesprengt hätte. Das beunruhigte die Königin immer wieder, aber sie vermochte manchmal nicht zu ermessen, ob als Furcht oder letztlich doch als Hoffnung. Überdies stellte sich zu ihrem Ärger der Staatsminister von Grumbkow auf ihren offenen Assembleen ein und zeigte sich sicherer denn je. Aber er wurde von allen sichtlich gemieden und stand ganz allein bald in den Spielzimmern, bald im Konzertsaal, bald in der Galerie. Er mußte sich nun eingestehen, daß sie alle wußten, was zwischen dem Herrn und ihm spielte, und was es bedeutet hatte, daß der König ihn diesmal nicht in seine Reisesuite berief. Dennoch blieb er nur einer einzigen Assemblee fern, und zwar an dem Tage, bevor er zum Abendmahl ging. Er versprach sich eine gewisse Wirkung davon, während der Abwesenheit des Königs das Abendmahl zu nehmen; es war das Beste, was man dem »Dicken« bei seiner Rückkehr überhaupt melden konnte; denn der Minister hatte in Erfahrung gebracht, daß in den letzten Wochen ungewöhnlich oft der Prediger Roloff zum König bestellt worden war.
Auf den späten Abend kam noch die Kammerfrau Ramen ins Grumbkowsche Palais in der Klosterstraße. Im Palais Creutz sowohl wie im Grumbkowschen Hause war ihr eine Nebentreppe vom Garten aus bezeichnet worden, über die sie jederzeit zu den privaten Räumen der Herren gelangen konnte, ohne immer gleich der Dienerschaft zu begegnen. Seit jener Nacht von Havelberg, in der es um das Testament des kranken jungen Königs gegangen war, hatte sie diesen Weg ins Geheimkabinett der beiden Großen nicht gar so selten angetreten; und immer wieder rief ihr Erscheinen Spannung und Ungeduld hervor, was sie wohl wieder brächte und wüßte.
Heute sah Grumbkow sie lange schweigend an und rührte sich in seinem Sessel nicht. Er wehrte nur ab, er bereite sich zum heiligen Abendmahl vor. Auch schloß er einen Herzschlag lang die Augen; und der behäbige, gepflegte Mann, der immer gesättigt und gesalbt erschien, war für einen Augenblick verfallen und welk. Die Ramen stahl sich leise und behend hinaus. Als sie in das Gartenschloß der Königin zurückkam, begegnete sie der ältesten Prinzeß, die gerade ihr Zimmer aufsuchte und die Gesellschaft der Mutter vor der Zeit verlassen hatte. Die Prinzessin war sehr ernst.
»Ich werde morgen zum Abendmahl gehen«, sagte sie im Vorüberschreiten. Die Kammerfrau lächelte. Wenn der König zurückkehrte, würde sich sein ganzer Hof als eine heilige Schar von Kommunikanten präsentieren. Aber dann verflog ihr Lächeln; ihre Augen waren weit geöffnet, und sie nickte mehrmals langsam und bedeutungsvoll, als gelte es etwas unendlich Wichtiges und Geheimnisvolles zu bekräftigen.
»Ja, nehmen Sie das Abendmahl«, flüsterte sie Prinzessin Wilhelmine zu, »es werden hier schreckliche Dinge vor sich gehen.«
Dem unheimlichen Eindruck, den die Ramen um ihrer oftmals bestätigten Ahnungen willen immer wieder auf sie machte, konnte sich die Prinzessin auch an diesem Abend nicht entziehen. Sie atmete auf, daß die Stunden der abendlichen Unterhaltung für sie vor der Zeit vorüber waren und sie ihr Schlafkabinett betreten durfte; denn in den Räumen der Königin war es sehr schwül gewesen; die Fülle der Kerzen auf den Kronleuchtern und Gueridons schuf eine unerträgliche Hitze; vom Park und Fluß her kam keine Kühle; so ohne alle Linderung war der glühende August dieses Jahres. Die Schwüle im Schloß und die Worte der Kammerfrau hielten die Prinzessin noch lange wach.
Sie grübelte über die Mutter nach. Wie vermochten Gäste sie noch immer abzulenken! Welch vorzüglicher Laune war sie gewesen! Mitten zwischen Toccadille und L'hombre war es ihr eingefallen, manch reizvolle Veränderungen durch Umstellung einiger Statuen und Vasen in ihrem Goldenen Kabinett vornehmen zu lassen und sie sogleich am Beifall ihrer Gäste zu erproben. Nun erst fand Sophie Dorothea ihr berühmtes Kabinett vollkommen schön. Nun erst schien ihr zur Geltung zu kommen, wie ungemein graziös es von oben bis unten mit Porzellanstreifen belegt und zudem mit vielen merkwürdigen Stücken, Edelsteinen sowohl als Kristallen, ausgeziert war. Alles goldene Gerät des Kronbesitzes sowie der Schmuckkasten der Königin war in schimmernden Schreinen von Schildpatt und Elfenbein hier aufgestellt. Die Königin war äußerst zufrieden, zumal sie durch die neue Anordnung erzielt hatte, daß die hohen Pfeilerspiegel der Fensterseite die goldenen, gerundeten Borde mit ihren aber tausend kostbaren Porzellanen noch ins Ungemessene zu vervielfachen schienen.
Sie war so angestrengt, daß sie sich noch lange von der Bülow unterhalten ließ, als sie sich schon in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte und von der Ramen den Kopfputz abnehmen ließ.
Da zitterten der Ramen die Perlen und Federn, die sie aus den weißen Locken der Perücke löste, in den Händen – so jäh und fürchterlich kam ein beängstigender Lärm vom Goldenen Kabinett her. Die Königin rief sogleich, ihr ganzes Porzellan wäre zerschlagen, man möchte sich doch danach umsehen – es ginge um König Augusts Geschenke, um das unersetzliche Email aus Limoges vom König von Frankreich.
Die Königin war aufgelöst. Sie vermochte sich nicht zu erheben. Man sollte doch schauen, rief sie viele Male, wahrscheinlich wären es die Diener, die mit der Leiter die Kerzen der Kronleuchter zu löschen kämen. –
Die Hofdame von Bülow ging sofort mit drei Kammerfrauen, die auch aus den Vorzimmern herbeigeeilt waren, hinein. Die Königin wartete sehr erregt vor dem Spiegel. Die Ramen, obwohl sie erblaßt war, tröstete und beruhigte die Herrin.
Die im Kabinett fanden gar nichts zerbrochen. Es war auch nichts in Unordnung gebracht. Sie rieten alle bei der Königin hin und her, und alle waren sie nicht wenig ängstlich.
Da wiederholte sich das grausige Klirren. Und ein drittes Mal schienen alle Spiegel, Leuchter, Vasen, Porzellane und Zierdosen herabzustürzen.
Die Königin war aufgesprungen und preßte die Hände aufs Herz. Die Ramen lehnte am Frisiertisch und hielt mit beiden Händen seine Kanten umklammert. Denn nun dröhnte auch noch ein hohles, dumpfes Geräusch durch die ganze Galerie, die sich zwischen den Zimmern der Königin und den Räumen, die manchmal der König benützte, hinzog.
»Wo steckt denn die Schildwache?« schrien die Damen und Frauen durcheinander, »sie muß doch in der Galerie sein!«
Die große allgemeine Angst suchte sich die Empörung und den Vorwurf zur Maske.
Sophie Dorothea war sehr verändert. Plötzlich schien sie ganz ruhig und entschlossen, wenn sie auch noch bleicher war als die Kammerfrau Ramen.
»Jetzt wird es zu arg« – die Königin griff selbst nach einem Leuchter– »ich muß selber sehen, was da ist.«
Nun nahmen sie alle die erreichbaren Leuchter zur Hand: und kaum waren sie aus der Tür getreten, so hörten sie ganz nahe neben sich seufzen und ächzen.
»Der Schildwache ist etwas zugestoßen –!«
Aber da trat der Grenadier schon auf die Königin zu, befremdet und trotz martialischer Haltung ohne Frage recht aus der Fassung gebracht. Sonst war niemand zu sehen.
Der Grenadier war schon von Fenster zu Fenster geeilt und hatte auch an allen Türen gerüttelt; denn ihn hatte das gleiche Klirren und Rauschen und Stöhnen aufgeschreckt.
Die Königin gab sich mutiger und fester, als man ihrer bebenden Stimme glauben mochte. Sie ließ rund umher alle Räume durchsuchen. Allein man fand nichts. Und als Prinzessin Wilhelmine sehr entsetzt mit zwei der jüngeren Schwestern herbeieilte, konnte man sie schon beruhigen.
Die Kammerfrau Ramen aber mußte sich trotz der Gegenwart Ihrer Majestät für einen Augenblick setzen, und die Bülow ließ ihr ein Glas Wasser holen. Doch trauten sie sich nur zu dreien in die Küche.
Die Königin konnte sich noch lange nicht entschließen, sich niederzulegen. Doch redete sie diesmal nicht sehr viel.
