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Die Mariann

Mit einem blinden Vater Los und Leben teilen und ihn umeinander führen jahrein, jahraus, wie vordem die Antigone den gutmütigen, wehleidigen Dattel Ödipus mit seinem ewigen Geachaz, das ist keine Kunst. Aber wenn zu einem alten, grantigen Geizkragen, bei dem es auf die Dauer nicht auszuhalten ist, doch immer wieder in kindlicher Pietät die Tochter zurückkehrt, so will derartiges gemacht sein. Und die Mariann machte es, immer wieder, obwohl sie immer wieder aufs neue erfahren mußte: der Vater will nichts, als mich an den Geldsack verkuppeln. Worauf sie immer wieder ihre Siebenzwetschgen packte und wiederum zu den Verwandten in die Stallau übersiedelte, woher sie gekommen war.

Der Geldsack war aber das eine Mal der Trauner von Matzling und das andre Mal der Spitzer von Vorderschneid, und jetzt ist es gar der Schlicker von Hausen. Ja, du lieber Himmel, gibt es denn überhaupt so etwas, daß nämlich ein vermöglicher Vater, der nicht erst auf den Diridari aus fremden Häusern zu warten braucht, seine feine, bildsaubere, nach innen gerichtete Tochter, sein einziges Kind, einer solchen Mißgeburt von einem Mannsbild ausliefern will?

Aber selbstverständlich gibt es das; denn der Schlicker hat nicht bloß ein lächerlich schüchternes, hilfloses Benehmen und einen Pfundskropf mit einer Stimme noch dazu, daß er jederzeit um einen Posten als Sopransänger in der Peterskirche nachsuchen könnte, sondern hat auch einen Prügel-Bauernhof mit anderthalbhundert Tagwerk Grund, darunter fünfzig Tagwerk schlagbares Holz, hat ein seit unvordenklichen Zeiten zum Hof gehöriges Holzrecht auf unentgeltliche und kostenlose Lieferung von jährlich dreißig Klafter Buchen-Scheitholz aus dem Staatsforst und hat endlich zu all dem hin, so gewiß wie zweimal zwei vier ist, auch noch aufliegendes, das heißt bares Geld. Kurzum, der Sebastian Schlicker, genannt der Schlickerwast, ist auf und auf eine Partie.

Allerdings, die Leute sagen: es müßte halt eine die Augen zudrucken, wenn sie sich dem Schlickerwast verspräche, und, sagen sie, aufs Küssen werde sie von vornherein verzichten müssen – alles von wegen dem Kropf. Indes, das ist nur ein müßiges Gerede: ein halbes Dutzend Hochzeiterinnen kann der Schlickerwast jeden Augenblick haben, wenn er will, jawohl, und der Kropf – bei hitzigen Aktionen läßt der sich doch beiseite schieben. Aber – und das ist wieder einmal das Tragische, wie es der Alltag dichtet, – der Schlickerwast will nur eine, eine oder überhaupt keine. Und diese eine ist die Zwerger Mariann.

»Woaßt,« sagt da der Zwerger, indem er der Mariann zuschaut, wie sie in der Küche so flink hantiert, »es is scho wirklich schad um di. Hockst alleweil in dem Stallauer Nest, wo Fuchs und Has anander guate Nacht sagen, tuast fremde Leut d' Arbet, hast koan Lohn und koan Dank dafür und versamst derweil bei uns da dö schönsten Heiraten.«

»Laß mi mit dera Sach aus, Vater! I mag nix hören davo. Und fremd san d' Stallauer nöt. Es san unsre nächsten Verwandten. Dei eigne Schwester, Vater.«

Der Zwerger seinerseits will wieder derartige Einwände nicht hören, überhört sie deshalb und fährt fort: »Und waarst a so a richtigs Madl: is dir koa Arbet z' viel, haltetst an jeden brav sei Sach zamm und – gehst jedem Mannsbild aus 'm Weg. Ewig schad.«

»Vater, hör auf, sag i, mit dera Sach! Sunst geh i dir aa no aus 'm Weg.«

»Ja ja, a so bist du scho, aber – der Segen der Eltern bauet den Kindern Häuser. Paß auf, gell, daß du di nöt um mein Segen bringst! I kann nämlich scho aa mein Schädel aufsetzen. Verstehst?«

Da sah die Mariann den Vater mit ihren großen, stillen Augen an. Und weil mit der sogenannten Naturbegabung der Menschen es sich so verhält, daß sie der eine in seinen griffesten Händen, der andre in den geschwinden Beinen, ein dritter in seinem erfinderischen Hirnkasten und ein vierter vielleicht gar in einer geheimnisvollen Gewalt des Blickes hat, nicht immer zwar und überall, sondern nur wann und wo ihm in die Augen die Seele tritt, und weil gerade die Mariann diese Art von Begabung hatte, die nicht ein jeder ertragen kann und besonders nicht einer, der auf Unrecht aus ist, so wandte der Zwerger brummelnd sich von der Tochter ab und dem Fenster zu und trommelte mißmutig an die Glasscheiben. Schließlich war er froh, daß der Pfannamichl hereinkam und ihm mit dem kurzen Bericht, soeben habe der Kleinknecht mit einer Fuhr Heu umgeschmissen, das Stichwort zu einem guten Abgang gab.

»No, was is 's?« fragte jetzt die Mariann den Michl, der soeben vom Koglerhof zurückkam.

Und der Michl, standhaft bei seiner Gewohnheit verbleibend, immer mit dem Verkehrten anzufangen, sagt klipp und klar: »Nöt um tausad Mark möcht i a Geistlicher sei, aber – zu der Afra kannst scho nüberkömma.« Er dreht sich um und will wieder hinaus.

