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Monsieur Francoeur hatte sich ebenso wie die meisten Führer der Rebellen in den Residenzpalast des Großmoguls zurückgezogen, denn es war fast eine Unmöglichkeit, daß eine feindliche Granate ihren Weg in das Innere dieses winkligen Gebäudes fand.
Eben war der General der Artillerie Delhis, obgleich allein, noch sehr vergnügt gewesen, doch schnell zog er sein gleichgültigstes Gesicht, als er eine sehr elegant in Schwarz gekleidete Dame mit blassem Gesicht eintreten sah.
Langsam erhob er sich und verbeugte sich formell.
»Ah, Madame Dubois, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?« näselte er, als mache ihm jedes Wort Mühe.
Die Dame machte eine abwehrende Handbewegung.
»Laß diese Höflichkeit, Francoeur, sie steht dir mir gegenüber nicht. Übrigens sollte es mich sehr wundern, wenn du nicht wüßtest, was mich zu dir führt.«
»Du willst Abschied nehmen? Mich verlassen?«
»Sieh, wie gut du orientiert bist!« entgegnete sie spöttisch. »Aber etwas irrst du dich doch.
Einmal könnte ich dich nicht verlassen, denn das ist ganz auf deiner Seite. Nun, ich wünsche dir Glück zu deiner neuen Eroberung. Zweitens komme ich nicht, um Abschied zu nehmen, sondern um dich zu bitten, mir den Abschied zu ermöglichen.«
Phöbe hatte sich gesetzt, Francoeur ihr gegenüber. Er fixierte seine einstige Kurtisane und fand, daß sie sehr gealtert hatte. Das Gesicht war eingefallen, die Haut mehr grau als blaß, und Phöbe tat nichts, durch künstliche Mittel die einstige Schönheit wiederherzustellen, nicht einmal durch eine etwas kokette Kleidung.
So hatte er nicht zu bereuen, Phöbe schon seit langer Zeit aufgegeben zu haben. Der General der Artillerie war vielumschwärmt und liebte die Abwechslung.
Nachdenklich spielte er mit einem auf dem Tisch liegenden Federmesser, er hielt es nicht einmal wie sonst für nötig, seiner früheren Geliebten den Zigarettenbecher, der in Indien eine ebenso wichtige Rolle spielt wie im Orient, anzubieten.
»Läßt Sinkolin dich nicht gehen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Er fürchtet Verrat.«
»Und nicht ohne Grund.«
»Bah, ich habe einen anderen Zweck, Delhi zu verlassen, als Sinkolins Taschenspielerkünste zu verraten.«
»Du, das laß Sinkolin nicht hören. Und was ist dein Zweck?«
Den behalte ich für mich.«
»Wenn du nicht offen bist, kann und darf ich dir ebensowenig helfen. Doch wende dich an die Begum, sie wird dir nichts abschlagen.« »Es wird mir keine Möglichkeit geboten, zu Bega zu gelangen. Stets schiebt sich Sinkolin dazwischen.«
»Nicht?« rief Francoeur mit gut erkünsteltem Erstaunen, in dem zugleich Hohn lag. »Das ist ja sonderbar. Zu einer von den drei oder vier Begums, die wir jetzt haben, mußt du doch Zutritt erhalten; denn Sinkolin, als eine einzige Person, kann doch nicht überall sein.«
»Verschone mich mit solcher Narretei,« entgegnete Phöbe ärgerlich, »wir beide brauchen uns doch nicht gegenseitig etwas weismachen zu wollen.«
»Oho, da irrst du. Ich glaube fest daran.«
»So glaube und werde selig. Willst du mir behilflich sein, daß ich Delhi verlassen kann? Freilich,« setzte sie bitter hinzu, »einen Gegendienst wie damals, als du mir dieselbe Gelegenheit verschafftest, kann ich dir nicht mehr bieten.«
»Hm, du denkst an die Renaissance der Liebe,« meinte Francoeur nachdenkend. »Weißt du, indem du mich daran erinnerst, fällt mir plötzlich etwas ein. Jetzt weiß ich, weshalb du durchaus Delhi verlassen willst.«
Phöbe konnte eine Unruhe nicht unterdrücken.