Wenige Tage darauf war bei der Königin Konzert. Wilhelmine begleitete auf dem Cembalo und der Laute. Was nur an hoffähigen Musikliebhabern in der Stadt war, durfte sich im Musiksaal von Monbijou einfinden. Nach einer Stunde glaubte die Prinzessin überreich zum all gemeinen Divertissement beigesteuert zu haben und wollte sich in den Indianischen Salon begeben, wo die jungen Damen schon Karten spielten, vom Geiste des Hauses gepackt.
Plötzlich stand der junge Herr von Katte neben ihr im Durchgang.
»Um Gottes willen«, sprach er leise auf sie ein, »geben Sie mir aus Liebe zum Kronprinzen einen Augenblick Gehör! Ich bin in Verzweiflung, denn man hat mich bei der Königin und bei Euer Königlichen Hoheit angeschwärzt, als hätte ich dem Kronprinzen den Plan, zu entfliehen, in den Kopf gesetzt –«
Die Prinzessin schritt weiter. »Ich verstehe Ihre Erregung nicht. Ist denn etwas geschehen –? Niemand fragt Sie, Herr von Katte, niemand erhebt einen Vorwurf gegen Sie. Was, in des Himmels Namen, liegt denn vor?!« Aber jedes seiner Worte machte sehr großen Eindruck auf sie; denn schon seit Wochen hatte der Gouverneur von Rochow den jungen Katte vor der allzu großen Familiarität mit dem Kronprinzen gewarnt, und Friedrichs Freundschaft mit Katte wurde daraufhin, manchmal zum Scheine ausgesetzt. Nur sie war darein eingeweiht, daß es zum Vorwand geschah.
Der junge Herr von Katte galt ihr viel. War er doch der Überbringer all der neuen Bücher über die Vorherbestimmung und wußte sie doch durch ihn, daß diese Bücher Waffen waren gegen ›Den König von Preußen‹. Und sie war überschwenglich dankbar gewesen, daß man ihr in der Einsamkeit und Leere ihres Daseins etwas zu erwägen, zu bedenken und in seinen ungeheuren Folgerungen auszumalen gab. Die eigenen Gedanken waren müde und bitter geworden. Immer noch kränker und immer noch klüger, als man ihr allgemein schon zugestand, erwog sie nur noch das eine: wie ihr Schicksal im Geschick des Bruders unweigerlich mitgesetzt war. Das war ihr Glück gewesen und wurde nun ihr Jammer.
Der Vater hatte Friedrich gewürgt. Noch hatte er die Hand gegen sie nicht gehoben. Noch schlug er nur den Bruder. Aber er schlug ihn immer häufiger und heftiger. Er schlug ihn auch im Lager von Mühlberg. Vor der Abfahrt des Bruders hatten Friedrich und Wilhelmine sich noch einmal heimlich gesehen. Sie hatte den Bruder auf Knien gebeten, jeden Gedanken an einen gewaltsamen Ausweg völlig zu vergessen; denn solche Gedanken waren nun manchmal schon von ihnen erörtert worden. – Friedrich hatte ihr alles zugesagt, dessen sie gewiß sein wollte. Aber sie hatte in jeder Miene, jedem Wort gespürt: er hatte nur noch mit den Lippen gesprochen.
Was wollte ihr der Leutnant von Katte noch sagen?!
Der junge Offizier folgte ihr noch bis an den Spieltisch nach. »Die Vorbereitungen für eine Flucht sind völlig durcheinander geraten, Königliche Hoheit –. Nachrichten müssen verloren sein –. Erhielten Sie ein Schreiben –?«
Noch blieb die Prinzessin dem L'hombre-Spiel fern. Und immer wieder ging sie mit dem Leutnant einige Schritte zwischen den Spielzimmern auf und ab.
»Die Königin hat aber eine Stafette aus Württemberg, Herr von Katte. Der König ist von Ansbach nach Württemberg gereist. An jeder Station seiner Reise nahm er mit dem Kronprinzen alle Sehenswürdigkeiten in Augenschein. Der württembergische Hof hat ihn in Ludwigsburg erwartet; dem König hat es so ausgezeichnet gefallen, daß er länger blieb, als vorgesehen war. Aus der Umgebung des Königs wird meiner Mutter allerdings gemeldet, der wahre Grund sei, daß sein Gesundheitszustand ein rascheres Reisen nicht mehr erlaubt. Von Ludwigsburg wird seine Route –«
Aber nun mischten sich die Arnim und die Bredow ins Gespräch, denn sie meinten natürlich, daß der interessante junge Herr von Katte, »dessen Augen immer etwas Unheimliches hatten«, mit der klugen Prinzeß das geisterhafte Lärmen in dem Goldenen Kabinett zu enträtseln suchte. Seit jener Nacht gab es kein anderes Thema –
Der folgende Tag, der 15. August, war der Geburtstag des Königs, der zweiundvierzigste. Von vornherein hatte festgestanden, daß der Herr ihn unterwegs verleben würde. Der gesamte Hof kam, Ihrer Majestät für Seine Majestät im Großen Residenzschloß Glück zu wünschen. Bei solcher Gelegenheit pflegte der Hof sehr zahlreich zu sein. Die älteren Prinzessinnen hatten sich unablässig den Höchstgestellten zu widmen. Die vierzehnjährige Sanssouci, Philippine Charlotte, traf bei diesem ihrem ersten Versuch den Ton schon recht nett; doch ließ sie gerade das Übermaß ihrer Begeisterung, nun als erwachsen zu gelten, noch kindlicher als sonst erscheinen; die sechzehnjährige Friederike Luise strafte die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Lügen, so störrisch sperrte sie sich aller Verpflichtung zur Repräsentation. So ruhte die Last, unter den jungen Herrschaften von Rang die Honneurs zu machen, im wesentlichen doch auf der ältesten Prinzessin. Minister von Grumbkow erschwerte es ihr, so daß beinahe auch ihre ungewöhnliche Gewandtheit versagte; Grumbkow schien sie völlig mit Beschlag belegen zu wollen. Anläßlich des Königsgeburtstages erging er sich in Betrachtungen über die großen Eigenschaften seines Herrn. Der Königstochter versicherte er außerdem, daß man bald erfahren würde, er sei ihr Freund. Er habe zuverlässige Meldung aus Ansbach.
Aber Wilhelmine redete absichtlich nur ein paar höfliche Phrasen vom Ansbacher Hofe, an dem der König eben geweilt hatte. Minister von Grumbkow meinte dazu: »Es ist ein kleiner Hof, und. dennoch muß er ganz vorzügliche Schneider ä la mode haben. Denn wie ich höre, hat Seine Königliche Hoheit Ihr Bruder sich in Ansbach einen roten Rock und auch sonst noch einige Garderobe bestellt.«
Die Königin schritt strahlend und grüßend durch die Reihen. Sie teilte die Überraschung dieses Tages mit. Trotz der Abwesenheit des Gatten sollte sein Geburtstag bei ihr gefeiert werden. Man ging sogleich im Anschluß an die Cour zu Tische. Den Speisesaal sowohl wie die Tafel hatte die hohe Frau aufs niedlichste verzieren lassen mit Rosen und Nelken und goldenen Kandelabern, von denen Blumenranken niederhingen.
Nach der Tafel war Ball. Und weil die älteste Prinzeß eine weitere Konversation mit dem Minister von Grumbkow nicht wünschte, tat sie sich etwas zugute, als liebe sie den Tanz, zu dem am Hofe des Vaters meist die Gelegenheit fehlte, noch immer gar so sehr. Sie kümmerte sich um gar nichts mehr, was um sie her vorging, und wehrte nur ihre Hofmeisterin lachend und ungeduldig ab, wenn die immer wieder an ihre Seite zu kommen suchte und ihr vorzuklagen begann: »Es ist spät. Ich wollte, man hörte auf.«
»Ach«, meinte endlich die Prinzessin, »so lassen Sie mir doch die kleine Freude, mich heute einmal satt zu tanzen. Es wird so bald nicht wieder geschehen.«
»Das möchte wohl möglich sein –« antwortete die Sonsfeld. Aber die Prinzessin reihte sich da schon in die neue Chaconne ein, die als Tanz noch immer recht beliebt war, obwohl sie schon als ein wenig altmodisch galt.
Nach einer halben Stunde zog das Fräulein von Sonsfeld die Prinzessin behutsam am Ärmel. Wilhelmine war jetzt ausgesprochen gereizt. Das artete ja allmählich zu Kinderfrauenallüren aus! Aber die Sonsfeld ließ sich nicht abweisen; alle ihre Sanftmut war geschwunden.
»Machen Sie doch ein Ende, Königliche Hoheit! Sie haben nun genug! Sie sind so mit Ihrem Tanz beschäftigt, daß Sie weder hören noch sehen!«
»Aber was gibt es denn eigentlich?« fragte die Prinzessin befremdet und löste sich von der Hand ihres sehr betroffenen Tänzers.
