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Der Gott von Geldern

In des Königs Wort ist Gewalt, und wer mag zu ihm sagen: Was machst du?

Die Bibel

Gott gab sich vor den Menschenkindern einen Namen, an dem sie ihn erkennen sollten. Der Name war: »Ich werde sein, der ich sein werde.« Und das bedeutete die unabänderliche Heiligkeit und Ewigkeit des, der gesprochen hat: »Ich will meinen Bund nicht entheiligen und nicht ändern, was aus meinem Munde gegangen ist.«

Der unwandelbar heilige und ewige Gott, die Krone des Lebens und der Gerechtigkeit auf seinem Haupte, saß auf dem Stuhl, der wie ein Regenbogen anzusehen und in den Tiefen der Erde gegründet war. Ein silberner Mantel floß von den Schultern Gottes wie Wasser des Lebens. Gottes Haare waren wie der Schnee und seine Augen eine Feuerflamme. Sein leuchtendes Angesicht war ohne Schatten und Wandlung: unabänderlich heilig.

Im Schoße Gottes lag sein Sohn. Der gebrochene Leichnam hing über dem Schoße des Vaters; und die Rechte Gottes hielt den Kopf des Menschensohnes mit der Dornenkrone; und die Linke Gottes trug die nägeldurchgrabenen Füße seines eingeborenen Sohnes. Der war elend und nackt und nur angetan mit einem Leinenschurz; das Tuch war mit Blut besprengt. Gott hatte aber einen Namen geschrieben auf seinem Kleid und auf seiner Hüfte wie ein Band: Ein König aller Könige und ein Herr aller Herren.

 

Die Pietà des Schmerzensreichen Vaters, aus Lindenholz geschnitzt und mit dem Golde alter Klöster gemalt, stand vergessen oder gar zu gewohnt in einem Kreuzgewölbe der alten Kirche zu Geldern.

An dem Sonntag, der dem Tage folgte, an dem er das Schiff verließ, war der König sehr frühe zur Kirche gegangen; denn noch am Sonnabend war er vor Anbruch der Nacht auf seiner Reise in Geldern eingetroffen. Schon bevor die Kirche sich füllte, saß der König in dem hohen Chorgestühl, in das sie ihn geführt hatten. Als er nun eingangs gebetet hatte – wie an jedem Sonntag seiner Königszeit, sobald er die Kirche betrat –, blickte er düster vor sich hin; da fiel sein Auge auf die Pietà in der Tiefe des Gewölbes vor ihm. Und weil er nur von Bildwerken der Schmerzensreichen Mutter wußte, traf es ihn ins innerste Herz, das Leiden des ewigen Vaters schauen zu müssen, indes die Glocken zu läuten aufhörten und die Kirchgänger zu singen begannen:

»Also gehst du nicht die gemeinen Wege,
dein Fuß wird selten öffentlich, gesehn,
damit du siehst, was sich im Herzen rege,
wenn du in Dunkelheit mit uns willst gehn.
Das Widerspiel legst du vor Augen dar
von dem, was du in deinem Sinne hast.
Wer meint, er habe deinen Rat gefaßt,
der wird am End' ein andres oft gewahr.«

Nach dem Gottesdienst hatte der König in der Sakristei den Pastor gefragt, warum wohl das alte katholische Bildwerk in der lutherisch gewordenen Kirche stehenblieb. Der Pastor, durch die unerwartete Gegenwart des Königs und die Gerüchte, die den Herrn nach Geldern begleitet hatten, schon ohnehin befangen und verwirrt, meinte nun, die Frage des Königs beziehe sich auf seine heißumstrittenen Erlasse zur Entfernung allen Kirchenschmuckes aus den Gotteshäusern. Er stammelte törichte Entschuldigungen, und der König wandte sich schroffer von ihm ab, als es sonst den Geistlichen gegenüber seine Art war.

Er ließ noch nach Kantoren und Lehrern schicken. Aber auch die wußten gar nichts und wunderten sich mit einem Male sehr, daß die alte Schnitzerei überhaupt noch hier stand. Man versprach, sie nun möglichst bald zu entfernen.

Da gedachte der König angesichts all solcher Torheit des Erzbischofs von Köln, zu dem er ja zuvor hatte reisen wollen – mit dem Sohn; damals, als er die Pläne entwarf, die nun so furchtbar durchkreuzt worden waren. Nun stand es für den König unverrückbar fest, daß er zu dem großen Kur- und Kirchenfürsten fahren würde, was auch geschehen war und wie begründet die Absage an den Kurfürstlich-Erzbischöflichen Hof in Bonn und Köln jetzt auch gewesen wäre.

Er blieb mehrere Tage; er blieb über seinen Geburtstag; was ihn auch wegrief – er lauschte dem, was ihm der Kirchenfürst von den Gottesbildern alter Dome und Klöster und von der Pietà des Schmerzensreichen Vaters sagte. Auch sah der König den jungen Kirchenfürsten aufmerksam an, mit jenem grüblerischen und forschenden Ernst, der andere Partner im Gespräch mit ihm so oft schon zur Verzweiflung brachte. Der Erzbischof aber begegnete dem Blick des Königs von Preußen mit tiefer Ruhe. Er spürte das Auge des Königs sehr wohl; er nahm auch die Wärme wahr, mit der König Friedrich Wilhelm ihn betrachtete.

Der junge Erzbischof war schön und groß und heldenhaft, so daß manche im Bistum von ihm sagten, er sei wie der Erzengel einer. Als er nun seine Reden beendete, sagte der König zu ihm, als hätte es gar nichts mehr damit zu tun und als wollte er ein völlig anderes Gespräch beginnen: »Warum sind Eure Durchlaucht ein Priester Roms geworden und nicht allein ein deutscher Fürst geblieben? Warum müssen Eure Durchlaucht, der Männlichsten einer, ohne Frau und Kind und Erben bleiben? Müssen nicht nach Gottes Kraft und Willen alle Männer dieser Erde Väter künftiger Väter sein?«

Und weil der junge Fürst und Priester, den manche dem Erzengel Michael verglichen, alles begriff, was in dem König vorgegangen war und ihn zu solcher Frage drängte, und weil er alle Geheimnisse des Vatertums vor dem König von Preußen aufgetan sah, so antwortete er ihm mit einem Worte, das fremd und beziehungslos klang und von niemand sonst hätte verstanden werden können.

»In der Heiligen Schrift, Majestät, steht das Wort eines Königs aufgezeichnet, das er dem kommenden König weitergab für den künftigen Sohn: ›Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber laß deine Seele nicht bewegt werden, ihn zu töten.‹«

 

König Friedrich Wilhelm war von Geldern, Köln und Bonn und Wesel noch Tage und Nächte hindurch wie ohne Plan und Ziel gereist, gereist, bevor er in seine Königsstadt heimkehrte. Aber dieses Wort der Schrift und das Bild des Gottes von Geldern waren von nun an ohne Unterlaß vor ihm. Er trug das Wort und Bild auch noch in seinem Herzen, als er über die Schwelle zum Flügel der Königin trat.

Die Dienerschaft bestellte ihm, die Königin erwarte ihn im Kreise der Kinder.

Aber der König kehrte um in seine eigenen Räume und ließ der Gattin zurückbestellen, sie möchte ihn allein in seinem Arbeitskabinett aufsuchen. Als sie eintrat, erhob er sich von seinem Stuhl.

Ihr schwindelte, und sie vermochte nicht, auf ihn zuzugehen. Sie hatte nicht mehr gewußt, daß dies sein Antlitz war. Oder trug sein Antlitz neue Züge? Denn die Königin, als sie den Gatten sah, schrie auf: »Friedrich ist tot!«

»Er ist für mich tot«, sprach der König ihr nach, »ich habe nichts mehr mit ihm zu schaffen als das Gericht über ihn einzusetzen.«

Aber die Königin hörte gar nicht auf das, was der Gatte ihr sagte, und rief nur immer verzweifelter: »Das ist nicht möglich, daß Sie ihn Ihrer barbarischen Wut geopfert haben –«

Da schwieg das Mitleid im König, und er begann kühl, und hart zu seiner Frau zu sprechen. Die ersten Vernehmungen hätten begonnen, zunächst mit dem Leutnant von Katte. In Kattes Aussagen sei eine Schatulle mit Korrespondenzen des Kronprinzen erwähnt worden. Diese Schatulle solle sich in ihren Händen befinden.

»Und nun will ich den Kasten«, schloß der König.

Die Königin stürzte aus dem Zimmer. Sie hatte die Truhe längst hierher ins Große Schloß überführen lassen, um ihre Unschuld zu erweisen.

Draußen im Gange hatten Wilhelmines Vertraute das Gespräch des Königspaares belauscht und nur den Schrei der Königin gehört: »Friedrich ist tot!«

Die Königin schritt auch jetzt nur wortlos an ihnen vorüber, außer sich und stöhnend: »O mein Gott, mein Gott –«

Wilhelmine eilte auf den Gang hinaus und suchte sie zu erreichen. Aber die Mutter – nur daß sie den Befehl gegeben hatte, die Schatulle zu bringen – war schon wieder im Kabinett des Königs verschwunden.

Der riß die Riemen der Truhe herunter, schlug den Deckel zurück, raffte die Papiere zusammen und trug sie in das Schreibzimmer der Sekretäre. Scheu und flüchtig sah die Königin ihm nach. Sie verlor keinen Augenblick, bemächtigte sich des abgeschnittenen Siegels, das Verdacht hätte erregen können, rief leise nach, der Tochter und ließ die aufgelösten Stricke und das Siegel verbrennen. Nun war es ja vom König selbst erbrochen; nun durfte es ja geschehen. Ausnahmsweise ohne noch ein Wort miteinander zu wechseln, zogen sich Mutter und Tochter in den Raum zurück, in dem die jüngeren Geschwister warteten. Beinahe unmittelbar nach ihnen trat auch der König ein. Dieser Augenblick war für die Kinder qualvoll. In der Ungewißheit über das Schicksal des Bruders wußte keiner, was tun; sie sahen einander ratlos an, blickten scheu auf den Vater, die Mutter, die älteste Schwester. Die jedoch klammerte sich seltsamerweise ängstlich an August Wilhelm; denn Hulla allein ging auf den Vater zu, sehr ernst, sehr blaß und sehr tapfer und küßte ihm schweigend die Hand.

Da sank die älteste Prinzeß in tiefe Verneigung und griff, wenn auch sehr zaghaft von der Seite her, nach der Rechten des Königs; sie hauchte: »Allergnädigster Vater –«

Er sah auf sie, und seine Augen wurden dunkel.

»Für solche Begegnung ist wohl in eurem Zeremoniell das hof-gemäße Verhalten nun doch noch nicht vorgesehen«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. Und was noch nie geschehen war: er hob die Faust gegen die Tochter. Er schlug Wilhelmine ins Gesicht.

Die Oberhofmeisterin von Kameke schrie auf: »Bis jetzt taten Sie sich etwas darauf zugute, ein gerechter, frommer König zu sein, und dafür segnete Sie Gott. Nun wollen Sie ein Tyrann werden –; fürchten Sie sich vor Gottes Zorn. Opfern Sie Ihren Sohn Ihrer Wut; aber seien Sie dann auch der göttlichen Rache gewiß. Gedenken Sie Zar Peters und Philipps von Spanien. Sie starben nach ihrem Frevel ohne Nachkommenschaft, und ihr Andenken ist den Menschen ein Greuel.«

Der König streckte ihr die Hand entgegen.

»Sie sind sehr keck, mir solche Dinge zu sagen; aber Sie sind eine wackere Frau und meinen es gut. Gehen Sie, und beruhigen Sie meine Frau.«

 

In der Wohnung des Generals von Buddenbrock, der mit von der Suite des Kronprinzen gewesen war, saßen Offiziere ernst und schweigsam beieinander, und unter ihnen waren auch die jungen Gouverneure des Prinzen. Über die Art, wie er den Kronprinzen nach Berlin hatte eskortieren müssen, war dem General von Buddenbrock kein Schweigegebot auferlegt worden: vielmehr sollten es die Offiziere gerade wissen.

Der König hatte in Wesel befohlen, den Sohn quer durch Deutschland nach der Festung Spandau zu schaffen, dabei aber hannoverisches und hessisches Gebiet zu vermeiden, wo der Prinz vielleicht auf solche Leute stoßen könnte, die gern in höherem Auftrag seine Mitschuldigen werden möchten. – Und für den Fall eines Entführungsversuches oder Überfalles hatte General Buddenbrock die Weisung erhalten, dafür zu sorgen, daß die anderen ihn nicht anders als tot bekämen.

In tiefstem Geheimnis war der Kronprinz aus Wesel fortgebracht worden. Man war Tag und Nacht ohne Aufenthalt bis Halle gefahren. Nur auf freiem Felde, wo man sich sehen konnte und keine Hecken und Büsche waren, durfte gehalten werden, und gegessen wurde in den Wagen selbst.

