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Vor Gericht

»Tür auf, Tür zua«, schimpfte die Nelly, als sie so geschwind aus der Krankenstube entwichen war und im Hausflur unten anstatt des erwarteten Bauern den alten Sumser und Hallodri Zausinger antraf. »Tür auf, Tür zua, jawohl, und wer auf sein reichen Herrn paßt, derf an armseligen Bettelmann bedeanen. Daß doch alles überzwerch sei muaß, auf dera gspaßigen Welt!« Und damit reicht sie dem abgerissenen Mandl einen Keil Schwarzbrot.

»Sunst nix? Gar nix drauf heut?« fragt das Mandl mit unheimlicher Fistelstimme und deutet enttäuscht auf sein Stück Brot.

»Nix. Marsch weiter!« kommandiert die Nelly. »Bin nöt aufglegt heut«, und stampert das Mandl zum Haus hinaus.

»Bist so geizig wia dei Bauer«, schimpft die Fistelstimme zurück, und die Nelly haut die Tür zu.

»Wo er nur heut wieder hin is, der Bauer?« sinniert sie. »Und glei zwoaspannig. Und waar dahoam so notwendig. Fragen alle Augenblick vom Gemeindeausschuß. Von wegen dem morgigen Empfang. Ja, i kann nix sagen. Und der Bauer not da, und wia wird er hoamkömma! Sternhagelvoll vielleicht gar.«

Der Kogler aber ist heute nach dem Behördensitz Rettenbach, und die liebe alte Stadt Rettenbach war eingenickt unter der prallen Sommersonne. Einige Häuser, die der ersten Bürger, dann der Pfarrhof und sämtliche Behörden hatten die Jalousien zu und schliefen sogar geradezu. Nichts rührte sich, die Zeit selbst stand still; wenigstens zeigte die Turmuhr eine unmögliche, längst verflossene Stunde an.

Überlaut taten darum Wagengerassel und Hufschlag auf dem Rettenbacher Stadtpflaster, als der Koglerbauer mit seinen zwei glänzenden Rappen durch das Obere Stadttor herein-, die Mühlgasse entlang und über den Marktplatz hinüberpreschte, bis scharf vor den Dußelbräu hin. Zu den Fenstern fuhren blonde und graue Köpfe heraus, unter die schmalen Haustüren traten breite Bäuche und grüne und braune Handwerkerschürzen, beim Dußelbräu liefen Hausknecht und Kellnerin heraus; nur der Pfarrhof und die Behörden schliefen weiter.

Ein jedes könne zwei Maß auf seine Kosten trinken, sagte der Koglerbauer zu Kellnerin und Hausknecht, und dem Siebmacher Mangold, der sich vor seinem Laden geschäftig machte, erteilte er in Mäzenatenlaune mit lautem Zuruf die gleiche Ermächtigung. Der Kogler war nämlich ans Gericht vorgeladen – zum Geldempfang.

Das Amtsgericht, vor Zeiten ein feudales Schloß, lag etwas abseits von den Bürgerquartieren und von ihnen getrennt, zwar nicht mehr wie ehedem durch abweisenden Wall und Graben, sondern durch eine Kette flüsternder Linden: wie eine Insel der Seligen stieg es aus der nüchternen Umgebung empor. Auch erschallten zuweilen, je nachdem nämlich das Gerichtsgefängnis mit Philosophen der einen oder anderen Richtung besetzt war, Gesänge von der Insel. Gesänge des Glücks und der Zufriedenheit. So auch jetzt, und unter solchen Umständen erschien es fast unglaubhaft, daß hinter diesen Mauern einstmals die Unschuld geschmachtet und die Charakterstärke geblutet hat.

Der Gesang rührte in diesem Augenblick von den Philosophen Sebastian Hinterdobler, Anton Bärnlochner und Benedikt Wagmüller her. Der erste lehrte, daß der Mensch als Metzger und Schnellfahrer, selbst in äußerster Finsternis, kein anderes Licht als das seines Verstandes brauche, was sich indes vor dem Strafrichter als Irrtum erwies. Der zweite verkündete mit einer allen Verfolgungen Trotz bietenden Überzeugungstreue, daß der Sicherheitskommissär Schlumberger ein Brett vor dem Hirn und ihm deshalb nichts dreinzureden habe. Der dritte aber lebte nach der Regel des Fuhrknechts Dollacker, der zufolge ein dem Gegner rasch und kräftig auf den Kopf gesetzter Maßkrug nachhaltiger belehre als alle Gründe der Dialektik.