»Sehen Sie doch die Königin an –« flüsterte die Sonsfeld und deutete auf die Mutter, die in einem Winkel des Saales – dort, wo zwischen den Kaminen eine tiefe Nische für die kostbaren blauen Sessel eingelassen war – leise mit ihrer Hofmeisterin Kameke, der Bülow und der alten Gräfin Finckenstein sprach. Alle vier waren blaß wie der Tod und in der sichtbarsten Bestürzung. Die Prinzessin fragte sofort, ob es den Bruder angehe.
Die ihr am nächsten stand, zuckte die Achseln; sie wisse es nicht.
Endlich wünschte die Königin der ganzen Gesellschaft eine gute Nacht und stieg mit ihrer Tochter in den Wagen, sprach jedoch den ganzen Weg kein Wort.
Wilhelmine überfiel ein furchtbares Herzklopfen, und sie geriet in die unaussprechlichste Unruhe. Aber die Königin, die so beharrlich schwieg, durfte nicht angeredet werden. Das war das Schrecklichste.
Kaum war die Prinzeß in ihrem Zimmer in Monbijou angelangt, so folterte sie ihre Hofmeisterin mit ihren Fragen, was denn nur vorgefallen sei. Die sagte, nun mit Tränen in den Augen und auf den Wangen: »Sie werden es noch früh genug erfahren –« und vermochte nicht weiterzusprechen. Aber als sie die Verängstigung der Prinzessin sah, rang sie sich endlich ab, die Königin habe ihr verboten, ihr irgend etwas von dem, was sich ereignet habe, zu entdecken; da sie aber die Prinzessin nun in diesem Zustande finde, sei es besser, ihr die Wahrheit zu gestehen, als sie noch etwas Entsetzlicheres vermuten zu lassen. Sie mußte zitternd Atem holen, ehe sie es aussprach: »Der König hat heute früh der Oberhofmeisterin von Kameke eine Stafette mit der Nachricht geschickt, daß er, weil der Kronprinz habe entfliehen wollen, für gut befand, ihn zu verhaften. Es war«, setzte das Fräulein von Sonsfeld atemlos hinzu, »am 11. August, daß der Kronprinz festgenommen wurde – an eben dem Tage, an dem die Königin den gespenstischen Lärm in ihrem Goldenen Kabinett gehört hat –«
Wilhelmine verbrachte mit der Sonsfeld eine lange, qualvolle Nacht. Denn zu ihrer Mutter durfte sie nicht mehr gehen. Die hatte von der Ramen ihre Türen schließen lassen. Sie war zerschmettert von dem Ungeheuerlichen: nicht, daß der Sohn geflohen war; davon vielleicht nicht-; sie mußten allmählich alle darauf gefaßt sein, vertrauten auf seine Klugheit und machten sich vage Hoffnungen auf England. Doch daß die Flucht mißlang – daß der König ihren Sohn gefangen hielt –!
Vielleicht war das noch Beängstigendere, Ungeheuerlichere, Befremdendere, daß sie zum ersten Male eine Gewalt an sich erfahren hatte, die nicht in Kronen und Thronen gegründet war und nicht mit geheimen diplomatischen Chiffern sich bezeichnen ließ.
Ihr Sohn war von seinem Vater auf der Flucht ertappt und zum Gefangenen des Königs von Preußen gemacht worden. – Da waren, ohne daß ein Hauch und Schritt im mütterlichen Sommerschloß sich regte, für das Ohr ihres Geistes die goldenen Spiegel zersplittert, die zärtlich umhegten Porzellane zertrümmert, die Dosen aus Jaspis und Bernstein und Achat zerklirrt – ein Stöhnen hatte die verlassenen Säle erfüllt, in denen man eben noch konzertierte und spielte; ein Klirren und Stöhnen, so stark, so erschreckend, so entsetzlich im Herzen der Mutter, daß selbst die Damen und die Frauen um sie nach den Kerzen griffen und der große Grenadier verängstigt zu ihr sagte: »Ich habe nichts gesehen – und alles gehört –«
So hatte einmal das Gefühl der ihres Kindes beraubten Mutter in einer Leidenschaft, die aus ihr fremden Gründen aufbrach, Himmel und Erde erzittern lassen und die Welten des Wirklichen und Unwirklichen ineinander gerissen. Und alle hatten das Chaos tosen gehört, als der Aufruhr, der erste ihres Herzens, all den goldenen und gläsernen Tand hinwegfegte, an dem ihre Seele hing von Kindheit an.
Die Königin konnte keine Minute mehr allein sein. Die Ramen brachte ihr alten Wein und starken Kaffee, mehrmals in dieser Nacht.
Gleich am Morgen ließ die Königin ihre Tochter rufen und erzählte ihr von dem Briefe des Vaters, dem man wohl ansehen müßte, daß er in der ersten unbeherrschten Leidenschaft geschrieben wäre. Er habe, so schilderte die Königin den Inhalt dieses fürchterlichen Schreibens, den Schurken festsetzen lassen und werde ihn so behandeln, wie es sein Verbrechen und seine Feigheit verdiene. Er erkenne Friedrich nicht mehr als seinen Sohn an, denn er habe ihn sowohl wie seine ganze Familie entehrt. Ein so Elender verdiene nicht zu leben.
Die Hofmeisterin von Kameke wagte es nicht, Ihre Majestät bei ihrer Wiedergabe des königlichen Schreibens auch nur mit einem Worte zu unterbrechen. Aber als die Herrin erschöpft wieder schwieg, drückte die Kameke – selbst in dieser Geste noch der guten, alten Montbail ähnlich, die auf dem Landschloß ihrer Tochter vor den Schrecken des Königshauses bewahrt blieb – der Prinzessin den Brief des Königs in die Hand: »Meine liebe Madame de Kamke, ich habe leider das Unglück, daß mein sohn hat desertieren wollen mit dem pagen Keut, ich habe ihn aretieren lassen, ich habe meine Frau geschrieben, sie mus es ihr von weitem vohrbringen, wan es auch ein paar tage tauern solte, das sie nicht krank wird, der ich stehts ihr ergebener Freund bin Fr. Wilhelm –«
Aber während Wilhelmine noch las, sprach die aufgeregte Königin schon wieder auf sie ein. Katte sei gestern heimlich festgenommen worden und alle seine Habe und alle seine Papiere wären unter Siegel gelegt. Der Marschall Natzmer habe den Befehl dazu gehabt.
Die Königin sagte alles so verstört und so verwirrt, daß Wilhelmine nur mit qualvoller Mühe aus all den Bruchstücken sich ein Bild von dem, was wirklich geschehen war, zusammensetzen konnte. Der erste Schmerz und die Verängstigung der Mutter mußten erst überwunden sein, ehe die Tochter klarer zu blicken vermochte. Die Königin sah noch starr vor sich hin, hing wie eine Leidende und Kranke in ihrem Sessel, würgte und riß ihr Taschentuch im Schoß und ließ die Tränen ungetrocknet auf die Hände niederfallen. Endlich blickte sie wieder zu der Tochter auf.
»Hat er mit dir von seinem Vorhaben gesprochen?«
Die Prinzessin bejahte es. Sie gestand auch der Mutter, die so flehend fragte, die kümmerlichen Einzelheiten, die sie wußte.
»Was hat er aber«, fuhr die Königin grübelnd fort, »mit unseren Briefen gemacht? Wir sind verloren, wenn man sie findet –«
Die Tochter suchte sie zu beruhigen.
»Ich habe oft vor ihm darüber gesprochen, und er versicherte mir immer, daß er sie verbrannt habe.«
Die Königin hob ihre Rechte ein wenig. »Ich kenne ihn besser«, sagte sie, »und wollte wohl wetten, sie sind samt und sonders unter Kattes Papieren als Dokumente gegen den König.«
Die Prinzessin wurde merklich blasser. Alle ihre Kühle fiel von ihr ab. Einen Augenblick bewunderte sie die Menschenkenntnis der Mutter, die sie ihr mehr und mehr abgesprochen hatte.
»Das ist möglich«, stimmte sie ihr zu, »das ist wahrscheinlich. Und in diesem Falle ist's um meinen Kopf geschehen.«
»Und um den meinen«, sprach die Königin tonlos nach.
So offen redeten sie vor der Oberhofmeisterin, die sie der Königin vom König aufgezwungen wähnten. So groß war ihr unbewußtes Vertrauen zu ihrem Feind, dem Gatten und Vater!
Die Kameke mußte die Gräfin Finckenstein und das Fräulein von Sonsfeld – also auch »Königliche« – holen lassen, und nun versuchte man zu sehen, was sich feststellen oder gar schon tun ließ. Die Damen der engeren Umgebung Ihrer Majestät setzten den ganzen Tag über ihren gesamten Bekanntenkreis in Bewegung. In welcher Lage sich der Kronprinz befand und wie alles gekommen war, das blieb völlig im Dunkeln. Man hoffte auch vorerst gar nicht auf Klärung. Die Entfernungen waren zu groß; die Briefe brauchten auch als Stafette drei und vier Tage. Der König selbst mochte wohl ebenso rasch eintreffen wie die nächste Post. Der Gedanke an seine Rückkehr unter solchen Umständen war ganz entsetzlich.
