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Wir kehren nach Delhi zurück und begeben uns durch die bekannte geheime Tür im Hause der Duchesse in die unterirdischen Gänge.
Es ist nicht mehr so einsam wie früher dort unten. In einer Grotte sitzt im Scheine einer trübebrennenden Öllampe eine Gruppe von bewaffneten Indiern zusammen. Sie unterhalten sich in flüsterndem Tone und spielen mit verschieden geformten Steinen auf einem Brett. Nur einer sitzt abgesondert und beobachtet unausgesetzt eine Sanduhr. Sobald der feine Sand aus der einen Glaskugel in die andere gelaufen ist, was ungefähr eine Viertelstunde in Anspruch nimmt, erhebt sich der Mann und verläßt die Grotte. Sofort nimmt ein anderer seinen Platz ein, dreht die Sanduhr um und beobachtet wieder das Ablaufen, bis auch er abgelöst wird.
Der Fortgegangene kommt nach fünf Minuten wieder und darf nun an der Unterhaltung teilnehmen, bis die Reihe wieder an ihm ist.
Zweimal des Tages werden auch Krüge mit Wasser und Teller mit Essen in den Gang getragen. So geht es Tag für Tag, regelmäßig läuft die Sanduhr ab, und regelmäßig entfernt sich der jeweilige Beobachter.
Wohin geht er? Was soll dieses geheimnisvolle Gebaren? Folgen wir einem der Männer! Er geht nur wenige Schritte in den Gang und bleibt stehen, unter einem Händedruck öffnet sich in der Mauer eine Tür, und schwacher Lichtschimmer fällt ihm entgegen. In der Ecke steht ein bequemes Lager, und auf demselben liegt ein Mann, ein Indier.
Seine Gestalt ist entsetzlich abgemagert, das Gesicht, der Kopf scheinen einem Gerippe anzugehören, die Augen verschwinden fast in den Höhlen.
Der Mann liegt im tiefsten Schlummer.
Da tritt der Gefangenwärter an ihn heran und schüttelt ihn so lange, bis er wach ist. Es ist nicht so leicht, der Wächter muß tüchtig schütteln; er sticht ihn auch mit dem Messer in die nackten Fußsohlen oder macht einen Draht über der Lampe heiß und brennt ihn damit.
Jedenfalls ruht er nicht eher, als bis der Gefangene völlig wach und bei Besinnung ist. Dann entfernt er sich wieder.
Nicht lange dauert es, so ist der Gefangene, der entsetzlich müde zu sein scheint, wieder eingeschlafen, aber schon kommt ein anderer Wärter und reißt ihn abermals aus dem Schlafe.
So geht es Tag und Nacht, Woche für Woche schon.
Wirklichen Schlaf findet der Unglückliche nimmer. Kaum schließen sich die müden Augen, so wird er wieder gezwungen, sie zu öffnen, und glanzlos stieren sie den Ruhestörer an.
Schlaflosigkeit ist wohl die schwerste Strafe, die man überhaupt über einen Menschen verhängen kann.
Aber kein Klagelaut entschlüpft den Lippen des Unglücklichen, geduldig erträgt er sein Schicksal. Er denkt auch nicht an Selbstmord.
Jeden Tag betritt die unterirdischen Gänge ein kleiner, alter Indier, dessen Gestalt gebückt ist, und dessen Gesicht wie faltiges Pergament aussieht.
Die Wächter springen bei seinem Eintritt auf und verneigen sich vor ihm wie vor einem Gott. Seine durchbohrenden Augen wandern schnell von einem zum andern, und wird ihm keine Meldung gemacht, so besichtigt er sofort die Gefangenenzellen.
Zuerst betritt er die Zelle des Schlaflosen. Er selbst weckt diesmal den Müden.
»Kannst du noch nicht den ewigen Schlaf finden?« fragt seine hohe, unangenehme Stimme, und sein Auge leuchtet in boshaftem Triumph auf. »Warum schläfst du denn nicht? Warum blickst du mich immer an, wenn ich in deine Zelle trete, obwohl deine Augen doch vor Müdigkeit zufallen? Du hast dich ja in England ausgeschlafen, Hira Singh, du hast ja vor den Faringis manches Mal vier Wochen lang unter der Erde und im Glassarge geschlafen, womit du dir viel Geld verdient hast. Nun kannst du nicht schlafen, vielleicht läßt dir auch der erworbene Schatz keine Ruhe. Also wache denn, Hira Singh, wache!«
Der Angeredete beachtet nicht den beißenden Spott. Es ist Hira Singh, der hier zur Strafe gemartert wird, weil er die Geheimnisse seiner Kaste verraten hat. Es ist ihm angedroht worden, er solle an Schlaflosigkeit sterben, aber nicht zu bald. Hira Singh ist ein Fakir, er gehört zu denen, die den Selbstmord verabscheuen, und so trägt er geduldig sein Schicksal und wartet nur sehnsüchtig des Augenblicks, da seine Seele den toten Körper verlassen und sich mit Brahma vereinigen wird. Jede Stunde bringt ihn seiner Erlösung näher.
Timur Dhar – das ist der kleine Mann – geht einige Schritte weiter und bleibt vor einem Mauerloche stehen, das ihm Einblick in eine andere Zelle gewährt.
Der Boden derselben ist mit Ausnahme eines schmalen Weges dicht mit spitzen, an der Erde befestigten Glasscherben bedeckt. Keine Stelle ist da, wo sich ein nackter Fuß unverletzt hätte hinstellen können. Der mitten durch diese Glasscherben führende Weg ist eben breit genug, daß ein menschlicher Fuß darauf Platz hat, und dieser Weg nur dient zum Aufenthalt des die Zelle bewohnenden Mannes.
Er war klein und ebenso mager wie Hira Singh, aber die Beine waren angeschwollen, denn entweder mußte er den Weg auf und ab wandern, oder er konnte sich höchstens am Ende des Weges an die Wand lehnen, einen nackten Fuß vor den anderen stellend. Hier konnte er auch nur schlafen, an ein Hinlegen war nicht zu denken. Am Rande des Steges waren die Scherben mit Blut gerötet, ein Zeichen, daß der ruhelos auf und ab Wandernde schon manchen Fehltritt getan, was stets eine Wunde an dem nackten Fuße zur Folge hatte.