»Und das wäre?«
»Weißt du, daß Lord Westerly die Absicht hat, nach Bombay zu gehen?«
Phöbe wechselte die Farbe, aber sie wurde nicht rot, sondern noch um einen Schein fahler.
»Siehst du, ich habe richtig geraten!« lachte Francoeur. »Als du damals die Flußexpedition mitmachen wolltest, da war Westerly auch im Boot, und jetzt, da er nach Bombay geht, willst du sofort auch mit. Vielleicht als seine Gemahlin nach England?«
»Westerly nach Bombay?« flüsterte Phöbe wie geistesabwesend. »Wozu denn?«
Francoeur hustete verlegen. Er hatte Phöbes Kenntnis überschätzt, das hatte sie offenbar noch gar nicht gewußt. Aber auch sie täuschte sich in Francoeur vollkommen.
»Ja, er geht nach Bombay, wie wir von Spionen erfahren haben,« entgegnete er gleichgültig. »Ob er in Diensten reist oder auf eigene Faust, weiß ich nicht, wahrscheinlich ersteres, denn dieser Mensch hat ja überhaupt keinen eigenen Willen mehr.«
Phöbe war aufgesprungen, hatte einen Gang durchs Zimmer gemacht und sich wieder gesetzt.
»Du mußt, du mußt mir helfen, aus Delhi zu kommen!« rief sie leidenschaftlich.
»Warum willst du denn nur fort?«
»Was soll ich noch hier? Meine Mission ist erfüllt, ich bin kein kriegerisches Weib wie Bega.«
»Bah, mach keine Geschichten! Westerly ist der Grund, daß du uns verlassen willst.«
»Ja denn, meinetwegen.«
»Du liebst ihn,« sagte Francoeur lauernd.
»Ja, du hast's erraten.«
Francoeur machte ein überaus schlaues Gesicht, beugte sich vor, legte die Hand auf Phöbes Knie und schaute sie blinzelnd an.
»Phöbe, du täuschst dich in mir. Ich durchschaue dich.«
»Wieso?«
»Du liebst Westerly nicht,« flüsterte er, »sondern du haßt ihn.«
Das Weib schien erstarrt zu sein. »Woher weißt du das?« stammelte sie nach langer Pause.
»Ich habe etwas gehört, das andere habe ich mir dazu kombiniert. Nicht wahr, du haßt Westerly?«
»Ja, ich gestehe es.«
»Und warum?«
»Weil – weil – ich darf es nicht sagen.« »Ich will dir behilflich sein. Hängt dein Haß gegen Westerly mit einem vergifteten Dolch zusammen?«
Phöbe war aufgesprungen und starrte den Sprecher wie versteinert an.
»Du weißt mehr, als mir gut ist,« stieß sie hervor.
»Beruhige dich, ich wußte nichts, sondern habe es nur erraten,« lächelte Francoeur, »ich erhielt einst Andeutungen.«
»Von wem?«
»Von der Duchesse.«
»Ich konnte ahnen, daß ich ihr schon zu viel gesagt hatte,« stöhnte Phöbe auf.
