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1875

Ich suche im Nebel meinen Weg

In dem Augenblicke, wo ich auf den Trümmern von Wien sitze und aus dem Schutthaufen meiner Heimat, wie die Belletristen sagen, ein Phönix ersteht oder, wie die Baugesellschaften sagen, Gewinn herausgeschlagen wird, steigen mir mit den Staubwolken meiner demolierten Vaterstadt unendliche Wolken von Gedanken in den Kopf.

Ich liebe nämlich meine alte römische Vaterstadt Vindobona, die so alt ist, daß sich das ganze Menschengeschlecht nicht mehr auf ihren Namen besinnt, ich liebe es, dieses bemooste Haupt, diesen langen Israel, dieser niedrigen Häuser dumpfe Gemächer, diesen Druck der Giebel und Dächer, dieser Straßen quetschende Enge; all dieses graue historische Konglomerat, diesen Schauplatz meiner drei Menschenalter, wo ich Kind gewesen, wo ich Märzkämpfer war und besonnener Bürger geworden; ich liebe das alles wie mein Selbst, es ist Herz von meinem Herzen, und wie mir die Baugesellschaften nun mein Herz demolieren, so verduzt es mich einigermaßen. Es entsteht mir die Frage: Habe ich das Recht meiner Heimatsliebe oder haben die Baugesellschaften bloß das Recht des Gewinnes? Eine wohl aufzuwerfende Frage.

Lächerlich! Du hast das Recht auf Leben und Eigentum, aber nicht auf sentimentale Kaprizen, die ins alte Eisen gehören. – Nun ja doch; nur nicht so grob! Ich bescheide mich ja. Ich habe das Recht auf Leben und Eigentum. Gut. Aber möchtest Du mir sagen, Master Vorwärts, was ist mein Leben? Ist es mein Aus- und Einatmen oder auch jenes »Stück Leben«, das mit den Schauplätzen meiner Jugend verwachsen? Und möchtest Du mir sagen, Master Vorwärts, was ist mein Eigentum? Ist nur mein Rock mein eigen oder sind auch meine Empfindungen mein eigen? Verstehst Du Leben und Eigentum nur im materiellsten Sinne? Wohl! Das ganze Dasein ist ein Stand der Not und die materiellen Interessen sind weitaus die wichtigsten. Aber doch nicht die einzigen? Denn wie sehr das materielle Platzbelegen das Rennen und Jagen unser aller ist, so ist doch immer auch ein kleines fumet von Verruf dabei und es klingt nicht gut, materiell gesinnt zu sein. Auch schätzt der Staat meine Ehre und meine Ehre ist auch nur ein Gut meiner Empfindung und kein materielles Gut. Ebenso kennen wir in Handel und Wandel einen prix d'affection, ein Stimmungsgut, einen Empfindungswert, einen Einbildungspreis, welche Einbildung aber längst die Dignität und die Valuta einer materiellen Wirklichkeit hat. Und wie sollte es auch nicht? Hat man denn je behauptet, nur die Geigen- und Trompetenmacher schaffen materielle Werte, aber Mozarts Opern und Beethovens Symphonien aufzuführen, sei kein materieller Wert, sondern eingebildetes dummes Zeug?! Meine wohl aufzuwerfende Frage bleibt also aufgeworfen. Ist der schattige Garten eine sentimentale Kaprize und ist sein wirklicher Wert nur seine Parzellierung auf Bauplätze? Ist das graue, gegiebelte, von Erkern und Türmchen flankierte Burgfriedenhaus eine sentimentale Kaprize und sein wirklicher Wert nur seine Demolierung und sein Umbau zur Zinskaserne? Ist die Wertschaffung der Baubanken eine so ausgemacht absolute oder steht ihr auch eine Wertzerstörung gegenüber, eine so unersetzliche, unwiederbringliche, in die ungeheuersten Gemütssummen gehende Wertzerstörung, wie sie der prix d'affection einer ganzen Stadt samt Umgebung sein kann? Ist das eine alles und das andere nichts, so sehr nichts, daß davon gar nicht die Rede sein dürfte, außer mit dem Unnamen der sentimentalen Kaprize?

Der Staat schützt meine Rechts verhältnisse, aber kümmert sich nicht um meine Gemütsverhältnisse. Sehr wohl. Was ist aber Rechtsobjekt ? Das eben fragt sich ja! Gibt es nur materielle Rechtsobjekte? Dann könnte eine Gesellschaft ihren Gewinn dabei finden, meiner Frau den Kopf zu scheren, sechs Vorderzähne auszubrechen, ein Auge einzuschlagen, Nase und Ohren abzuschneiden und mein guter Rechtsstaat könnte mir sagen: Die Gesellschaft hat nur ihren erlaubten Gewinn gemacht, Dein Eherecht hat sie Dir nicht bestritten. Täte sie das, so würde ich Dich in Deiner Rechtssphäre schützen; aber Dein Eherecht bleibt Dir unverkümmert.