Der Gesichtsform nach war der Mann ein Chinese, doch kein Zopf zierte sein Haupt, der Kopf war vielmehr vollständig kahl rasiert. Also hatte dieser Chinese der Ansicht seiner Religion nach das Anrecht auf den Himmel verloren.
Mit Haß ruhten Timur Dhars Augen auf dem Mann, der, als er das Gesicht an dem Mauerloche bemerkte, sich an die gegenüberliegende Wand lehnte, die Arme übereinanderlegte und trotzig den Blick erwiderte.
»Hast du den Felsentempel bei deiner langen Wanderung noch nicht gefunden?« höhnte Timur Dhar. »Ich dächte doch, du müßtest dieses Wanderns endlich einmal müde sein.
Warum legst du dich denn nicht hin und ruhst dich aus, Kiong Jang?«
»Es wird die Zeit noch kommen, da ich mich zur Ruhe legen werde und deiner endlosen Wanderung zuschaue. Vergiß nicht, daß ich Gleiches mit Gleichem vergelten werde!«
erwiderte der Chinese, dessen Mut noch nicht gebeugt worden war.
»Aber das geschieht wohl nicht mehr in dieser Welt, Kiong Jang? Wo hast du denn deinen Zopf gelassen?«
»Es ist nicht nötig, daß du mich jeden Tag an meine Schmach erinnerst. Unausgesetzt grübele ich darüber nach und rufe mir ins Gedächtnis zurück, von wem ich einst meinen Zopf zu fordern habe.«
»Wann wirst du mit deiner Forderung wohl hervortreten?«
»Wenn die Zeit gekommen ist. Dann werde ich von dir, Timur Dhar, und von dem Priester der Thags, der Radscha Tipperah genannt wird, meinen Zopf und meinen Gott wiederfordern.«
»Diese Zeit wird wohl niemals kommen.«
»Sie wird kommen.«
»So hoffe denn, und einstweilen kannst du hier spazieren gehen, zopfloser Chinese, Ausgestoßener aus dem himmlischen Reiche!«
Machte Timur Dhar bei diesen beiden seinem Hasse in solcher Weise Luft, so verhielt er sich ganz anders bei dem dritten, den er ebenfalls regelmäßig zu besuchen pflegte. Auch diese Zelle betrat er nicht, er blickte nur durch das Mauerloch hinein, aber sein Gesicht strahlte jedesmal förmlich vor befriedigter Rache.
Diese Zelle enthielt einen jungen Mann, einen Europäer, keinen Eingeborenen. Der Gefangene wurde durch nichts gequält, keine Strafe war über ihn verhängt worden, mit Ausnahme der Freiheitsberaubung. Die Zelle war sogar komfortabel ausgestattet, nichts fehlte hier zur Bequemlichkeit, die Wächter brachten die besten Speisen herein, und doch drückte das Gesicht des jungen Mannes das tiefste Elend und Unglück aus, und gerade diesen Mann haßte Timur Dhar, wie er noch nie gehaßt hatte.
Sonderbar, wie sich die beiden verhielten! Erschien des Gauklers Gesicht an dem Mauerloch, so trat ihm der Mann sofort gegenüber, und beide sahen sich stumm an. Der eine schien vor Haß zu kochen und zugleich vor Triumph zu strahlen, der andere begegnete fest dem gehässigen Blick. Keine Miene zuckte in dem Gesicht, das namenlosen, inneren Schmerz verkündete. Nur Vorwurf konnte man in dem Blick lesen.
Selten einmal wechselten die beiden einige Worte. »Sie hat deinen Tod gerächt,« sagte der Gaukler einmal. »Achtzehn gefangene englische Offiziere hat sie mit eigener Hand erschossen; dann hat sie sich eingeschlossen, und ich hörte, wie sie um dich geweint und gejammert hat.«
Langsam hob der Angeredete die Hand und drohte dem Gaukler.
»Hüte dich, Timur Dhar,« sagte er mit dumpfer Stimme, aber nachdrucksvoll. »Wehe dir und allen denen, die mit dir im Bunde sind, wenn sie einmal von deinem Betrug erfährt! Wehe dir, Timur Dhar, wenn diese Mauern einmal fallen und das Verborgene an das Tageslicht kommt! Du wirst dein kühnes Spiel einst noch bereuen – denke an mich!«
»Sie wird es nicht erfahren, du aber sollst noch lange leben und als Toter von ihr beweint werden. Ja, du selbst sollst sie noch einmal um dich klagen hören. Vernimm, was ich ersonnen habe, um dein Herz, mit neuen Qualen zu erfüllen. In wenigen Tagen soll dein Leichnam gefunden werden, in welchem Zustande, kannst du dir selbst ausmalen. Größe, Haare und ganz besonders deine Kleider und der Ring, den ich dir abgenommen habe, kennzeichnen dich. Du wirst in einem Katafalk aufgebahrt, begraben, und von einem Verstecke aus sollst du deiner eigenen Trauerfeierlichkeit beiwohnen. Du sollst sehen, wie man dich nach deinem Tode ehrt, und wie sie sich die Haare rauft und die Hände ringt, du sollst die Worte hören, die sie dir ins Grab nachruft. Hahaha!«
»Verruchter, elender Lügner,« brauste da der Mann auf, »der du mich mit Lug und Trug ins Unglück gelockt hast, der auch noch zahllose andere Menschen namenlos unglücklich macht! Die Strafe Gottes wird dich noch treffen – mehr habe ich dir nicht zu sagen, dir Ausgeburt der Hölle!«
Höhnisch lachend, mit seinem Erfolge vollständig zufrieden, verließ Timur Dhar das Mauerloch.