Von den ernsten und bedrückten Gesprächen der Offiziere abgesehen, quoll und barst Berlin von Gerede. Selbst in dem vorzüglichen Gasthof von Nicolai wurden die Gäste diesen Abend schlecht bedient. Die Tafeldiener malten im Küchenanbau den Köchen und der Wirtin und den Mägden leidenschaftlich und gewichtig aus, was Sie beim Servieren von den Gesprächen an den Gästetischen aufzuschnappen vermocht hatten. Eben war die älteste Prinzessin totgesagt worden.

Schließlich verbat sich die Wirtin – eine sanfte, schöne Frau, die als Lietzenburger Kastellanstochter und als Freundin und Erbin der unglücklichen, reichen Demoiselle Koch, der Gastwirtstochter, einmal eine gewisse Berühmtheit in der Hauptstadt erlangt hatte – dieses üble Treiben. Ganz bleich war sie geworden über all dem schrecklichen Geschwätz. Sie hatte König Friedrich Wilhelm geliebt und kannte die Stunden seiner großen Verlassenheit, damals schon, als er noch ein sehr junger Mann gewesen war.

Die Bedienten ließen sich noch nicht beschwichtigen. Der Baron von Gundling sei soeben gekommen, fügten sie als letzte Neuigkeit hinzu; er sitze drüben an seinem alten Tisch im Spiegelzimmer, trinke aber diesmal nur sehr wenig.

 

Damit sprach er auch nicht viel. Und die ganz gewissen, fest verbürgten Taten, Äußerungen und Ausbrüche, die man ihm vom König und seiner Familie hinterbrachte, tat der große Gelehrte mit auffallend kühler Geste ab. Ihn interessierte nur die ungewöhnlich kluge Replik, welche die rustikale Frau Oberhofmeisterin dem allergnädigsten Herrn gegeben haben sollte. Eine vortreffliche Bemerkung, urteilte Gundling, eine ganz ausgezeichnete Parallele: Der Korporal von Potsdam, Zar Peter, König Philipp! Er sagte es ja immer: Die Parallelen!

Professor Gundling trank keinen Tropfen mehr. Er ließ den Wein im Glase stehen, bestellte seine Sänfte und wollte Dreispitz und Umhang gebracht haben. Unverzüglich kehrte er heim und entzündete so spät noch sämtliche Kerzen auf allen Leuchtern seiner Bibliothek und bedeckte seinen Schreibtisch mit Folianten und losen Blättern. Es schien nicht vergeblich, daß der Herr ihn noch einmal in eine harte Schule genommen hatte, als der Freiherr, Präsident und Professor an die Echtheit seines Aufstieges zu glauben begann und nicht mehr verstehen wollte, daß ihn der Herr zu Bild und Mahnung gebrauchte. Gundling tat nichts, um seine falsche Würde in eine echte zu verwandeln. Er wollte schon im würdelosen Spiel erlangen, was nur dem strengen Fleiße erreichbar war. Er wollte nicht mehr Forscherarbeit leisten; er hatte Genüge daran, wie einst als die Lebende Zeitung der Schenken und Kneipen, nun in den Kreisen des Hofes immer wieder ausgehalten zu werden. Er entschloß sich nicht zum Kampfe, obwohl der mächtigste Beschützer in dem König selbst hinter ihm gestanden hätte. Da entzog ihm der Herr die bisherige Erlaubnis, den Potsdamer Weinkeller ganz nach Belieben zu benützen; denn der König war von immer tieferem Ernste erfaßt und war müde geworden des trunkenen Wustes aus Hochmut und Verkommenheit, Dreistigkeit und entwürdigender Zerknirschung.

Gundling hatte sich auf den Wachen und in obskuren Bürgerhäusern herumgetrunken. – Aber trug die neuerliche Strenge des Herrn nun doch noch einmal Frucht, Jedenfalls, der große Gelehrte widmete sich wieder der Forschung!

 

Auf sein neues Schreiben hin wurde ihm der Zutritt bei dem König wieder gewährt.

»Er mag sich wieder an meinem Tische sehen lassen«, sagte der König, »wenn Er wieder seiner Arbeit nachgeht und solche Historien wie die hier von Ihm erwähnte für mich zu entdecken weiß.«

Das war nach so harter Behandlung, wie Gundling sie vom Herrn erfahren hatte, eine sehr große Gnade; aber Gundling ermaß daran vor allem, daß der Herr sich nicht mehr gegen seine berühmten historischen Parallelen zu wehren vermochte, mit denen er ihm Wunde um Wunde seines geängstigten Herzens aufriß.

Doch nun brachte der Professor auch eine Historie, wie eben nur ein Gundling sie zu finden wußte und nur ein Gundling das Vergangene den Gegenwärtigen zu erzählen verstand! Nun ließ der Lustige Rat den traurigen König eine Königsgeschichte vernehmen, von der er meinte, daß sie ihresgleichen suche!

»Ein König«, hob er an, »der die Äcker seines Landes reich bestellt, die Sümpfe getrocknet, die Grenzen geschützt und allen seinen Untertanen feste, saubere Häuser gebaut hatte, sprach: ›Nun will ich meinem Volke auch neue Gesetze verleihen, auf daß es die Ordnung meines Reiches verstehe und sie wahre.‹ Und die Gesetze, die er seinen Untertanen gab, waren klar und weise und streng und trugen jegliche Ordnung seines Reiches in sich für alle Zeit, in die ein Mensch zu denken vermag und über das Leben aller künftigen Könige hinaus.

Die Mutter des Königs aber war sehr stolz auf ihren Sohn, und ihr Sohn ließ sie übermütig und vermessen werden, so daß sie die erste wurde, die ihres Sohnes Gesetze übertrat. Da weinte der große König bitterlich. Aber als er geweint hatte, hob er sein Antlitz auf, und es war tränenlos und klar und hell, doch ohne alle Lindigkeit, wie sie zuvor manchmal in seinem Gesicht gewesen war, wenn er die Menschen seines Landes lachen hörte und ihre Gärten wachsen sah und ihre Kinder ihre ersten Schritte tun.

›Unabänderlich ist das Gesetz‹, sprach der König, ›und um der ewigen Ordnung willen muß es bestehen; denn alle Ordnung spiegelt Gottes ewiges Maß.‹

Als das die Mutter des gerechten Königs hörte, kam große Angst über sie; und um sein Gericht aufzuhalten, schickte sie die klügsten Männer seines Hofes zu ihm, daß sie ihn mahnen sollten: ›König, eines der ersten Gesetze, die du uns gegeben hast, heißt nun, die Mutter zu lieben, die in der Sprache der Alten Das Leben genannt wird. Erfülle nun dieses dein Gesetz!‹

Da lächelte der König und sprach: ›Es ist erfüllt.‹ Und er winkte einem, der schon hinter dem Vorhang zwischen den Säulen bereit stand. Der trat nun hervor und band dem König die Hände und führte ihn hinweg; und das war der Henker. Dem sagte der König: ›Einer muß um der verletzten Ordnung willen sterben. Denn das Gesetz ist unabänderlich, weil Gottes ewige Maße sich darin spiegeln.‹

Und er beugte sein Haupt für das Beil des Henkers herab.«

Durch die Entdeckung solch längst verschollener Sage kam Jakob Gundling von neuem an den Tisch seines Herrn. Doch alle Königsmahle dieses späten Sommers waren schweigsam und von der Schwermut des Königs überschattet. Er fühlte sein Leben von einem harten, dunklen Griff durchstoßen. Aber er glaubte, es sei die Hand Gottes; und darum mußte sie ertragen sein.

 

Vom zweiten Morgen nach der Rückkehr des Königs an stand vor dem Appartement Prinzessin Wilhelmines eine doppelte Wache. Die Prinzessin konnte ihre Zimmer nicht mehr verlassen. Sie war auf heimliche Botschaft der Mutter angewiesen, wenn sie überhaupt erfahren sollte, was sie bedrohte.

Seit dem Tode der Ramen klammerte sich die Königin nahezu ängstlich an einen alten, ausgedienten Lakaien, der noch dem alten Hofe zugetan war. Noch schien sich die Königin in ihren Gedanken gar zu viel mit ihrer Kammerfrau zu befassen, die fünfzehn Jahre hindurch unablässig um sie gewesen war und jeden ihrer Gedanken und Wünsche erraten und jeglicher Laune Befriedigung zu schaffen verstanden hatte. Sie ließ der Tochter Worte übermitteln, die ihr nahezu als ein Vermächtnis der Ramen erschienen. Sie habe sich noch ganz zuletzt um Wilhelmines Festigkeit gebangt, so hatte sie der Tochter von der verstorbenen Kammerfrau zu sagen.

Das alles war für Wilhelmine sehr qualvoll, weil sie darüber das Notwendigste nicht zu erfahren vermochte; doppelt qualvoll, seitdem sie den beängstigenden Anblick hatte aushalten müssen, wie der Leutnant Katte zum Verhör ins Schloß geführt wurde. Es war gar nicht auszudenken, welche Gefahr jetzt plötzlich von den nichtigsten Umständen her drohte: der junge Herr von Katte besaß ein Medaillon mit ihrem Bild!

Aber noch an dem gleichen Tage, an dem ihr das eingefallen war, wurden die Vermutungen, Befürchtungen, Phantasiegebilde und verzweifelten Überlegungen mit einem Schlage weggefegt. Die Schreckensmaßnahmen des Königs wurden bekannt. Der holländische Gesandte vermochte es nicht zu glauben, »daß es für irgendeinen Menschen möglich sei, so entsetzliche und gottlose Pläne zu ersinnen, wie diejenigen, deren der König selbst gegen ihn Erwähnung getan. Man werde gewiß so gottlose und blutige Szenen hier sehen, als irgend seit Erschaffung der Welt gehört worden sind.« So berichtete er der Republik.

Der Leutnant von Spaan, von dem bei Hofe überhaupt niemand wußte, sollte dem Kronprinzen Pferde vermittelt haben, war degradiert und ins öde Litauen strafversetzt.

Dorthin wurde auch der einstige Lehrer des Kronprinzen, der Refugié Duhan de Jandun, verbannt. Die Nachforschungen hatten ergeben, daß er, seit er mit den alten Gouverneuren zurückgetreten war, dem Kronprinzen weiter eine kostbare Bibliothek von geborgtem Gelde in aller Heimlichkeit zusammentrug. Und dies war in jenem Kantorshause zu Potsdam geschehen, in dem der Kronprinz sich von der überspannten Kantorstochter zu seinen Flötenetüden akkompagnieren ließ.

Doris Ritter hatte in frevelhaftem Leichtsinn eine furchtbare Tragödie über sich heraufbeschworen. Ohne auch nur einen Augenblick die Folgen zu bedenken, hatte sie sich als die Heldin, die Dulderin, die Vertraute und Liebende aufgespielt und in einer exaltierten Szene den Beauftragten des Königs den Zutritt zu dem Bücherversteck des Kronprinzen verwehrt und gegen den König vermessene Verwünschungen ausgestoßen, wie sie ihr aus den Dramen und Romanen, in die sie in der geheimen Bücherei des Prinzen dauernd eingesponnen lebte, in heilloser Verwirrung im Kopf herumspukten. Der König aber sah, wo er nur eine der geheimen Spuren seines Sohnes aufdeckte, die Rebellion am Werk – selbst in der Jungfernstube hier, und zwar in solcher Verwegenheit, als wäre auch der Gefangene noch ein mächtiger Beschützer seiner Komplicen.

Doris Ritter wurde vor dem Hause ihres Vaters und an den Toren Potsdams öffentlich ausgepeitscht, bevor man sie ins Spandauer Spinnhaus überführte. Die Prinzessin weinte hemmungslos, zitterte, fieberte, übergab sich; aber es war nicht das Mitleid mit der Kantorstochter, die sich in ihrer Überspanntheit ein so völlig vermeidbares Unheil selbst bereitet hatte. Die Prinzessin weinte über die völlige Verwirrung aus Lüge und Wahrheit, Geständnis und Leugnen, in der nun einer zum Henker des anderen werden würde –!

Und das eigentliche Gericht stand noch aus!

Für einen Augenblick erschien die Königin bei ihrer Tochter, mit flackernden Augen und ganz totenbleich. Man hatte ihr die Hofdame von Bülow verhaftet, die in den geheimen Korrespondenzen um Schloß Monbijou als Deckadresse eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Wieder waren nun alle erregten Gespräche von der einen zermürbenden Frage beherrscht; wieder wurde selbst die Angst um den Gefangenen von der einen Frage verdrängt: Was weiß der König und was vermutet er nur?!

Was die Bülow betraf, so wehrte die Prinzeß nur müde ab. Was wurde jetzt nicht alles erfunden, hinterbracht, entstellt, geglaubt –.