Mit Bildern streite ich nicht, ruft Master Vorwärts, der sich schon auf die Flucht begeben und wieder zurückkehrt. Lächerliches Bild das! Und nicht einmal zutreffend. Sie sprechen von lauter materiellen weiblichen Reizen, wofür Ihnen der Staat einen Schadenersatz zuerkennen, würde.

Sehr wahr. Haare, so viel – Zähne, so viel etc. Aber das Ensemble des Ganzen, die Schönheit, und der prix d'affection der Schönheit? Übrigens streite ich selbst nicht gerne mit Bildern. Lassen wir also das Bild und stellen wir den reinen Begriff dafür her. Der Begriff, der unserem Bilde zugrunde liegt, heißt » lieben «.

Steht nun die Frage wirklich so, daß den Rechtsstaat zwar mein materielles Besitzen und Haben, nicht aber mein immaterielles Lieben und Rechtsobjekt angeht? Wie! will er doch selbst Objekt meines Liebens sein! Es ist wahr, der Sprachgebrauch heißt uns nicht den Staat zu lieben, aber doch das Vaterland und die Heimat zu lieben. Die Heimat dürfen wir lieben, das Vaterland sollen wir lieben, sollen es sogar recht kräftig und opfervoll lieben; es wird uns ausdrücklich und nachdrücklich eingeschärft. So wird das Lieben ein politischer Begriff, und nun dürfen wir wohl, da unser Weg im Nebel geht, wenigstens den nächsten Schritt uns klar machen und die Definition suchen: Was heißt lieben ?

Lieben heißt Wohlgefallen haben an der äußeren Erscheinung. Wohl gemerkt: an der äußeren Erscheinung! Wenn das 20-jährige Fräulein und die 80-jährige Matrone eine gleich schöne Seele haben, so werden wir das Fräulein lieben, aber die Matrone schätzen, hochachten, verehren. Lieben und äußere Erscheinung sind untrennbare Begriffe.

Nun ist aber meine Heimatsliebe ein politisch gefordertes Gefühl, also zum allermindesten auch ein berechtigtes Gefühl. Gar sehr darf ich demnach fragen: Wer schützt mich in dem Rechte meiner Heimats liebe gegen diejenigen, welche die äußere Erscheinung meiner Heimat von Grund aus zerstören, schöne Gärten verbauen, phantasievolle Gebäude abbrechen und in nüchterne umbauen, kurz keinen Stein auf dem andern lassen und die Gestalt meiner Vaterstadt, wie ich sie zu lieben gewohnt bin, empfindlich entstellen? Wer darf mir das ungestraft zufügen?

Das öffentliche Wohl! schreit Master Vorwärts, indem er sich zum zweiten Male auf die Strümpfe macht und nur gerne das letzte Wort noch behielte. – Aber ich halte ihn fest und antworte: Das öffentliche Wohl! Muß ich dieses Mädchen für alles unbesehen so hinnehmen? Wer beweist mir, was öffentliches Wohl ist! Den Beweis, den Beweis, lieber Master! Das öffentliche Wohl muß fast in allen Fällen der Privatspekulation als ein zureichender Grund herhalten, wird aber in den wenigsten Fällen bewiesen und ist überhaupt schwer erweislich. Der Beweis wird einfach vorausgesetzt, wie in der alttürkischen Justiz die Schuld; am liebsten aber möchte die neutürkische Vandalenspekulation die bloße Nennung des öffentlichen Wohles schon für ihren eigenen Beweis gelten lassen. Und doch steht die Sache so, Master Vorwärts, daß ich nicht einmal den Gewinn als Beweis gelten lassen kann, den baren, reellen Gewinn, der euch Utilitariern der gültigste aller Gründe und das letzte inappellable Wort zu sein pflegt. Ha, eine Höckerin kann auch ihren Gewinn dabei finden, Schulkindern Näschereien zu verkaufen, und doch gehört das Naschen nicht zum öffentlichen Wohl. Nein; der Gewinn des Bauens beweist noch lange nicht das öffentliche Wohl des Bauens und nun erst der Verlust! Wie, wenn mir die mutwilligste Spekulationshausse tausend liebe und sinnige Plätze zerstört und nichts erzielt hat als recht große und schmerzhafte Verluste ihrer Aktionäre? Wie dann? Die Verluste vernarben, aber der zerstörte prix d'affection wird nicht mehr in integrum hergestellt. Und wahrlich, er könnte gar reell sein, dieser Affektionswert; ich spreche nicht einmal von der Liebhaberei im vulgären Sinne des Wortes. Kant blieb in einem Vortrage stecken, weil sein gewohnter Augenpunkt der Rockknopf eines Studenten war, und eines Tages fehlte dieser Rockknopf. Wie, wenn ein Mozart in seiner Ouvertüre, ein Beethoven in seiner Symphonie, ein Goethe in seinem Faust, ein Smith, ein Darwin, ein Humboldt in ihren Systemen stecken bleiben, weil sie ihre unschätzbaren Gedankenspinnereien in einem Garten und auf einem Lieblingsplätzchen des Gartens angefangen, und eines Tages wird der Garten verbaut?! Welch ein öffentliches Unwohl, ihr Herren vom öffentlichen Wohl! Aber dieses öffentliche Unwohl ist still, stumm, unbekannt; daß es da ist, kann nicht bewiesen werden, während »das öffentliche Wohl«, und wenn es nichts als ein Schall ist, in diesem Schall allein schon ein Dasein und einen Beweis des Daseins zu haben glaubt, und Leute findet, die es glauben!