Minister von Grumbkow suchte Fühlung mit Graf Seckendorff zu gewinnen, und deshalb mußte sich der Hof von Monbijou in diesen schweren Tagen sehr um das Palais in der Klosterstraße bemühen. Den Damen gelang es von einem Morgen zum anderen lediglich zu erfahren, daß des Kronprinzen Papiere sich tatsächlich alle bei Katte befanden. Offiziere, die bei der Versiegelung zugegen waren, beschrieben alle vorgefundenen Kästen, und unter den genannten Gegenständen erkannte Wilhelmine deutlich die Schatulle, die ihre und ihrer Mutter Briefe enthielt, an völlig eindeutigen Kennzeichen.
Und der Besitz der Briefe mußte ja von der äußersten Wichtigkeit für sie beide sein! Mehrere Schreiben redeten von dem König in ziemlich starken Ausdrücken! Die Briefe mußten aus Kattes Hause entfernt werden!
Qualvoll waren die Abende, an denen man gar nichts mehr unternehmen konnte, verstört beieinander hockte und die widerspruchsvollsten Dinge von der Welt wirr durcheinander plante, ohne der Möglichkeit einer Lösung auch nur um einen Schritt näher zu kommen.
Am dritten Morgen trat die Gräfin Finckenstein auffallend zeitig mit allen Zeichen der Bestürzung in das Zimmer der Prinzessin.
»Ich bin verloren!« rief sie ohne Gruß. »Gestern, wie ich von der Königin nach Hause komme, finde ich einen Kasten, mit Kattes Wappen gesiegelt und an die Königin adressiert, in meinem Hause – dieses Billett lag dabei –«
Die Prinzessin warf sich schleunigst den Morgenrock über, zog selbst den Fenstervorhang zurück, riß das kleine Kuvert an sich und empfand zunächst nur das Gefühl der Befreiung, daß endlich irgend etwas geschah.
Und was war geschehen! Sie verschlang die wenigen Zeilen, las sie wieder und wieder: »Haben Sie die Güte, beigehende Schatulle der Königin zu übergeben; sie enthält ihre und der Prinzessin Briefe an den Kronprinzen.«
Friedrich mußte also selbst unter den Offizieren, die Kattes Eigentum beschlagnahmten, Anhänger haben!
Nun bestürmte sie die Finckenstein. Aber die wußte nur den unbegreiflichen Vorgang zu melden: »Vier Männer brachten meinem Gesinde die Truhe. Ich vermag mich zu nichts zu entschließen. Soll ich der Königin überhaupt etwas davon sagen? Muß ich die Schatulle dem König bereitstellen? Denn wenn ich das nicht tue, kann ich mich darauf gefaßt machen, Herrn von Karte Gesellschaft zu leisten.«
Die Königin, aus ihrem Morgenschlaf geweckt, rief nur beseligt, man solle die Truhe sofort zu ihr bringen. Mehrmals unterbrach sie ihre Morgentoilette und gab der Ramen hundert Anweisungen für das Eintreffen des unglückseligen Kastens. Aber jetzt wurde die Königin selber auf die furchtbare Gefahr aufmerksam, die jene Schatulle nun, wo sie endlich in ihren Händen war, für sie bedeutete.
Die heikle Sache hatte schon zu viele Mitwisser; und vor allem war keinerlei Verständigung mit Karte vor seinem Verhör zu ermöglichen.
Die Königin erhielt gegen Mittag die Schatulle und verschloß sie in Gegenwart aller ihrer Leute »für den König« in ihrem Goldenen Kabinett. Nun wurde vom Kronprinzen überhaupt nicht mehr gesprochen, so bedrückte und beunruhigte sie alle der kostbare neue Schatz im Goldenen Kabinett von Monbijou. Die Tür zu dem bellten, strahlenden Raum stand nicht mehr still. Es war wie in den Tagen großer Festlichkeiten. Die Damen hielten sich immerzu im Goldenen Zimmer auf.
Daß man sich der Briefe bemächtigen müsse, war keiner mehr zweifelhaft. Man flehte sich in Fragen gegenseitig an und beschimpfte einander in der Ablehnung der Vorschläge, die eine der anderen machte. Die Mahlzeiten in Gegenwart der Dienerschaft waren qualvoll, denn alle Gespräche nahmen immer wieder nur die eine Wendung. Das eigentliche Unglück war völlig vergessen. Wenn man überhaupt noch an den König und seinen Gefangenen dachte, geschah es nur mit dem Seufzer der Erleichterung: Heute und morgen können sie unmöglich schon hier sein!
Noch war eine Spanne für die eigene Rettung gegeben. Die Königin war der Meinung, man müsse die Briefe verbrennen und dem König einfach sagen, da sie von gar keiner Wichtigkeit gewesen wären, hätte sie es nicht für nötig gehalten, sie ihm zu zeigen. Dieser Vorschlag wurde aber allgemein verworfen, und der Tag ging mit lauter Debatten hin, ohne daß etwas beschlossen wurde.
Die halbe Nacht hindurch überlegte Prinzessin Wilhelmine mit dem Fräulein von Sonsfeld, welches durch die Not ihrer Fürstinnen plötzlich zur Verschwörerin wurde, und endlich fand die Prinzessin einen Ausweg. Ein letztes Mittel war ihr eingefallen; aber man mußte sich, um nicht das Äußerste zu wagen, sehr geschickt dabei benehmen. Es galt, das Siegel, das an einem Lederbande hing, von dem Kasten abzunehmen, das Vorlegeschloß zu erbrechen, die Briefe herauszuholen und andere zu schreiben, die man an ihre Stelle legte.
Nun prüften die Damen von Monbijou die Schatulle, als wären sie unter das Diebsvolk gegangen. Wilhelmine war sogar so kühn zu glauben, daß man das Siegel nicht zu erbrechen brauche, und machte sich – wenn die Königin ihr nur verspräche, zu schweigen – anheischig, es ins Werk zu setzen; vielleicht, indem sie den Riemen zerschnitt und wieder klebte und nähte; vielleicht, indem sie ihn so weit zu lockern suchte, daß man wenigstens mit einer Hand in die Truhe zu greifen vermochte. Etwas mußte jedenfalls gewagt sein, und die Königin willigte in alles ein, als käme es ihr nach all den vergeblichen Beratungen nun nur noch darauf an, daß überhaupt etwas zu ihrer Rettung unternommen wurde und daß nicht sie selbst die Verantwortung zu tragen brauchte.
Die Einwilligung der Königin zu erlangen, das war nicht die eigentliche, unüberwindliche Schwierigkeit; das wußten die Prinzessin, die beiden Hofmeisterinnen und die Gräfin Finckenstein wohl. Ungleich ungewisser war es, eine Sicherheit zu erhalten, daß die Königin verschwiegen bleiben würde. Es war nicht mehr zu vermeiden: die Prinzessin mußte vor ihrer Mutter ihr Mißtrauen gegenüber der Lieblingskammerfrau aussprechen, die des Morgens als erste und des Abends als letzte um die Königin war – und es begriff, welche Kenntnis und Macht ihr das verlieh; welches Vorrecht es ihr vor allen anderen gab.
Bei der leisesten Andeutung schon zeigte sich die Königin außerordentlich empfindlich. Immer wieder mußte man ihr versichern, daß die Ramen ganz ohne Zweifel die vollendetste aller Dienerinnen sei und wie sehr es ihre Herrin ehre, daß sie nicht den mindesten Angriff auf ihre hochverdiente Kammerfrau dulde; aber diesmal gehe es um etwas gar zu Intimes; die Ramen könne einen zu tiefen Einblick gewinnen; es möchte ihr ein Wort entwischen; sie komme mit gar zu viel Menschen zusammen. – Endlich versprach die Königin, der Ramen nichts zu sagen und ihrer Tochter das gegebene Wort zu halten. Frau Sophie Dorothea wurde so inständig gebeten und umschmeichelt und belobigt, daß sie das Demütigende einer Lage nicht empfand, in der so leidenschaftlich gegen das Geschwätz einer Königin mit ihrer Kammerfrau angekämpft wurde.