Die Mariann aber ruft ihm nach: »Wer hat 's denn verlaubt? Doch nöt am End der Bauer selber?«

Und der Pfannamichl kommt zurück, ungern und zögernd. »Der Bauer! Der is ja gar nöt dahoam. Aber dös derfst glauben: um fünfzehnhundert Mark aa nöt möcht i a Geistlicher sei.«

Sie überhörte den Ausfall. »Hast nacher an hochwürdigen Herrn gsehgn, Michl?«

»I hab mir überhaupts gsehgn gnua. Pfui Deifi! Aber i sag 's, wia 's is: dei hochwürdiger Herr hat 's mit der Hausmagd. Mit der Nelly – verstehst? – weil dös dö sauberste is.«

»Michl, iatz hast aber a böses Wort gsagt! Wo du dir 's sonst doch alleweil so lang überlegst, ob du überhaupts reden sollst oder nöt, da taat i mir a mehr Zeit lassen, bevor i an Nebenmenschen so schwer verdächtig' und anschuldig'. Sonst hab i mir manchmal scho denkt: der Michl is doch a richtigs Mannsbild, er bleibt für si selber und is nöt wia dö andern. Jatz aber muaß i sagen: es is koa Unterschied nöt; denn, Michl, du hast gredt wia a alts Weib.«

Bis zu diesem Augenblick hat der Pfannamichl nicht gewußt, was ein Lob ist. Jetzt hört er es zum erstenmal in seinem Leben. Und was für eins! Gerade sein geringes Leben und seine armselige, verschrumpfte Art, über die schon so manch einer gespottet hat, werden ihm als recht und männlich bescheinigt und von wem! Herrgott, hätte doch nur ein einziges Mal früher, viel früher ein Mensch so etwas gesagt! Nur ein einziges Mal etwas, das so eigentümlich brennt und spornt und hebt und – jawohl, es ist schon so – und beglückt! Vielleicht, wer weiß, wär' er ein seßhafter Bergbauer und nicht auf der Landstraße ein Pfannenflicker und Hafenbinder geworden. Aber wo war der Mensch, der so zu ihm hätte reden können und wollen? Nirgends. Und darum hat er warten müssen bis auf den heutigen Tag, wo das Lob sogleich sich selbst wieder aufhob durch den Tadel: es ist kein Unterschied, und du hast geredet wie ein altes Weib.

Hätte das Lob mit seiner schmeichelnden Kraft den Michl beinahe aus dem Gleichgewicht geworfen, der Tadel gibt ihm wieder den rechten Halt. Und in seiner alten Festigkeit denkt der Michl: Wart nur, Mariann, wart nur! Wer die Augen offen hält, wird sehen. Und ich will sie offen halten. Sagt nur noch, gleichsam zu seiner Rechtfertigung: »Woaßt, i hab halt einen so viel starken Hassard auf dö Geistlichkeit«, und geht.

Ist der Mariann nicht schwer gefallen, der verdächtigenden Rede des Pfannamichl sich zu entschlagen; denn das reine Herz sieht Welt und Menschen nur im eignen Widerschein, der mild ist und verklärend wie das Mondlicht. In ihm pflückte die Mariann im kleinen Hausgarten die Blumen, die sie der Afra zu bringen gedachte, und ohne daß sie es darauf besonders abgesehen hätte, pflückte sie Rosen und Rosen und waren alle weiß. Und waren lauter gute, treue, heimatliche Gedanken, die sie mit einband in den Strauß und die nun mit dem Rosenduft zu einer neuen Einheit und Kraft sich wandelten, lieblich und stark genug, die Grenzen der Welt zu überschreiten und der Toten zu folgen.

Mit diesen Blumen ging die Mariann zum Koglerhof. Scharf hoben sich die Schatten der weißen Wolken vom Sonnenweg, scharf hoben sich die weißen Rosen vom schwarzen Gewand. Mariann, wähnst du vielleicht, der Tod hätte sogar die Macht, in haßerstarrte Höfe und Herzen neues Leben zu bringen? Er hat sie nicht. Denn die einen, die Willigen, brauchen nicht erst seine Erschütterung, und an den andern, den Verhärteten, gleitet auch sie erfolglos ab.

Und die Kinder waren willig, und die Väter blieben hart.

So willig! Hatte doch auch die Mariann, als sie dieses Mal von Stallau nach Würfling reiste, still für sich mit der Frage gespielt, ob denn nicht der Primiziant, wenn er herkommensgemäß segnend alle Höfe und Hütten besuche, auch in ihre beiderseitigen Elternhäuser die Erlösung von Feindschaft und Unfrieden tragen könnte. Hatte mit Ja darauf geantwortet und war eigens in die Heimat gekommen, den Schulkameraden im Gnadenglanz seines ersten Meßopfers zu sehen und dabei zu sein, wenn davon in ihr Vaterhaus ein breiter Strahl überirdischen Schimmers falle. Hatte auch mit Rede und Gegenrede gespielt, die bei dieser Gelegenheit zwischen ihr und dem einstigen Jugendkameraden vielleicht, wahrscheinlich hin und wider flögen, wie die traulichen, kleinen Vögel in Nachbargärten, und sich dann sogar aufrichtig des gemeinsamen Weges von der Bahnstation nach dem Heimatdorf herüber gefreut. In solcher Gemütserhebung hatte sie, zwar ohne Klarheit über ihren letzten Grund, doch leichten Herzens alles Heiratsgerede des Vaters zurückgewiesen und ohne alle Sentimentalität, wie zu etwas Selbstverständlichem, für dauernde Ehelosigkeit sich entschlossen.

Und in solcher seelischen Verbundenheit mit dem Nachbarhof legte sie jetzt den Rosenstrauß der Afra auf die Totenbahr und wollte für sie beten, vermochte aber ihre Gedanken nicht zu sammeln. Immer wieder entschlüpften sie ihr und trieben sich, anstatt zu wirksamer Fürbitte sich zu ordnen, sehr unzeitgemäß in den Tagen der Kindheit herum oder ergingen sich in abwegigen Vermutungen über den Einfluß des Todesfalles auf die Abhaltung der Primiz. An ihrer gottwohlgefälligen Disziplinierung verzweifelnd, flüsterte die Mariann zuletzt: »Herr, verzeih mir's, aber ich kann in diesem Haus nicht beten! Es ist alles drunter und drüber in mir«, und nahm den Buchsbaumzweig aus der irdenen Schüssel, besprengte den Leichnam mit Weihbrunn und ging.