Der Franzose drückte sie auf ihren Stuhl zurück. »Beruhige dich, deine Besorgnis ist ganz grundlos! Warum überhaupt hast du solche Angst, wenn jemand weiß, daß du Delhi verlassen willst, um deine Rache an Westerly zu kühlen?«
»Weil er im Dienste der Rebellen steht.«
»Wohl, wenn ich dir aber nun sage, daß das die längste Zeit gedauert hat, daß Sinkolin sich bald seiner für immer entledigen wird, wie er sich schon so manches entledigt hat?«
»Ah, sprichst du die Wahrheit, oder ist es nur eine Vermutung?«
»Vorläufig nur das letztere, so viel aber weiß ich bestimmt, daß Sinkolin ihn im Verdacht der Verräterei hat.«
»Er hielte es mit den Engländern? Das glaube ich nicht.«
»Nein, auch das nicht. Sinkolin argwöhnt sehr stark, daß Westerly uns hintergeht, indem er seine eigenen Pläne verfolgt, und ich vermute dasselbe.«
»Kläre mich auf, ich bitte dich! Das wäre allerdings günstig für mich.«
»Höre mich an!« Er dämpfte seine Stimme bis zum leisesten Flüstern herab. »Was den Indiern verborgen ist, kann uns ausgeklärten Europäern doch nicht verborgen bleiben, so sehr man sich auch Mühe gibt, uns zu verdummen. Auch du weißt, welch spitzfindiges Spiel Sinkolin getrieben hat, um die Begum aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufzurütteln und sie dazu zu bringen, daß sie alles gestattet, was der Krieg erlaubt. Die Intrigen kennst du doch auch?«
»Die, welche die Tötung Reihenfels' beabsichtigten?«
»Ja.«
»Der Mord an Reihenfels war ja nur Nebensache, Hauptsache war, die Rachsucht der Begum anzustacheln, und zwar gegen den Anführer der Engländer, gegen Lord Canning, und das ist Sinkolin glänzend gelungen. In den Augen der Begum ist jener an Reihenfels' Tod schuld; sie fordert den Geliebten von ihm zurück, oder sie droht ihm Vernichtung.«
»Was hat das mit Westerly zu tun?«
»Sehr viel. Sinkolin, diesem geschickten Taschenspieler ist es wirklich gelungen, die Begum mit einem Zaubernimbus zu umgeben. Unsere Chancen sind jetzt die besten; der Ruf:
Die Begum von Dschansi kommt, veranlaßt Indier, wie Engländer, die Waffen wegzuwerfen und zu fliehen. Das würde etwas Schönes werden, wenn die jetzt einen Sturm wagten! Sinkolin oder Timur Dhar ist nicht nur ein Gaukler, sondern auch ein politischer Hexenmeister.«
»Aber Westerly? Wo ist Westerly?« drängte das Weib ungeduldig.
»Gleich, gleich, warte nur, er kommt schon! Freilich ist auch zu bedenken, daß Sinkolin ein äußerst gewagtes Spiel riskiert hat; denn die Buranis, die Reihenfels erschossen, waren von dem Gaukler dazu geworben, die Ankläger von ihm bestochen, die Schriften von ihm gefälscht. Reihenfels starb ganz unschuldig, ebenso wie Lord Canning völlig unschuldig an seinem Blute ist. Es galt für Sinkolin ja nur, den Haß der Begum auf Lord Canning zu lenken.«
»Der arme Reihenfels!« sagte Phöbe mitleidig. »Von allen Opfern dieses Krieges bedauere ich ihn am allermeisten.« »Ach was bedauern! Krieg ist Krieg! Mich wundert nur, daß Sinkolin ihn einfach töten, ihn nicht lebendig verschwinden ließ, denn soviel ich weiß, hat der Alte mit dem jungen Mann noch ein Hühnchen zu rupfen gehabt, und sonst läßt er seine Rache nicht so leicht unbefriedigt.«
»Aber ich bitte dich, wo bleibt denn nur Westerly?«
»Unterbrich mich nicht immer! Du mußt alles hören, um mich verstehen zu können. Ein Hauptzeuge gegen Canning sollte der Jude Sedrack sein, natürlich auch von Sinkolin bestochen. Da aber ist irgendein Versehen unterlaufen, das mir nicht bekannt ist, und das sich, wie mir scheint, Sinkolin ebensowenig erklären kann. Ich glaube fest, Sedrack wäre bald als Entlastungszeuge für Canning aufgetreten, es war etwas mit einer Wechselunterschrift, von welcher Sinkolin glaubte, Canning hätte sie wirklich geschrieben, was sich aber nachher als unrichtig erwies. Ich sehe in dieser Sache nicht klar. Kurzum, Sinkolin hielt es für gut, Sedrack schnell verschwinden zu lassen, er will nach seinem Zelt, wo er gefangen war, und – fand es leer, Sedrack war schon von einem anderen befreit.«