In keinem Falle durfte die Ramen ausgeschlossen oder beiseite gestellt werden. Die Königin mußte alle ihre Damen, die nicht eingeweiht waren, und sämtliche Kammerfrauen den ganzen Nachmittag über zu Recherchen in der Kronprinzenaffäre aussenden; und es war, als diene die Sache des Prinzen überhaupt nur noch zum Vorwand für Wichtigeres! Die Königin behielt nur ihre Tochter bei sich, und die Ramen wußte genug aus dem Umstand, daß sie zum erstenmal nicht in der Nähe der Herrin behalten wurde: sie besaß nicht mehr die völlige Macht über ihre Fürstin; die Königin suchte sich ihr zu entziehen, die alle ihre Geheimnisse bei sich barg und jede ihrer Regungen kannte: vom Morgen bis in die Nacht, im Wachen und im Schlafe. Aber sie führte den ihr erteilten Auftrag, dessen Nichtigkeit ihr nicht einmal ein Lächeln abzuringen vermochte, mit ungeheurer Emsigkeit durch, so daß sie noch viel Zeit gewann, einen Besuch abzustatten, der ihr wichtiger erschien als die Scheinbefehle ihrer Königin. Die Kammerfrau Ramen hatte ja auch noch außerhalb von Monbijou heimliche Dienste zu verrichten.
Als geschehe es zum Schutze gegen die Sonne, hatte die Prinzessin alle Vorhänge in den Räumen, die auf den Garten hinausgingen, dicht zugezogen; denn das ganze Schloß lag ja zu ebener Erde, und es konnte vielleicht eine der Kammerfrauen zu spät weggehen oder verfrüht heimkommen und vom Park aus beobachten, was zu sehen einer Kammerfrau nicht guttat.
Königin und Königstochter schleppten ächzend und mühevoll selber an der schweren Truhe, die ja schließlich nur von vier rüstigen Männern aus Kattes Zimmer in die Wohnung der Gräfin Finckenstein hatte überführt werden können und nach Schloß Monbijou sogar auf einem Eselswagen gebracht worden war! Nun stand sie in einem dunklen Kabinett in engem Winkel hinter einem Vorhang, und die Königin und die Prinzessin hatten ihre Not mit ihr. Müde und niedergeschlagen hockten sie bald auf dem Kasten oder knieten auch vor dem Siegel und Schloß und betrachteten es immer wieder genau, als könnte das etwas helfen.
Die Stricke von der Truhe abzulösen, die Riemen aufzuschnallen und das Schloß zu öffnen, ohne das Siegel zu verletzen, war völlig unmöglich. Fassungslos standen Mutter und Tochter vor der Schatulle, als sie nun endlich ins Helle gerückt war. Dies unüberwindliche Hindernis ließ sie erzittern. Die beiden fürstlichen Damen suchten dann alles hervor, was nur irgend an Siegelringen und Petschaften in ihren Sekretären und Schreibtischladen aufzufinden war; fieberhaft durchwühlten sie den wirren Kram. Die Ratlosigkeit schien aber nicht mehr so heillos; es galt nur, dieses einigermaßen ähnliche Siegel nachträglich auf Kattes Schreibtisch zu bringen. Das war natürlich unvergleichlich einfacher, als unter den gegebenen Umständen aus den Zimmern des jungen Herrn von Katte auch nur das geringste zu entfernen. Darin stimmten Mutter und Tochter sogleich in aufgeregter Rede überein. Sie umarmten einander. Wilhelmine schnitt das Siegel ab. Der Schlüssel hing an einer Schnur daneben. Gerade dieser Umstand hatte mehr als alles andere Tantalusqualen bereitet. Überschwenglich lobten sie einander.
Die Briefe lagen in der Schatulle gleich obenauf. In dicht gebündelten Stößen waren sie aufbewahrt, die ganze heimliche Korrespondenz der Mutter und Schwester mit dem Sohn und Bruder, die Korrespondenz über nun wiederum noch geheimere Korrespondenzen mit England und Frankreich ... Briefe waren es, in denen der Gatte, Vater und Herr angeklagt, beschuldigt, verdammt, hintergangen und bekämpft wurde. Der Anblick dieser Papiere verursachte der Prinzessin tödliche Angst. Denn gar nicht so selten hatte sie auch heimlich hinter dem Rücken der Mutter über diese selbst an den Bruder geschrieben.
Gerade diese Briefe mußten die Neugier der Mutter am meisten reizen, denn für den Fall, daß sie abgefangen würden, hatte die Prinzessin sie immer mit Zitronensaft gekritzelt; und erst, wenn man die Briefe über eine Kerze hielt, wurde die Handschrift wieder lesbar. Leider kannte die Königin solche Verfahren aus der eigenen Tätigkeit. Nun enthielten aber auch noch ungezählte solcher Billetts recht heftige Schmähungen gegen die Ramen und immer wiederkehrende Klagen über ihren Einfluß auf die Königin.
In diesen wirren Nachmittagsstunden – in denen zudem eine unerträgliche Hitze über Park und Schlößchen lastete, auch bewegten sich nicht einmal die Vorhänge an den geöffneten Fensterflügeln – schien jedoch ein guter Zauber um den anderen zu walten. Der Kaplan der Königin erschien, sich zu entschuldigen, daß er sich seiner Erkrankung wegen in den Angelegenheiten des Prinzen nicht nach den Wünschen der Herrin für sie habe verwenden können; nun, kaum genesen, eile er herbei.
Die Königin gedachte ihn nicht abzuweisen, so lästig ihr jetzt jede Störung auch war. Aber wußte sie denn, wie nötig sie ihn in so traurigen und bewegten Tagen vielleicht noch würde brauchen können?
Sie eilte ihm, den der einzige im Schloß noch anwesende alte Diener eingelassen hatte, durch die ganze Flucht ihrer Räume entgegen, damit er sie nur nicht angesichts der unglückseligen Briefe antreffe.
»Um Gottes willen, verbrenne all die verfluchten Briefe und laß keinen einzigen übrig«, raunte sie noch verzweifelt der Prinzessin zu, obwohl doch ein so großer Sieg erfochten war!
Soweit es die eigenen Zitronensaftbriefchen über die Mama persönlich anging, ließ die Prinzessin sich nicht zweimal sagen, daß sie die Billetts beiseite schaffen sollte. Mit den übrigen Episteln war es aber schwieriger, da man die etwaigen Aussagen des jungen Herrn von Katte über den Inhalt der Schatulle gar so sehr zu fürchten hatte.
Der Prinzessin war es fast ein diabolisches Vergnügen, in dem sonnendurchglühten Gelben Zimmer ein Kaminfeuer mit diesen Briefen anzufachen und dies trotz der Nähe der Mutter nun auch in aller Unbefangenheit tun zu dürfen! Aber als die Königin zurückkam, stellte die Prinzessin sich klagend.
»Ich glaube, wir benehmen uns leichtsinnig. Wir müssen die Papiere sichten; zu viele dürfen nicht verschwinden.«
Die Königin stürzte sich neugierig auf alles, was nicht mit den Briefen zu tun hatte, die sie ja leider zur Genüge kannte; sie staunte nur, daß nach der flüchtigen Zählung der Bündel allein auf ihr eigenes Konto schon über fünfhundert Billetts zu kommen schienen. Es gab ein Stück Arbeit, die Schatulle auszuräumen; und die Spannung, was man wohl zutage fördern werde, war fast unerträglich.
Zwei Reisepässe fielen ihnen in die Hand, Reisepässe eines Franzosen mit Namen Ferrand; dann folgten Briefe des Kronprinzen an Katte und andere ziemlich gleichgültige Schreiben. Sie fühlten Geld: ein Beutel mit tausend Pistolen kam zum Vorschein. Die Königin zählte sie durch, als hinge davon etwas ab. Die Prinzessin blätterte in einigen Heften, in die der Bruder kleine Anmerkungen und längere Betrachtungen über die Moral als Geschichte eingetragen hatte; und sofort las sie wieder gebannt, als wäre dem Verfasser dieser Essays nichts geschehen. –
Gold, unverarbeitet und ungeprägt, lag in dem Kasten. Auch Edelsteine waren darin aufgehoben, sehr gute und sehr viele. Ein Brief an Katte, neueren Datums, schien wichtig: »Ich reise ab, lieber Katte, und habe meine Maßregeln so gut genommen, daß mir nichts droht. Keith ist schon benachrichtigt und geht geradeswegs nach England. Verlieren Sie keine Zeit! Seien Sie guten Mutes!«
Die Frauen lasen diese Worte wie einen Trost; dann war es ihnen doppelt entsetzlich, ein solches Schreiben durch die Ereignisse grausig widerlegt und überholt zu wissen! Voll Angst und Trauer stürzten sie sich, jäh gemannt, nun wieder auf die eigenen Briefe, sie zu sichten. Denn Briefe ihrer Feder mußten in der Truhe sein, wenn man sie offiziell eröffnen würde!
Inzwischen kamen die ersten Damen und Kammerfrauen zurück; es gelang nur noch, den schweren Kasten – mit unfürstlicher Mühsal, Eile und Scheu – wieder in der Nebenkammer zu verbergen; und man konnte vorerst von dem Plan, der eben als letzte Lösung erörtert werden sollte, nicht mehr weiterreden. Der Brandgeruch vom Kamin her war peinlich genug.