Einige Tage später, es war noch am Morgen, welcher hier unten jedoch nicht bemerkbar war, schraken die spielenden und schwatzenden Wächter jäh in die Höhe; denn Timur Dhar kam in die Grotte geeilt oder vielmehr gestürzt, hielt sich diesmal nicht bei den Wächtern auf, sondern stürmte weiter, jener Zelle zu, welche den jungen Engländer barg.
Noch niemand hatte den mächtigen Gaukler, der sich sonst so zu beherrschen wußte, in solcher Aufregung gesehen. Um sie zu verbergen, hatte er auch wahrscheinlich das Gesicht verhüllt, aber schon seine Bewegungen verrieten die furchtbare Erregung.
Zum ersten Male auch betrat er die Zelle des Engländers, und zwar ebenfalls mit äußerster Hast.
Der Gefangene schaute verwundert und mißtrauisch auf.
»Du bist ein Arzt in deinem Heimatlande, nicht wahr?« stieß Timur Dhar atemlos hervor.
Der Gefangene zögerte entweder mit der Antwort, oder er wollte überhaupt nicht antworten. Mit noch größerer Erregung wiederholte der Gaukler seine Frage; seine Stimme bebte, die Ärmel, welche die Hände verbargen, zitterten, ja, selbst sein ganzer Körper. Es mußte etwas Außergewöhnliches, etwas ganz Ungeheuerliches passiert sein, was den Gaukler so außer Fassung brachte.
»Ich habe keinen Grund, dir zu antworten,« entgegnete der Gefangene ruhig.
»Sprich, sprich, bist du ein Arzt? Du mußt mir antworten, es ist ein Menschenleben in Gefahr.«
»Die Menschen, welche du am Leben erhalten willst, sind sicher nicht des Lebens wert.
Mögen sie sterben!«
»Weißt du, wessen Leben und Tod es gilt?«
»Was kümmert's mich.«
Obgleich der Gefangene ihm ausweichen wollte, näherte der Gaukler den Mund seinem Ohre und flüsterte ihm etwas zu, als dürften selbst diese kalten Mauern nichts von dem Geheimnis erfahren.
Wie vom Blitze getroffen taumelte der Gefangene zurück, er zitterte, erbleichte und stützte sich auf den Tisch.
»Du willst mir nur von neuem Schmerz bereiten; ich kenne dich, Timur Dhar.«
»Nein, nein, ich spreche die Wahrheit. Merkst du es denn nicht?«
»Ja, ich glaube dir. Sie ist tot.«
»Anscheinend tot, vergiftet! Bist du ein Arzt?«
»Nein.« »Nicht? Aber du kennst die Gifte dieses Landes und noch andere, die nicht einmal ich kenne.«
»Allerdings, ich verstehe mich auf Gifte und ihre Gegenmittel. Wie ist sie vergiftet worden?«
Auch der Gefangene wurde von derselben Erregung ergriffen. Schnell wechselten die Reden hin und her.
Der Gaukler zog unter dem Mantel einen Dolch hervor.
»Hier, durch diesen Dolch.«
»Sie ist erstochen worden?«
»Nein, die Spitze berührte nur ihren entblößten Nacken, bloß ein winziger Stich ist zu sehen, und leblos brach sie zusammen.«
»Das ist nicht möglich. Schurke, du stellst mir eine neue Falle.«
»Was ist nicht möglich?«
»Es gibt kein Gift, welches sofort tötet.«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. In derselben Stellung, wie sie eben stand, den Mund noch zum Sprechen geöffnet, so fiel sie zu Boden und war steif.«
»Steif?«
»Steif wie ein Toter, kein Herz- oder Pulsschlag mehr zu fühlen, es fließt kein Blut.«
Es war fast, als ob mit dem Gefangenen eine Änderung vor sich ginge. Seine leicht gebückte Gestalt richtete sich auf, wie ein Zucken huschte es über sein Gesicht. Es war vielleicht zum ersten Male, daß Timur Dhar solch eine Verwandlung an einer Person, mit der er sprach, entging. Er war eben zu sehr von einem anderen Gedanken eingenommen.
»Ich kenne allerdings ein Gift, welches so wirkt,« sagte der Gefangene langsam, »aber es ist schwer zu bekommen, hier in Indien wohl gar nicht, obgleich die Pflanze hier wächst.«
»Und kennst du ein Gegenmittel?« fragte der Gaukler hastig.
»Gibt es denn überhaupt ein Mittel gegen den Tod? Und dennoch – zeig mir den Dolch!«
Der Gaukler zögerte unschlüssig, ob er dem Gefangenen die furchtbare Waffe in die Hand geben dürfe.
»Wenn du mich fürchtest, so hättest du nicht erst zu mir kommen sollen.«
Er erhielt den Dolch.
Der Gefangene verfuhr ganz so seltsam wie Aleen, als er seinen Herrn zum ersten Male über die Eigenschaften des Dolches aufklärte. Er zog den Stahl heraus, hielt ihn gegen das Licht und schwibbte ihn dann durch die Luft, als wolle er einen an der Spitze hängenden Tropfen abschleudern. Dasselbe Manöver wiederholte er nochmals.
Gespannt, ja, fast angstvoll hatte ihm der Gaukler zugeschaut.
»Kennst du ein Mittel, welches den durch dieses Gift herbeigeführten Tod verhindert?«
»Ich denke, sie ist schon tot?«
»Ja. Kannst du sie wieder lebendig machen?«
»Fürwahr, Timur Dhar, König der Gaukler,« sagte der Gefangene mit Ironie, »du verlangst viel von mir. Wann ist der Tod eingetreten?«
»Sofort, sagte ich.«
»Ich meine, wann erfolgte die Vergiftung?«
»Vor höchstens fünf Minuten.«
»Nicht länger?«
»Nein.«
Der Gefangene sann nach, ab und zu den Dolch prüfend betrachtend.