Da fiel ihr – und es nahm sich schier wie eine Eingebung durch die vorzeitig abberufene Afra aus – die bresthafte Tochter der Wurzenhäuslerin ein, und hatte sie schon nicht für die Afra beten können, so konnte sie doch für die Afra die Patenstelle übernehmen, und das dem armen Spatzen sogleich kundzutun, schlug sie den Weg nach der vom See abgekehrten Hügelseite ein, wo auf halber Höhe das Wurzenhäusel aus kleinen, schwarzen Fenstern seinem weitern Verfall entgegensah. Indes, niemand war daheim als ein roter, scheuer Kater, der sich sofort durch das Schlupfloch der verschlossenen Haustür zurückzog.

In der Erwartung, die Wurzin könne, da es bereits auf Mittag ging, nicht mehr lange ausbleiben, setzte sich die Mariann auf die schmale Bank, neben der Tür, die, wie übrigens auch die paar Fenster, nicht hügelabwärts, gegen Ebene und Weite, sondern lieber bergan, damit aber doch der Sonne zu sich richtete. Kam von unten jemand, wurde er darum von den Hausbewohnern meist nicht bemerkt, und sahen sie ihn, war er auch schon da. Und die Mariann auf ihrer Bank hörte denn auch alsbald von unten herauf sich nähernde Schritte.

Aber eine Häuslerswitwe mit einem Stall ohne Vieh und einem Hausdach voller Löcher geht nicht so rasch und sicher; geht, in Sorgen verstrickt, langsam und schwer. Das muß überhaupt ein Mannsbild sein. Und da die Schritte ums Hauseck biegen, bringen sie richtig den – Kogler Franz.

»Das ist einmal ein merkwürdiger Triffauf«, meint der Franz in seiner Überraschung und gibt der errötenden und sich erhebenden Mariann die Hand. »Wie ich von unten, aus dem Weg nach Mooszell, das Wurzenhäusel so traurig daliegen seh, fällt mir das bresthafte Madel ein, dem ja ebenfalls die Afra weggstorben ist, und ich denk mir: sag's der Kleinen, daß ich ihr unter allen Umständen eine Goden ausmitteln werd. Es ist aber, scheint mir, niemand daheim.«

Da muß die Mariann wohl oder übel noch einmal rot werden und sagt: »Das Allermerkwürdigste ist aber doch, daß mich die ganz gleiche Absicht herbracht hat. Und die hat mir die Afra selber eingeben, wie ich vorhin vor ihr gstanden und vor lauter Zruckdenken zu keiner richtigen Andacht kommen bin.«

»Ich dank dir schön für das Gedenken«, sagt der Franz und gibt der Mariann nochmals die Hand. »Das hast du schon wirklich recht brav gmacht. Gott vergelt's dir! sag ich im Namen der Afra.«

Aber die Mariann kommt nicht so geschwind von der Vorstellung weg, daß sie beide, gänzlich unabhängig voneinander, ein und derselbe Vorsatz hergeführt hat, auf getrennten Wegen. »Wenn das nicht wunderbar ist!« sagt sie. »Zwei zugleich den nämlichen Gedanken für das arm Dirndl! Ich denk mir halt: die Afra is so viel gut gwesen, daß ihr Gutsein noch bis vom Jenseits her a Gwalt hat. Und das ist dann eben die Eingebung. Is 's nöt so? Sag, Franz!«

»Wohl, wohl, so is 's«, sagt der Kogler Franz und bemüht sich, durch die halb blinden Fenster in die Stube zu schauen. »Aber daheim ist, scheint mir, da wirklich niemand.«

»Die armen Leut«, meint die Mariann, »müssen halt sogar auch dann noch warten, wenn einmal jemand mit einer guten Botschaft vor ihrer Tür steht.«

»Ist alles so, wie es sein muß«, versichert der junge Gottesgelehrte.

»Daß aber das Harte grad die Armen so gern trifft!«

»Glaub mir's: es haben's schon die andern auch nicht zu leicht.«

Die Mariann sah ihn verwundert an. Sie war des Glaubens, ein neugeweihter Priester müßte, so ähnlich wie die Engel im Himmel, immer frohlocken. Und da redet jetzt gar einer in Bitterkeit daher. »Die Frauen und Madeln ja vielleicht nicht«, sagt sie. »Aber um so besser haben's dafür die Männer. Was nur grad ihr alles werden könnts. Und wir!«

»Werden könnts, sagst. Werden müßts, solltst sagen.« Und wieder traf ihn ein erstaunter Blick. Darum ergänzte er: »Denn den Beruf bestimmen die Umstände, Mariann. Die freie Wahl kommt zu kurz. Ganz natürlich: als Bub versteht man nichts, als junger Bursch weiß man's nicht anders, und als ein Ausstudierter kann man's nimmer ändern.«

»Ja Franz! Ja bist denn du nöt gern a Geistlicher worn?«

»Ja, bin's gern worn. Gwiß. Aber ich hab seit gestern so viel erlebt. Gestern und heut. – Bet für mich, daß ich's übersteh!« Er reichte ihr die Hand. »Pfüat di Gott, Mariann! Ich weiß: was ich jetzt gsagt hab, bleibt bei dir.«

»Franz!« und sie ergriff noch einmal seine Hand, konnte aber vor Erschütterung mehr nicht sagen. Doch es wirkte auch so wie ein Schwur.

Schon war er auf dem nach unten führenden Steig. Sie stand noch eine Weile, tief in Gedanken. Dann ging sie wieder den Hügel hinauf und ihrem Hof zu. Immer tief in Gedanken.