»Von wem?«
»Ja, von wem? Jedenfalls von dem, der den Wechsel gefälscht hatte ohne Wissen Sinkolins.«
»Und der Verdacht lenkte sich auf Westerly?«
»Natürlich.«
»Ah, nun beginne ich zu verstehen.«
»Es kommt noch mehr. Um Cannings Schuld in den Augen der Begum zu vergewissern, war seine Braut, Franziska, wirklich nach Tokirha gebracht worden. Wie man vorbedacht, so geschah es. Als Canning dies aus des Juden Munde erfuhr, hatte er natürlich nichts Eiligeres zu tun, als Leute dorthin zuschicken, seine Braut abzuholen. Diese konnten Franziska vielleicht noch unterwegs einholen. Zu gleicher Zeit verließ auch Westerly das Lager; wohin er sich wandte, weiß niemand, auch keiner von unseren Spionen. Franziska aber hat Tokirha nie erreicht, ebensowenig einer ihrer Begleiter. Alle sind spurlos verschwunden und die ausgesandten Dragoner noch nicht zurück, dagegen traf Westerly bald wieder im Lager ein und sagte mit harmloser Miene, er sei da und da gewesen, was sich aber als eine Unwahrheit herausstellte. Nun, was denkst du?«
»Man glaubt, Westerly habe Franziska beseitigt.«
»So ist es, das nimmt Sinkolin wenigstens an, und ebenso, daß er schon vorher Sedrack bestochen hatte, ihm Franziska zu verschaffen. Wir wissen nämlich auch warum; es handelt sich um eine Privatrache. Aber eine solche duldet Sinkolin nicht.«
»Nun, bei dir läßt es sich vielleicht machen. Sinkolin späht nach einem Beweis von Westerlys Schuld, und dann gibt er ihn preis. Willst du mir nicht sagen, warum du ihn haßt?«
»Ja, wenn du mich dafür aus Delhi entlassen kannst.«
»Das kann ich nicht. Aber, Phöbe, ich will dir doch noch einen Gefallen tun, ehe wir uns trennen, vielleicht für immer. Ich will dir eine Unterredung mit der Begum verschaffen.«
»O, bitte, tue das!«
Francoeur sah nach der Uhr.
»Du mußt nämlich wissen,« fuhr er dann noch leiser fort, »daß Sinkolin manchmal der Begum selbst lästig wird mit seiner ewigen Geheimtuerei und vor allen Dingen, weil er sie nicht aus den Augen läßt. Er und wir alle sitzen auf einem Pulverfaß ...«
»Wieso?«
»Bedenke doch, wenn die Begum einmal erfährt, daß Reihenfels nicht von Canning, sondern auf Befehl Sinkolins getötet worden ist! Himmel und Hölle, was gäbe das für einen Aufruhr! Dann würde sich bald alles hier ändern. Dies zu verhüten, ist natürlich Sinkolins heiligste Aufgabe. Nun hat sich ein Perser hier gemeldet, ein Überläufer, der behauptet, er könne über Reihenfels' Tod wichtige Aussagen machen. Die Begum hat davon gehört, sie will ihn selbst vernehmen, und zwar ohne Beisein von irgend jemandem. Ich kenne das Zimmer, wo das Verhör stattfinden soll. Dorthin werde ich dich führen, dort sollst du die Begum sprechen.«
»Ich danke dir. Ihr werd ich alles erzählen, und sie wird mir helfen. Noch eine Frage: wie nun, wenn der Perser wirklich richtige Aussagen über den Sachverhalt macht?«
»Daß er die Wahrheit weiß, glaube ich nicht Und dann brauchst du keine Angst zu haben ...«
»O, ich habe keine, ich will nur fort von Delhi.«
»... Sinkolin hält sich doch in der Nähe auf und lauscht, und spricht der Überläufer auch nur ein verdächtiges Wort, so stirbt er von Sinkolins Hand. Eine Entschuldigung findet dieser dann schnell, er sagt einfach, er habe erfahren, daß der Überläufer einen Meuchelmord vorgehabt. O Sinkolin ist so schlau!«
»Und wann kann ich die Begum sprechen?«
»Jetzt sofort,« entgegnete Francoeur und erhob sich, »nur das eine laß dir noch gesagt sein, Phöbe. Ich glaube nämlich zu wissen, woher dein Haß zu Westerly entspringt. Du hast nicht umsonst seinen Diener so aufopfernd gepflegt. Sollte er dir etwas verraten haben?«
Phöbe antwortete nicht, und Francoeur fragte nicht weiter. Er führte seine einstige Geliebte, deren er jetzt überdrüssig geworden, durch mehrere Gänge und Korridore.