Aber die Königin hatte es ja vom König selber erfahren. Nach Kattes Verhör war er zu ihr gekommen. Katte hatte gestanden, Wilhelmine Briefe gegeben zu haben.

Die Prinzessin sah kühl zur Mutter hinüber.

»Das mußte er doch auch gestehen. Je unbefangener er es tat, desto besser für uns. Selbstverständlich werde auch ich einige belanglose Briefe zugeben, die jene ganze Inquisition, die man gegen uns einleitet, zur Farce machen. Die belastenden Beweise aus der Schatulle existieren ja nicht mehr –«

Aber die Königin plädierte leidenschaftlich für Meineid, als mißtraue sie dem eigenen Werk, das sie in Sachen der Katteschen Truhe gemeinsam mit der Tochter vollbracht hatte. Den Meineid lehnte die Tochter ebenso leidenschaftlich ab; denn vielleicht hatte Katte doch etwas über den Inhalt einiger Briefe ausgesagt, welche er durch Friedrich kannte. Vielleicht waren die Äußerungen des Königs über Kattesche Bekenntnisse doch bereits mehr als nur ein roher Versuch, die Verdächtigten hinters Licht zu führen. Keiner war mehr des anderen gewiß. Alles war unberechenbar geworden. Und solange man von Friedrichs Lage so gar nichts wußte, war kein Entschluß zu fassen, keine Rettungsmöglichkeit zu finden. Der General von Buddenbrock, der ihn von Wesel weggebracht hatte, war da und ließ sich nicht sprechen –.

Die Mutter hielt die Tochter lange umarmt. Aber die hieß sie, der Wache auf dem Gange wegen, gehen.

 

In den ersten Septembertagen wurde Friedrich erwartet, Daran war kein Zweifel mehr, daß er nach Berlin gebracht werden sollte. Als Termin nannte man den 3. September. Bis ein Uhr nachts wachte die Prinzessin am Fenster um der unwahrscheinlichen Möglichkeit willen, den Bruder vielleicht doch vorübergehen zu sehen. Am 4. September erfuhr sie nur soviel, daß Friedrich da war, sofort wieder vernommen wurde und derart sicher auftrat, als leite er die Verhandlungen. Er schien genau vorherzuwissen, daß man ihm nun, in der Nähe des Königs, endgültig seinen Degen abfordern würde – was Papa bisher vergessen haben sollte anzuordnen ... Vorsorglich ließ der Prinz seinen Degen mit dem Hut im Vorzimmer des Verhandlungsraumes liegen; und als die feierliche Aufforderung erfolgte, den Degen abzugeben, erklärte er nur: »Er liegt nebenan. Ist das alles? Wünschen Sie noch mehr zu wissen?« Es war vergeblich, daß der König, wie in Wesel, das Arrestzimmer des Sohnes durch zwei Schildwachen mit aufgepflanztem Bajonett für alle Welt absperren ließ, um ihm den Ernst seiner Haft und Vernehmung vor Augen zu führen.

Wenn der König jetzt von Friedrich sprach, sagte er viele Male: Der Sohn. Er mied die Bezeichnung des Ranges.

Er wollte ein Letztes versuchen, ehe er gezwungen sein würde, den Sohn dem Rechtsgang auszuliefern. Noch einmal hatte er durch die von ihm selbst und ganz allein von ihm aufgesetzten Artikel zu Friedrich in einem ernsten, richterlichen Tone gesprochen, als wolle er es ganz dabei bewenden lassen.

Der Prinz dagegen schlug die Methode ein, äußerst kaltblütig und bewußt Wahrheit und Lüge zu vermischen. Er wußte, daß Europa auf ihn sah und auf ihn lauschte, und darin lag für den Geknechteten, Enttäuschten und im tiefsten Herzen ja doch Verängstigten etwas wie Genugtuung und Verlockung. Er warf in der Vernehmung seinem Vater seine Mißhandlungen und grausamen Worte vor und antwortete auf seine Artikel, er möge für alles, was geschehen sei, sich allein verantwortlich machen. Und in privater Erklärung fügte er noch hinzu, daß ihn seine Resolution zur Flucht durchaus nicht gereue, und wofern der König nicht unterlasse, ihn mit Schlägen zu traktieren, so würde er die Flucht noch ins Werk setzen, es koste, was es wolle.

Die Punkte, die der Vater aufgesetzt hatte, hörte der Sohn dabei durchaus aufmerksam an, aber nur, um mit einem Roman zu entgegnen. Er habe vorgehabt, inkognito nach Landau, Straßburg und Paris zu reisen. Kriegsdienste zu nehmen, nach Italien zu gehen, sich dort im Kriege hervorzutun und dadurch die Gnade des Königs wieder zu erwerben. Die aufgefangenen Briefe des Kronprinzen sprachen aber von Den Haag als Reiseziel! Der König ließ ihm vorhalten, daß er der Lüge überführt sei. Aber der Kronprinz brach nicht zusammen. Er schien einen sehr klaren Plan sehr fest und bewußt durchzuhalten. Was die Gelder für die Flucht betraf, so mußte sich der König mit der Angabe begnügen, der Kronprinz habe die Diamanten des polnischen Weißen Adlerordens vom König Augustus verkauft. Aber wie es um die siebzehntausend Taler von Guy Dickens stand, wußte der Vater bereits, ohne daß Friedrich es erfuhr. Und wie der Herr darunter litt, sagten die Briefe nach Dessau.

 

Der König ließ Friedrich keine Fragen mehr vorlegen. Die Rückkehr nach Berlin schien ihm den Sohn berauscht zu haben. Friedrich spürte die Nähe der fremden Gesandten; er zählte auf den Beistand selbst der Kaiserlichen; das war offensichtlich. Er gab die Bedingungen bekannt, unter denen er klareren Einblick in die undurchsichtigen Vorgänge zu geben bereit war: Keith und Katte mußte erst Pardon gewährt sein. –

Der König entfernte ihn ohne jedes weitere Verhör von Berlin. Auch die Feste Spandau war ihm noch zu nahe. Er suchte die nächste Festung im Umkreis der Hauptstadt, fern dem Hof und den Gesandtschaften und dennoch jederzeit für Verhandlungen erreichbar: Küstrin.

Nach zwei Tagen eskortierten sie Friedrich nach Küstrin. In den folgenden vier Tagen erfolgte gegenüber dem Gefangenen gar nichts. Aber Katte wurde viermal nacheinander vernommen. Die Leidenschaft des Königs hatte Kattes Bedeutung ins Ungeheure gesteigert, ihn zum Rebellen erhoben, der dem künftigen König den Weg zum Thron des gegenwärtigen Herrschers frei machen wollte und eine Verschwörung unter den jungen Offizieren anzettelte –!

Allgemein wies man auf Kattes Bedeutungslosigkeit hin. Allein die jungen Damen von Monbijou wollten in seinen dunkelbraunen Augen etwas Unheimliches wahrgenommen haben, weil der Pockennarbige ihnen sonst wenig zu bieten vermochte.

Eine Verständigung zwischen den Freunden war völlig unmöglich. Beide schwiegen. Der König erfuhr nichts. Er geriet in immer größere Bestürzung, daß junge Offiziere in die Affäre seines Sohnes verstrickt waren. Schließlich, als wären nun des Abenteurers Clement Prophezeiungen der endlichen Erfüllung nahe, argwöhnte er sogar einen Anschlag gegen sein Leben.

Der Sohn erriet diesen schrecklichen Verdacht; einige Andeutungen hatte man ihm zukommen lassen. Er wendete sich in einem Brief »An den lieben Papa«, mit großem Pathos gegen solche »soupcons«; denn nun stand er vor aller Welt als unschuldsvolles Opfer da, so maßlos überstieg die Verdächtigung das Vergehen.

 

Seit dem Tage seiner Verhaftung hatte der junge Herr von Katte keinerlei Unruhe gezeigt. Es war, als wolle er an sich und seinem Geschick den Triumph der Vernunft über das ungeordnete Gefühl und den Sieg des Fatalismus über den Glauben beweisen; als öffne er damit das Tor zu einer neuen Zeit. Es war, als möchte er sagen: Seht, einer wie der König, der nur mit Gott persönlich zu konferieren, auszureiten und zu tafeln scheint, läuft als ein Ratloser und Rasender umher, obwohl er die Macht hat und wir ihm ausgeliefert sind! Wir aber sind ruhig. Wir sind klar.

Anfangs hatte er es mit Sicherheit und Gelassenheit zu weit getrieben; denn dies stand fest: der Haftbefehl gegen ihn war mit einer gewissen Umständlichkeit durchgeführt worden, die manchem zu denken gab. Man hatte sehr viel Zeit verstreichen lassen. –

Der junge Prophet des Fatalismus hatte es nicht eilig gehabt, aus Berlin zu entkommen. Hatte er nicht mit sich auszumachen vermocht, was für den Prinzen das Bessere war: wenn er blieb oder wenn er flüchtete? Er bestellte sich in aller Ruhe Sattelzeug. Da mußte ihn der General von Natzmer festnehmen lassen.

Der junge Herr von Katte war fest davon überzeugt, daß sein hoher Freund so ruhig blieb wie er.

Daß die Flucht gewagt sein mußte, war ihm Fatum. Und Fatum war, daß sie mißlang; Fatum auch, daß ihm der Werbeurlaub abgeschlagen wurde; Fatum, daß er dennoch leiden mußte, wie der Flüchtling; Fatum und abermals Fatum, daß der Leutnant von Keith wahrscheinlich schon in Nymwegen Schulden zu machen suchte, weil kein Geld mehr nachkam –.

Der junge Herr von Katte empfand es wie einen Trost, wie eine Genugtuung und einen leuchtenden Beweis innerer Größe, daß ihm allein bestimmt war, Leidensgefährte des preußischen Thronfolgers in einem vor Europas Augen so heroischen Augenblicke zu sein: das Martyrium für die goldene Ära der Freiheit und Vernunft brach an, und der hohe Freund und er waren in Preußen, dem armen, dunklen, wirren und gequälten Lande, ihre Trabanten!

Er dachte und dachte, er proklamierte, nur damit das pochende Herz noch einmal stiller würde.

Die Frage nach dem Fatum des Kronprinzen mied er.

Um Zeit zu gewinnen, versuchte es der Kronprinz von Küstrin aus mit einer ersten »Invention«, wie der König es nannte. Er wolle, schrieb Friedrich, nach den Erschütterungen, die er durchgemacht habe, zum Abendmahl gehen. Der Zorn des Königs war derart, daß jeder ihm zu begegnen vermied. In letzter Zeit waren ihm zu viele zum Tisch des Herrn getreten. – Er nannte solches Ansinnen des Sohnes eine Gotteslästerung. Er stürzte an den Schreibtisch und warf in einem einzigen Satze hin: »Es ist jetzo noch keine Zeit zum Abendmahl, es muß erstlich das Kriegsrecht ausgemacht sein, sodann ist es schon Zeit.«

Vielleicht hatten diese Worte einen schrecklichen Doppelsinn. Und ganz gewiß beunruhigten sie den Gefangenen aufs furchtbarste; denn er versuchte sofort zu sondieren, was mit dem Kriegsrecht gemeint sei. Er tat es in einer kühnen, beinahe verwegenen Art. Er bat um seine Uniform, wie wenn Küstrin nur eine Strafversetzung wäre.

Der König schrieb sofort zurück: »So einen schlechten Offizier will ich nicht in meiner Armee haben, geschweige denn, in meinem Regiment.«

Er schrieb »einen schlechten Offizier« und ließ das Wort nicht aus der Feder fließen, das all sein Denken vergiftete und immer völliger durchdrang: Deserteur.

Es war, als wolle er sich selbst noch vor diesem Worte bewahren; als dürfe er es nicht aussprechen; als sei eben dies die Sache des Kriegsrechts. Er wollte nun dem Sohn auch gar nicht mehr schreiben. Er gedachte nun doch noch einmal neue Fragebogen aufzusetzen. Aber dazu mußte er noch größere Stille haben. Dazu durfte er nicht weiter in Berlin bleiben, wo jeden Augenblick einer etwas über die unglückselige Küstrinische Affäre, wie er selber es nannte, von ihm auf Umwegen erfahren wollte – auf Umwegen, die ihn ermüdeten, belästigten und peinigten. Er wollte die Gesandten der fremden Mächte nicht sehen. Hier war allein nur noch die Sache (Des Königs von Preußen), weder seine eigene noch gar die der fremden Potentaten und des Reiches. Einen Augenblick schwankte er, ob er wie in jedem Jahr um diese Zeit nach Wusterhausen gehen solle. Aber das vermochte er nicht, das nicht.