Sonderbar! Wo ist die sinnenfrohe Nähe, wo die winkende Ferne, die zu diesem Himmelsstrich gehören, untrennbar, wie ich und du, mein Heimatbruder? Nie traf ich wieder solche Blumen, nie solche Wälder, nirgends so klingende Träume an. Und nun denkt euch über diesen holden Dingen eine Kette von hellen Tagen! Es ist, als lägen sie darauf mit gebreiteten Libellenflügeln – ihr zitterndes Farbenspiel wird zum wechselnden Bild. Bald flüstert die Sage darein, bald erzählt die Geschichte dazu, und auf einmal erkennst du die Stimme deines Vaters wieder, der alles einst dir gewiesen hat mit verständlichen Worten. Und aus der fruchtbaren Erde hebt es sich, und über die nickenden Blumen und das schimmernde Gras hin säuselt es der seidenfeine Wind, und rauschend nehmen es die Wälder auf: in dir sterben die Wünsche, du unvergleichliches Heimatland.

Aber die Menschen in ihrem Geracker und Gelärm, in ihren Bangigkeiten und Seelennöten haben dieser Holdseligkeiten nicht acht, und darum sterben und schweigen auch ihre Ängste und Wünsche nicht.

Und darum ging auch in Harm und Sorge durch eine Kette heller Sommertage die Mariann. Also, daß der Zwerger eines Abends sagte: »Dirndl, mit dir is 's nix Rechts mehr. Gehst umanand schier wia a Gspenst, schaugst aus, wia wenn di a hoamlicher Kummer drucket und nirgends a Ausweg waar.«

»Bild dir nix ein, Vater! Es is mir nur bloß dein ewiges Greinen zwider, daß bei uns und wenn i dahoam bin, in der Kuchl z' viel aufgeht.«

»Weil 's eppa nöt wahr is. Tuast an alls allewei Butter hin und dös wia vui. Es taat 's a Margarin scho aa.«

»Scham di, Vater! Unser Hof und a Margarin, wia d' Stadtleut! Wer richtig arbet't, soll a sei richtigs Essen haben.«

Der Zwerger brummelte, wie das so seine Art war, etwas vor sich hin und fuhr dann fort: »Dös is aber nöt dein wahrer Grund, Madl. Da machst du mir nix weis. Und i denk mir halt, du taatst ganz anders aufleben, wennst endli amal ans Heiraten denketst. Mit vierazwanzg Jahr waar 's nimmer z' bald.«

Die Mariann schwieg. Dann aber sagte sie, und ein empfindsamerer Zuhörer als der Matthias Zwerger hätte zweifellos die Bewegung herausgehört: »Vielleicht hast recht, Vater. Vielleicht is 's von mir dumm gwesen, daß i mi alleweil gar so dagegen gspreizt hab.«

Dem Zwerger verschlug es vor unverhoffter Freude die Stimme: »Wa–a–s hast gsagt, Mariann?«

Die Mariann wiederholte. »I hab mir doch dö Sach iatz besser überlegt.«

»Ja, Madl, vergolden kunnt i di zwegen dera Red! Seit gwiß drei Jahr dö erste vernünftige. Soll i di also mit 'n Schlickerwast bekannt macha?«

Wieder schwieg die Mariann. Sie stellte sich dabei so, daß der Vater ihr Gesicht nicht sah. Denn auf ihrem Gesicht lagen die Schatten tiefer Trauer. Und wie Blitze den dunklen Nachthimmel durchfurchen, so durchzuckte das Seelengewölke der Widerschein des Schmerzes. »Is mir schier oaner wia der ander«, sagte sie zuletzt.

»Brav, Mariann! Dös is a Wort! Auf dö Weis fahr' ma ja glei no in dera Woch zum Schlickerwast nach Hausen umi. Wirst as nöt bereun. I woaß 's gwiß. Dös is was anders, mei Liabe, als wia dei Stallau hinten.«

In der Stallau hinten aber, allwo Fuchs und Has einander gute Nacht sagen, betrieb die Zwergerschwester mit ihrem Ehemann, dem Dionys Stallinger, eine Gastwirtschaft und Fremdeneinkehr, »Zum Donysl« genannt, und alldort begab sich zur selbigen Zeit dieses:

Es nächtigte beim »Donysl« vorläufig zwar noch als Passant, jedoch mit der Absicht, sein Ferienzelt hier gegebenenfalls für längere Zeit aufzuschlagen, der Studienprofessor Alban Sonnweber. Bedauerlicherweise sah er sich indes schon am zweiten Morgen, als er mit Daumen und Zeigefinger in die Kaffeetasse langte und einen soeben mit dem beliebten Getränke aus der Kanne hervorgequollenen, hierher aber nicht gehörigen Gegenstand ergriff und hoch emporhielt, zu der Frage veranlaßt: »Was soll das? Was heißt das? Was ist das?«

»A Russ'«, antwortete, ohne den Gegenstand lang zu betrachten, sehr schlagfertig die jugendliche »Stütze« Lisi, der schon in der Schule wegen ihrer Klugheit, Einsicht und Reife eine schöne Zukunft prophezeit worden war.

»Ein Russe?« sprach Professor Sonnweber verwundert und schleuderte das als Frühstück anscheinend nicht erwartete Insekt weit in die Gaststube hinein. »Wäre es wenigstens ein Schmetterling,« meinte er, »so könnte ich ihn unserer Schulsammlung einverleiben.«

»Na, a solchener is 's ganz gwiß nöt«, erklärte auf das bestimmteste das einsichtsvolle, im engen Bunde mit der Natur herangewachsene Mädchen. »Aber Russen und Schwaben san scho manchmal drin in unsern Kaffee, dös is scho wahr. Denn wissen S', mir hamm ja in unsrer Kuchl so viel solchenes Ungeziefer, daß mir uns oft gar nimmer z' helfen wissen. Sie derfen 's gwiß glauben.«

Der Passant mit dem heimlichen Ferienzelt machte große, kreisrunde Augen, die Augen der Überraschung und Interessiertheit, und weil in dieser Berg- und Waldeinsamkeit nur selten jemand so lebhaften Anteil an den alltäglichen Dingen nahm, so erzählte das Mädchen in seiner geistigen Reife gern und ungezwungen weiter.