Die ihnen begegnenden Diener verneigten sich tief vor dem Kommandeur der Festung, tiefer als vor jedem noch so herrisch und prahlerisch auftretenden Radscha, denn man wußte jetzt, daß Delhi nicht durch die Großsprecherei der indischen Fürsten, sondern nur durch die Kenntnis dieses artilleristisch ausgebildeten Franzosen gehalten werden konnte.
Vor einem Gemach stand ein indischer Diener; er hatte den strengen Befehl, niemanden eintreten zu lassen, aber dem Franzosen wagte er nicht den Eintritt zu verbieten. Doch Francoeur trat auch nicht ein, er schlug nur die dichten Portieren zurück, schob Phöbe sanft hindurch und ging selbst zurück.
In diesem Gemach stand die Begum sinnend am Fenster, von dem aus sie das Hauptlager der Engländer übersehen konnte. Von den Schanzgräben stiegen Rauchwölkchen auf, man sah die Kugeln wie große Vögel mit Singen und Pfeifen einhergeschwirrt kommen, manche fuhr sausend in die viele Meter starke Mauer, daß Kalk und Steine herumspritzten, bohrte sich ein Loch, und die nächste vergrößerte es. Eine dritte Kugel fuhr unter die ersten beiden; so entstand nach und nach ein Spalt, und wie lange mochte es dauern, so war in die Mauer eine Bresche geschossen.
Die Engländer schonten zwar die Stadt selbst, aber manche Kugeln verirrten sich auch in die Straßen und richteten Unheil an. Ging es zum Sturm, ja, dann war es wohl mit der Schonung vorbei, dann spieen die Schanzgräben Granaten über die Stadt.
Dazu donnerten die Geschütze Delhis, welche die Schanzwerke zu zerstören und die feindlichen Kanonen zum Schweigen zu bringen versuchten. Selten einmal gelang ihnen das, die englischen Pioniere waren im Schanzbau zu erfahren.
Das Mädchen am Fenster war in schwarze indische Gewänder gekleidet, unter denen sie aber wie gewöhnlich ein Panzerhemd trug. Die Fülle der schweren Locken hielt ein schwarzes Band aus der Stirn zurück, und zu dieser Trauerkleidung paßten auch die Züge:
das Gesicht drückte Schwermut aus, traurig blickten die dunklen Augen auf die Fluren und Gefilde, die einst im Ährenschmuck geprangt hatten, jetzt von Hufen und Tritten zerstampft waren, und wo statt des Schnitterliedes das Brüllen der Kanonen ertönte.
Hastig wendete sie sich um, als sie jemanden eintreten hörte. Beim Anblick Phöbes nahm ihr Gesicht einen enttäuschten Ausdruck an. Doch gleich änderte er sich; wie Freude leuchtete es in ihren Augen auf, und mit ausgestreckten Armen eilte sie auf die einstige Erzieherin zu. »Ich habe dich lange nicht gesehen!« rief sie herzlich und gab ihr beide Hände. »Hältst du dich von mir fern, seit ich meinen Sinn geändert habe? Dir gegenüber bin ich noch die selbe.