Er entschied sich für Potsdam. Und die Königin sollte ihn begleiten. Ob sie in diesen Tagen an seine Seite gehörte – diese Frage wagte er nicht mehr zu stellen, so hoffnungslos war alles in ihm zerstört, was die geliebte Frau betraf. Er wußte nur das eine gewiß, daß er sie nicht in Berlin zurücklassen durfte; denn die Stunde, neue Gegner gegen ihn zu gewinnen, war gut.

Jeden Abend, bis der Aufbruch nach Potsdam endgültig festgesetzt wurde, nahmen Mutter und Tochter voneinander Abschied. Der König wußte und duldete es. Denn ein Grumbkow sollte sich nicht anmaßen dürfen, er habe auf ein so respektloses Wort von ihm gehört, wie der Minister es auszusprechen wagte, als der König Kattes Schattulle nichts als Nichtigkeiten entnahm.

»Majestät«, hatte Grumbkow gesagt, »diese Teufelsweiber sind klüger als die Schlangen. Sie haben uns betrogen.«

Was hieß das: Uns? So fragte sich der Herr. Wer war hier noch neben (Dem König von Preußen)?

Manchmal war in dem als feist verschrienen Gesicht des Potsdamer Korporals und Werderschen Ziegeleibesitzers Friedrich Wilhelm von Hohenzollern ein Anflug von Hochmut, der Fürsten erstarren lassen konnte, wollten sie sich getrauen, ihn in solchem Augenblick anzureden.

 

Der Auftrag, den Präsident von Creutz vom König von Preußen bezüglich des Kronprinzen erhalten hatte, erwies sich nun doch als ungleich größer und lohnender, als es in den einleitenden Anordnungen für den Verkauf der kronprinzlichen Bibliothek den Anschein gehabt hatte. Ein Objekt von drei- bis fünftausend Talern und des Präsidenten der Generalrechenkammer nicht würdig, eine Sache allenfalls für einen seiner Fiskale – so war es dem großen Herrn im Anfang erschienen. Auf den beschlagnahmten Büchern des Kronprinzen sollte Creutz das in Goldschrift eingeprägte »F« tilgen lassen und die gesamte Bibliothek dem preußischen Residenten in Hamburg zum Verkauf anbieten; denn der war ein rechter Büchernarr und hatte immer andere Büchernarren zum Tauschen und Handeln an der Hand. Die Herkunft der Bücher durfte niemand erfahren.

Als nächstes sollten aber nun auch die Diener des Prinzen entlassen und seine Wagen und Pferde verkauft werden. Dem Kavallerieregiment, dessen Oberst er seit drei Jahren war, wurde gleichzeitig kundgetan, »daß es sollte heißen des Prinzen August Wilhelm Regiment«. Und so kam Herr von Creutz sehr bald zu der Vermutung, daß er wohl die völlige Enteignung und Enterbung des Kronprinzen durchzuführen haben würde. Alle Ordern, die aus Potsdam an ihn gelangten, zielten nur in dieser einen Richtung; und allmählich begann die gesamte engere und weitere Umgebung des Königs diesen Akt in der Tat zu befürchten. Solche Aufgabe, die Enterbung und Enteignung des Kronprinzen von Preußen vorzunehmen, war nun allerdings dem Amt eines Obergeneralfiskals und Rechnungskammerpräsidenten schon angemessener. Gewiß, es standen keine imponierenden Summen und Sachwerte auf dem Spiel. Aber der Obergeneralfiskal begriff sehr rasch und scharf, zugleich aber auch voller Leidenschaft und zehrender Unruhe das Neue des Werkes, das nun in seine Hände gegeben war: er sollte Thron und Krone eines Königssohnes vernichten. Dies aber war ihm immer als das Letzte und Schwerste, das Lockendste und das Geheimnisvollste erschienen: das Gold eines Thrones und einer Krone in Händen zu halten.

Nun war solches Gold ihm ausgeliefert. Nun hatte er es gepackt, er, dessen Aufstieg am preußischen Hofe damit begann, daß er den Goldmacher des ersten Königs in einem Mantel von Rauschgold an den Galgen brachte. Und das war damals zu Küstrin geschehen, wo heut der Königssohn gefangen lag, dessen goldene Krone er zerbrechen helfen sollte. Daran dachte er jetzt oft des Nachts, wenn er als der letzte, der wachte, durch seine Säle und Kammern ging und bei dem Scheine einer einzigen, ängstlich abgedunkelten Kerze die Schlösser und Siegel überprüfte, hinter denen sein Gold verborgen und verwahrt lag.

Es waren die gleichen Nächte, in denen der König sich über der Bibel zermarterte und immer wieder nur auf das eine Wort stieß: »Sage dem König und der Königin: ›Setzt euch herunter; denn die Krone der Herrlichkeit ist euch von eurem Haupt gefallen.‹« Und in der Rede Gottes zum Propheten Samuel fand er das Königtum von Gott befehdet.

 

Als die Kunde von der geplanten Enterbung des Kronprinzen auch nach Dessau gedrungen war, hielt Fürst Leopold die Stunde für gekommen, sich nicht mehr wie bisher zurückzuhalten. Als er nun hervortrat, ging er genau den umgekehrten Weg, wie alle anderen ihn beschritten hatten. So hatte er es in allen Stücken gehalten: er war stolz und allein und ohne alle Partei und dennoch, ob es um Preußen oder das Reich ging, von keiner zu umgehen und keiner entbehrlich. Die anderen redeten jetzt mit allen von allem und mieden, als hätte es ihnen plötzlich hier die Sprache verschlagen und die Füße gelähmt, die vom Unglück Getroffenen: den König; die Königin; die Kattesche Familie. Man war allgemein ratlos, zu welcher Partei man sich schlagen solle.

Der Fürst von Anhalt-Dessau redete mit niemand und von gar nichts, kam zum König und – jeden alten Vorbehalt beiseite stellend – auch zur Königin und zu den Katte-Wartenslebens, versagte jeglicher Partei die Anerkennung, fragte nicht nach Freund und Feind und wußte, daß er nur so dem unglücklichen Freunde zu helfen vermochte.

Mit einer Beharrlichkeit, die sich durch nichts beirren ließ, suchte er jedes Gespräch mit dem König über den Kronprinzen in ein Bereich abzudrängen, in dem allein das Leid der Eltern um den Sohn galt, die Frage aber nicht aufzutauchen vermochte, wie der König von Preußen an dem jungen Obersten Friedrich von Hohenzollern zu handeln habe. Der Generalissimus der preußischen Armee wollte von gar nichts anderem wissen, als daß hier die Sache zweier Söhne, nicht aber die zweier Offiziere ausgemacht werde.

Am schwersten war es vielleicht, wenn er den König bei seinem Regimente fand; denn der Herr hielt wieder alles wie sonst, nur daß er sehr unregelmäßig zur Tabagie kam. Täglich besuchte der Fürst den König auf der Wachtparade, bewunderte die immer peinlicher durchgearbeitete Präzision, die Vollendung der militärischen Ordnung, die Herrlichkeit im Anblick solchen Gleichmaßes. Aber der König sah düster auf das Götterheer, und schwer ging sein Blick über die ebenmäßigen Wogen des Glanzes hin, die Waffen und steilen, silbernen Helme.

»Was ist die Ordnung und der Gehorsam aller Regimenter«, sagte der König, »gegen den Ungehorsam des Einen und vor der Unordnung, die durch ihn angerichtet wurde –«

Seine Blicke wurden irre; und Schaum stand vor seinem Munde.

»Er ist immerhin Ihr Sohn«, mahnte der Fürst und senkte seine hellen Augen zur Erde, die den eigenen Sohn schon barg, »und Blut vom Blute Eurer Majestät –«

»Was das Blut betrifft –« erwiderte der König. Doch vermochte er nicht weiterzusprechen. Er wies nur mit dem Finger auf seinen Arm, wie wenn man ihm zur Ader lassen sollte.

Er hatte den schwachen Vater verurteilt, als er noch Sohn war. Er verfluchte nun als Vater den verräterischen Sohn. Er verdammte sich selbst im Geschlecht, denn Könige vermögen nur im Gedanken an das Geschlecht zu bestehen. Er stieg in Tiefen der Buße hinab, in denen dem Menschen nicht mehr gut ist, zu leben – unmöglich aber dem König, zu herrschen!

 

Nichts war dem König unerträglicher, als wenn er das, was geschehen war, als einen Jugendstreich hingestellt sah oder als wenn man den Vergleich mit Spannungen an anderen Fürstenhöfen zog. Schließlich, hieß es, sei ja gerade der Prinz von Wales schon einmal auf der heimlichen Reise nach – Berlin gewesen. Den König peinigten alle solche Vergleiche. Die Dinge mochten manchmal fast dieselben sein; aber was aus ihnen sprach, war zu verschieden, als daß ein solcher Hinweis für den König einen Trost und eine Beschwichtigung erhalten konnte. Die Verwundung seines Herzens war zu tief. Seine Gedanken waren zu umdüstert. Das Gericht, das er halten sollte, hatte zu ungeheuerliche Formen in ihm angenommen. Aber was es war, das ihn so entsetzlich traf, vermochte er nicht zu nennen; und das alte Leid seines Lebens brach wieder hervor: das Bild zu sehen und den Sinn nicht erfassen zu können. Das Unaussprechliche war sein Geschick geworden. Immer hatten die mühevollsten Gedanken nur eine kleine Richtigkeit in sich, und das Eigentliche stand unerreichbar, unbegreifbar und unnahbar hinter ihnen.

Alle benennbare Klage und Unbill berührte kaum den Saum seiner Trauer.

»Ich weiß wohl«, sprach der König, »alle Welt will mich als Tyrannen hinstellen, und der Gefangene hat es in ganz Europa auszusprengen gesucht.«

Ältere Leute, die lange an fremden Höfen gelebt hatten, zogen die Möglichkeit in Betracht, der König könne den Gefangenen auf der Feste seiner Verbannung vergiften oder erdrosseln lassen. Sehr ernsthaft sprachen sie von dieser Möglichkeit.

An Friedrichs nicht mehr gar so geheime Beziehungen zu den fremden Staaten klammerte sich der König mit Ingrimm; er tat es um so beharrlicher, je weniger dokumentenmäßig nachgewiesen werden konnte. Er übertrieb sie, um den Fluchtplan des Sohnes mit Hochverrat zu verquicken. Er suchte nach Kapitalverbrechen, weil es für das Verbrechen, das in Wirklichkeit geschehen war, keinen Namen gab: den Hochverrat, der an seinem Herzen verübt worden war.

Wie gehetzt suchte er nach dem schweren und einzigartigen Verbrechen, in dem endlich alle Quälereien, Enttäuschungen, Verrate des Herzens, Hintergehungen, Bloßstellungen, Auflehnungen, Verspottungen wurzelten, die er Jahre hindurch erduldet hatte. Er suchte nach der zermalmenden, allen Widerspruch – auch den des eigenen Herzens – dahinfegenden Begründung für das große Gericht, zu dem sein Land ihm überreif geworden schien! Der Königssohn litt nicht mehr nur für die eigene Tat der Unordnung: er trug auch alle Feindschaft und Abkehr, die im Lande gegen den König am Werk war, er trug sie als der erste aller Widersacher und Abtrünnigen. Es auszudenken, vermochte jener König nicht, der Gesetz und Lehre nur in den Furchen der Äcker, den Reihen der Grenadiere, den Straßenzeilen seiner Städte und den Trümmern seiner Kirchen schrieb, seit er die beiden Bücher beendete, wie ein Land zu regieren ist und wie ein König wird. –

All die Gedanken von dem großen Gerichte dachte er nicht. Wieder sah er nur das Bild, wie ihm denn die Gedanken immer nur im Bilde des Vollendeten kamen. Er sah das Bild eines großen Gerichtes, in dem das Weltgericht sich spiegelte, vollzogen und aufgehoben in der Opferung des Sohnes.

 

Niemand hat dem König geraten, seinen Sohn hinrichten zu lassen. Dieser Gedanke ist ihm selbst gekommen. Aber da war kein Zorn in ihm, und er war nur vom Schmerz übermannt.

Und es war die furchtbarste und zugleich schöpferischste Gewalt, die in ihm wirkte, daß er, wo er einen Schatten nur von ferne erblickte, seine volle Wirklichkeit erzwingen mußte. Und es war das Ungeheuerliche und Feierliche seines Lebens in einem: daß er in allem, das ihm widerfuhr, den Sinn ergründen wollte, der von Gott darein gelegt war; daß er in alles, was er zu tun sich entschloß, Gottes Ordnungen zu zwingen begehrte, sein Leben und sein Land allein in ihnen verankernd. Wer aber begonnen hat, den Blick nur noch auf die Ordnungen Gottes zu bannen, dem gehen die engen, schwankenden Maße der Erde darüber verloren, und als maßlos muß er seiner Umwelt oft gelten.