»Ich muß mich erst überzeugen, ob dies das Gift ist, dessen Eigenschaften ich kenne. Ist es dasselbe, so ist eine Wiederbelebung nicht unmöglich, ist es ein anderes, so möge Gott dir gnädig sein, denn du hast ein neues Opfer auf deinem Gewissen. Sprich nicht, sie ist doch dein Opfer! Jetzt schaffe mir ein Tier herbei, einen Hund oder besser eine Katze. An ihnen will ich die Eigenschaften dieses Giftes probieren.«
Der Gaukler stürzte mehr davon, als er lief, und während seiner Abwesenheit schritt der Gefangene mit verschränkten Arnien in der Zelle auf und ab. Er war in tiefes Sinnen versunken, man sah ihm an, daß sein Gehirn hinter der hohen, freien Stirn mächtig arbeitete.
Dann huschte ein freudiger, hoffnungsvoller Zug über das sonst so traurige Antlitz.
Timur Dhar kam mit einer Katze im Arm zurück. Der Gefangene drückte das Tier mit der einen Hand fest auf den Tisch, wobei er sich bemühte ihm eine möglichst unnatürliche Stellung zu geben, stach ihm mit der Dolchspitze ins Ohr und fühlte sofort, wie das Leben unter seiner Hand erstarrte. Wie er die Katze gehalten hatte, so lag sie da, bewegungslos, steif und ohne eine Spur von Leben. Aus einer Schnittwunde floß kein Blut, die Glieder ließen sich nur mühsam biegen.
»Sie ist tot,« sagte der Gefangene.
»Wer?« schrie der Gaukler entsetzt aus.
»Sie ist tot, das Leben ist entflohen,« wiederholte der Gefangene und blickte den Gaukler scharf an.
»Es ist nicht möglich, es kann nicht sein!«
»Überzeuge dich selbst.«
Der Gaukler tat es mit zitternden Händen, dann wendete er sein Auge angstvoll nach dem Gefangenen.
»Keine Rettung mehr möglich?«
»Führe mich zu ihr!«
»So hast du noch Hoffnung? Dann ist sie auch nicht tot. Es ist nur ein Scheintod.«
»Du sagst es, es ist nur ein Scheintod, ein Erstarren des Lebens. Aber sie stirbt doch, wenn sie nicht bald wieder zum Leben erweckt wird. Ich kenne das Gift und seine Eigenschaften. Nur ich bin imstande, sie dem Leben zu erhalten – wenn es noch nicht zu spät ist.«
»So komm schnell, komm!« drängte der Gaukler, faßte ihn beim Arm und zog ihn mit sich. »Komm, keine Minute ist zu verlieren.«
Wie sehr hatte sich der Gaukler dem Gefangenen gegenüber, den er sonst in seinem Hasse höhnte, verwandelt! – Im Turmzimmer lag eine Leiche aufgebahrt, die der Begum von Dschansi. Nichts als die Bewegungslosigkeit, das Fehlen des Atemholens und Pulsschlages verriet ihren Tod. Die Wangen zeigten noch unter der braunen Haut ein leichtes Rot, die Lippen waren noch halb geöffnet und ließen die weißen Zähnchen hervorblitzen.
Timur Dhar hatte, als sie zu Boden gestürzt war, schnell einen Mantel über sie geworfen und sie selbst dann hierhergetragen, wo kein Lauscher zu fürchten war. Phöbe mußte ihm folgen und behilflich sein, auch bei der Leiche bleiben, während er davoneilte zu dem einzigen, von dem er noch Hilfe erhoffte. Kein anderer Mensch sollte erfahren, daß die Begum von Dschansi tot war, wenigstens jetzt noch nicht.
Tränenden Auges bog sich Phöbe über das so plötzlich in der blühendsten Jugend dahingeraffte Mädchen. Ach, auch Bega war einer Tücke zum Opfer gefallen. Phöbe dachte im Augenblick nicht daran, welche Rolle dieser vergiftete Dolch auch in ihrem Leben gespielt hatte – denn daß es derselbe war, durch welchen Lacoste fiel, daran zweifelte sie nicht – sie beschäftigte sich nur mit dem unglücklichen Mädchen. Was hatte sie von ihrer Jugend gehabt? Wie kurz waren die Jahre gewesen, in denen sie das Leben mit heiterem Auge sah, und auch da hatte sie keine Elternliebe gekannt. Fürwahr, das Schicksal hatte grausam mit ihr gespielt, und noch grausamer böse Menschen. Eine fast freudlose Kindheit, als Jungfrau für den Krieg erzogen! Sie hatte nie gewußt, welches Land sie ihre Heimat nennen sollte. Wohin sie kam, wurde sie als eine Fremde angesehen. In England galt sie als eine Indierin, und als sie nach Indien kam, nannte man sie ebenfalls eine Fremde. So wurde dem Mädchen aus der Fremde der Himmel, die Nirvana, als Heimat zugewiesen, und in diese war sie jetzt zurückgekehrt.
Trübe schüttelte Phöbe den Kopf. Sie wußte besser, wo sich die Heimat dieses fremden Mädchens befand, sie hätte ihr zu einer solchen verhelfen können, aber ihre Zunge war gebunden, und jetzt war es auch zu spät – überall zu spät, wohin Phöbe blickte. Lebte sie noch, und Phöbe würde sie nach ihrer Heimat führen, sie käme doch wieder in eine Fremde, denn niemand lebte mehr, der sie liebend empfangen hätte.
Und das alles war Timur Dhars Werk – und Phöbe selbst hatte dabei mitgeholfen.
Mit zarter Hand versuchte sie der Toten die Augen zuzudrücken, sie vermochte es nicht.
Die Lider blieben starr und unbeweglich. Kaum konnte sie die Glieder zurechtlegen, die Arme strecken, denn Bega hatte erst mit in die Höhe gereckten Armen dagelegen. Phöbe mußte Gewalt anwenden, ehe sie die Glieder in eine richtige Lage zu bringen vermochte.
Da kamen Schritte herbei, Timur Dhar trat herein, und mit ihm noch eine andere Person, in einen langen Mantel gehüllt, der bis zu den Füßen reichte und Gesicht und Kopf vollständig bedeckte.