Die drei Männer hatten schöne, weittragende Stimmen und der erste acht, der zweite vierzehn und der dritte zwanzig Tage, was nicht viel ist im Hinblick darauf, daß schon das gewöhnliche Jahr deren dreihundertfünfundsechzig aufweist, damals aber noch dazu ein Schaltjahr war. Da alle drei nur die Erste Stimme beherrschten, so lehnte in der Nachbarzelle der Weltreisende Wenzeslaus Zabusnik die Stirne an das Fenstergitter und kam in dankenswerter Weise für die Begleitung auf. Die Darbietung veranlaßte übrigens den Gefängniswärter und Gerichtsdiener Zwick, von Zeit zu Zeit unter die bezüglichen Zellenfenster zu treten und hinaufzurufen: »Bande, verfluachte! Wollt's endlich 's Maul halten? Droben studiert der Herr Oberamtsrichter.« Benedikt Wagmüller riet deshalb, statt des ewigen und etwas geräuschvollen »Fensterstock-Hiasl« das tiefempfundene und obendrein weit diskretere »Still ruht der See, die Vöglein schlafen« vorzutragen. Und Wenzeslaus Zabusnik sang auch hierzu, die Stirne schwermütig ans Gitter gedrückt, die Begleitung mit.

Der Herr Oberamtsrichter Gaugigl aber studierte soeben wie überhaupt schon seit mehreren Wochen, auf welche Weise der aus dem Nachlaß des Veitengütlers bei der Erbschaftsverteilung übriggebliebene und noch immer von der amtsgerichtlichen Depositenkommission unter zwiefachem Verschluß verwahrte Kapitalsrest am besten »sich hinausbringen lasse«, und fand immer wieder, daß das von ihm gewählte Verfahren das einzig Richtige sei. In der Befriedigung darüber und unter den einwiegenden Akkorden des aus dem Gefängnis heraufklingenden Abendliedes fielen ihm allmählich die Augen zu, und als der Schreiber dieses Vorbild gewahrte, tat er sich auch keinen Zwang mehr an. Doch schlief er, seinem subalternen Charakter gemäß, im Stehen.

In der Amtsstube nebenan träumte der Gerichtsvollzieher, er habe dem Eichelkönig Krone und Reichsapfel weggepfändet und dadurch eine ihn tief verletzende Ministerialentschließung provoziert, die in einem aufgequollenen Deutsch dem Sinne nach zum Ausdruck brachte, daß er ein Esel und Herrscherinsignien, weil zur Berufsausübung unentbehrlich, unpfändbar seien. Ganz vorne aber, in dem Büro gleich neben der Treppe, in der sogenannten Gerichtsschreiberei, fing der Herr Obersekretär die denkwürdigen Vorgänge einer Gerichtssitzung in ein unwiderlegliches Protokoll ein und schrieb nun schon zum drittenmal die gleiche Zeile, die er auch noch ein viertes und fünftes Mal geschrieben hätte, wäre nicht die Feder der Hand des Einschlummernden entsunken. Ihm gegenüber saß ein erst seit kurzem in die Schreibergilde aufgenommener Jüngling, dem der Vater die Staatsdienerlaufbahn für immer geebnet zu haben glaubte durch Hingabe eines halben Schweines an den ungemein strengen Obersekretär. Dieser nunmehr unbeaufsichtigte junge Mann lehnte sich alsbald in seinem Fauteuil zurück, kaute an seinem Federhalter und dachte, seinen unmittelbaren Vorgesetzten betrachtend: »Ich wenn einmal Obersekretär ... Obersekretär wenn ich einmal bin ...« verirrte sich jedoch bei diesem Ausblick dermaßen in die vor ihm gleich üppigen Krautgärten ausgebreiteten Jahrzehnte, daß darüber auch ihm sich das Auge schloß. König Ludwig der Erste allein wachte noch in der Gerichtsschreiberei und sah von seiner kahlen Wand sehr befremdet auf die Staatsdiener von heute hernieder.

Mitten in dieses Dornröschen-Idyll nun platzte – »Nicht anklopfen!« war an der Tür angeschlagen – der Koglerbauer hinein mit dem leutseligen Gruß »Recht guaten Nachmittag beinand!« Er hätte auch »guten Abend!« – »gute Nacht!« – überhaupt der Reihe nach die sämtlichen Tageszeiten bieten können, es wäre nicht anders gewesen, als riefe einer in den Sphärenraum hinein: »He! Sie! Warum bin ich denn eigentlich da, auf der kugelrunden, närrischen Welt?« – niemand nahm Notiz davon. Der Kogler räusperte deshalb sehr vernehmlich, und weil auch das nichts fruchtete und er in ausgezeichneter Laune war, so näherte er sich dem jungen Menschen im Fauteuil und hielt ihm seinen Hut und insbesondere den darauf befindlichen Gemsbart so eindringlich und mit leisem Hin und Her unter die Nase, daß der junge Mann niesenderweise einen Fanfarenstoß von sich gab, der auch den Herrn Obersekretär erweckte.