Es werde aber jetzt bald aus sein, erzählte es, mit den lästigen Schwaben und Russen, denn ein uraltes, vieler Dinge kundiges Weiblein, die Schermauser-Kathl von Nußberg – »kennen Sie s' nöt?« fragte das kluge Kind – habe der Wirtin ein unfehlbares Mittel verraten: erstens die Küche frisch tünchen lassen, aber beileibe nicht in einem krabbeligen Zeichen, das heißt wenn die Krabbeltiere Skorpion oder Krebs im Kalender stünden, und fürs zweite einem unbescholtenen Mann hinterrücks drei Schwaben und drei Russen ins Hutfutter einnähen; das gesamte gleichgeartete Ungeziefer müsse dann unweigerlich dem Mann nachlaufen, sobald er das Haus verlasse. Die Küche zwar sei bereits neu getüncht, das zweite Stück aber bislang nicht geraten; denn nicht nur, daß unbescholtene Mannsbilder in Stallau schwer ankämen, sondern es sei auch der Wirtin, als sie endlich in einem Sommerfrischler, dem Herrn Oberlandesgerichtsrat Schlitteis nämlich, den richtigen Vertrauensmann gefunden, eine saudumme Verwechslung passiert, das ist, sie hat die drei Russen und Schwaben, anstatt dem Herrn Oberlandesgerichtsrat Schlitteis, dem Finsterer Gori, dem Lumpen, ins Hutfutter eingenäht. Da seien selbstverständlich die Schwaben und Russen alle miteinander wieder dageblieben.

Professor Sonnweber zahlte, nahm seinen Rucksack über und ging in Eile.

»Gengan S' denn scho wieder?« fragte das arglose Kind der Berge.

»Gewiß«, antwortete der unaufhaltsame Sommergast und setzte seine Flucht fort; blieb aber dann doch noch unter der Haustür zwecks Untersuchung seines Hutfutters ein Weilchen stehen. Und zwar untersuchte er so genau und umständlich, als gäbe es auf der ganzen weiten Welt nichts Peinlicheres für einen Unbescholtenen, als wenn ihm alle Schwaben und Russen der Gastwirtschaft »Zum Donysl« nachliefen.

Unter dem frischen Eindruck dieses kompromittierenden Begebnisses, das nicht das erste war, seit Marianns Umsicht und Hand dem Sommergasthaus fehlten, machte sich die Wirtin nach Würfling auf, die Mariann wieder zurückzuholen und so ihren Betrieb vor weiterer Bloßstellung zu bewahren.

»Schau, Mariann,« sagte dann im Zwergerhof die Stallauerin, »dös sell muaßt ja einsehn: es geht ohne deiner nöt. I kann nimmer so nach, wie i gern möcht, Er« – ihr Mann war für sie zeitlebens der groß geschriebene Er – »kümmert si nöt um d' Wirtschaft und d' Lisi is saudumm. Mariann, i bitt di: laß uns nöt in Stich! Mir kommen sunst unbedingt no auf Gant.« Und dabei hob die alte, standesgemäß beleibte Frau gegen das Mädchen bittend die Hände auf. »Es geht nix zamm ohne deiner, nöt in der Kuchl und nöt in der Gaststuben und nöt in dö Fremdenzimmer. Mir Wirtsleut san z' alt und d' Lisi is z' dumm.«

»Muatter«, sagt darauf die Mariann; denn so hat sie von jeher die kugelrunde, herzensgute Frau genannt, »Muatter, paß auf und glaub mir's: es kommt mi nöt leicht an, was i dir iatz da sag. I kann in d' Stallau nöt zruck. Jatz scho amal ganz gwiß nöt. I muaß z' Würfling da bleiben. I muaß.«

»Gell, laßt di der Vater nimmer her? Hab mir's scho alleweil a bissel denkt.«

»Na, i bleib vo mir selber.«

»Vo dir selber« – nur schwer fand sich die Alte in diese Vorstellung – »und bist alleweil so gern wieder zu uns zruck.«

»Und dank 's dir in alle Ewigkeit, daß du alleweil so guat mit mir gwesen bist.«

»Braucht 's nöt, Mariann. Du bist uns nix schuldig blieben, und Er, wann er a sein gußeisern Schädel scho von Geburt auf hat und bhalt. Er sagt ganz dös gleiche. Aber kömma sollst wieder, sagt a Er. Am liabern glei. Und daß du auf amal nimmer kömma magst, dös sell wird Er nöt verstehn.«

»Der Vater will halt, daß i heirat.«

»Dös hat er zuvor a scho wollen. Hast di aber nia nöt dran kehrt. Hast nur bloß alleweil gsagt: i bleib ledig.«

»Manchmal sindt si halt der Recht nöt glei.«

»Für di vielleicht überhaupts nöt, Mariann. Und so viel is gwiß: da steckt was anders dahinter«, meint die Stallauerin mit jenem sichern Fraueninstinkt für verborgene Zusammenhänge. »Brauchst mir's aber nöt z' sagen. I woaß so aa scho, daß du nix Unrechts nöt willst, sondern nur bloß das Guate und Brave.«

Solchem Vertrauenserguß erlag die Mariann. Brach in Schluchzen und Tränen aus, brachte erst nach einer Weile hervor: »Du woaßt as, Muatter, wia 's mi da herzogen hat. Her müassen hab i. Und iatz kann i nimmer furt.« Sie wurde wieder ruhig, ja fest. »Es is akkrat, als wann a unsichtbare Gwalt mi da festhaltet. Und ganz deutli gspür i 's: schon für dö allernächste Zeit is mir was Bsonders aufgsetzt und i derf dem nöt aus 'n Weg gehn. Und i kann eahm a gar nöt aus 'n Weg gehn. Und i will a nöt. Und drum bleib i.«

Bei diesen Worten war der Mariann wieder in die Augen die Seele getreten, also, daß die Augen nicht mehr das Gesicht waren, sondern jenes rätselhafte, für gewöhnlich von den körperlichen Sinnen verschüttete Band, das gleich den Erdschätzen der Sage zu gewissen Zeiten einem Begnadeten aufleuchtet und ihn zu seherischer Gewißheit vor das Schicksa! und die Gottheit führt.