Beim Anblick Phöbes stutzte der Gaukler einen Moment, als hätte er sie nicht hier zu finden erwartet, dann wandte er sich hastig an den Vermummten.
»Betrachte sie, untersuche sie und gib dein Gutachten!«
Der Vermummte trat an das leblose Mädchen und legte ihm eine Hand auf den Busen.
Nicht dieser bewegte sich, wohl aber die Hand. Sie zitterte; ein innerer Kampf erschütterte den Körper, und hinter dem Kopftuch hervor klang es wie Schluchzen.
»Sie ist tot!« sagte eine Stimme, bei deren Klang Phöbe verwundert aufhorchte.
»Scheintot nur!« fügte Timur angstvoll hinzu.
»Nein, nicht eigentlich scheintot. In diesem Körper hat das Leben aufgehört, die Seele hängt nur noch an einem schwachen Faden. Kein Teil funktioniert mehr, alles ist tot. Hier sind Geist und Körper in zwei Teile getrennt.«
»So halte sie zusammen, mache sie wieder lebendig, wenn du kannst!«
»Ich kann es, aber ich stelle Bedingungen.«
»Bedingungen? Wie?«
»Ja, Timur Dhar. Nur ich kann diesem schon kalten Körper das warme Leben wiedergeben, aber ich tue es nicht eher, als bis ...«
»So werde ich dich dazu zwingen,« unterbrach Timur ihn heftig.«
»Mich zwingen?« wiederholte der Vermummte spöttisch. »Laß dir gesagt sein, Timur, daß ich mich durch keine Gewalt oder Folter der Erde zwingen lasse, etwas zu tun, was gegen meinen Willen ist. Ich tue es nur, wenn du gewillt bist, meine Fragen zu beantworten.«
Timur schien nicht dazu geneigt zu sein.
»Überlege schnell, Timur! Der Faden, der die Seele an den Körper noch bindet, ist dünn und zerreißt bald.«
»Welche Fragen?«
»Die ich an dich stelle, gleichviel welche!«
»So frage denn!«
Er wollte den Vermummten, der die Hand an das Kopftuch legte, schnell daran hindern, dieses zurückzuschlagen, aber schon war es geschehen.
War Phöbe schon erstaunt über das Gespräch gewesen, welches sie gehört, besonders darüber, daß Bega gar nicht tot sein sollte, so prallte sie vor dem enthüllten Antlitz mit Entsetzen zurück.
»Reihenfels!« schrie sie auf.
»Ja, ich bin's. Timur Dhar, fürchte nicht, daß diese deine Pläne verrät! Ich glaube, gar viele ahnen, daß ich nicht tot bin, denn du willst den, den du haßt, weil er schlauer war als du, sicher nicht einfach töten. Ja, Phöbe, ich bin Reihenfels, Oskar Reihenfels, und ich war nie tot. Dieser Mann hat mich mit schurkischen Listen dazu bestimmt, mich selbst für einen Toten auszugeben, und dann, als ich anderen Sinnes wurde, weil ich seine Schurkerei durchblickte – leider zu spät – sorgte er dafür, daß ich auch ferner noch für tot gehalten wurde.«
Der Gaukler war aschfahl geworden; mit furchtbar drohendem Blick trat er auf Reihenfels zu.
»Dein Leben liegt in meiner Hand,« zischte er, »bei der heiligen Kali, hüte deine Zunge, oder – –«
»Und dieses Leben hier liegt in meiner Hand. Nimmst du mir das meine, so ist auch dieses verloren, denn kein anderer wird wieder Leben in diesen toten Körper bringen können.
Timur Dhar, ich weiß, wieviel dir an der Erhaltung der Begum liegt.«
Timur war entwaffnet, er knickte förmlich zusammen.
»Willst du also meine Frage beantworten?« fuhr Reihenfels mit lauter, klarer Stimme fort.
»So frage denn!«
»Wer ist dieses Mädchen?«
Er deutete mit dem Finger nach Bega und blickte dabei den Gaukler scharf an. Wie ein Rachegott stand er vor ihm.
Timurs Blick streifte scheu zu Phöbe hinüber; noch antwortete er nicht.
»Fürchte dich nicht vor Madame Dubois! Was du zu sagen hast, das weiß sie schon längst, ebenso wie ich, war sie es doch, welche Bega erzogen hat. Offene, wahre Antwort will ich haben.«
»Wenn du es weißt, warum fragst du?«
»Es soll mir eine Genugtuung sein, aus deinem eigenen Munde zu hören, daß ich immer das Rechte erraten habe, die einzige Genugtuung, die mir im Leben für langes Leiden zuteil wird. Denn daß du mich wieder gefangensetzen wirst, daran zweifle ich nicht. Ich rette dieses Mädchen nicht, um es dir zu erhalten, sondern weil ich es liebe. Also, wer ist sie?«
»Eine Engländerin!« entgegnete Timur gepreßt.
»Das genügt mir nicht, antworte ein anderes Mal deutlich. Diesmal will ich dir behilflich sein, weil ich mir denken kann, wie schwer dir dieses Geständnis wird. Ist das hier liegende Mädchen Eugenie, die geraubte Tochter ...«
»Halt ein,« rief der Gaukler mit allen Zeichen des namenlosesten Entsetzens, »wenn sie nur scheintot ist, wenn sie hören kann!«
»Dadurch verrätst du, Timur, daß du nichts weiter als ein Barbier bist,« entgegnete Reihenfels verächtlich, »von ärztlichen Kenntnissen hast du keine Spur. Sonst müßtest du wissen, daß, wenn der Herzschlag stillsteht, auch jede Funktion der Sinne erloschen ist.
Willst du mir nun antworten oder nicht?«
»Ich will alles rückhaltlos gestehen, nur rette sie!« rief Timur in fast flehendem Tone.