Erst als die letzte aller ausgesandten Kammerfrauen kehrte die Ramen in das Schloß zurück. Mutter und Tochter machten einen sehr befreiten Eindruck und befanden sich in jenem Zustand überreizter Heiterkeit, wie er großen Anstrengungen und Erregungen zu folgen pflegt; da begriff die Ramen, daß sich in der Zwischenzeit ein Vorgang von ungeheurer Wichtigkeit abgespielt haben mußte. Daß er nur mit jener Kassette zusammenhängen konnte, die eine derartige Panik in Schloß Monbijou verursacht hatte, war unschwer zu erraten.
Der Plan, für den die Königin und ihre Tochter sich endgültig entschieden hatten, war nun der, die belastenden Episteln zu vernichten und Ersatzbriefe mit vielerlei alten Daten zu schreiben. Aber wie sollte es möglich sein, die zwölfhundert oder gar fünfzehnhundert Billetts zusammenzubringen, die man allmählich aus der Schatulle herausgenommen hatte! Ungeachtet aller Sorgfalt, aller Mühe, allen Eifers war der Kasten immer noch so leer, daß allein dieser Umstand die Missetäterinnen schon verraten konnte. Und nun war die Möglichkeit, daß mit jedem Tage der König eintreffen konnte, schon bedenklich nahe gerückt.
Vor allem hatte die Prinzeß die Kammerfrau Ramen entfernen müssen. Sie durfte nicht Zeugin sein, wie sie den ganzen Tag am Schreibtisch saß und Hunderte von Briefen ersann und niederschrieb, deren Inhalt durchaus glaubwürdig und deren Tinte, Feder und Papier immer wieder verschieden sein mußte. Die Königin war jetzt viel zu kopflos, als daß sie die beseitigte Menge ihrer eigenen Episteln in solcher Eile nachzuliefern vermochte. Sie verfiel darauf, einen ganzen kleinen Kramladen von Dosen und anderen Bijouterien, die der Kronprinz durchaus gesammelt haben konnte, in die Truhe zu stopfen. Aber auch dessen durfte die Ramen nicht Zeuge sein. Es war erstaunlich, wie gefügig die Königin gegenüber der Entfernung ihrer liebsten Kammerfrau war. Fast schien es, als schäme sie sich vor ihr, daß sie sich jetzt derart von der Tochter leiten ließ. Und dies wünschte sie noch beharrlicher zu verbergen als ihre Furcht vor der Ankunft des Königs. So hatte die Herrin endlich lieber ihre Kammerfrau gebeten, für einige Tage nach Potsdam zu gehen. Wahrscheinlich, sagte sie ihr, werde der König gleich nach Potsdam fahren; wahrscheinlich werde sie ihn in Potsdam erwarten; die Ramen möge drüben alles vorbereiten; ihr allein könne man es anvertrauen.
Die Kammerfrau verneigte sich bei jeder Erklärung und Begründung, die man ihr für ihre Entfernung von Monbijou gab, und machte viele artige Knickse. Die Königin erklärte und begründete zu viel. Die Ramen wußte dadurch alles. Bis dahin aber hatte es keinen Morgen und keinen Abend gegeben, an dem sie nicht um die Herrin gewesen war. Nun aber sollte sie gehen.
Unter der Menge der Lügen schien ihr eine den Keim einer Wahrheit zu enthalten, nämlich, daß der König von seiner Schreckensfahrt nicht nach Berlin zurückkehren, sondern zunächst in Potsdam sich verbergen werde. Und da dünkte es ihr gut, sehr gut, als die allererste dort zu sein und Ewersmann, den Kammerdiener, zu sehen, der in den Tagen, da ein König seinen Sohn gefangennahm, des Morgens als erster und des Nachts als letzter um ihn gewesen war –.
Da war es gut, sehr gut, dem König als allererste durch seinen liebsten Diener zu berichten, was sich indessen in Berlin ereignet hatte und wie es um die Menschen bei Hofe und in der Stadt bestellt war, seit die trübe Botschaft den Hof von Monbijou erreichte.
Die nächsten Gefangenen des Königs von Preußen, mutmaßte die Kammerfrau, würden die Königin und die Königstochter sein. Und darum war es für die Ramen an der Zeit, die Herrin preiszugeben. Die Stunde, zu der die Königin selbst sie nach. Potsdam entsandte, schien ihr die rechte.
Ehe sie hinüberfuhr, war die Ramen noch einmal durch die Appartements der jüngeren Prinzen und Prinzessinnen gegangen, um dem königlichen Vater bei seiner Ankunft ein anschauliches und wahres Bild von dem Zustand, in dem die Hauptstadt Berlin und sein eigenes Schloß ihn erwarteten, durch seinen Ersten Kammerdiener entwerfen zu können.
In den Prinzenkammern und Prinzessinnenstübchen standen die Gouverneure und die Gouvernanten in den Fensternischen flüsternd beieinander. Die gewohnte Stille, Ordnung, Trennung war durchbrochen. Der Hauptmann von Seel hatte durch seine Ansbacher Sippschaft Neues erfahren. Zunächst habe man es nur »des Kronprinzen Curiosität zugeschrieben, als derselbe in Leipzig verschiedene Landcharten sonderlich von rheinischen und den daran liegenden Gegenden erkaufen ließ und vornehmlich von dem Generaladjutanten des Königs beständig im voraus wissen wollte, wie der König seine Reiseroute einrichten werde und wo er allezeit über Nacht zu bleiben gedenke«. In Ansbach hatte der Kronprinz den Markgrafen unter dem Vorwand eines Spazierrittes gebeten, ihm eines seiner besten Pferde zu geben. Aber der Markgraf mußte etwas von seinem Vorhaben geahnt haben, wich immer wieder aus und verschob so endlich den gewünschten Ritt, bis die Abreise des Königs herankam.
Das Fräulein von Spießen erhielt Post von den Verwandten mütterlicherseits im Reich: In Sinzheim, als sie in Scheunen übernachteten, hatte sich der Kronprinz durch einen Pagen Pferde für ein Liebesabenteuer bestellt; und als die Stunde des Ausritts gekommen war, weckte der Page statt des Prinzen seinen Kammerdiener! Der stellte sich schlafend, um den Kronprinzen zu belauschen, und rüttelte dann die Offiziere Seiner Hoheit wach.
Über solchen Meldungen steckten nun Gouverneure und Gouvernanten die Köpfe zusammen, und der kleine Hulla suchte verzweifelt, nur zum Schein über seine Tuschereien gebeugt, etwas von ihrem Gespräch zu verstehen. Es fielen so schreckliche Worte über den Papa.
Die größeren Mädchen hatten um Dispens von allem Unterricht gebeten und brachten bedrückte und erregte Stunden damit hin, daß sie mit der Oberhofmeisterin der Mutter und der Hofmeisterin der ältesten Schwester darüber verhandelten, ob sie nicht die Königin wegen all der geheimnisvollen und beängstigenden Vorgänge wenigstens für einen Augenblick zu sprechen bekommen könnten. Sanssouci wußte diesen bitteren Tagen wenigstens insofern eine lichtere Seite abzugewinnen, als sie viel mit den verlassenen kleinen Geschwistern spielte. Sophie Dorothea Maria aber, die nun schon ins vierzehnte Jahr schritt, brachte mit ihrer gar zu kindlichen Art und dem gar zu milden Aufschlag ihrer veilchenblauen Augen die rauhe Friederike Luise zur Verzweiflung, da sie nicht begreifen lernen wollte, daß Papa durchaus dergleichen schlimme Dinge zuzutrauen waren. Sanssouci vergaß sich in ihrem Eifer, mit den kleinen Schwestern Anna Amalia und Ulrike zu spielen; vielleicht hätte sie, die kein Kind mehr war, schon beachten müssen, daß gerade die dicke, martialische Ulrike, die Trommlerin und wilde Malerin, mehr als sie alle unter den düsteren, halben Worten litt, die durch alle Kammern und Gänge schwirrten. Sie senkte mitten im Spielen ihren Kopf, daß die silberblonden Locken den Tisch berührten; darin lag Schmerz und Heftigkeit; oder ihre langen, dunklen Wimpern fielen zu, als schliefe sie erschöpft ein, und unter ihren Augen zeichneten sich tief gezogene, bläuliche Striche in den runden Kinderwangen ab. Bis dahin, und auch jetzt noch nicht, hatte keine der älteren Schwestern wahrgenommen, daß dieses leidenschaftliche, kriegerische, schöne, wilde Kind noch niemals lachte –. Und selbst der Kammerfrau Ramen wurde es heute erst zum erstenmal bewußt. So war die Mühe, die sich Sanssouci um ihre kleinen Schwestern gab, beinahe vergeblich, obwohl man allgemein annahm, daß die Kleinen gar nichts wissen könnten. Aber auch Amelie entzog sich der freundlichen älteren Schwester und drängte heute wie jeden Tag zum Klavizimbel. Schon hieß es, Ulrike hasse die Musik, weil sie das Zimmer mit Amelie teile.