Die Wirtin aus der Stallau, mit schlichtem Gefühl die Ungewöhnlichkeit von Rede und Blick erfassend, die beide ihr den Saum einer andern Welt zu berühren schienen, erhob sich erschauernd. »I hab 's iatz gsehgn und ghört«, sagte sie. »Du kannst nöt anders. Unser Herrgott steh dir bei und dö allerseligste Jungfrau Maria!« Sie ging. An der Stubentür wandte sie sich aber noch einmal nach der Mariann um, die immer noch nicht in die Gegenwart zurückgefunden hatte: »Und unser Haus, dös woaßt ja eh: Tag und Nacht is 's für di auf.« Und reiste noch am nämlichen Tag in die Stallau zurück.

Bald darauf fuhren die Mariann und der Vater nach Hausen, kamen unter einem Vorwand zum Schlickerwast, besahen sich Haus und Hof, Stall und Viehstand, und kehrten nach Würsling zurück, der Vater begeistert, die Tochter geknickt.

»Madl, i versteh di nöt«, sagt darob der Zwerger. »Stehst da, als hätten dir d' Hennen 's Brot weggfressen, und brauchst doch bloß ja sagen, und der schönste Hof fliagt dir auf d' Hand. Und mei Hof und sei Hof – Mariann, auf zehn Stund im Umkroas is koa Bäurin reicher wia du.«

Die Mariann schwieg.

»I glaub glei, sie bsinnt si no.«

Die Mariann bat um Bedenkzeit.

»Ja, was is denn iatz dös! Hat ma iatz so was scho amal ghört! Bedenkzeit a no! Aber meintwegen. Acht Tag vo mir aus – san bis iatz schier gradso viel Jahr verganga – nacher aber Schluß.«

In diese acht Tage nun fiel, und zwar auf Sonn- und Montag nach Vinzenz von Paul, der Vinzenzi-Jahrmarkt zu Rettenbach, ein Volksfest für die Bauern weitum mit Waren- und Ferkelbörse, Getreideschranne, Roß- und Rinderhandel und mit dem Pfannamichl als regelmäßigem Besucher seit Jahren. So menschenscheu der Michl sonst sich gab, der Rettenbacher Vinzenzimarkt lockte ihn aus seiner Einschichtigkeit; denn er schien ihm geeignet, Umschau zu halten, was sich in der Welt gar rege und rühre, und bei dieser Gelegenheit seinen zusammengehausten Jahreslohn der Rettenbacher Sparkasse verzinslich anzuvertrauen. So sachlich er hinging, so unberührt von all dem Jahrmarkttrubel und -alkohol kehrte er abends wieder heim.

Dieses Mal aber kam es anders. Warum? Weil gleich hinter Würfling, hart neben der ins Flachland hinausführenden Rettenbacher Landstraße die dem Kogler gehörige Bachlwiese liegt, weil auf der Bachlwiese vier Früh-Apfelbäume stehen, und diese braven, alljährlich fruchtüberladenen vier Getreuen gerade, da der Pfannamichl daherwalzt, von dem Kogler-Dienstbuben und der Nelly abgeleert werden. Weil ferner ausgerechnet in diesem Augenblick die Nelly, die heut einmal einen guten Tag zu haben scheint, an die Straße herankommt und auf die Frage des Michl, ob sie vielleicht etwas Neues erfahren wolle, zwar verneint, da sie schon an ihren alten Erfahrungen genug habe, aber doch mit einem den Michl dermaßen berückenden Spitzbubengesicht, daß er sich mit der Hand ans Hirn fährt, als komme ihn eine plötzliche Ohnmacht an: »Jatz waar i schier bald damisch worn von deine ...« Doch es ging so gegen sein Wesen, einem Menschen eine Schmeichelei zu sagen, daß er abbrach und lieber auf seine Art fortfuhr: »Woaßt, beinander gstanden san s' scho so vertrauli und hoamli..

»Wer?«

»Willst as ja nöt hören. Sag da 's a nöt. Znachst – verstehst? – beim Wurzenhäusl hiebei. Sag da dös ander erst, wann 's Zeit is, daß d' mit mir ins Weitmoos gehst. Is no nöt so weit. Kimmt aber no.«

Das Mädel lachte.

»Geh heut nur bloß auf Rettenbach. Wennft magst, derfst mit. Bist zechfrei den ganzen Tag.«

»Schad. Gang mit. Muaß aber Äpfi brocka.«

»Fallt a jeder vo eahm selber, wann er zeitig is. Du aa.«

»Aber nöt für di.« Doch – war's Lust an Fopperei, war's Mitleid mit dem Alleingänger und Außenseiter, den sie noch nie so aufgeschlossen und zutraulich gesehen hatte und dem jetzt die soeben vernommene Erbarmungslosigkeit den Leidenszug des Hoffnungslosen aufdrückte, kurzum, sie gab dem Michl wie zur Versöhnung die Hand, und wie ein Widerruf hörte es sich an: »Müaßt ma halt genau wissen, wann er zeitig is. Damit 'n koa andrer nöt auffangt.« Und gab ihm noch obendrein einen Blick dazu, verheißungsvoll und schalkslustig zugleich und so blitzblank, daß der Michl nicht mehr ein noch aus wußte und in seiner Betäubung einfach »Pfüat di Gott!« sagte und beseligt wie noch nie gegen Rettenbach weiterwalzte.