»Ist die Begum von Dschansi Eugenie, die geraubte Tochter Sir Frank Carters?«
»Ja.«
»Wer half dir dabei?«
»Hedwig, Sir Carters indische Dienerin.«
»Warst du es auch, welcher die öffentliche Vorstellung gab?«
»Ja. Ich wartete auf eine Gelegenheit, daß ich in Carters Haus gerufen würde.«
»Und wer war der Gaukler, welcher zu gleicher Zeit bei dem Lord die Vorstellung gab?«
»Ein mir ähnlicher Mann.«
»Du verschlucktest im Gefängnis die Zunge und ließt dich begraben?«
»Ja. Der andere Gaukler grub mich mit seinen Genossen wieder aus.«
»Dann reistest du mit dem geraubten Kind nach Indien?«
»Ja.« »Wozu hattest du es geraubt?«
»Es ging unter den Indiern eine Sage, daß 100 Jahre nach der Schlacht bei Plassy ein fremdes Mädchen kommen würde, welches das Volk vom englischen Joche befreien würde.
Dazu brauchte ich ein Kind. Ich wählte eine Engländerin aus guter Familie, mit gesunden und kräftigen Eltern, mit einer intelligenten Mutter und einem willensstarken, etwas jähzornigen Vater. Denn die Mutter gibt dem Kinde den Geist, das Gefühl, der Vater ihm den Willen. Die Familie Carter schien mir geeignet dazu, und ich habe mich nicht getäuscht.«
Reihenfels atmete hoch auf und strich sich über die Stirn. Sein Auge ruhte dabei auf dem bewegungslosen Gesicht der Begum.
Phöbe hatte sich noch immer nicht von ihrer Bestürzung erholt, hier den totgeglaubten Reihenfels wiederzusehen. Und nun sollte auch Bega zum Leben wieder erwachen! So war Alphons damals auch nicht wirklich tot gewesen, sondern erst hinterher in der Themse, in die man ihn geworfen, ertrunken? »Wo ließt du Eugenie erziehen?« fuhr Reihenfels in der Examinierung fort.
»In Bengalen. Monsieur Francoeur, ein gebildeter Franzose, war ihr Erzieher, später auch diese Dame.«
»Was hatte Radscha Tipperah, der Priester der Thags, dabei zu tun, als die Erziehung Eugenies in Wanstead fortgesetzt wurde?«
»Einmal sollte er die französischen Erzieher überwachen und uns Bericht erstatten, und dann brauchten wir eine indische Person, um Eugenie für eine Indierin ausgeben zu können.«
»Und alles dieses geschah auf deine Veranlassung hin?«
»Ja.«
»Du sorgtest auch dafür, daß Eugenies Herz mit Haß gegen die Engländer erfüllt wurde?«
»Nach besten Kräften.«
»Wer ist an dem Unglück Sir Carters schuld?«
»Ich nicht.«
»Aber Nana Sahibs Weib, Ayda, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ayda ist Lady Carters Schwester?«
»Ja.«
»Weil sie von Sir Carter, dem sie als Braut die Treue gebrochen hatte, verachtet wurde, haßte sie ihn und ebenso ihre Schwester, weil diese ihn glücklich gemacht hatte, und Ayda war es, welche deine Aufmerksamkeit auf das Kind der verhaßten Schwester lenkte.«
»Du sagst es.«
»Sie war es auch, welche durch verschiedene Intrigen den unschuldigen Carter zum Hochverräter stempelte.«
»Ja, und ich lieh ihr meine Hilfe dabei.«
»Sie wußte, daß er im Felsentempel der Kali schmachtete?«
»Ja, und sie freute sich darüber.«
»Und wo ist Sir Carter jetzt?«
»In diesem Hause befindet sich eine Falltür, welche in eine Schleuse führt. Sir Carter wurde hier manchmal gesehen, nachdem ihm seine Flucht aus dem Felsentempel geglückt war. Er war halb oder völlig wahnsinnig, man nannte ihn das wandernde Feuer, wegen des brennenden Zweiges, den er bei sich trug. Ayda oder Isabel, wie sie früher hieß, hatte ihre Schwester gefangen und kühlte ihren Haß damit, daß sie dieselbe in diesem Hause bei einem Gastmahl, dem Emily in Ketten beiwohnen mußte, schmachten ließ. Da kam das wandernde Feuer, trieb die Gäste davon und befreite Emily, seine Gattin. Carter wollte sich, Emily auf dem Arme, wieder zurückziehen, da öffnete Ayda die Falltür und ließ beide in die Schleuse hinabstürzen. Sie müssen dabei ihren Tod gefunden haben.« »So hat Ayda, Nana Sahibs Weib, oder die Duchesse, wie sie auch genannt wurde, ihre Schwester und den Schwager ermordet?«
»Sie hatte es ihnen geschworen.«
»Und um alles dies wußten auch Bahadur und Nana Sahib?«
»Sie wußten nur die Hauptsache.«
»Wer ist Eugen, der indische Knabe, der an Stelle von Eugenie untergeschoben wurde?«
»Radscha Sirbhangas Sohn.«
»Erkläre mir näher, was du mit diesem vorhattest!«
Timur Dhar überwand sein Zögern.
»Es wurde die Prophezeiung verbreitet, aus Dschansi sollte Indiens König hervorgehen, nachdem das fremde Mädchen Indien befreit hätte. Wir wollten es so einrichten, daß der Sohn Sirbhangas die Begum heirate. Es kann dir nicht unbekannt sein, daß wir uns redliche Mühe gaben, eine Verbindung zwischen beiden herbeizuführen.«
»Daß Bega aber mich liebt, war euch hinderlich.«
»Natürlich.«
»Deshalb verdächtigtet ihr mich auch bei ihr,« wandte sich Reihenfels an Phöbe.
»Ja,« gestand diese.
»Und wo ist Sirbhanga nun?«
»Er ist tot!« entgegnete Timur.
»Sein Vater, das weiß ich. Statt sich mit ihm zu messen, arrangierte Nana Sahib einen Zweikampf mit einem Tiger, und verwendete dabei einen gezähmten Tiger, den er auf Sirbhanga hetzte. Daß ich dies erfuhr, das hat mir besonders deinen Haß zugezogen, Timur Dhar.«
»So ist es.«
»Wo ist Eugen jetzt?«
»Er kämpft auf Seite der Indier.«
»Also übergetreten! Wie hast du dies erreicht?«
Timur warf erst Phöbe wieder einen scheuen Blick zu, ehe er antwortete.