Um die Dämmerung, indes die anderen sich nach seinem Befehl zur Tabaksrunde versammelten, ließ der Herr den Prediger Roloff holen und sagte dem Protestanten alles, was ihm der Erzbischof von Köln über das alte Gottesbild im Dom zu Geldern erzählte. Von seinem Sohne sagte er kein Wort. Doch begehrte er von dem Prediger zu erfahren, wie der Unterschied sei zwischen Prädestination und Fatalismus.

Der Prediger Roloff ahnte wohl, wie schwer der König wieder von Gedanken verwundet war. Der große Abenteurer Europas, Clement, war der erste gewesen, der ihn so verwundet hatte. Gundling, den Narren, nannte der Abenteurer selbst als den zweiten. Nun war der dritte da: der Sohn, der unter seinen neuesten Büchern, den beschlagnahmten und in Hamburg versteigerten, jegliches neue Werk über die Prädestination besaß als eine gar besondere Rüstkammer gegen ›Den König von Preußen‹. Und weil er das wußte, vermochte der Prediger Roloff auch zu ermessen, aus welchen Tiefen des Herzens dem König zu dieser Stunde die Frage kam, wie der Unterschied sei zwischen Prädestination und Fatalismus.

»Wie zwischen Himmel und Hölle, Geist und Fleisch«, antwortete der Prophet und Evangelist des Königs von Preußen, als Lutheraner – wie sein König es forderte – auch den Glauben der Reformierten würdigend, »denn in der Prädestination ist der, welcher alles vorherbestimmt, vorherweiß, fügt, leitet und nach seiner heiligen Ordnung zu Ende führt, der allmächtige Gott. Im Fatalismus aber ist Gott der Herr selbst gar nichts anderes mehr als ein fallender Stein und ein stürzender Bach.«

»Gott aber lenkt die Herzen der Könige wie die Wasserbäche«, schloß der König leise.

Dann senkte er sein gemartertes Haupt auf die Brust und schwieg lange. Das erste, das er danach wieder sprach, war dieses: »Alle reden sie immer nur von der Rache und Strafe, die ich üben werde. Rache und Strafe wären leicht – leicht auch aufzuheben. Aber das Opfer muß sein um der zerstörten Ordnung willen. Warum darf ein König nicht vergeben, wie andere Menschen vergeben dürfen –?!«

Bleich stand Roloff vor dem König. Seine Augen hatten wieder das Feuer, das immer mehr zu wachsen schien von Mal zu Mal, das ihn – von Blutsturz zu Blutsturz – der König sah. Aber Stimme und Sprache des Predigers hatten das Kühle, Abwehrende behalten, als sei ihm die Sprache ein Filter der Nüchternheit für die unfaßlichen Worte Gottes, die er sagen mußte nach seinem Amt und die ihm mehr und mehr zum Wunder wurden. In die letzte Entscheidung, die vor dem König lag, drängte er sich nicht mit blassen Sprüchen einer falschen Milde, die doch das Herz des Königs nicht erreichen konnten. Ehrfurchtsvoll hielt er sich fern von dem Bezirk der letzten Entscheidung, in der Gott einem König Gericht und Gnade in ihrer ganzen Tiefe offenbarte. Und so hatte der König, vor der unerträglichen Härte des calvinistischen Bekenntnisses fliehend, unter den Lutheranern doch wieder nur den Strengsten gesucht, der nur einer Macht gehorchte: Gottes Anrede und Gottes Anspruch.

So nahm der glühende Prophet des Herrn, der immer nur die Seele seines Königs und nie den Sieg im großen Streit der Kirchen um den Herrn des Landes meinte, die Last der schwersten Gedanken nicht von ihm; denn Gottes Schwere brach über den König herein, und keiner vermochte sie von ihm zu wenden. Unbegreiflich schien der Trost, den er dem Geängstigten zusprach, für den er betete und den er nicht aus eigener, menschlicher Klugheit beriet: »Eben auch das, Majestät, daß die Könige nicht vergeben dürfen wie die anderen Menschen, ist unter die Vergebung gestellt.« Der König hört nur den furchtbaren Befehl Gottes heraus, daß das Gericht geschehen müsse. Seine Krone war ihm zur Dornenkrone geworden und sein Zepter zum Kreuz. Und mit all den mühevollen Worten, die er nun noch sprach, verschwieg er nur noch seine letzte Angst: daß Gott sein Königswerk gerichtet hätte in dem Sohn. Er lauschte nicht auf die Fama Europas; bange horchte er auf Gottes Stimme.

War dies Wahrheit, daß Gott ihn selbst in seinem Sohne richtete, dann war Friedrich frei von Schuld. Dann war sein Frevel Bestimmung. Dann war Tat und Schicksal: Prädestination. Dann quälte ihn der Sohn zu Recht mit all den Spitzfindigkeiten von Fatum und Vorherbestimmung, jenen tödlich verwundenden Spitzfindigkeiten, die er als Antwort auf alle Fragen bereit hatte, die ihm in Küstrin im Namen des Königs vorgelegt wurden. Dem Herrn kamen nicht nur Keckheiten des »Coquin« zu Ohren. –

Wenn nun die Septemberabende früh und früher dämmerten, ließ der Herr, als vermöchte er dadurch der Nacht zu entgehen, immer häufiger seinen Schimmel satteln und ritt allein zu dem verlassenen Jagdschloß Wusterhausen hinüber, in dem sich sonst um diese Zeit die Gäste und Pikeure drängten. Er ritt an dürren Wäldern im Herbststurm, an Stoppelfeldern im Nebel vorbei. Vor seinem Schlosse angelangt, hielt er nicht Rast. Das Mondlicht lag in leeren Fensterhöhlen. Dunkel und öde und all seines Lebens beraubt, sah er sein altes Jagdkastell als ein totes Gefüge aus Schatten und Steinen hinter den alten Bäumen, die ihr Laub von der Nacht zum Morgen verloren. Er wandte den Blick von seinem Schloß und ritt zurück in seine Stadt, und es wollte nicht mehr Ruhe werden in dem zergrübelten Kopf und dem wildbewegten Herzen.

Der König sah nur noch einen Ausweg: das Gottesgericht. Von solchem Ausweg schrieb er feierlich dem Freunde: »Wo Krieg wird, soll der böse Mensch mit dem ersten Grenadierunteroffizier aus der Sappe springen zum Rekognoszieren, den Graben und die Galerie zu bauen. Wo er es de bonne grace tut und bleibet, ist völlig Pardon.«

Aber so oft der Krieg nun schon sehr nahe gewesen war: diesmal wurde nicht Krieg.

 

Professor von Gundling sah es nicht gern, daß der Pastor Roloff wieder täglich beim allerhöchsten Herrn aus und ein ging. Professor von Gundling erboste sich darüber, weil doch der König gar so kürzlich erst seine Gnade ihm selbst wieder zugewandt hatte, als er ihm jene wunderschöne Historie zu erzählen wußte, wie ein König sich für seine schuldige Mutter richten ließ, damit seinen eigenen Gesetzen Genüge getan sei.

Die Gespräche des Königs mit dem Prediger schienen dem Professor überflüssig. Sie waren ihm im höchsten Maße ärgerlich. Kehrten denn des Abenteurers Clement Zeiten wieder? Der König brauchte wieder einen Beichtvater! Der König setzte wieder Fragebogen auf! Und damit nur der Vergleich mit des Abenteurers Clement Zeiten recht vollkommen würde, hatte der Prediger Roloff wieder einen Schützling, den er dem König zu empfehlen suchte wie damals den Baron von Rosenau alias Michael Clement! Das war arg.

Aber diesmal glaubte sich der Professor über den neuen Anwärter auf die Gunst des Herrn etwas rascher und gründlicher orientieren zu können; nicht ganz umsonst war jener neue Rivale Christian von Wolff – Freiherr und Professor wie man selbst! – der Kollege von Jakob von Gundlings bürgerlichem Bruder, dem Königlich Preußischen Geheim- und Konsistorialrat des Herzogtumes Magdeburg, Ordentlichem Professor der Rechte, Wohlredenheit und Altertümer auf der Friedrichs-Universität in Halle.

Die gelehrten Brüder Gundling, sonst einander nicht eben wohlgesinnt, hatten ein wenig miteinander korrespondiert und konspiriert. Beiden war Professor von Wolff recht im Wege; dem einen, wenn er in Halle verblieb; dem anderen, wenn er nach Berlin gerufen wurde; besser also, wenn er ganz aus Preußen verschwand; am besten mit Schanden und für immer.

Zettel um Zettel bekritzelnd, hockte Jakob von Gundling über Professor Wolffens Werk, den »Vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt«.

Er schien aber darauf verzichten zu wollen, das Werk dieses Neuen in großer, ruhmreicher, öffentlicher Disputation mit dem ganzen gewaltigen Apparat seiner Gelehrsamkeit zu vernichten. Oh, der große Gundling war gar zu vornehm geworden. Er tat es in der Stille ab. Er fertigte nur ein paar Exzerpte für den König an; ein paar Exzerpte: danach war Prädestination nur eine Verbrämung für Fatalismus. Der Gott, der Taten, Leiden und Geschicke in scheinbarer Willkür vorherbestimmt, dieser Gott eben war selbst das dumpf waltende Fatum: gefangen in seinen eigenen Gesetzen und an die eigenen Kräfte gebunden, unabwendbar und unabänderlich. Nichts wurde getan und alles geschah ohne Maß und Wert und Sinn: Zeugung und Mord, Ordnung und Aufruhr, Dienst und Desertion.

Solche Exzerpte übersandte Gundling dem König als den Auszug aus den Lehren des Professors Christian Freiherrn von Wolff zu Halle, dem der König von Preußen Titel, Sold und Lehrstuhl gab.

Der König, als betrachte er nur alte Kunstwerke in Domen und als befasse er sich lediglich noch mit wissenschaftlichen Kontroversen, las Professor Gundlings Exzerpte, Thesen, Antithesen und Kommentare.

Solche Verwundung, wie sie hier an ihm geschah, war er nicht mehr fähig zu ertragen.

Professor von Wolff wurde aus Halle verbannt und seines Amtes entsetzt. Professor Gundling pries das Fatum, das in den gleichen Tagen den lungenkranken Pastor Roloff Blut spucken ließ. Man muß nur seine Stunde kennen, wenn Zeit und Ewigkeit für einen König dieser Erde durcheinander geraten! dachte Gundling. So leicht hatte er sich den Kampf gegen Wolff nun doch nicht vorgestellt, daß nur drei Worte den Rivalen schon zu vernichten imstande waren: Prädestination. Fatum. Desertion.

Der Philosoph war verjagt. Frederic le »pfilosophe« saß gefangen. Da war im Lande Preußen gute Zeit für Narren.

 

Von nun an bezeichnete der König in aller Öffentlichkeit die Tat seines Sohnes als Desertion. Aber er verhängte die Strafe noch nicht.

Nur nannte er seinen Sohn auch offiziell nicht mehr Kronprinz, sondern Prinz Friedrich oder Des Königs Sohn Friedrich und Oberst Fritz.

»Der Oberst Fritz hat desertieren wollen.«

Das lag beim König nun als Formel fest.

Der Oberst Fritz gehörte demnach vor ein Kriegsgericht. Ehe der neue Monat begann, ordnete der König formell ein Gericht über den Deserteur an. Aber erst einen Monat darauf setzte er es ein und ernannte zum Vorsitzenden den Generalleutnant Graf Achim von Schulenburg, den Getreuen im Aufruhr der Junker; Schulenburg, der sein Regiment mit Gesangbuch und Neuem Testament für jeden Offizier und Mann als einem neuen Rüstzeug für den preußischen Soldaten beschenkte; Schulenburg, der einst den ersten Kronprinzen von Preußen, Friedrich Wilhelm, vor dem Anfall eines Hirsches bewahrte und ein Auge für ihn hingab. Ihm, dem Wundenträger von Stralsund, und dem Kriegsgerichte überwies der König gleichzeitig die Mitschuldigen des Prinzen zur Aburteilung und stellte für die Beratungen sein väterliches Schloß Köpenick, das Haus seiner frühesten Kindheit, zur Verfügung.

Da kam Friedrichs Anerbieten, seinen Rechten zu entsagen. Der König nahm es nicht an. Glaubte er in nichts mehr an die Ehrlichkeit seines Sohnes? Befürchtete er für die Zeit nach seinem eigenen Tode Staatsumwälzungen und Wirren? Sagte er sich, daß Friedrich ohne geistigen Vorbehalt nicht auf sein Erbrecht verzichten und daß sein kleiner, zarter, sanfter Hulla, wenn er nun König wurde an des ersten Sohnes Statt, einen gefährlichen Gegner an Friedrich haben würde? – Zweifelte er überhaupt an der Möglichkeit, sein zarter Kleiner vermöchte je ein König zu werden – war er in Wirklichkeit ohne Söhne?! Und vor allem: was hatte ein Deserteur noch mit dem Verzichte auf Thronfolgerrechte zu schaffen?