Daß Prinzeß Ulrike noch niemals lachte, kam der Ramen wie in einem jähen Einfall ein, als sie durch Prinz Heinrichs Kammer schlüpfte. Ein grämliches Greislein, faltig, schwach und grauen Gesichtes, stand der Vierjährige, die Stirn in Runzeln gelegt und die Hände auf dem Rücken gefaltet, vor dem zu hohen Fenstersims und starrte ins Gewölk, doch mit schmerzlichem Ausdruck, als blende das Licht die müden und zu schwachen Augen. Auch nahm das Greislein gar nicht wahr, daß die Ramen durch sein Kämmerchen schritt.
Das Verhalten der Dienerschaft rang der Ramen nur ein geringschätziges Lächeln ab. Wenn jemand von den höheren Chargen des Hofes oder gar ein Glied des Königlichen Hauses vorüberkam, so stoben Diener und Lakaien auseinander, denn wieder waren die gefährlichen Reden mit den Heiducken, welche als Begleiter der königlichen Wagen häufiger in die Stadt zu kommen pflegten, nur so hin und her geschwirrt. Nach dem Letzten, was sie draußen erhaschten, sollten um die Zeit der Flucht »par hazard« der Intendant, der Kommandant und einige französische Obersten von Landau in Mannheim, dem nächsten Reiseziel des Königs, eingetroffen sein, und der König mutmaßte, »daß solche um des Kronprinzen willen à dessein gekommen«. Auch setzte der König plötzlich den Ausflug nach Straßburg »vieler Bedenklichkeiten wegen« vom Reiseprogramm ab, obwohl er es doch gar so gern hatte sehen wollen, namentlich um des Münsters willen –.
Die Kammerfrauen umringten die Männer, wenn die wieder, von Herrschaften ungestört, zu dichter Gruppe zusammentraten. Die Männer wußten alles viel besser und sollten ihnen erklären, Was für ein Land das dort wäre, wo wohl die Städte alle lägen, von denen man jetzt immerzu höre, und wie der Kronprinz hätte über den Rhein kommen können. Scheu blickten sie sich nach der Kammerfrau der Königin um, wenn die den Gang überquerte, scheinbar ohne ihrer aller zu achten. Aus dem ganzen Benehmen all der anderen Kammerfrauen spürte die Ramen, daß man sie noch mehr als sonst beneidete als eine, die in den plötzlich so geheimnisvoll gewordenen Räumen Ihrer Majestät noch immer aus und ein gehen durfte und in die Häuser all der Herrschaften geschickt wurde, das Neueste in der gewissen Sache aus zuverlässigen Quellen zu erkunden. Noch ahnte niemand ihren heimlichen Sturz, der ja selbst der Königin nicht bewußt war.
In die Häuser des Adels war die Ramen auf ihren Recherchen für Ihre Majestät allerdings täglich gekommen, und unterwegs hatte sie zur Genüge das Volk in den Gassen und auf den Brücken belauscht und betrachtet. Es gab überall nur das eine neue Gerücht und Gerede, ganz gleich, ob die, welche es aufbrachten und aufbauschten, bei Ortolanen und altem Pontak zusammenkamen, um bei behaglichem kleinem Diner von den entsetzlichen Dingen zu reden, oder ob sie als Branntweinzecher in den Schenken ihre Köpfe über den Bechern zusammensteckten. Es gab nur das eine Gespräch mit all seinen Übertreibungen und Widersprüchen, vagen Ahnungen, unbegründeten Behauptungen – und uneingestandenen Befürchtungen des einzelnen für sich selbst. Der Hochmut, mit dem der Kronprinz gar manchem begegnete, war vergessen. Aller Groll gegen den König brach wieder offen hervor. Der Kronprinz wäre erschossen, hieß es; der Kronprinz wäre gewaltsam befreit und entführt; der König hätte ihn zu Tode mißhandelt, darum traue sich der Herr nicht nach Berlin zurück; es solle noch geheim gehalten werden.
Niemand gewann ein klares Bild der Fahrt und der Flucht. Ströme, Städte, Straßen und Grenzen wurden ein Chaos. Die Zeiten waren durcheinander gestürzt. Man konnte sich nur noch an das eine klammern, Preußen Unheil zu prophezeien und den Thronfolger zu beklagen. Ach, und er hatte doch nur Flöte gespielt! Er hatte doch nur französische Romane gelesen! Er hatte sich doch nur standesgemäß gekleidet! Er hatte doch nur, durch seinen guten Geschmack verleitet, ein bißchen Luxus mit Juwelen getrieben! Er hatte doch nur ein wenig Schulden gemacht, weil der Vater ihn gar so unköniglich knapp hielt! Und für so geringe Vergehen traf ihn so maßlose Strafe, so unverdient hartes Geschick! Ach, jeder achte nur auf seinen eigenen Kopf, wenn Zar Friedrich Wilhelm wieder in die Residenz heimkommt! Darin gipfelte die allgemeine Klage.
Es fragte sich nur, wohin der König zuerst kam, ob nach Potsdam oder Berlin. Welche seiner Städte würde als erste seinen Zorn und Wahn und Schmerz erdulden müssen?
Schon, als sie sich am Havelschloß vom Wagen helfen ließ, erfuhr die Ramen, daß der Herr sich noch für diese Nacht in Potsdam angesagt hatte. Ohne sich aufzuhalten, ging sie in die Zimmer der Königin, um den erlogenen und von ihr durchschauten Auftrag der Gebieterin auszuführen. Sie rüstete unverzüglich Frau Sophie Dorotheens Gemächer, doch gab sie ihren Appartements nun neue Namen und ein neues Gesicht. Hier, wo sie sorgsam Federn für das Schreibzeug spitzte und frische Bogen in die Schreibtischlade legte, würde vielleicht das Verhör der Verhafteten sich abspielen. – Dort, im kleinen Zwischenkabinett, würde dann wohl die Wache postiert sein und in der Kammer dahinter das Lager der Gefangenen aufgeschlagen werden. –
Dies Letzte würde der König, in dem Augenblicke solcher Heimkehr, nicht mehr überstehen! Solche Macht war einer Kammerfrau gegeben!
Als dann die Dunkelheit eingebrochen war, fuhren Kutschen ein; es waren nur zwei, und die Jäger schlossen schon das Portal. Es mochte wohl also niemand mehr folgen. Der eine Wagen barg nur das Gepäck. Vom Kutschbock des anderen stieg der Kammerdiener Ewersmann. Der Generaladjutant verließ vor Seiner Majestät die Kalesche. Die Lakaien waren herbeigeeilt. Die Fackelträger mußten nahe zum Wagenschlag treten. Es war sehr beschwerlich, den Herrn aus dem Wagen zu heben. Vier Jägerburschen stützten ihn, und dennoch war er ohne Stock sehr hilflos. Ewersmann reichte dem König den Stock. Man hörte den Stock in der Hand des Königs sehr hart und ungleichmäßig auf den Steinen des Hofes. Die hohen Türflügel des großen Aufganges schlugen zu; dann lag der Hof wieder still. Nur die Bärin rasselte an der Kette. Sie hatte die Stimme des Königs gehört, und der König war an der Bärin vorübergegangen.
Drüben im Flügel der Königszimmer wurde Licht; dann steckten sie hoch droben in den Dienerkammern ihre Leuchter an. Die Ramen blieb regungslos am offenen Fenster ihrer dunklen Stube stehen. Sie wartete, bis jeglicher Lichtschein verlöscht war. Dann schritt sie leise hinunter. Den Schlüssel zur Dienertreppentür besaß sie schon seit Jahren. Nun gedachte sie zu Ewersmann hinaufzuhuschen, um das Letzte zu vollbringen. Im Hof hielt sie noch einen Herzschlag lang Umschau. Dann sprang sie schnell hinüber zu dem Männerhaus.
Dem König haben sie es in der Nacht nicht mehr gemeldet. Er hat auch den Schrei nicht gehört. Es war auch nur ein leiser und entsetzter Ruf gewesen. Aber Ewersmann hatte das Fremde, Furchtbare in ihm gehört und die Stimme erkannt. Er vermochte nur die Diener in den Nachbarkammern wachzurütteln; dann brach er auf einem Bettrand zusammen. Sie verlachten ihn: ein Frauenschrei in einer Sommernacht – und solches Gebaren! Unwillig gingen sie hinunter.
Die Kammerfrau lag leblos auf den Stufen.
Die Bärin, wie sie es oft tat des Nachts, tappte vor ihrem Zwinger hin und her; nur die Kette schleifte länger hinter ihr als sonst.
Die engste Umgebung des Königs traf eine Weile vor dem Herrn in Berlin ein. Im Laufe eines Tages kehrten sie alle einzeln zurück, die gemeinsam aufgebrochen waren; auch General Graf Seckendorff, der mit dem König – und für den Kaiser gereist war und sich zuletzt vor beiden auf seinen Gütern verbarg.