»Eugen wurde verwundet, und während seiner langen Krankheit wurde er von einer Bajadere gepflegt, die der Begum sehr ähnlich sah. Eugen glaubte, es sei die Begum selbst, die Bajadere mußte dies auf meinen Befehl auch zugeben; sie umstrickte ihn mit Liebe, und auf das Versprechen, sie einst zu besitzen, trat er zu den Indiern über.«
»Die Bajadere gab sich fälschlich für die Begum aus! Wie heißt sie?«
»Kalidasa.«
»So ist auch Eugen ein Opfer deiner Schurkerei!«
»Er ist ein Indier und gehört zu uns.«
»Er hat seinen Schwur gebrochen!«
»Der Schwur war ein erzwungener.«
»Wir wollen nicht darüber streiten. Noch etwas anderes will ich von dir erfahren, hier neben dem Mädchen, das ich mit aller Kraft meines Herzens liebe, ehe du mich wieder in den dunklen Keller zurückführst, den ich wohl nie verlassen werde.«
»Mache es kurz. Du sagtest selbst, nicht lange ließe sich das Leben in diesem starren Körper halten.«
»Es ist noch Zeit genug. Jetzt sollst du hier offen gestehen, auf welch schändliche Weise du veranlaßtest, daß ich auf deinen Plan, mich für einen Toten auszugeben, einging.«
»Siehst du ein, daß ich dich überlistete?« fragte Timur mit höhnischem Triumph.
»Ja, durch Lug und Trug gelang es dir. Du hattest uns belauscht, als ich mich im Zimmer der Begum aufhielt, um von ihr die Befreiung meiner Schwester zu erbitten. Du wußtest, daß wir uns liebten, und das kam dir ungelegen. Dein Entschluß, mich zu vernichten, aber nicht zu töten, war sofort gefaßt, du wolltest erst deinen Haß an mir auslassen. Als Bega verkleidet, kamst du zu mir, gabst dich für dieselbe aus, locktest mich in ein Gefängnis und hieltest mich dort so lange fest, bis du deinen teuflischen Plan ausgeheckt und vorbereitet hattest.
Ahnungslos ließ ich mich von dir ins Freie führen, ich hielt dich immer für die Begum selbst.«
»Du hast mich sogar geküßt,« unterbrach ihn Timur spöttisch.
»Wenn du diesen Judaskuß nur nicht noch einmal sühnen mußt! Am Lager angekommen, nahmen mich Buranis, die in deinem Dienste standen, fest, sie untersuchten mich und fanden bei mir verdächtige Papiere vor, die du mir erst heimlich zugesteckt hattest. Außer meinem Verschwinden galt es dir hauptsächlich, Lord Canning als den Schuldigen hinzustellen, als hätte er mich erschießen lassen, weil er mich als Mitschuldigen fürchtete.«
»Ist mir nicht alles gelungen?«
»Dadurch erregtest du den Zorn und Haß der Begum, du lenktest ihn auf Lord Canning, auf die ganze Nation, welche meinen Tod herbeigeführt hatte. Ja, es ist dir leider gelungen; du verstandest es vortrefflich, die Liebe eines Mädchens zu benutzen und sie in Rachsucht zu verwandeln. Wie du es angefangen hast, weiß ich nicht, jedenfalls hast du viele dir ergebene Subjekte veranlaßt, mich als Spion zu bezeichnen. Das Todesurteil, welches Canning unterschrieben haben soll, hast du selbst ausgestellt, du selbst hast es mir gestanden, um mich niederzuschmettern.«
»Wenn du es schon weißt, warum wiederholst du alles noch einmal?« fragte Timur Dhar.
»Weil es mir so gefällt. Die Buranis unter Kapitän Barber waren von dir erkauft. Ich sollte von ihnen erschossen werden. Natürlich wußte ich, daß alles dies eine teuflische List der Rebellen war, und im Hintergrund sah ich dich stehen. Doch ich beschloß, mich in das Unvermeidliche zu fügen. Da trat Kapitän Barber zu mir ins Zelt,« fuhr Reihenfels mit erhobener Stimme fort, »und sagte folgendes zu mir: Du, Timur Dhar, habest zwar meine Erschießung befohlen, doch von anderer Seite sei ihm der Befehl zugegangen, mein Leben zu schonen! Barber tat geheimnisvoll, er ließ durchblicken, daß er auf Befehl der Begum selbst handle. Nun aber dürfe er Timur Dhar doch nicht trotzen, und so griff er zu einer List. Er würde den Soldaten nur Platzpatronen in die Gewehre geben, ich aber müsse mich stellen, als wäre ich wirklich erschossen, denn Timur Dhar solle getäuscht werden. Um mein Leben brauche ich nicht besorgt zu sein. Wenn ich ins Wasser stürzte, würde mich sofort Kulwa, der Froschmensch, der in den unterirdischen Gängen dieses Gebäudes haust, fassen und mich in Sicherheit bringen. Der Mann sprach so, daß ich ihm glauben mußte. Ich wurde am Uferrande der Dschamna aufgestellt, ich sah die Soldaten anlegen, sah die Schüsse blitzen, fühlte mich aber von keiner Kugel getroffen. Der Verabredung eingedenk, griff ich nach meinem Herzen und ließ mich rücklings in den Strom fallen. Kulwa nahm mich wirklich sofort in Empfang, brachte mich vorläufig in ein Schilfversteck, und von hier aus wurde ich noch Zeuge der Sprengung der Brücke. Dann führte mich Kulwa weiter fort, brachte mich aber nicht zu der Begum, sondern in ein unterirdisches Verlies, wo erst die Mißgeburt ihren Zorn an mir ausließ, ich weiß nicht warum – wahrscheinlich hast du ihn gegen mich aufgehetzt – dann erschienst du und brachtest mich in meine bisherige Zelle. Voll Gift und Geifer schildertest du mir deine Intrigen, du spartest keine Worte, mein Herz zu zerreißen.