Da erwog der König gar nicht mehr, daß Friedrichs Verzicht auch nur nach feierlicher Bestätigung durch das Reich Gültigkeit erlangt hätte. Er hätte darum einkommen müssen, und das war ein langwieriges und in seinem Ausgang ungewisses Verfahren. An Feinden unter den deutschen Fürsten fehlte es dem König nicht; und er ahnte, daß man unter hundert schönen Verbrämungen schließlich doch nur über ihn selbst zu Gericht sitzen würde. Was hatte er nach alledem noch zu fragen?!

Tag um Tag und Nacht um Nacht las der König in der Bibel von Gottvater und dem Menschensohn, den er mit der Schuld der Welt belud, von Abraham und Isaak; von König Davids Klage über Absalom, den Aufrührer; von der Verheißung über alle Erstgeburt; von Krone und Dornenkrone; von Gottes Richterstuhl und den Thronen der Könige.

Es war des Königs Art, die Stellen der Heiligen Schrift, die ihn am tiefsten berührten, mit einem scharfen Eindruck seines Daumennagels zu bezeichnen. In diesen Tagen war die Bibel von seinem starken Finger wie zerschnitten, und wie Kreuze zerrissen seine Male die Worte der Schrift.

»Und zur Mitternacht schlug der Herr alle Erstgeburt in Ägyptenland von dem ersten Sohn Pharaos an, der auf seinem Stuhle saß, bis auf den ersten Sohn des Gefangenen im Gefängnis, und alle Erstgeburt des Viehs –«

»Durch den Glauben opferte Abraham den Isaak, da er versucht ward, und gab dahin den Eingeborenen und dachte: Gott kann auch wohl von den Toten erwecken –«

»Mein Sohn Absalom! Mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!«

Dann versank er in der Karfreitagsgeschichte. Er wollte das Alte Testament nicht mehr lesen. Er glaubte, nun vermöchte er das Neue Testament nicht mehr zu bewältigen und von ihm sich loszulösen.

Der König las in der Bibel, doch betete er nicht.

Es war, als würde er gepeinigt. Es war, als würde er gerichtet; und nicht Des Königs Sohn Friedrich.

 

Zwei Tage lang, den 25. und 26. Oktober, hörte das Kriegsgericht die Verlesung der Untersuchungsakten an.

In kurzen Pausen privaten Meinungsaustausches standen und gingen die Offiziere in kleinen Gruppen auf der schmalen Halbinsel, die der Schloßpark von Köpenick zwischen den Armen der Spree und der Dahme bildete. In weitem Halbrund schimmerte das herbstlich bewegte, kühle, klare Wasser der Flüsse durch die entlaubten alten Bäume. Vor dem Gittertor, das die Schloßbrücke am Graben von der Schloßfreiheit abtrennte, stauten sich die Menschen des kleinen Marktfleckens; sie verharrten auch dann noch, als die Fenster des Schlosses sich zu der spätabendlichen Fortführung der Sitzungen erhellten. Manche waren auch eigens von Berlin herausgekommen, und die Wagen drängten sich im Hofe der Posthalterei und vor dem Wirtshaus.

Aber die Grenadiere am Gittertor gaben keinerlei Auskunft, wer da droben im alten Kurfürstenschlosse weile, wie lange man heute dem Vermuten nach wohl konferieren werde und ob der König selbst zugegen sei oder nicht.

Der König war nicht zugegen.

Und die droben tagten, waren die Besten der Armee: Kapitäne, Majore, Oberstleutnants, Obersten und Generalmajore – Alter und Jugend. Wie der König einst Des Königs Sohn Friedrich nur die Klügsten, Gebildetsten, Redlichsten unter den jungen Offizieren seines Leibregiments zu Gouverneuren und Gesellschaftern gab, so wählte er auch nur die, deren Ansehen unbestritten war vor aller Welt, zu Richtern über Oberst Fritz.

Am 27. Oktober fällten die fünf Rangklassen, die Kapitäne, Majore, Oberstleutnants, Obersten und Generalmajore, jede ihren Spruch.

Was den Kronprinzen betraf, so stimmten sie alle ziemlich mit dem Urteil der Majore überein: »daß es Sachen sind, so zwischen Vater und Sohn passieret«. Sie betonten die inzwischen ausgesprochene Unterwerfung und das Besserungsgelöbnis des Prinzen und erklärten sich für unzuständig. Es komme der väterlichen Gewalt und königlichen Autorität zu, den Sohn väterlich und als König zu strafen. Durch einen Richterspruch würde ein Eingriff in solche zwiefache Autorität geschehen. Kein Offizier, Vasall noch Untertan sei über seines Königs Sohn ein Urteil zu sprechen befugt, und ein solches sei auch ungültig.

Sie hatten Preußens Sache mit preußischen Argumenten durchzufechten. Das protestantische Ausland griff nicht ein, das Unheil abzuwenden, das über dem »Kronprinzen in Preußen« schwebte. Das Reich verfocht nicht das Recht – es ging um das Lebensrecht! – des Kurprinzen von Brandenburg.

Dabei sprach Europa ein paar Wochen lang von nichts weiter als von den Grausamkeiten des Königs von Preußen.

Die Generalstaaten, Schweden und Sachsen schrieben höchstens einige Briefe, in denen sie pro forma für den unglücklichen Königssohn eintraten. Die Protestanten redeten auch noch einmal aus England sehr beweglich, als sei der Preußenkönig ein Schänder ihres Glaubens. Aber der schwedische Gesandte, der den Brief seines Hofes seit August bei sich liegen hatte, wagte ihn einen Monat lang dem König überhaupt nicht zuzustellen, und der kaiserliche Hof hatte es mit seiner Stellungnahme noch weniger eilig. Erst viele Wochen nach der Gefangennahme des Prinzen ließ er den Kurfürsten von Brandenburg fragen, ob es ihm genehm wäre, wenn er zwischen ihm und seinem Sohne zu vermitteln suche; er könne das Schicksal eines so hervorragenden Gliedes des Reiches nicht gleichgültig ansehen.

So blieb nur Preußens Recht und Preußens Glaube.

Die Preußen aber mußten die Rechtsprechung allein dem Vater und König überlassen, und der Herr blieb mit der größten Not beladen, Vater, König und Richter in einem zu sein. Auch die Getreuen vermochten ihm nicht zu helfen. Der präsidierende Generalleutnant Graf Achim von Schulenburg erkannte auf Todesstrafe für den flüchtigen Leutnant Keith und auf Inkompetenz gegenüber dem Thronfolger. Bei dem Leutnant von Ingersleben, der Katte mit Urlaubsvermittlung und Aufnahme behilflich sein wollte, stimmte er sechsmonatigem Kerker zu, unter Abrechnung der verbüßten Haft. Für den Leutnant von Spaan, der in Leipzig einen Wagen bestellte und in Ansbach um den Fluchtplan wußte, erkannte er auf Kassation und dreijährige Haft.

Der Kronprinz hatte also ohne alle Frage einen Anhang unter den jüngeren Offizieren. Aber der Leutnant von Katte unterschied sich nicht von diesen allen; es sei denn, daß ihn einst das besondere Vertrauen des Königs in die Nähe des Thronfolgers berief; es sei denn, daß es ein größerer Frevel war, Bücher über die Prädestination als Reitpferde zu beschaffen ... Kattes Leben – nun, wo ihm die Gleichzahl verdammender und verzeihender Stimmen vorlag – war in Achim von Schulenburgs reine, treue und tapfere Hände gegeben. Er rettete es, wenn er sich für ewige Haft entschied.

Dieser Abschnitt seines Votums war ebenso lang wie alle anderen Punkte zusammen.

»So kann ich«, schloß er, »nach meinem besten Wissen und Gewissen, auch dem teuer geleisteten Richtereide gemäß, den Katte mit keiner Lebensstrafe, sondern mit ewigem Gefängnis zu belegen mich entschließen.«

 

Den Sohn freisprechen, hieß den Vater verurteilen. Den Sohn verurteilen, hieß den Vater vernichten.

Die Offiziere auf der Halbinsel von Köpenick redeten von Retirade, Echappade, Absentierung des Thronfolgers. Die Todsünde, die er beging, war nur in das Herz des Vaters eingegraben. Niemand als er konnte sie wissen; er aber vermochte nicht, sie sich bewußt zu machen.

Sie suchten dem König die Schwere seines zwiefachen Richteramtes zu erleichtern. Sie griffen seinem Spruche mit geschickter, zarter Hand vor. Sie suchten die Gnade durch Betonung der Unterwerfung und der Reue des Schuldigen zu erzwingen. In der Urteilsbegründung gaben sie dem Prinzen seine Ehrenrechte wieder: den Titel Hoheit, den der König durchgestrichen hatte; den Rang als Kronprinz, den er ihm nahm. Sie gaben ihrem König zu verstehen, daß ihre angestammte Treue sich nicht nur auf seine Person, sondern auf sein ganzes Haus erstrecke.

Er aber in der Tiefe seiner Buße verfluchte sich selbst im Geschlecht. Der König hatte sich in seinen Offizieren die Männer erzogen, deren ›Der König von Preußen‹ bedurfte. Der Präsident des Kriegsgerichtes, der siebzig Jahre alte Schulenburg, von den Menschen nichts mehr fürchtend und erhoffend, legte die Stimme der Weisheit in die Urne. Die Richter von Köpenick sprachen wahrhaft Recht. Aber sie vermochten jene Wandlung nicht zu ahnen, die im König vor sich gegangen war: daß er mehr das Opfer denn die Strafe meinte; das Opfer für sein verderbtes, gottloses Land; daß er den heiligen und unabänderlichen Ordnungen Gottes genügen wollte, für die alle Königreiche der Erde nur ein Bild und Gleichnis sind.

»Durch den Glauben« opferte er den Sohn, »da er versucht ward, und gab dahin den Eingeborenen und dachte: Gott kann auch wohl von den Toten erwecken.«

 

Der König, der vor Gottes Richterstuhl stand, wollte es nicht, daß man ihm seinen Richterspruch erleichtere.

Was er in Händen hielt – das konnte nicht die Lösung, die Ausrottung, den Abschluß und die Tilgung alles dessen bedeuten, was sich so schwere Jahre hindurch in ihm alles aufgestaut hatte an Trauer, Enttäuschung und Zorn, an Grübelei und Selbstverdammung.

»Sie sollen rechtsprechen und nit mit dem Flederwisch darüber gehen«, schrieb Friedrich Wilhelm beim Empfang des Schriftstücks an den Rand des Urteils. »Es soll das Krieges Gerichte wieder zusammenkommen und anders sprechen.«

Wenige Tage darauf gab er die Auslegung für diesen Befehl. Er habe geglaubt, »er hätte ehrliche und solche Leute erwählet, so ihre Pflicht nicht vergäßen, die aufgehende Sonne nicht anbeteten und bei dem Kriegsrecht allein ihr Gewissen und die Ehre des Königs beobachten würden. Er wünsche schärfer hervortreten zu lassen, daß Seine Königliche Majestät zu dem, was geschehen, Ursache gehabt und Recht getan – es möchten sonst zehn wohl dem König recht geben, aber auch zehn und wohl mehr dem Kronprinzen.«

Daß keine Befreiung und Lösung gefunden war, reizte sein Mißtrauen, stieß ihn weiter in seine Schwermut zurück und ließ ihn in das immer tiefere Unrecht immer ärgerer Beleidigungen und Verdächtigungen fallen; und weil er das Eigentliche nicht zu nennen vermochte, suchte er hundert geringe Namen für das Leid und die Angst angesichts der Unabsehbarkeit und Ergebnislosigkeit dieses seines schwersten Kampfes.

Er verleumdete das Urteil als »eine gegen ihn bewiesene Untreue, deren Grund kein anderer sein könne, als daß sie schon auf die künftigen Zeiten sähen. Nun lerne er diese Leute besser kennen, versichere aber, es werde sich Gelegenheit finden, alle diejenigen zu zernichten, die es mit seinen Kindern gegen ihn halten wollten.«

Und in dem Wort von »seinen Kindern« lag, daß er um des Verrates willen, der an seinem Herzen geschehen war, auch seine älteste Tochter vors Kriegsgericht hätte gestellt wissen wollen.

Er fühlte sich sehr verlassen; und sein geheimer Schmerz, sich immer mehr im Unrecht zu sehen, war unbezwingbar.

Die Order des Königs wurde Schulenburg geschickt. Der verriet nun, daß er viel von seinem Herrn begriffen hatte; begriffen in den Jahren, seit er in dem Kampf des Königs mit den Landständen sich als einziger auf die Seite des Bauernkönigs schlug und alle Freundschaft und Verwandtschaft um des Herrn willen verlor; begriffen in den Jahren, in denen er dem König im Heer Ordensregeln statt eines Dienstreglements für Söldner durchsetzen half.