Master Vorwärts kneift jetzt zum dritten Male aus, aber jetzt kommt er nicht mehr; das bin ich sicher! Und jetzt halte ich ihn auch nicht mehr. Er ist besorgt und aufgehoben.

Dagegen wäre es mir lieb, wenn ein rechtsgelehrter, ernsthafter Mann käme und meines Nebelwegs sich erbarmte. – Was ist Rechtens in meiner Frage? Und wenn es eine offene Frage ist, wäre es nicht zeitgemäß, sie zu entscheiden?

Ich weiß, wie tief das Wespennest ist, in das ich da steche. Ich kenne seine ganze Tiefe. Ich frage um nichts Geringeres, als um die tiefst-eingekerbten Unterscheidungslinien zwischen dem antiken und dem modernen Staate. Nicht darum ist ja Griechenland das unverblühbare klassische Mutterland der Menschheit, weil ein ewig lachender Himmel über Griechenland lachte (was er noch heute tut), sondern weil diese himmlisch-lachende Klarheit auch die Verfassung der antiken Gesellschaft durchdrang. Der griechische Staatszweck umfaßte alles: Politik, Ethik, Ästhetik. – Der moderne, den einseitig-römischen fortsetzend, verlegt seinen ganzen Schwerpunkt in die Politik. Schon in der Ethik ist er ein Abgrund von Widersprüchen, wo verbotene Mücken mit erlaubten Elefanten ein Tanzchaos wie im Tollhause aufführen und kein Mensch sagen kann, der Staat habe Fühlung, Richtung, festen Fuß. Aber vollends in der Ästhetik ! Es leidet keinen Zweifel, daß dem modernen Staatszwecke die Ästhetik nicht inkorporiert ist, und kann man in diesem Sinne nur ein ennuyantes Kauderwelsch anstimmen und einen feuilletonistisch-mäßigen Stoff vom Zaune brechen, der gar keiner ist.

Und doch läßt man jahraus, jahrein das Geschrei der Künstlergenossenschaften zu: der Staat soll etwas für die Künste tun! – Wenn das nicht auf gut kommunistisch heißt: der Staat soll eine Anzahl von Arbeiterfamilien aus dem Staatssäckel füttern, so heißt es doch wohl: der Anspruch wird nicht aufgegeben, daß der Staat ästhetische Staatszwecke habe. Diese letzte griechische Spur ist wertvoll. Es ist immerhin etwas. Ein kleines Glied von einem kleinen Finger, aber für ein kleines Feuilleton genug. Aisthanomai heißt bekanntlich empfinden, fühlen, und mehr habe ich auch nicht getan als gefragt: Was ist das Recht meines Gefühls- und Empfindungslebens, wenn mir die Baubanken meine Vaterstadt zerstören? Was ist das Gemütsrecht des Bürgers an seine Heimat? Was ist das Gemütsrecht eines Landes an seine Architekturen, an seine Gärten, an seine Schönheiten, mit einem Worte: Welche Stellung hat der Staat dazu, und hat er überhaupt eine? Oder ist es stillschweigender Staatsgrundsatz: Alles, was Gewinn bringt, ist Beute der Gewinnsuchenden, und dagegen gibt es kein Recht, wenn's nicht – bis zum Kriminalrecht kommt?!

Ich weiß, meine Frage streift dicht an diejenigen, von welchen geschrieben steht: Ein Narr fragt mehr, als zehn Gescheite beantworten können. Andererseits bin ich aber ein Deutscher und frage in Deutschland, wo umgekehrt oft ein Gescheiter für zehne gescheit ist, z. B. Holtzendorff, dessen ›Prinzipien der Politik‹ soeben auf meinem Lesetisch liegen, ein Buch, welches nur leider über das Kapitel der Staatszwecke viel einsilbiger ist, als einem fragenden armen Narren frommen mag. Ich wäre diesem Rechtsweisen aufrichtig dankbar, wenn er sich in irgendeinem Organ herabließe, mir zu sagen: Welches ist der neueste Stand der Staatszwecklehre, in der Frage, die mir am Herzen liegt?


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