Ach, was können wir Armen gegen das Schicksal! Wir müssen die Rollen spielen, die es uns zugeteilt hat, und sträuben wir uns dagegen, so zermalmt es uns; wir sind doch nur seine Sklaven. Auch du hast doch nicht freiwillig die Sklavenketten genommen.«
Wäre Phöbe nicht von etwas ganz anderem erfüllt gewesen, sie hätte den Schmerz fühlen müssen, der in den Worten des Mädchens lag. Doch sie war zu sehr mit ihrer eigenen Angelegenheit beschäftigt.
»Ich habe oft versucht, dich zu sprechen, aber ich fand keinen Zugang zu dir,« entgegnete sie; stets hieß es, die Begum habe keine Zeit, mich zu sehen.«
»Ich weiß, ich weiß, man will mich von allem fernhalten, an dem ich früher hing. Und ich bin auch wirklich fortwährend beschäftigt. Doch nun, da ich weiß, daß du noch an mich denkst, soll es anders werden. Meinem direkten Wunsch, daß du zu jeder Zeit mir willkommen bist, darf sich niemand widersetzen. Nicht wahr, du machst Gebrauch davon?«
»Begum, ich wollte ... .«
»Nenne mich nicht so, sondern wie früher.«
»Ich komme eben, Bega,« entgegnete Phöbe zögernd, »dich um Erlaubnis zu bitten, mich für immer von dir entfernen zu dürfen.«
»Für immer?« rief Bega bestürzt.
»Ich möchte fort von Delhi, frei sein.«
»Den Wunsch kann ich begreifen,« sagte Bega langsam, »und warum solltest du nicht frei sein?« fuhr sie lebhafter fort. »Deine Anwesenheit ist hier nicht mehr nötig, seitdem du dein möglichstes getan hast, den Aufstand in Indien vorzubereiten. Du tatest auch dies nicht freiwillig, ich weiß es wohl, nun aber sollst du den Dank für deine Bemühungen haben, mein Wort soll deine Ketten brechen, die dich etwa noch an Francoeur binden ... .«
Sie brach kurz ab, und auch Phöbe schwieg verlegen. Bega war längst darüber aufgeklärt worden, daß Francoeur und Phöbe nicht Bruder und Schwester waren. Doch Bega war zu edel, um Rechenschaft für diese Lüge zu fordern.
»Wer hält dich noch zurück?« fuhr Bega fort.
»Sinkolin.«
Er fürchtet Verrat von dir?«
»Es kann nicht anders sein.«
»Meine Bürgschaft muß seinen Zweifel brechen. Ich traue dir, daß du uns nicht verrätst.
Doch was willst du draußen? Hast du noch etwas, was dein Herz anzieht?«
»Ja.«
»Du Glückliche,« hauchte das Mädchen.
»Der Haß treibt mich aus den Mauern Delhis.«
Bega schaute die Sprecherin mit großen Augen an.
»Der Haß? Nun ja, er kann ein mächtiger Magnet werden, ich wäre wohl auch fähig, glühend zu hassen wenn – – – – Phöbe, auch du hast mich hintergangen; doch ich verzeihe dir, denn du handeltest nicht nach freiem Willen. Mache es wieder gut, indem du mir die Wahrheit sagst.«
»Von Reihen – –«
»Nicht, nicht,« unterbrach das Mädchen sie heftig, erzähle von dir, von deinem Leben, was dich hinaustreibt, warum du haßt und wen. Vielleicht bringt es mir Beruhigung, fremdes Leid zu hören, und vielleicht – vielleicht lerne ich etwas dabei.«
Phöbe, welche vor dem Mädchen eine Art Scheu empfand, die sie vorher nie gekannt hatte, begann ohne weitere Umstände zu erzählen; sie holte weit aus. Natürlich verhehlte sie, als sie zum Beispiel von der schwarzen Maske, ihrem Geliebten, sprach, das was sich nicht für die Ohren eines Mädchens schickte, und wäre es noch so selbständig gewesen.