Wenn bei seinem Näherkommen von einem Straßenbaum eine Krähe auf- und dem nahen Gehölz zufliegt, so ruft der Michl: »Was hast denn, dummer Deifi? I tua dir doch nix. Bin ja viel z' guat aufglegt.« Und den Knecht eines ihm begegnenden Bierfuhrwerkes fragt er vorwurfsvoll, warum er denn das Bier aus Rettenbach herausfahre, wenn er, der Pfannamichl, endlich einmal wieder nach Rettenbach hineinkomme; denn heute werde es einmal hoch hergehen, heute wolle er etwas springen lassen, heute sei auch für ihn Glückstag. Und mit solchen Vorsätzen und Stimmungen kommt der Pfannamichl in die Bezirksstadt Rettenbach. Und da muß er denn, und das in unwiderstehlichem Drang, heraus aus seinem Knicker- und Rackerleben und mitten hinein in den irdischen Freudentaumel.

Aber wo anfangen, wenn der Himmel voller Baßgeigen und der Rettenbacher Vinzenzimarkt so voller Lustbarkeiten und Guttaten hängt, und wenn es überdies dem Michl ist, als stünde er immer noch unter dem verzaubernden Geschau der Kogler-Nelly, fühlte immer noch den Druck ihrer Hand und hörte immer und ewig nichts andres mehr als: Müaßt ma halt genau wissen, wann er zeitig is; damit 'n koa andrer nöt auffangt. Ja, wo da anfangen?

Am besten wohl beim Stuiberbräu. Erstens weil auf einen dreistündigen Fußmarsch und eine nahezu ganzjährige Alkoholkarenz hin einem jeden Menschen, die höchsten Würdenträger in Kirche und Staat nicht ausgenommen, die Zunge vor Bierdurst heraushängt schier bis auf den Hosenbund hinunter, und zweitens weil gerade vor dem Stuiberbräu der Pferdemetzger seinen fliegenden Verkaufsstand etabliert hat und die Rettenbacher Roßwürste eines Rufes sich erfreuen, daß manch ein Jüngling seiner Geliebten vom Rettenbacher Vinzenzimarkt kein sinnigeres Angebinde mitzubringen weiß als ein in farbigem Zucker leuchtendes Lebkuchenherz und eine mehr durch Einfachheit und stille Größe imponierende Roßwurst. Und somit sitzt der Pfannamichl alsbald in der Gaststube beim Stuiberbräu.

So dick ist da drinnen bei sorgfältig geschlossenen Fenstern der Tabaksqualm, daß dem Michl schon allgemach der seltene Trunk in den Kopf steigt, als er jetzt erst in einem nicht weit von ihm entfernten Gast den Scherenschleifer erkennt, mit dem er vor vielen Jahren gemeinsam – Pfannenflicker und Scherenschleifer unter einer Firma – die Kreuz und die Quer das Land befahren hat, bis ein Gendarm rauh genug war, die Kompagnons unter Mitnahme des angeblich schon lange gesuchten Schleifers zu trennen. Von diesem Zeitpunkt ab berichten sie sich jetzt wechselseitig ihre Erlebnisse und dabei hört man durch Dunst und Qualm den Pfannamichl immer lebhafter von ehebrecherischen Dienstherrschaften, verliebten Priestern, Frühäpfeln und Frauenschönheit reden. Also von Grund aus lösten Glückstag und Stuiberbräu dem Schweigsamen die Zunge.

Als aber der Scherenschleifer so beiläufig, doch immerhin unter Berufung auf ihre Freundschaft, ein Darlehen zu erörtern beginnt, das ihm der Michl so leicht, wie er sich ausdrückt, hinüberlassen und er, der Schleifer, so überaus gewinnbringend verzinsen könnte, da ist es hinwiederum dem Michl, als wär's an der Zeit, Stuiberbräu und Freund sich selbst zu überlassen, und schon nimmt die bewegliche Kellnerin seine Bezahlung entgegen. Fünf Minuten später sitzt er bereits unter lauter jubelnden Kindern vor dem Kasperltheater und freut sich mit ihnen – der alte Esel – des über alle Maßen schlechten Empfanges, den dem verspätet heimkommenden, unverbesserlichen Saufaus die wortgewandte, strenge und ordnungsliebende Gattin bereitet.

Auch der Pfannamichl denkt nicht ans Heimkommen. Denkt nur daran, daß ihm nichts von all dem Guten und Schönen entgehe, das Stadt und Jahrmarkt bieten, und läßt darum in unmittelbarem Anschluß an das Bühnenwerk seine langen Beine von einem Karussellschimmel herunterhängen und grinst dazu. »Den schauts an,« weist einer der das Karussell umstehenden Zuschauer seine Freunde auf den Pfannamichl hin, »auf 'm Schimmel dort den Langghaxten mit dem grünen Plüschhut, dem grasgrünen Schilee und der steirischen Streifhosen! Was sich der wohl denkt, weil er gar so grinst und zahnt?« Der Michl aber denkt bei seinen beglückenden Umkreisungen gar nichts. Er läßt sich sozusagen dahindudeln, drei, vier, fünf, sechs Touren lang, und ist dabei nur, und zwar unbewußt, bemüht, dem Rhythmus der dröhnenden Karussellorgel als Text anzupassen: »Müaßt ma halt genau wissen, wann er zeitig is; damit 'n koa andrer nöt auffangt.«

Weil aber selbst ein gehobenes Leben nur der Wechsel lebenswert zu gestalten vermag, so taucht der Pfannamichl, nachdem er doch endlich von seinem Roß gestiegen, sogleich in »Afrika und seine Urwaldwunder« unter und schaut sich in der sengenden Budenschwüle einen solchen Durst her, daß er, aus dem Tropenklima in die gemäßigte Zone von Rettenbach zurückgekehrt, ohne weiteres auf eine Maß im dämmerkühlen Neunerwirt verschwindet. Wieder dem Tageslicht geschenkt, kann er der schmeichlerisch-wortreichen Einladung eines Budenbesitzers, sich doch zu seinem und seiner Nachkommen Gedächtnis photographieren zu lassen, nicht widerstehen und hält schon drei Minuten darauf das naturgetreue Abbild seines Tiroler Bauernkopfes beifällig in der Hand.