Achim von Schulenburg nahm das ungerechte Blatt, wendete es um und schrieb für seinen König eben jene Bibelworte darauf, unter denen der König, vor allen verborgen, in diesen bitteren Tagen so namenlos litt. Gleichzeitig rief Graf Schulenburg das Kriegsgericht auf Befehl des Königs am 31. Oktober ein zweites Mal zusammen.

Aber König Friedrich Wilhelm hatte nun die Offiziere, die er sich einst ersehnte: sie änderten ihre Meinung nicht. Sie blieben fest und gingen über die Marginalien und Zettel ihres Königs hinweg. Der las an diesem Tag die Bibelsprüche, die der Treueste ihm aufgeschrieben hatte. Er las sie auch noch einmal spät am Abend, obwohl er seit Wochen gar nichts anderes im Herzen trug als sie. Aber etwas an ihnen war nun völlig neu geworden: sie standen gegen ihn auf. Sie bestätigten ihn nicht im Gericht.

Gott wollte das Opfer nicht. Gott gab ihm kein Recht dazu, in eigener Tat zu sühnen. Der Erstgeborene gehörte ihm, dem Vater, nicht: er war von Gott als der künftige König gezeichnet. Und im Tode der beiden ersten Söhne war die Erwählung besiegelt.

Dem Gericht des Königs und der Notwendigkeit, das Gesetz der unabänderlichen Ordnung in seinem Lande zu behaupten, war nur der andere ausgeliefert: Katte. Der allein war noch der Träger des Gerichtes. Nur an ihn war die Rebellion noch geheftet. Sein Sohn war dem König genommen, und nur das Landeskind war ihm gegeben. Und wieder offenbarte sich in allem Königsleid und aller Königstat das Gleichnis. Wieder erfuhr und erlitt der König das Widerspiel von Erwählung und Verwerfung, das über dem ersten Opfer Kains und Abels schon waltete.

Gott wollte sein Opfer nicht. Der König fühlte sich gerichtet, nicht begnadigt; und dennoch blieb ihm der Zwang auferlegt, Hüter der Ordnung zu sein! Er mußte auch fernerhin richten, wo er sich gerichtet sah, denn er hatte eingreifen wollen in die Rechte des Ewigen und hatte einen Menschen machen wollen nach seinem eigenen Bilde, so wie Gott sprach: »Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.«

Am nächsten Morgen wurde des Königs Sohn Friedrich begnadigt – begnadigt im Gericht des Vaters über sich selbst.

Der Leutnant von Katte wurde zum Tode verurteilt, unter völliger Gleichheit der Stimmen für und wider. Denn der König war dem Kriegsgericht beigetreten, und seine Stimme stand gegen Schulenburgs Votum. Viele Richter, vom Besten in sich getrieben und nach der Fällung ihres Spruches zu Fürbittern geworden, bedrängten den König mit dem Wort der Schrift, daß das Blut dessen, der Menschenblut vergießt, wieder durch Menschen soll vergossen werden, und nannten den König den Herrn über Leben und Tod, als sei er wie Gott. Sie wußten, wie er sich vor der Unterzeichnung jedes Todesurteils zermarterte.

Dem harten Richter schwindelte, als er, von den Gleichnissen zerquält und von der Schwere der Bilder bedrängt, die nun als Wirklichkeit aus seinem Leben hervorgebrochen waren, das letzte, unergründlichste und unerträglichste vor sich aufsteigen sah: das Bild des stellvertretenden Leidens, das er für die verletzte Ordnung forderte wie der heilige, unwandelbare Gott. Ihn schauerte davor, ein König zu sein und das Gleichnis Gottes aufrichten zu müssen, richtend und fordernd, indes er immer mehr zum Büßer wurde und tiefer als sein ärmster Gefangener gebeugt war unter Gottes Gericht. Denn Könige müssen schwerer sündigen als andere Menschen.

Er lebte nur noch im Bilde. Sein Herz war tot in Angst vor dem Dunkel, in dem Gott sich verbarg; der verborgene Gott, der keine andere Offenbarung von sich zuließ als das Kreuz – er, der König aller Könige, von dem geschrieben und gesungen ist: »Es danken dir, Herr, alle Könige auf Erden, daß sie hören das Wort deines Mundes«.

 

Als wende Gott sich von ihm ab, als hülle sich Gott für ihn in immer tieferes Dunkel, so hart traf den König der Tod des Predigers Roloff. Auch darin glaubte er Gottes Gericht zu erfahren. Der Prophet kam nicht mehr zum König. Der Schwindsüchtige hatte nur noch gelebt, um den König mit schwersten Worten der Schrift in seine bitterste Stunde zu geleiten, in der er selber Träger des Gleichnisses war und keiner mehr in Gleichnissen zu ihm sprach.

»Es hat euch noch keine denn menschliche Versuchung betreten, aber Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr's könnet ertragen.« Mit dem Apostelworte war der Prophet vom König geschieden und hatte es ihm als Vermächtnis hinterlassen.

Seltsam war das Grabmal, das der König seinem Propheten und Evangelisten setzte.

Der Tote war der Propst von Sankt Peter gewesen. An diese seine große Kirche hatte der König ihn aus einer kleinen Kirche geholt, und keine seiner Ehren war von ihm genommen worden, obwohl er doch den Abenteurer Clement im Pfarrhaus von Sankt Peter beherbergt hatte –.

Der gewaltige Turmbau von Sankt Peter war, vom Blitz getroffen, niedergebrannt, als der König mit dem Thronfolger auf jene Fürstenfahrt ging, von der sie als Richter und Gefangener wiederkehrten. Das Letzte, was der Herr im Aufbrach von seiner Hauptstadt sah, war das schwelende, zerstürzende Gebälk des Turmbaus von Sankt Peter gewesen.

An dem Tage, an dem ihm der Prophet genommen wurde und an dem er seinen Richterspruch über Katte gefällt hatte, befahl er, den Turmbau wieder neu zu errichten; er setzte den General von Linger zum besonderen Baukommissar ein und trug ihm auf, »daß der Petriturm so hoch und womöglich noch höher als der Münsterturm zu Straßburg gebaut werden sollte«.

Dreißigtausend Taler wies er für den Turmbau an.

Der höchste Turm Europas sollte hier errichtet sein; und unverzüglich sollte mit dem Werk begonnen werden, obwohl das Jahr zur Neige ging. In den Novembernebel ragten die Gerüste; in schweren Wolken senkte sich der Himmel auf sie nieder. Der König sah und sah und dachte nicht.

 

In all diesen Wochen kam sich natürlich jeder überaus wichtig vor, der etwas Neues über Küstrin zu melden hatte. Leider überschnitten sich aber die widersprechendsten Gerüchte. So hieß es, der Gefangene sei schwer erkrankt und gehe dem Tode entgegen, und Seckendorffs und Grumbkows dunkle Pläne, vom König gebilligt, würden alle zur Erfüllung kommen. Um Grumbkow begann man zu munkeln, er wolle jetzt Herr der Situation werden und sich des Kronprinzen entledigen, weil er wegen der gescheiterten britischen Pläne seine Rache befürchten müsse.

Seckendorff und Grumbkow glaubten vorauszusehen, daß Friedrich heil aus der Gefahr hervorgehen werde, in die sie ihn mit hineingestürzt hatten. Sie dachten bereits an die Zukunft und gingen so weit, die Rolle von Versöhnern und Werkzeugen der Gnade für sich vorzubereiten. Grumbkow pries sich glücklich, nicht an der Reise teilgenommen zu haben, so bedenklich ihm zuerst sein Ausschluß aus der Suite des Königs erschienen war.

Seckendorff, der biedere Pächter, Soldat und Protestant, ging während der Krisis wieder auf sein Gut, um von Schloß Meuselwitz aus den unbeteiligten, harmlosen Zuschauer zu spielen. Grumbkow behauptete entgegen allen Küstriner Krankheitsgerüchten, der Kronprinz sei sehr wohl und munter; er sei noch immer ebenso dreist. Wenn er den ganzen Tag im Bett bleibe, so geschehe es, weil er sich die Mühe des Ankleidens sparen wolle; es lohne ja nicht in Küstrin.

Grumbkow schien nach wie vor aus aller Welt und aus Küstrin am besten informiert zu sein. Jedenfalls gab er Stimmung und Zustand des Prinzen am richtigsten wieder.

Wenn man Friedrich vorhielt, seine Ausgaben seien auf acht Groschen beschränkt worden, so antwortete er: Wenn er hungern müsse, so wäre es ihm ebenso recht in Küstrin wie in Potsdam. Der Vater wollte eine öffentliche Erklärung abgeben und bereitete ein Manifest an die Mächte vor. Das gab Friedrich einen Rückhalt. Der Vater fühlte sich nicht sicher! Und doch wohl nur, um sich zu stellen, als ob er die öffentliche Meinung nicht scheue, aber vielleicht auch, um diese öffentliche Meinung überhaupt erst herauszubekommen, gestattete der König wieder die verbotenen Berliner und Hamburger Zeitungen?! Schließlich war der Vater eben nicht in dem Grade, wie er es behauptete, unumschränkter Richter in dieser häuslichen Sache! Er war – was er ja oft genug aus den Mauern des alten Räuberkastells in die Welt gerufen hatte – nicht nur der König von Preußen, sondern auch der Kurfürst von Brandenburg! Und Friedrich war nicht nur der Erbe der preußischen Königskrone, über die sein Vater verfügte, sondern auch eines Kurfürstenhutes, über dem der Kaiser und die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches wachten!

Der Kronprinz glaubte sich nicht mit dem Tode bedroht und konnte, wie gewöhnlich, gefährliche, fatalistische Spöttereien nicht unterdrücken. Er litt vor allem unter Langeweile, aber neue Freunde unter seinen Wachtoffizieren verscheuchten sie ihm ein wenig; ja, ein junger, munterer Hoboist der Küstriner Garnison, Fredersdorff, hatte so ehrliches Mitleid mit dem Königssohn in seinem Arrestlokal, daß er des öfteren unter dem Fenster des gefangenen Prinzen eifrigst auf seiner Oboe blies, damit die Hoheit die Musik nicht ganz entbehre.

Trotz des königlichen Verbotes wurden dem Kronprinzen Bücher zugesteckt; und in seiner Gefangenenstube bei dem Talglicht wurde Friedrichs Freude an den Büchern nur noch größer. Manchmal hatte er sogar Feder und Tinte zur Verfügung und konnte an Prinzessin Wilhelmine schreiben, was immerhin noch ratsamer schien als eine Korrespondenz mit der Königin selbst. Er fühlte sich, trotz aller englischen Tendenzen, gerade durch das Reich vor dem Vater geschützt; und Katte glaubte er bei sich geborgen. Geschah ihm selbst nichts Arges, wie sollte dann Katte eine ungerechtfertigte Härte treffen, ihn, dessen Schuld doch um so vieles geringer war –.

Ganz plötzlich interessierten Berichte über den Küstriner Häftling und etwaige heimliche Briefe von seiner Hand nicht mehr. Er sollte, hieß es, begnadigt sein.

Doch Leutnant Kattes Briefe, sprach es sich herum, atmeten schon die große Angst; Leutnant Kattes Briefe waren schon bettelnde Lebenslust. Denn er in seinem nahen Kerker hörte zu rasch und zu viel und zu genau vom König. Er begann zu ahnen, daß nicht König Ragotin, sondern ›Der König von Preußen‹ ihn gefangen hielt. Er wollte das Leben und wollte nicht mit dem Leben ein paar Modetheorien vom Fatalismus bezahlen, in denen er sich gefiel und mit denen er dem Prinzen helfen wollte, wenn ihm der so unendlich leid getan hatte!

Aber der, den sie mit ihren Spitzfindigkeiten verletzen und verwirren, gegen den sie sich wehren und vor dem sie etwas darstellen wollten, war zu tödlich verwundet, weil er in allem groß sein mußte, auch im Erliegen und Erleiden.

Katte erfuhr von einem Worte des Königs: »Der Leutnant Katte hat nur an meinen Sohn gedacht. Meine Offiziere haben aber an mein Land zu denken; und vornehmlich die, welche ich selbst an die Seite des Thronfolgers berief. Der Leutnant Katte aber hat –«

Ach, was er getan hat – der junge Leutnant sagte es sich in tausend rasenden Gedanken, in Tagen und Nächten –.

Er schrieb an den König. Der schwieg.

Er schickte seinen Vater. Der König sagte zu ihm: »General Katte, stelle Er sich vor, in Seinem Regiment wäre jener Leutnant von Katte –«. Und als der General ihn nichts mehr fragte, ihm nichts mehr klagte; als der Tod des Leutnants von Katte gewiß für ihn war, tröstete der Vater den Vater und sprach von seinem und von dessen Sohn.