Der Kogler übergab seinen Ladungszettel »Betreff: Geldempfang. In der Nachlaßsache ... werden Sie hiermit auf Dienstag, 3. Juli l. J., nachmittags 3 Uhr, vor das Amtsgericht Rettenbach geladen ...« und ließ sich vom Fanfarennieser zum Oberamtsrichter Gaugigl geleiten. Der tat ganz lebendig: »Sie sind also vermutlich der Koglerbauer selbst?«, was den Landmann zu der naheliegenden Gegenfrage berechtigte: »Wer denn sunst?«

»Schön. Es ist nämlich ... Aber wollen wir vorerst die auszuschüttende Masse herbeischaffen! Herr Schropp!« und Richter und Schreiber entfernten sich.

»Masse,« dachte der Kogler, »Masse ... Und oaner alloa kann 's, scheint mir, gar nöt dertragen. Und ausschütten aa no! Kruzitürken! I hab mir 's aber glei denkt: beim Veiten muaß mehra dasei; beim Veiten muaß a no Goldgeld dasei. Dös wer' i ja auf oamal vielleicht gar nöt hoambringa kinna!« Er wußte eben nicht, daß die Juristensprache in ihrer starren Feierlichkeit für alltägliche Bagatellen und Hantierungen sehr ausgeblähte Namen hat, und hörte bereits im Geiste den klirrenden Spektakel, wenn so ein Scheffel altes Gold- und Silbergeld vor ihm aus- und aufgeschüttet würde. Unter diesen Umständen wartete er gern.

Der Obersekretär und zweite Depositalbeamte hatte nämlich – noch nie versicherte er, sei ihm etwas Peinlicheres passiert – seinen Depositenschlüssel vergessen und sein noch nicht gehörig eingearbeiteter Gehilfe brachte in jugendlicher Unerfahrenheit aus der entlegenen Wohnung zuerst den Klosettschlüssel, mit dem sich in diesem Fall absolut nichts erreichen ließ. Das verzögerte nun allerdings die Abwicklung des Kassengeschäftes; indes, der Koglerbauer wartete ja, wie gesagt, gern. Endlich setzten dann doch Oberamtsrichter und Obersekretär, der eine unten, der andere oben, gleichzeitig – welch feiner Trick des Schlosses! – ihre Schlüssel an, und der feuerfeste Geldschrank tat sich auf. Ein elendes Päckchen entnahm man ihm. »Wollen wir uns überzeugen!« sprach der Oberamtsrichter, und der Obersekretär wickelte aus und sprach: »Hier!« indem er zwischen Daumen und Zeigefinger ein unversehrtes Pfennigstück emporhielt. »Gut!« sagte der Oberamtsrichter Gaugigl; »nehmen Sie das Depositenhauptbuch mit sich, Herr Schropp!« und damit setzte er sich an die Spitze. Hinter ihm schritt der Schreiber Schropp mit dem Hauptbuch, dann der Obersekretär, auf der flachen Hand »die Masse« und hinter dem Obersekretär der jugendliche Gehilfe mit dem Registerband zum Hauptbuch. Nie noch wurde einem einfachen Landmann eine so unbedeutende Summe mit größerem Gepränge zugetragen, und daß der Oberamtsrichter mit seinem Schlüsselbund nervös voranklimperte, vertiefte nur noch den Eindruck der wirkungsvollen Förmlichkeit.

»Es ist,« sprach sodann, umgeben von seinen Paladinen und vor sich das aufgeschlagene Hauptbuch, der Oberamtsrichter Gaugigl zum Koglerbauern, »der Nachlaß des Simon Veit, Veitengütlers in Hohenast ...«

»Der Bazi!« warf der Kogler dazwischen, der es noch immer nicht verwinden konnte, daß der Erblasser nicht gestorben, bevor er sein Hab und Gut verputzt hatte.

»Sie haben sich aller Beifalls- und gegenteiligen Kundgebungen zu enthalten!« bemerkte der Richter streng. »Es ist der Nachlaß des Simon Veit auf vier Stämme gleichmäßig zu verteilen gewesen.«

»Hundertzwölf Markl auf an jeden,« sagt der Bauer.