Und dann die vielen Verkaufsbuden und Kramerstände mit Bedarfs- und Genußartikeln aller Art vom groben Lodenkotzen bis zur seidenen Bettdecke, vom simplen Weißbrot bis zur märchenhaften Kokosnuß, ganz zu geschweigen der überwältigenden Fülle jener prunkhaften Luxusgegenstände, von denen so schwer zu sagen, was unsterblicher daran ist: ihr Ölfarbendruck oder der Trompeter von Säckingen. Kurz und gut, ergriffen von diesen Wundern der Natur, Industrie und Kunst flüstert der Michl einem neben ihm stehenden, ebenfalls ganz benommenen Landmann zu: der Rettenbacher Vinzenzimarkt wäre halt ein Platzl für einen amerikanischen Millionär; für einen Bauernknecht und seinen Jahreslohn sei schier zu viel da.

Der Michl hat um diese Zeit schon zwei halbseidene Halstüchel, ein brennrotes und ein schwefelgelbes, einen paperlgrünen Strohhut, eine viel zu kurze Feiertagshose, ein himmelblaues Sonntagshemd mit bocksteifen Manschetten, die man jedoch laut beruhigender Versicherung des anpreisenden Handelsmannes jederzeit ungeniert wegschneiden kann, und eine Mundharmonika erstanden, mittelst deren er sich seine einsamen Sonntagsnachmittage zu beleben gedenkt, um dann überraschend vor der Nelly sich zu produzieren. Und jetzt gerät er noch zu allem Überfluß an einen Verkäufer, der mit ganzer Lungenkraft dem aufhorchenden Landvolk verkündet, daß er nur jetzt noch einen unzerreißbaren Gummi-Hosenträger aus echt afrikanischem Plantagengummi – er demonstriert die Elastizität – einen Füllfederhalter, eine Brille mit blauen Gläsern und ein fünfzigfach vergrößerndes Mikroskop um den Schand- und Schleuderpreis von drei Mark verkaufe; nur jetzt geschwind noch und dann nie mehr in seinem ganzen Leben. Seine Alte, fügt er leise bei, wenn die das wüßte, sie würde ihm unfehlbar die Augen auskratzen, sie sitze aber, Gott sei Lob und Dank, gerade irgendwo beim Kaffee und diesen günstigen Moment wolle er benutzen, um dem mühsalbeladenen Bauernvolk mit dem angebotenen Sortiment der zweckmäßigsten Gebrauchsgegenstände eine unschätzbare Wohltat zu erweisen. Und die ungleiche Kollektion hoch empor haltend, schreit er noch einmal: »Alles zusammen nur drei Mark! In der nächsten Minute schon kann meine Alte von ihrem Kaffee zurück sein und die Sach kostet wieder zwölf Mark wie sonst auch.«

Dieser Gunst des Augenblicks vermag der Pfannamichl nicht zu widerstehen. »Hierr!« schreit er, daß die vor ihm stehende Landfrau die Hand zum Schutz ihres Trommelfells ans Ohrwaschel legt, und händigt dem Verkäufer sein Dreimarkstück ein. Und ich muß gestehen: mehr könnte auch ein amerikanischer Großmillionär für dreiviertel Dollar nicht erringen.

Beim Schützenwirt in einem stillen Winkel überprüft dann der Michl Stück um Stück und freut sich, daß der selbstlose Handelsmann nicht zu viel versprochen hat; denn die unzähligen Maden in seinem Bierkäs hätte der Michl unbewaffneten Auges nie und nimmermehr gesehen, und der Mensch soll doch wissen, was er ißt.

Über all dem ist es schier Nacht geworden und ob dem ungewohnten Bierkonsum des Michels Gang etwas schwankend. In solcher Versassung aber und nach einem solchen Paradeistag drei Stunden weit die Landstraße heimtappen – das kann machen, wer mag; der Pfannamichl macht es jedenfalls nicht. Der Pfannamichl nimmt sich vielmehr ganz einfach – wofür zahlt denn die Sparkasse heutzutag einen so damisch hohen Zins! – ein Automobil, und weil kein andres mehr da ist in dem Rettenbacher Autostall, so nimmt er eben den allein noch vorhandenen Gesellschaftswagen zu vierundzwanzig Sitzen.

Da laufen nun freilich, wie dieser elektrisch beleuchtete Kasten in der Nachtstille durch Würfling rumpelt und gleich darauf ins Zwerger-Anwesen hineinpoltert, die Leute aus den Häusern und rennt der ganze Zwergerhof zusammen und schreit alles, der Zwergerbauer, die Mariann, der Knecht und der Stallbub, die Ober- und die Unterdirn, alle miteinander schreien, wie sie in dem Riesenauto einzig und allein den Pfannamichl sitzen sehen, die blaue Brille auf der Nase, den paperlgrünen Strohhut auf dem Kopf und das brennrote und das schwefelgelbe Tüchl um den Hals, alle schreien da zusammen: »Jess'-Mariand-Josef, der Michl! Ja Michl, bist denn heut richtig no ganz narrisch worn!«

Der Pfannamichl aber, indem er aussteigt, sagt nur dieses: »'s ganz Leben a oanzigs Mal werd ma do no in Gottsnam in an Vierazwanzgsitzer hoamfahren derfen. Dös werd an armen Dienstboten ja do no vergunnt sei«, und sucht, ernüchtert, ja entzaubert durch die dumme Anred, voll Ärger, Trotz und Haß seine Kammer auf.


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