Ich hörte von dir, wie auch Barber nur in deinem Auftrag gehandelt hatte; denn du wolltest mich lebendig haben, zugleich sollte Lord Canning als mein Mörder gelten, um die Begum gegen ihn aufzureizen. Alle Zeugen deines doppelten Spieles vernichtetest du; teils kamen sie sofort beim Sprengen der Brücke um, teils tötetest du sie mit eigener Hand. Du verstandest es vortrefflich, mir den Jammer der Begum zu schildern, als sie meinen Tod erfuhr, du zerfleischtest mein Herz. Ja, Timur Dhar, du hast deinen Zweck vollkommen erreicht.«
»Siehst du es ein?« entgegnete Timur mit unterdrücktem Triumph. Gern hätte er noch das volle Maß seines gehässigen Hohnes über Reihenfels ausgegossen, allein die Zeit drängte. Vor allem lag ihm daran, der Begum Leben zu erhalten; denn ohne sie glaubte er alle seine Hoffnungen für verloren.
»Wenn du noch eine Frage hast, so stelle sie schnell, und ich will sie beantworten. Dann aber zögere nicht länger, der, welche du liebst, das Leben wiederzugeben. Sonst bist du schuld an ihrem Tode, und immer würde ich dich daran erinnern.«
Timur wußte ganz genau, daß Reihenfels nicht zu denen gehörte, welche, wenn sie den Tod vor Augen sehen, am liebsten auch alles das mit sich ins Grab nehmen möchten, an dem sie während des Lebens gehangen haben, nicht nur die zusammengescharrten Schätze, sondern auch ihre Lieben, wie unsere Vorväter und die Krieger anderer Nationen bei ihrem Tode ihre Lieblingspferde schlachten ließen, viele sogar ihre Weiber.
Reihenfels zog den Dolch hervor, den er noch immer besaß, betrachtete aufmerksam den Griff, drückte hier und da, schraubte daran, und nach Entfernung einer Platte zeigte sich, daß der Griff hohl war. Er roch hinein und nickte befriedigt mit dem Kopfe.
Sofort, als er den Dolch zur Hand genommen, hatte er ihn als eine ganz eigentümliche Art erkannt. Von Aleen wissen wir schon, daß es nur zwei solche Dolche in Indien gab; dieser kannte indes nur seine vernichtende, nicht auch seine rettende Wirkung, wohl aber Reihenfels. Schon, als er ihn vor Timur hin und her schüttelte, merkte er, daß der Griff eine Flüssigkeit barg, und jetzt bestätigte sich seine Vermutung.
Der Dolch war noch nicht viel benutzt worden, oder höchstens zum tötenden Zweck. Die rettende Eigenschaft besaß er noch vollkommen.
Vorsichtig verdeckte Reihenfels die entstandene Öffnung mit dem Finger, ließ Bega von Phöbe und Timur etwas zur Seite wälzen, so daß der Nacken frei wurde und setzte die Spitze auf die schon etwas entzündete Verwundung.
»Was tust du?« rief Timur erschrocken.
»Sie retten,« entgegnete Reihenfels gelassen, machte einen ziemlich tiefen Schnitt in die gerötete Haut und betupfte die Schnittwunde, aus welcher noch kein Blut floß, mit dem am Finger hängenden Tropfen der goldgelben Flüssigkeit.
Sofort begann Blut zu fließen, fast schwarz aussehend, noch einige Sekunden, dann lief ein Zittern durch den erstarrten Körper, und die Finger begannen zu zucken.
»Nun tüchtig reiben und kneten,« sagte Reihenfels, »und in einer Minute wird sie die Augen wieder aufschlagen, als wäre nichts geschehen.«
Timur war hinter ihn geschlüpft; mit einem Griff entriß er ihm die furchtbare Waffe und ließ sie in seiner Brust verschwinden. Er glaubte, jetzt, da Reihenfels die Geliebte gerettet hatte, könne er an seine eigene Flucht denken, und der vergiftete Dolch hätte ihm wirklich den Weg durch jede Menschenmenge gebahnt.
Gleichzeitig packte er ihn mit eiserner Faust am Handgelenk.
»Hast du dein Werk getan, so gehe wieder dahin, wohin du gehörst,« zischte er und riß ihn mit sich fort.
»Das andere besorgst du, Phöbe,« klang es noch einmal zurück.
Ohne sich zu widersetzen, ließ sich Reihenfels fortziehen und befand sich schon einige Minuten darauf wieder in seinem unterirdischen Kerker.
»Hahaha, du Narr,« höhnte Timur Dhar, »du wirst wenig Früchte deiner Bemühungen genießen. Noch immer werde ich Tag für Tag kommen und dir erzählen, wie sich deine Geliebte um dich härmt, und deinem Begräbnis sollst du noch mit eigenen Augen zusehen.«
Damit schmetterte die Tür hinter dem Gaukler zu. Er eilte zurück, die Wiedererwachte zu beglückwünschen, vielleicht auch Hand zum Beleben mit anzulegen.
Reihenfels aber sank auf die Knie nieder und hob zum Gebet inbrünstig die Hände zu der steinernen Decke empor, welche Gottes Auge nichts verbergen konnte. »Mein Gott,« murmelte er mit schluchzender Stimme, »ich danke dir, ich danke dir! Du gabst mir die Mittel, sie zu retten. O, laß mich hier schmachten, bis du mich durch den Tod erlöst, nur gib jetzt dem armen Mädchen Klugheit, daß sie sich beim Erwachen nicht verrät! Denn sie hat unser Gespräch ja hören können und weiß nun alles, alles. Und wenn es dir, allgütiger Gott, dienlich erscheint, so gib du ihr die Mittel, mich zu befreien, jetzt, da sie weiß, daß ich noch lebe. Vielleicht wandeln wir beide noch einmal Hand in Hand ein Leben nach deinem Wohlgefallen.«