Dann erzählte sie, was der Grund ihres Wunsches, fortzugehen war:, also der Tod der schwarzen Maske, und wie sie auf die Vermutung gekommen wäre, Westerly sei sein Mörder, was ihr schließlich aus Aleens Munde bestätigt wurde. Hatte Aleen ihn auch gestochen, Westerly war dennoch sein Mörder, Aleen nur das Werkzeug gewesen.
Sie beschrieb ganz genau, was sie von Aleen vernommen hatte, sie schilderte lebhaft die Mordszene, und sie geriet so in Erregung daß sie dabei heftig gestikulierte. Sie schien, auf den Zehenspitzen schleichend, den Dolch zu heben, und zuzustoßen; plötzlich brach sie zusammen.
Bega war eine unaufmerksame Zuhörerin gewesen, fortwährend lauschte sie nach der Tür, als hoffte sie, die Portiere würde jeden Augenblick zurückgeschlagen, und es träte jemand ein. Erklang ein Schritt auf dem Korridor, so zuckte sie zusammen, und ihre Augen erweiterten sich.
Erst bei dem letzten Teil von Phöbes Erzählung wurde sie aufmerksamer; sie begann sich zu interessieren, da sie aber vorher nur halb zugehört hatte, so mußte sie nach Vorangegangenem fragen, wollte sie das Ganze verstehen.
»Der Dolch war vergiftet, sagtest du?«
»Mit einem furchtbaren Gift. Aleen berührte fast nur den Hals des unglücklichen Alphons, und wie vom Blitz getroffen brach dieser zusammen.«
»Tot?«
»Augenblicklich tot.«
»Ein solches Gift gibt es nicht.«
»Ich versichere es dir. Allen selbst kennt es; die Pflanze aus der es bereitet wird, ist aber sehr selten. In ganz Indien soll es nur zwei Dolche geben, die damit vergiftet sind, sagte er.«
»Kaum glaublich,« wiederholte Bega kopfschüttelnd.
»Doch; in Wanstead kam auch zufälligerweise, als wir von Giften sprachen, Mister –«
Phöbe brach verlegen ab.
»Mister Reihenfels, sprich es aus!«
»– auch Mister Reihenfels sprach davon, es gäbe in Indien ein Pflanzengift, welches, ins Blut gebracht, augenblicklich das Leben erstarren mache. Ein Ritz, ein Stich, eine Berührung genüge, und der Herzschlag stockt. Ich entsinne mich noch genau seiner Worte.«
»Das ist ein merkwürdiger Dolch. In wessen Besitz ist er jetzt?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er in Westerlys Händen.« Auf dem Korridor ertönten Schritte. In Begleitung einiger Sepoys trat ein junger, schöner Mann ein, mit herabhängendem Schnurrbart und gelblichem Gesicht die Hände in den weiten Ärmeln verborgen.
Bega wurde von leidenschaftlicher Erregung ergriffen, als sie den Mann musterte, der vor ihr stand. Dann drehte sie sich schnell nach Phöbe um und ergriff ihre beiden Hände.
»Verzeihe, ich muß jetzt ...«
Da zuckte es hinter ihr wie eine blaue Flamme durch die Luft; der Mann hatte einen Dolch aus dem Ärmel gezogen und auf ihren Hals zum Stoß gerichtet.
Phöbe schrie laut auf – und noch eine andere Stimme.
Ein kleiner Mann mit faltigem Gesicht stürzte ins Zimmer und stieß dem Meuchelmörder – dem Perser – in dem Augenblick das Messer ins Herz, als dessen Dolchspitze den Nacken des Mädchens berührte.
Röchelnd brach der Perser zusammen, den vergifteten Dolch in der Faust. Einen Moment stand die Begum noch aufrecht, beide Hände noch ausgestreckt, um die Phöbes zu fassen, den Mund noch zum letzten Wort geöffnet, dann schlug auch sie der Länge nach auf den Boden nieder – eine Leiche!