»Und dreizehn Pfennig,« ergänzt der Oberamtsrichter Gaugigl. »Weil der Gesamtnachlaß nach Abzug der Beerdigungskosten vierhundertachtundvierzig Mark und dreiundfünfzig Pfennig betrug. Es mußte somit, sobald man diese Summe durch die Zahl der Stämme dividierte, naturnotwendig ein Rest von einem Pfennig sich ergeben, der leider, außer durch sich selbst, nicht weiter teilbar ist, weder durch vier noch durch irgend eine andere Zahl.«

»Dös is amal gwiß«, bestätigt der Koglerbauer.

»Da nun alle übrigen Erbbeteiligten außerhalb unseres Gerichtsbezirkes und zwei derselben sogar in Australien ihren Wohnsitz haben, ihr Erscheinen im heutigen Termine demnach mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden gewesen wäre, so habe ich mich darauf beschränkt, zu gegenwärtiger Verhandlung lediglich Sie vorzuladen, indem ich dabei von der Annahme ausging, daß die andern Erben mit der Ausantwortung des Nachlaßrestes an Sie einverstanden sein werden. – Herr Obersekretär!«

»Hier ist der Masserest«, erklärt der Obersekretär, indem er den Pfennig auf den Tisch legt und ihn dem Empfangsberechtigten zuschiebt. Der Koglerbauer aber rührt sich nicht.

»Nehmen Sie!« lädt der Oberamtsrichter Gaugigl ein. »Er gehört Ihnen.«

»I Verzicht,« gurgelt der Bauer heraus, blaurot vor Erregung und nur mühsam sich beherrschend.

»Die Ausschlagung eines Teiles der Erbschaft,« belehrt der Richter, »ist unzulässig. Sie müssen die Summe annehmen.«

»Die Summe,« höhnt der Kogler. »Und mei Zeitversäumnis? Jatz, mitten in der Arnt! Unter zwanzg Mark spann i nöt ei. Und zwoaspanni bin i da.«

»Das ist Ihre Sache,« meint der Richter.

»Dös möcht i sehgn!« schreit der Bauer, und die sämtlichen Paladine entfernen sich. »Dös möcht i grad amal sehgn, ob i unter zwanzg Markt eispanna muaß, und dös werd si ausweisen. I laß mi mitten in der Heuarnt not ans Gericht einafoppen, drei Stund weit, wegen an Pfenning. Dö Sach, dö geht weiter. Adje!«

Der Oberamtsrichter rief ihn zurück. Der Kogler blieb dabei, daß er unter zwanzig Mark nicht einspanne, jetzt, in der Erntezeit, wegen so einer Dummheit, unter zwanzig schon gar nicht.

Zehn seien auch ein Wort, meinte der Richter. Und weil die Bauern immer zu haben sind, wenn man sie zu nehmen weiß, so sagte der Kogler zu guter Letzt doch noch: »Meintwegen.«

Da rückte denn, wie vordem die gastlichen Erzväter mit dem Weinschlauch, der Oberamtsrichter Gaugigl mit dem Geldbeutel heraus. Und wenn schon der König Pharao dem Moses das Blaue vom Himmel versprochen hat, damit er ihn um Gottes willen in Ruhe lasse, und König Philipp dem Demosthenes Zehntausende von Drachmen anbot, damit er 's Maul halte, so sehe ich nicht ein, warum der Oberamtsrichter Gaugigl dem schwierigen Bauern zulieb nicht lausige zehn Märklein sich hätte ans Bein schmieren sollen. Auch das Justizministerium wird nichts dagegen zu erinnern haben, denn der Masserest aus der Veitenerbschaft ist ja jetzt restlos verteilt und – fiat justitia, pereat mundus!

Der Kogler freilich, der hatte darüber seine gute Laune endgültig eingebüßt, begab sich voll Gift und Gall aus dem Gericht in die Bauernstube beim Dußelbräu, hockte erst schweigsam hinter seinem Maßkrug, schimpfte dann über den Staat und die Beamten, die nichts könnten als das Volk arm fressen, gleichwie die Maikäfer die Eichbäume kahl, und beteuerte, mit der Faust immer wieder auf den Tisch hineinschlagend, ein übers andre Mal, daß kein Mensch wisse, wie das noch hinausgehen werde. Die Kellnerin Lisi aber behauptete mit einem Seitenblick auf den Koglerbauern, sie wisse es ganz genau, und flüsterte einem der Gäste zu: unzweifelhaft auf einen Rausch.


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