Der Älteste der Katteschen Familie, der Marschall von Wartensleben, war allein beim König. Der König sagte ihm alles ohne Vorbehalt, warum die Strafe, die Sühne, das Opfer geschehen und dem Gesetz Genüge getan sein müsse – gerade wo der Erstgeborene aus dem Gericht genommen sei und seinem Vater und Richter nicht gehöre, weil Gott die Könige im Geschlecht erwählt –.

Und wieder brach er in die Klage aus, die sein Gesicht verfallen und seine Stimme verlöschen ließ: daß Könige nicht vergeben dürfen wie die anderen Menschen und daß für sie allein Gottes Sohn die Worte des Gebetes nicht sprach: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!

Im Vorsaal waren die Blicke aller Offiziere auf die Tür geheftet, durch die der Marschall Wartensleben aus den Königszimmern treten mußte. Nun rannen doch die Tränen über sein altes Gesicht.

»Welch einen König haben wir«, sagte er zu denen, die seiner harrten. Und keiner kannte sich mehr aus. Denn es war, als habe der Greis, vom König des Enkels beraubt, die Worte gesprochen: Ecce homo.

 

Zwei Boten mit Briefen sind sich zwischen Tür und Treppe begegnet. Der eine schmuggelte das Billett des Kronprinzen an die älteste Prinzeß ins Schloß ein, als gerade der Erste Sekretär des Königs ein Handschreiben Seiner Majestät zur Beförderung gab. Denn an diesem Tage war der Herr zu einer Sitzung des Generaldirektoriums in Berlin gewesen. Es war am 3. November am Mittag. Der Brief des Kronprinzen datierte vom 1. November.

»Meine liebe Schwester, das Kriegsgericht, welches jetzt zusammentritt, wird mich für einen Ketzer erklären: wenn man nicht in allen Punkten der Meinung der Herren ist, so ist man eben ein Erzketzer. Sie können sich die niedliche Behandlung, die mir bevorsteht, leicht denken. Ich selbst kümmere mich herzlich wenig um die Flüche, die gegen mich geschleudert werden sollen, wenn ich nur weiß, daß meine liebenswürdige Schwester auf meiner Seite steht. Wie werde ich mich freuen, wenn weder Riegel noch Gitter mich weiter hindern, Ihnen meine herzliche Freundschaft auszusprechen! ›Chi ha tempo, ha vita‹, sagen die Italiener, und damit wollen wir uns trösten. Aus Herzensgrunde wünschte ich, nicht brieflich mit Ihnen reden zu müssen und die seligen Tage wieder zu erleben, welche Ihren ›Principe‹ und meine ›Principessa‹ Küsse austauschen sehen. Leben Sie wohl. Der Gefangene.«

Dies war der Brief, den sie ins Schloß zu bringen suchten, während der Erste Sekretär des Königs das Schreiben Seiner Majestät »An den Feldprediger Müller« hinuntertrug:

»Würdiger, lieber Getreuer, Ich kenne Euch zwar nicht, aber Ich habe von Euch viel Gutes gehört, daß Ihr ein frommer rechtschaffener Prediger und Diener des Wortes Gottes seid. Also da Ihr bei Occasion der Execution des Lieutenant Katte Nach Cüstrin kommt, so befehle Ich Euch nach der Execution bei den Cron Prinz zu gehen, mit Ihm zu raisonnieren und Ihm vorzustellen, daß wer Gott verließe, der würde von Ihm wieder verlassen, und wenn Gott einen verließe und seinen Segen abzöge, der Mensch nichts gutes, sondern lauter böses täte. Er möchte in sich gehen, Gott recht von Herzen um Vergebung bitten vor die schwere Sünde, so er begangen und Leute mit verführet, davon einer itzo sein Leib und Leben hätte müssen einbüßen. Wofern Ihr nun den Cron-Prinz zerknirscht findet, sollet Ihr Ihn animieren, auf die Knie mit Euch zu fallen, und auch die Offiziers, die bei Ihm sein, und Gott mit tränenden Hertzen um Vergebung bitten. Ihr müsset aber alles mit guter Art und Vorsicht tun, denn Er ein verschlagener Kopf ist, und müßt Ihr wohl acht geben, ob alles auch mit einer wahren Reue und gebrochenem Herzen geschehe« ...

Vielleicht war in dem gebrochenen und tränenden Herzen des Königs noch eine schwache Hoffnung, daß Gott ihm auch jenes letzte Opfer verwehre und daß auch das Landeskind nicht um des Sohnes willen »itzo sein Leib und Leben müßte einbüßen –«

Zwar sah der König auch dieses Bild schon vollendet: daß Des Königs Sohn Friedrich unter dem Fenster seiner Zelle in dem anderen sich selbst zum Richtplatz geführt werden wußte. Aber warum verfügte er, daß Kattes Fahrt in den Tod, die an einem Tage hätte durchgeführt werden können, mit so verzweiflungsvoller Langsamkeit geschah? Warum verfügte König Friedrich Wilhelm das? Die meisten sagten: Um das Maß der Quälereien voll zu machen. Denn alle hatte das Entsetzen davon gepackt, daß die Hinrichtung nicht in Berlin, sondern in Küstrin vollzogen wurde.

Aber der hier am bängsten wartete, war der König selbst. Sein schweres Wort war ausgesprochen und bestand: »Es ist besser, daß ein Mensch stirbt, als daß die Justiz aus der Welt kommt.«

 

Für den König waren nur noch zwei Menschen auf der Welt: Friedrich und Katte. Aber wie sollten die Gattin, die Kinder, der Hof, die Stadt, das Land, das Reich, Europa es verstehen?! Die anderen Händel der Welt gingen ja weiter, gingen über das Gericht und Gleichnis von Küstrin hinweg ...

Noch zitterten die Königin und die älteste Prinzeß am meisten um ihr eigenes Schicksal. In jedem, der ihnen aus der persönlichen Umgebung des Königs begegnete, sahen sie den Künder des Unheils, den Spion, den Verräter und spielten ihm ihre armseligen Komödien vor. Die Königin schickte ihrer Tochter Schachteln mit Käsegebäck zum Nachtisch zu und versteckte Briefchen darin: »Du bist ein furchtsamer Hase, der sich vor allem erschreckt. Bedenke, daß ich Dir meinen Fluch gebe, wenn Du in etwas, was man von Dir fordert, ohne meinen Willen willigst. Um Zeit zu gewinnen, stelle Dich krank an.«

Die Prinzessin übte sich weiter in Ohnmachtsanfällen. Die Prinzessin lag im Bett, nahm heiße Blechkugeln in die Hände, reichte dem Kammerdiener des Königs danach ihre Rechte, und der fand somit ihr Fieber auch hoch.

Das Elend der Prinzessin galt als so unausdenkbar, daß die Hugenottenkolonie ihr reichliche Geschenke übersandte, als beweise sie dem König an seinem verstoßenen Kinde ihre alte Dankbarkeit!

Keine der Damen glaubte es wagen zu dürfen, daß sie bei der Prinzessin angetroffen würde.

Aber als der Königin Ende November endlich gestattet war, wieder nach Berlin zurückzukehren, und zwar mit ihren kleineren Töchtern, die der Hauptstadt und ihren Gerüchten bis dahin hatten ferngehalten werden sollen, eilte nun Philippine Charlotte ohne alle familienpolitischen Erwägungen sofort zu der ältesten Schwester. Niemand ahnte, daß die muntere Sanssouci, die sich immer nur wünschte, wie die erwachsenen Damen zu sein, nun unter diesen beneideten Damen zu viel belauscht und gar zu viel verstanden hatte. Niemand hatte daher für notwendig gehalten, Prinzessin Sanssouci zu untersagen, daß sie vor der leidenden Schwester die Hinrichtung Kattes erwähne. Noch wußte Wilhelmine nichts.

Die kleine Schwester, zu lebhaft, zu herzvoll, zu wichtigtuerisch, schwatzte alles schon in der ersten Minute heraus.

Nun bedurfte es nicht mehr der gespielten Ohnmacht. Nun waren die heißen Blechkugeln nicht mehr nötig. Die Prinzessin hatte das Bewußtsein verloren. Die Prinzessin lag danach in hohem Fieber. Sie flehte um Bestätigung der Schreckensbotschaft.

Vor dreizehn Tagen, am 9. November, war Katte in Küstrin unter Friedrichs Fenster enthauptet worden.

Der Bruder lag lange im Delirium: das war das Letzte, was man von ihm hörte und nun der Prinzessin melden konnte.

Täglich kam die Königin zu ihrer Tochter und beklagte sich bitter über das Verhalten des Königs während ihrer Potsdamer Leidenszeit. Täglich erschien sie und jagte Wilhelmine einen panischen Schrecken ein. Die Königin war quälerisch. Unablässig war sie wieder nur mit der Fortführung der Heiratsprojekte befaßt: Friedrich geschah ja nichts mehr! Das Gerücht von seiner Begnadigung war ja bestätigt! Seine Haft war schon auf Stadt und Festung ausgedehnt!

Sophie Dorothea, die Welfin, kannte nun wieder ein »Morgen«.

Der Gouverneur von Küstrin gab Des Königs Sohn Friedrich den Degen zurück. Doch das Offiziersportepee blieb noch verwahrt. Die Begnadigung durch den König ging nicht so weit, daß er seinen Sohn wieder in die Armee aufnahm. Einen so schlechten Soldaten wolle er nicht, erklärte der Kriegsherr. Die Posten durften nicht vor dem einstigen Obersten Fritz präsentieren. Die Wache sollte vor ihm das Spiel nicht rühren. Selbst der Gruß des Militärs blieb ihm versagt. Des Königs Sohn Friedrich ging wie ein Toter, den keines Menschen Auge sah, in der Feste Küstrin umher. Er tat, was ihm die anderen befahlen.

Der König hatte die Stadt und Festung für ihn freigegeben: so sollte er also das Arrestlokal verlassen.

Der König versagte ihm noch die Ehren des Offiziers: so sollte er also um sie flehen.

Der König, meinten die Offiziere um Des Königs Sohn Friedrich, müsse erfahren, daß sein Sohn die Strafe und die Gnade recht verstanden habe. Der König von Preußen verfügte also auch in der abgelegenen Oderfestung schon über Offiziere von der neuen Art. Wie anders konnte sonst dem begnadigten Gefangenen in so wirrer, schwerer Stunde ein so treuer Rat gegeben werden.

Dieses eine Mal lag die Partei eines Achim von Schulenburg als die vorderste im Felde; nicht die Kaiserlichen lagen voran; nicht die Britischen. Der Kronprinz bat, worum zu bitten sie ihn hießen. Er wollte wieder in die Armee aufgenommen sein.

Der Vater schrieb noch in der Stunde, in der er den Brief seines Sohnes empfing, seine Antwort: »Der Deserteur hat die Ehre, die Uniform zu tragen, verwirkt.«

Er setzte hinzu: »Überdem ist es auch nicht nötig, daß alle Leute von einem Metier seyndt, in dem der eine zum Soldaten, der andere aber zur Gelehrsamkeit und anderen Sachen appliciert werden muß.«

Der König hatte sein Opfer begriffen, das er im Gericht vergeblich suchte. Der Vater begann sich zu dem Sohn hin zu wandeln, dem Sohn, den er nach seinem Bilde hatte machen wollen, als sei er wie Gott.

Davon war er zu Tode erschrocken: sich zu messen mit Gott und nicht ihm zu dienen!

Noch irrte der Sohn, ein Leichnam und Schatten, im engen Kreise seiner kärglichen Freiheit umher, von fremdem Willen geleitet und erhalten.

Aber der Vater hatte das neue Leben schon begonnen: hin zu dem Sohn, den Gott ihm von den Toten erweckte, so wie der Vater es geglaubt hatte, als es an der Zeit gewesen schien zum Opfer.

»Daher er ihn auch zum Vorbilde wiederbekam –.«

Bei diesem Wort der Schrift schlug der König an diesem Abend seine Bibel zu. Und sein Gebet war nur, Gott möge ihn seine Befehle so wissen lassen, wie ein Soldat die Order seines Königs erhält – Befehl nur für die eine Stunde, aber unabtrennlich, unentbehrlich eingeordnet in den großen Plan des Königswerkes, den niemand weiß als der Schöpfer des Werkes. Auch als er wieder betete, war es ein Bild: Gott möge ihn zu solchem Soldaten-König machen, der gehorcht, dient und vertraut und an dem Willen seines Herrn nicht rüttelt und seinen Plan nicht zu erfragen wagt. Er wollte vor dem König der Könige nur noch sein wie ein Soldat ›Des Königs von Preußen‹ vor dem Potsdamer Obristen, als läge darin die Sühne dafür, daß der Oberst Fritz desertiert war.


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