Der kaiserliche General hatte bei seiner Rückkehr mit ungeheurer Schnelligkeit die befremdliche und besondere, für ihn jedoch nicht unerfreuliche Tatsache festgestellt, daß auffallenderweise seit Eintreffen der Hiobspost in Berlin keinerlei Briefwechsel und Aussprache zwischen Königin Sophie Dorothea und dem englischen Gesandten Sir Guy Dickens stattgefunden hatte.
Auch diese Zurückhaltung war ein gewichtiger Umstand, mit dem die Kaiserlichen würden rechnen müssen. Auch dieses vorerst letzte Ergebnis der vorangegangenen lebhaften Beziehungen zwischen Monbijou und dem Britischen Gesandtschaftspalais würde man wohl zu würdigen verstehen.
Aber noch gedachte Seckendorff davon kein Sterbenswörtlein nach Wien verlauten zu lassen. Dies war noch zu unklar. Und schließlich hatte auch der kaiserliche General den König von Preußen nun seit zehn Tagen nicht mehr gesehen. Und was bedeuteten zehn Tage bei der Wandlungsfähigkeit, um nicht zu sagen Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit des Königs!
Und dies vor allem, wenn man nicht wußte, wo er nun eigentlich diese ganze letzte Woche verbrachte, statt schleunigst nach Berlin zurückzureisen und in der trüben Affäre seines Sohnes ein entscheidendes Wort zu sprechen. Solche Unklarheit machte einen Bericht an den Kaiser ganz außerordentlich schwierig. Aber die Meldung nach Wien mußte jetzt als erstes erfolgen, gerade daß noch schnell ein paar Zeilen ins Palais Grumbkow zu senden waren, man sei nun wieder zu neuen Kämpfen auf dem alten Platze, allerdings unter recht veränderten Umständen. Man würde wohl mit einigen strategischen Neuheiten aufwarten müssen!
König und Kronprinz von Preußen hielten auch alte, gewiegte Diplomaten in Atem. –
Seckendorffs Bericht nach Wien wurde lange unterbrochen. Grumbkow fand sich bei dem Grafen ein, und sie erörterten sogleich, wieviel von der ersten Meldung an den Kaiser für ihre eigene Situation abhing. Grumbkow empfand zunächst nur die Beruhigung, endlich nicht mehr auf halbe Andeutungen und übertriebene Auslegungen angewiesen zu sein; das hatte er als äußerst demütigend empfunden. Bei Seckendorff war nun schon größere Klarheit zu erhalten. Unablässig hatte der König die Flucht seines Sohnes befürchtet. Wenn der Sohn nur eine Stunde später an einem Reiseziel eintraf, so war es für die Suite des Königs eine Pein, um den Herrn zu sein.
An dem Morgen, an dem der König in Frankfurt die Stafette von dem Rittmeister von Katte, einem fränkischen Vetter des hiesigen Leutnants, mit dem fälschlich an ihn bestellten Brief des Kronprinzen erhielt, teilte der König – und nicht, wie es in Berlin hieß, seine Umgebung ihm – allen Herren das Vorgefallene mit. Den Prinzen sollte man, sobald ein überwachter Wagen vor der Stadt gesichtet sei, gar nicht erst hereinlassen, sondern ihn unverzüglich auf die Jacht bringen, auf welcher der König recht umständlich den Weg von Frankfurt nach Wesel zurückzulegen gedachte. Das Schiff war von dem König schon bestellt, als fürchte er erneute Flucht oder Entführung des Sohnes. Mit der Meldung, daß das Schiff zur Abfahrt bereit sei, erreichte ihn eine zweite: Der Leutnant Keith war aus der Garnison Wesel desertiert, um zum Kronprinzen zu stoßen, den er jenseits der Grenze glaubte. Alle Versuche, den Deserteur einzufangen, blieben vergeblich. Er sollte die Richtung nach Nymwegen genommen haben. Das war die letzte Spur gewesen, deren man sicher war.
Der König hob den Kopf, als man ihm vom Leutnant Keith das Wort sagte: Deserteur. Er horchte auf und gab den Befehl, den Sohn nicht vor ihn zu bringen.
»Er wird in Wesel vernommen«, sagte er den Herren. Er wollte ins Preußische zurück. Und endlich, als sei ihm der Gedanke unerträglich, daß er und der Sohn einander in der Enge des Rheinschiffes begegnen könnten, fern den Ufern, Städten und Menschen, änderte der König seine Fahrt; er unterbrach sie in Geldern; wohin sie ging, blieb Geheimnis.
Und wo und wann nun der König den Degen gegen seinen Sohn zog, vermochte auch der kaiserliche General nicht zu sagen. Aber geschehen war es.
Die Sänftenträger des Ministers von Grumbkow im Hof der Seckendorff sehen Wohnung und die Boten, die Prinzessin Wilhelmine in das Vorzimmer des kaiserlichen Generals gesandt hatte, mußten lange warten, und die Ungeduld der Prinzessin wurde ins Unerträgliche gesteigert. Mit allem, was kaiserliche Clique und britische Partei hieß, hatte sie ein Ende gemacht; sie begehrte nur, ein einziges wahres Wort über den Bruder zu erfahren. Sein Schicksal mußte alles umgestalten, alles – auch ihr eigenes Los. Einen Augenblick, als die Boten sie verließen, schloß die Prinzessin die Augen. –
Endlich ließen die hohen Herren von sich hören; endlich traten sie gemeinsam aus dem Arbeitskabinett des Grafen.
Herr von Grumbkow ging sogleich zu seiner Sänfte hinunter. General Graf Seckendorff richtete selbst einige Worte an die Vertrauten der Prinzessin. Er dürfe nicht viel sagen, er sei selbst zu schlecht unterrichtet; nur möchte er doch die törichtesten Erfindungen widerlegen und zerstreuen; auch müsse er wohl Klarheit schaffen über jene Umstände, die nach Eintreffen der Suite in Berlin in wenigen Stunden ja doch allgemein bekannt sein würden und vielleicht von unberufener Seite an den Hof berichtet werden möchten.
Und so erfuhren an diesem Morgen der Hof und die Stadt, daß sie den Königssohn, der auf goldenem Segler über die Meere der Freiheit in das Inselreich des Glanzes und der Macht zu entfliehen gedachte, gefangen auf ärmlichem Schiffe von Frankfurt nach Wesel gebracht hatten. Was sonst sich zugetragen hatte – diesmal wollten die Eingeweihten es dem König überlassen, ob Gattin und Kinder es erfahren sollten. Es selber auszusprechen, schien zum erstenmal auch gewiegten Diplomaten zu gefährlich. Vermochte denn einer zu ahnen, was geschehen war, seit der König sich von seiner Suite trennte, seit er und der Sohn verschollen blieben, bis der Herr nun endlich vergangene Nacht in Potsdam eintraf? Zu viele Tage waren seit der Stunde hingegangen, in der König Friedrich Wilhelm in Geldern an Land ging und das Schiff mit seinem Sohne weiterfuhr. – Diesen Abend würde der Herr nun zur Königin sprechen. Dies eine allein war gewiß: heute kam der König nach Berlin.
Von Königin und Prinzessin wurde an diesem Tage nichts mehr unternommen. Jede Frage, jeder Schritt war von Gefahr umwittert. Die Königin schien nicht im vollen Umfang zu erfassen, was es bedeutete, daß der König nun kam. Sie war zermalmt vom Tode ihrer Kammerfrau. Diese Botschaft war dem Herrn von Potsdam her vorausgeeilt. In den letzten, schweren Tagen, seit das gespenstische Wunder in ihrer Galerie sich ereignete, war zuviel Grausiges über die Königin hereingebrochen. Sie fragte auch nicht mehr nach dem Sohn.
Im Laufe des Nachmittags siedelte die königliche Familie von Monbijou ins Große Residenzschloß über. Nun harrte man schon viele Stunden auf die Ankunft des Königs. Auch am Abend blieben die Kinder noch bei der Mutter, selbst der kleine, grämliche, kränkliche Heinrich. Prinzessin Wilhelmine hatte es angeordnet, daß alle Kinder um die Mutter versammelt sein sollten. Es war wie ein Mittel der Abwehr; es gab noch eine letzte Sicherheit in all der Verzweiflung und Erregung. Die Königin war nicht mehr fähig, Entschlüsse zu fassen. Sie überließ sich willenlos der älteren Tochter und duldete die übermüdeten Kleinen um sich, ohne ihre Gegenwart nur wahrzunehmen.
Nur das Jüngste schlief längst, der kleine Knabe, den sie, ehe er in eines Königs Schloß in die Welt so namensloser Verwirrung geboren wurde, an den fremden Höfen schon Das Kind der Schmerzen nannten um des Vaters willen.
Auch war ihnen allen jetzt die Rede von der Schmerzensreichen Mutter sehr geläufig.
Nur das eine Wort ist niemals ausgesprochen worden, obwohl es über aller Erdenzeit steht: