Hermann Kurz
Der Weihnachtsfund
Hermann Kurz

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Als Justine im Städtchen bei dem Schuster eintrat, dem sie noch vor dem Gottesdienst ihr Körbchen überbrachte, saß die Frau desselben auf einem Stuhl an der Wand gerade der Türe gegenüber, so daß ihr erster Blick auf sie fallen mußte, mit dem Säugling an der Brust. Es war eine Frau, an der weder die Jahre noch die Furchen, die sie ihr in das helle Gesicht gegraben, die Spuren früherer Schönheit hatten verwischen können: ihr Aussetzen verbarg es nicht, daß sie das Leben in Sorge und Mühsal hingebracht, aber ein Zug von immer frischer Heiterkeit und stets ruhig eingreifender Geistesgegenwart siegte über alle Spuren der Prüfungen, welche die Armut einer Menschenseele auferlegt. Sie sah auf das Kind, das an ihrer Brust trank, mit treuem Mutterauge herab, und wer das Schicksal dieses Kindes nicht kannte, würde es für kein fremdes gehalten haben, Der Schuster, eine gedrungene Gestalt mit derbkräftigem Gesicht – man konnte ihn einen rasierten Apostel nennen, denn es fehlte ihm nur der Bart, um auf dem grob angemalten Papierbogen, der über ihm an die Wand geklebt war und das evangelische Abendmahl vorstellen sollte, einen Platz zu finden – saß auf seiner Bank in der Ecke und verwendete die feiertägliche Muße auf die Wiederherstellung einer Trompete, die, kaum dem Christmarkt entnommen, von einem seiner kleinen Virtuosen bereits zuschanden geblasen worden war. Er blickte dabei von Zeit zu Zeit mehr mit angenommener als wirklicher Strenge auf die Kinder, welche die Stube erfüllten, aber sich so geordnet betrugen, daß es keiner scharfen Aufsicht bedurfte. Das älteste, ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, war beschäftigt, eines der kleineren zu waschen und anzuziehen. Zwei Knaben saßen an einem Tisch und malten eifrig an der Schulschrift, die ihnen über die Feiertage aufgegeben war. Ein dritter unterrichtete neben ihnen einen jüngeren Bruder mit sehr vieler Geduld im Abc. Die kleineren Geschwister trieben sich mit ihren Spielsachen umher, denn auch das Haus der Armut hatte seine Weihnachtsbescherung gehabt, und es fehlte nicht an Pferdchen, Puppen und ähnlichen Herrlichkeiten, die nur wenige Kreuzer gekostet hatten oder wohl großenteils von den Eltern selbst in müßigen Stunden zusammengestümpert worden sein mochten. Das kleinste der Kinder, das nicht viel über ein Jahr alt war, rutschte im kurzen Hemdchen gemütlich durch die Stube. Justine blieb eine Weile an der Türe stehen und holte Atem, wie jemand, der die Treppe zu schnell heraufgestiegen ist; dann trat sie zu dem Schuster und entledigte sich ihres Auftrages. Mann und Frau waren von den Geschenken überrascht und etwas betreten wie Leute, die nicht dafür angesehen sein wollen, Almosen zu nehmen; doch konnten sie den freundlichen Worten, womit die Löwenwirtin die Festgabe begleiten ließ, nicht aus dem Wege gehen; auch versuchte es der Schuster vergebens, einen strengen Blick auf die Flasche zu werfen, die ihn als eine seltene Erscheinung anlächelte, und er mußte das Auge von ihr abwenden, um mit einem anständigen Murren behaupten zu können, daß sie nicht nötig gewesen wäre.

Justine stellte das Körbchen, das sie ausgeleert hatte, auf die Bank, trat zu der Schusterin und sah lang' und still auf den Säugling an ihrer Brust herab.

»Wollet Ihr auch mein Christkind!« besehen, Justine?« fragte die Frau.

»Das ist ein ungeladener Gast,« sagte Justine.

»Ja freilich,« erwiderte die Schusterin lachend. »Ihr werdet's ja gehört haben, wie er uns zuteil worden ist. Ich hab' die Geschichte gestern so oft erzählen müssen, daß ich ganz müd davon bin; denn die halbe Stadt ist dagewesen, um den Fund zu sehen.«

»Ich weiß schon,« sagte Justine. »Ich sorg' nur, Ihr werdet viel Beschwerde haben mit dem Kind.«

»Nicht im geringsten,« versetzte die Schusterin. »Ich hätt' meinen Nestkegel ohnehin nächster Tag' entwöhnt, jetzt muß er sich's eben ein wenig früher gefallen lassen.«

»Du armer Schelm!« rief Justine, das rutschende Kind vom Boden aufhebend und küssend, »jetzt mußt du drunter leiden, daß dir ein Kuckucksei ins Nest gelegt worden ist.«

»Es geht ihm nichts ab,« erwiderte die Schusterin. »Lasset ihn nur rutschen, sonst meint er, er müsse getragen sein, und wie wollt' ich da noch fertig werden?«

Justine setzte das Kind wieder auf den Boden, »Ihr habt doch einen schweren Stand mit Euren Orgelpfeifen,« sagte sie.

Der Schuster lachte auf seiner Bank. »Man mag sie wohl so heißen, wenn sie in Reih' und Glied stehen,« bemerkte er, »aber der Ausdruck paßt auch sonst, denn sie musizieren manchmal, daß es eine Art hat.«

»Es geht schon,« versetzte die Schusterin. »Ich will sie nicht loben, aber man kann mit ihnen auskommen. Freilich muß man sie in Ordnung halten, mit Güte und auch mit Ernst, denn Ordnung braucht's, um so eine Haushaltung durchzuschlagen.«

»Von Euch kann man lernen,« sagte Justine. »Die Löwenwirtin versteht das Hauswesen auch, und doch kann sie nicht begreifen, wie Ihr's anfanget, um für die vielen Köpfe Essen und Kleider herzuschaffen.«

»Die Hauptsach' ist, daß man den Kopf oben behalt,« erwiderte die Schusterin. »Dann muß man vor allem darauf sehen, daß nichts ungenutzt bleibt, was man nutzen kann, und das durch alles durch. Die größeren Kinder müssen gleich herhalten, wie sie aufwachsen, und müssen den kleineren Vater und Mutter und Schulmeister sein; dadurch gewinn' ich Zeit, und sie lernen früh selbständig werden. Ebenso ist's mit der Kleidung, die muß von oben bis unten durchlaufen; was mein größtes Kind – sie deutete lächelnd auf ihren Mann – abgetragen hat, das kommt zuerst an die großen, und je blöder es wird, daß man davonschneiden muß, desto besser paßt es dann für die kleineren, bis zuletzt aus dem Wams ein Ärmel wird. Freilich reicht's nicht immer bis unten hinaus, und bis so ein Stück ans vierte oder fünfte kommt, ist's oft so vertragen, daß man für die anderen nichts Gutes mehr draus machen kann; dann lass ich mir's eben auch gefallen, wenn gute Leut' eingreifen und einem von den Kindern unterweilen etwas auf den Leib schenken: aber gebeten hab' ich noch niemand darum. Am meisten ist's beim Essen nötig, daß man alles recht einteilt und das Überbliebene nutzbar macht; dann ist's aber auch ein Wunder, wieviel Segen in wenigem steckt. Denn der Mensch braucht nicht so arg viel zu essen; was er braucht, das ist Stillung zur bestimmten Zeit, denn wenn er die Leere zu lang aushalten muß, dann ist er nicht mehr zu ersättigen. Deshalb halt' ich bei meinem Häuflein streng auf regelmäßige Fütterung, und dabei müssen sie sich's genügen lassen. Hunger hat noch keins von uns gelitten. Manchmal fallen freilich die Bissen ein wenig knapper aus, als zu wünschen wäre, aber um sie zu strecken, gibt's ein probates Mittel, und das ist der Schlaf. Wenn also an einem Tag das Essen näher zusammen geht als sonst, so richt' ich den kürzeren Teil auf den Abend, und dann muß das Bett den Nachtisch vorstellen: wenn sie tüchtig ausgeschlafen haben, so spüren sie den anderen Morgen keinen Hunger mehr.«

»Und du sollst ihnen die Bissen noch schmäler machen!« sagte Justine mit dem Tone des Vorwurfes zu dem Säugling, der sich satt getrunken hatte und nun zwei helle Augen schon ziemlich frei von einem Gegenstand zum andern bewegte.

»Saget nicht so, Justine!« entgegnete die Schustersfrau. »Der, der auch die Raben unter dem Himmel ernährt, wird gewiß sorgen. Vorderhand braucht keins einen Brotneid auf ihn zu haben, denn sie sind alle über die Nahrung hinausgewachsen, die ihm am besten taugt. Freilich,« setzte sie hinzu und lachte dabei wie ein Kind, »freilich ist die Ersparnis nicht so groß, wie's scheint; denn ich mag's machen, wie ich will, so muß ich eben, so lang' eins an mir trinkt, für zwei essen oder wenigstens für anderthalbe. Dafür wird aber auch der Vorrat wohl noch ein Vierteljahr anhalten, und länger braucht er's nicht; dann kann er mit seinem Brüderle, das ihm jetzt hat Platz machen müssen, aus einem Schüssele essen, und wenn's nur am Mehl nie fehlt, so können sie miteinander leben wie die Vögel im Hanfsamen, denn an Milch haben wir Überfluß. Ja, ja,« versicherte sie, als ob Justine ungläubig dreinsähe, mit wohlhabender Miene, »wir haben eine Kuh im Stall. Seit gestern! Die Herren sind zusammengestanden und haben uns aus den Siftungsgeldern eine Kuh angeschafft. Ans Futter haben sie freilich nicht gedacht, aber das Geld da reicht zu einem schönen Einkauf in dieser wohlfeilen Zeit, und für weiterhin muß man eben auf Gott vertrauen.«

Als sie bei diesen Worten aufstand, um das Kind in die Wiege zu legen, bemächtigte sich Justine desselben und trug es liebkosend in der Stube auf und ab.

»Die Justine wär' auch keine üble Mutter für die Kleinigkeit da,« bemerkte der Schuster scherzend.

»Da müßt' ich nur auch einen so guten Vater dazu haben, wie Ihr seid,« entgegnete Justine, den Scherz erwidernd.

»O, was das betrifft,« versetzte der Schuster und stockte etwas beschämt.

»Im Anfang ist er nicht der beste gewesen,« sagte die Schusterin. »Ich will die Reden nicht wiederholen, die er geführt hat. Freilich ist's eine Überraschung gewesen. Wenn man froh ist, daß man alle die Siebensachen für neun Kinder zusammengebracht und den Baum auf den anderen Tag zugerüstet hat – denn bei uns legt das Christkindle morgens ein – und es kommt über Nacht noch ein zehntes dazu, so kann man wohl ein wenig auf den Kopf stehen, und dann gibt's eben verkehrte Redensarten.«

»Ei, ich hab' eigentlich nicht über das Kind gewettert,« fiel der Schuster ein.

»Du!« sagte die Schusterin, den Finger aufhebend.

»Ich hab' eben, einen Zorn gehabt,« fuhr er fort, »über solch' Schelmenvolk, das einem bei nachtschlafender Zeit schier die Hausglock ' 'runterreißt, daß man meint, das Feuer schlag' schon zum Dach 'naus, und wenn man 'nunter kommt, so haben sie ein Kind vor die Tür gelegt, bei der Kälte, und fort sind sie.«

»Ich hätt' sie auch nicht gesegnet an Eurer Statt,« versetzte Justine, »es gehört viel dazu, um so etwas zu tun.«

»Sie wird eben ein leichtfertigs Weibsbild sein, und Er nichts bessers,« sagte der Schuster.

»Wie kannst du das so gewiß wissen?« fragte seine Frau dagegen.

»So ist's!« rief der Schuster, indem er mit der Faust auf seine Bank schlug und durch Anblicken Justinen aufforderte, seiner Meinung beizutreten. »Was er ist,« erwiderte diese, »kann mir gleichgültig sein, aber ihr möcht' ich in keinem Fall das Wort reden. Für sie wär's am besten, man hing' ihr einen Mühlstein um den Hals und würfe sie ins Wasser, wo's am tiefsten ist. Glaubet's aber nur, ihr Gewissen wird sie richten, und die Tat wird an ihr nagen, solang' sie lebt.«

Die Schusterin blickte ihr mild in die Augen und schüttelte leise den Kopf. »Ich möchte sie nicht verurteilen,« sagte sie, »eh' ich wüßte, wie sich's mit ihrer Schuld verhält. Vielleicht ist sie mehr unglücklich als schlecht. »Zudem,« setzte sie lächelnd, hinzu, »hat sie mir zu viel Ehr' erwiesen, als daß ich auf sie schmähen dürfte, denn es beweist doch ein besonderes Vertrauen, daß sie just mich zur Mutter für ihr Kind auserkoren hat.«

Der Schuster lachte überlaut. »O Dorle,« rief er, »was bist du scheckig! Meinst du, solch' Volk besehe sich lang' die Häuser, wo man allenfalls am besten ein Kind unterbringen könnt'? Nein, hingeschmissen, wo's Platz hat, und addje fort! Wer ehrliche Finder kann's behalten.«

»Wer weiß?« meinte die Schusterin.

»Wer den rechten Sinn hat, nimmt die Dinge immer von der rechten Seite,« sagte Justine zu ihr, indem ein sonniges Lächeln aus ihrem verdüsterten Gesichte brach.

»Am besten ist's, man fragt gar nicht darnach, wo der arme Wurm her ist,« bemerkte der Schuster, »denn an seine Eltern darf ich nicht denken, sonst hab' ich ein Aber gegen ihn, und er kann doch nichts dafür.«

»Ihr habt also gar keine Spur von seiner Herkunft?« fragte Justine, »und habt nichts bei ihm gefunden, was euch auf eine Vermutung bringen könnte?«

»Die Herren,« antwortete die Schusterin, »haben gestern das Kind durch- und durchgesucht, Kissen und Windeln, denn wie Ihr's da auf'm Arm habt, so ist's ins Haus kommen, aber man hat weder einen Namenszug noch sonst ein Zeichen seiner Herkunft gefunden. Man vermutet nur, daß es aus der Stadt selber gebürtig sei, weil nicht wohl jemand in der Nacht, wo die Tore geschlossen sind, von außen hat hereinkommen können. Bis jetzt aber hat die Vermutung auf eine falsche Spur geleitet, die von eurem Löwen ausgangen ist, deswegen werdet Ihr's auch schon wissen, daß nichts daran gewesen ist.«.

Justine hatte sich auf das Kind herabgebeugt, wie wenn sie dem Rätsel seines Ursprungs näher nachforschen wollte. »Ich weiß nichts davon,« erwiderte sie, in dieser Stellung verharrend.

»Nun, eine von euren Mägden,« fiel der Schuster ein, »hat gestern in der Stadt über den Alex, der ja längere Zeit bei Euch im Haus gewesen ist, allerlei wissen wollen, wie daß er gestern morgen so verstört in den Löwen kommen sei und daß er ein bös Gewissen haben müsse.«

Justine richtete sich wieder auf, »Es ist wahr,« sagte sie, »die Gret' hat dergleichen von ihm gesagt.«

»Und dieses Gerede über den Alex,« erzählte die Schusterin weiter, »ist vor die Herren kommen, und die haben meiner Treu' dem Ding gleich nachgeforscht. Noch gestern nachmittag, am heiligen Christtag, ist der Alex im Verhör gewesen, und weil er geleugnet hat, so hat man auch seine Braut in Untersuchung genommen.«

»Seine Braut in Untersuchung?« rief Justine mit weit offenen Augen.

»Das will ich meinen!« sagte der Schuster unmäßig lachend. »Man hat ihr die Hebamm' ins Haus geschickt.«

Justine war dunkelrot geworden, und diese Veränderung der Farbe stach aus ihrem blassen Gesichte ungemein hervor.

»Nicht wahr, das greift Euch an?« sagte die Schusterin, »Mich hat's auch angegriffen. Es ist doch das Schrecklichste, was einer passieren kann.«

»Wer einmal hinterm Ofen gewesen ist, den sucht man eben wieder dahinter,« bemerkte der Schuster, fort und fort lachend.

»Sie dauert mich,« sagte Justine.

»Mich auch,« setzte die Schusterin hinzu, »Die Menschen sollten mit ihrem Geschwätz vorsichtiger sein und auch bedenken, was sie damit anrichten können. Sie hat jetzt Schand' und Spott davon, daß sie's lang' nicht verwinden wird, und ist doch unschuldig im Verdacht gewesen.«

»O, an dem Ruf sind die Sohlen ganz durch,« bemerkte der Schuster, »da ist nichts mehr zu flicken.«

»Du Unglückskind!« sagte Justine zu dem Säugling, den sie fortwährend auf und ab trug, »kaum bist du in der Welt und bringst schon so viel Leut' in Not.«

Sie legte das kleine Wesen, das munter mit den Ärmchen umherfuhr, in die Wiege und meinte, jetzt sei es aber endlich Zeit, in die Kirche zu gehen. Da lachten der Schuster und seine Frau und sagten, es habe schon längst ausgeläutet, die Predigt müsse bereits begonnen haben, und ohne Störung sei jetzt nicht mehr hineinzukommen. Justine besann sich einen Augenblick und bat dann um Erlaubnis, bis zum Ende des Gottesdienstes vollends dableiben zu dürfen. »Ich will Euch helfen Mutter sein,« sagte sie zu der Schusterin, »weil Euer Mann das Zutrauen zu mir hat.« Und sie widmete den Kindern ihre kleinen Dienste, half die einen anziehen und unterstützte die andern bei ihren Schreib- und Leseübungen, wobei es sich zeigte, daß der Schulunterricht, den sie trotz ihrer Armut genossen hatte, nicht an ihr verloren war. Eben war sie eifrig beflissen, den Kindern etwas vorzubuchstabieren, als der Kleine in der Wiege zu schreien anfing; sie ließ das Buch fallen, eilte hinzu, als ob sie eine bestellte Wärterin wäre, und beschwichtigte den Schreihals in ihren Armen.

»Himmelkreuzdonnerwetter!« fuhr der Schuster auf, aus Höflichkeit gegen Justinen über seine Frau hineinfluchend, »hast denn du keine Hand'? Muß dich der Besuch bedienen und den Balg für dich 'rumschleifen?«

»Fluch' doch nicht so unter der Predigt,« erwiderte die Schusterin, ohne sich durch die Hitze ihres Mannes, an die sie gewöhnt zu sein schien, anfechten zu lassen.

»Ihr seid ein recht böser Mann,« sagte Justine zu ihm, »daß Ihr so an Eure Frau hindonnert. Sehet Ihr denn nicht, daß sie genug zu tun hat und daß ich ihr gern behilflich bin?«

»Und schier möcht' ich sagen von Rechts wegen,« setzte die Schusterin lachend hinzu, »denn die Justine ist selber schuld an dem Geschrei, sie hat mir den kleinen Spitzbuben schon verzogen.«

»Ja, das ist wahr,« sagte der Schuster, »Ihr müsset ihn nicht so viel tragen und hätscheln, denn einen vornehmen Herrn kann ich nicht aus ihm machen.«

»Ich seh' schon.« erwiderte Justine lächelnd, »ich muß Euch wieder vergüten, was ich verbrochen Hab', und muß, so oft ich kommen kann, das Wärteramt bei dem verwöhnten Prinzen versehen, oder Euch die andern Kinder abnehmen, damit sie nicht durch den eingedrungenen Bruder verkürzt werden.«

»Ei ja,« rief die Schusterin freundlich, »haltet nur fleißig Wort, Ihr werdet immer willkommen sein.« »Sollten wir nicht die Justine bei unserem Christkindle zu Gevatter bitten?« fragte der Schuster seine Frau halb im Scherz und halb im Ernst. »Sie hat doch, scheint's, das Gemüt, sich seiner anzunehmen.«

»Bist im Kopf nicht recht, Christoph,« antwortete die Schusterin, die Hände zusammenschlagend. »Eine Ledige! Das gäb' ja ein Gered' und Geschwätz, daß es nicht zum Aushalten war'.«

»Ist auch wahr,« versetzte der Schuster, »ich bin ein Esel. Nun, da wir nicht seine eigentlichen Eltern sind, so können wir ja selber zu Gevatter stehen.«

»Für mich schickt sich's freilich nicht,« sagte Justine, »dafür will ich aber doch Halbpart mit Euch machen an Eurem Fund, soviel ich in meinen Umständen vermag, so daß er wo möglich drei Eltern haben soll, statt zwei.«

»Ich glaub', die Justine will uns ein gutes Beispiel geben,« rief der Schuster vergnüglich lachend.

»Das habt Ihr nicht nötig,« erwiderte Justine ernst, »es hieße Wasser ins Meer tragen, wer Euch im Christentum stärken wollte.«

»Besuchet uns recht oft, Justine,« sagte die Schusterin, »Ich kann Euren Beistand wohl brauchen und will ihn gern annehmen. Wir taugen ohnehin gut zusammen, Ihr seid auch nicht reich, so wenig als wir, und solche Leut' müssen zusammenhalten. – Gebt der Bas' Justine die Hand!« rief sie ihren Kindern zu, als das Gedränge und Summen von der Straße anzeigte, daß die Leute, aus der Kirche kamen, und Justine sich zum Gehen anschickte. Mit diesem verwandtschaftlichen Titel war die Freundschaft zwischen der Schustersfamilie und der Löwenmagd, die mit Hand und Mund ihr Versprechen wiederholte, besiegelt.

»Behüt' Euch Gott, Vetter, und gewöhnet Euch das heidenmäßige Fluchen ab,« sagte Justine scherzend zu dem Schuster, während sie einen kräftigen Handschlag von ihm empfing.

»Die Arbeit geht mir noch einmal so flink von der Hand, wenn ich unterweilen ein Donnerwetter drüber hinrollen lass',« antwortete er und legte ihr ein Paar Schuhe, mit deren Ausbesserung er unter dem Geplauder zustande gekommen war, in den Korb, »Wenn des Löwenwirts Kinder warme Fuß' behalten, so wird mir hoffentlich das Fluchen und Schustern während der Predigt im Himmel nicht angeschrieben werden.« Sie war schon unter der Türe, da rief er ihr nach: »Halt! schier hätt' ich das Best' vergessen. Wenn Ihr nicht bei der Tauf' sein könnet, so helfet uns wenigstens raten, wie wir das Kind taufen lassen sollen, denn es hat weder Geburts- noch Taufschein mitgebracht.«

»Ja,« sagte die Schusterin, »und wir sind in Verlegenheit, weil wir den Kalender für unser eigen Volk schon ganz ausgeplündert haben.«

»Ich soll ihm also den Namen schöpfen?« fragte Justine bewegt.

»Ja, wenn Euch ein guter einfällt.«

Justine trat noch einmal an die Wiege, hob das Kind heraus, küßte es und sagte mit einer gewissen Feierlichkeit: »Wenn ich durch den Namen die Gewalt hätte zu bestimmen, wem du nachschlagen sollst, du armer, namenloser Fremdling, so wüßt' ich wohl, wie ich dich heißen müßte, denn dann würdest du, was dein Vorbild ist: arm, aber ehrlich, rechtlich, häuslich, ein wenig rauh und trutzig, aber treu und brav, bescheiden geschickt –«

»Das geht nicht,« unterbrach die Schusterin, auf einen ihrer Knaben deutend, »einen Christoph haben wir schon in der Familie!« Sie hatte die Schilderung auf ihren Mann bezogen und war sehr geschmeichelt, während der Schuster, nicht sowohl durch Eitelkeit als durch die Höflichkeit des Gastes irregeführt, vor Verlegenheit nicht wußte, was er für ein Gesicht machen sollte, und sich wie unter einem Schauer von scharfen Hagelkörnern duckte.

Justine hielt etwas verwirrt inne.

»Ich sollt' ja gar auf Euch eifersüchtig werden,« fuhr die Schusterin fort, »wenn Ihr mir meinen Mann so lobet. Gibt's denn keinen andern, der Euch im Alter ein wenig näher war', keinen jüngeren Namenspatron, der nach Eurem Sinn war', daß Ihr ihn dem Nachwuchs zum Vorbild geben könntet? Ihr brauchet Euch nicht zu zieren, Justine. Wie ich jung gewesen bin, hab' ich auch, in Ehren, die Mannsbilder angesehen und hab' sie miteinander verglichen. Ihr werdet die Augen auch nicht zumachen. Nur 'raus mit der Farb', sonst muß ich glauben, daß es zwischen Euch und meinem Christoph nicht richtig ist.«

»Ihr wisset,« antwortete Justine, gefaßt in das Geleise eingehend, das ihr die Neckerei der Freundin so bequem eröffnet hatte, »Ihr wisset, meine Bekanntschaft ist nicht groß, und mein Stand ist nicht von der Art, daß ich viel bei den Mannsleuten zu suchen hätte, aber einen guten Namen kann ich Euch doch angeben. Der ihn führt, ist fort, weit fort, gestern ist er auf die Wanderschaft, und ich werd' ihn nie wieder sehen. Er hört's nicht mehr, wenn man ihn lobt, und ich kann also ohne Scheu von ihm reden.«

»Das ist der Erhard!« unterbrach sie der Schuster lebhaft. »Die Gret' hat's uns ja gestern erzählt, daß er gewandert ist. Ei, der hätt' mir auch gleich einfallen können.«

»Es ist eben wieder verschwatzt worden, weil so viel Leut' dagewesen sind,« sagte die Schusterin, »Aber wahr ist's, den Namen lass' ich mir gefallen. Und wenn der kleine Mensch da in ihn hineinwachst, so wird was Recht's aus ihm.«

»Ja, der Erhard!« rief der Schuster achtungsvoll, und beide Eheleute spendeten dem Abwesenden reichliches Lob. »Wer weiß, wo dem wackern Kerl jetzt das Ohr klingen mag!« setzte endlich der Schuster hinzu.

Justine fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte zu der Schusterin: »Ich weiß keinen, der so viel Ähnlichkeit mit Eurem Mann hat und so wenig mit dem Vater dieses Kindes, wie man sich den vorstellen muß. Auch ist er ja selber Vater- und mutterlos, wie der arme Wurm da, also in allen Dingen ein Vorbild für ihn.«

»Bleib's dabei,« rief der Schuster, »Erhard soll er heißen.«

Justine küßte das Kind, legte es in die Wiege zurück, gab allen noch einmal die Hand und ging.

»Das ist ein wackers Mädle, die Justine,« sagte die Schusterin, als sie fort war.

»Die wär' für den Erhard recht gewesen,« bemerkte der Schuster. »Warum sind sie denn nicht zusammenkommen?«

»Weiß nicht,« sagte die Schusterin.

Aus dem Hause des Schusters heraustretend, stieß Justine auf eine alte Frau, welche scheu über die Straße schlich und sich so nahe als möglich an den Häusern hielt. Sie war altmodisch, aber sehr wohlhabend gekleidet, und an ihrem Halsnuster von Granaten drängte ein großes silbernes Schloß; ihre Haltung jedoch stand mit diesen Zeichen des Reichtums im Widerspruch, denn sie sah so jämmerlich gedrückt aus, als ob sie von Almosen leben müßte. Sie schlug das Auge mit Bestürzung zu Justinen auf und sah sie ungewiß und furchtsam an. Justine warf ihr einen Blick der Verachtung zu und ging, ohne zu grüßen, an ihr vorüber.

Zwei Bürgersfrauen, die verspätet aus der Kirche kamen und, die Hände über dem Gesangbuch gefaltet, behaglich miteinander, plauderten, hatten diese Begegnung mit angesehen und teilten einander ihre Glossen darüber mit. Daß die Mutter des Alex, denn das war die alte Frau, die Blicke der Menschen meide und sich bestürzt an den Häusern hindrücke, fanden sie ganz in der Ordnung, denn die, sagten sie, hat's nötig nach dem Schimpf und Spott, der über sie und ihre Sippschaft kommen ist. Aber daß ein Mädchen von dem Stande Justinens gegen eine reiche Stadtfrau so trotzig aufzutreten wagte, das schien ihnen doch alle Gebühr zu übersteigen.

»Das ist mir einmal ein freches Ding,« sagte die eine. »Was ist sie denn? Ich glaub', sie dient im Roten Löwen draußen.«

»Freilich,« erwiderte die andere. »Sie hat sich aufgedackelt wie eine Prinzessin, aber sie ist nichts weiter, als eine Magd.«

»Sie soll sich in acht nehmen, daß sie nicht selber ein abschreckendes Exempel gibt,« sagte die erste. »So ein Fratz ist gleich zum Stolpern gebracht, und Hochmut kommt vor dem Fall.«

»Jawohl, Frau Nachbarin,« erwiderte die andere. »Das Gesind' wird doch alle Tag' unverschämter.«

»Das ist gewiß wahr, Frau Nachbarin,« bekräftigte die erste, und an diesem unerschöpflichen Stoffe angekommen, vertieften sie sich immer mehr in denselben.

Justine wurde zu Haufe über ihren Besuch bei den Schustersleuten ausgefragt und konnte nicht genug von dem Findling und dem Benehmen seiner Pflegeltern erzählen. Als aber während des Essens die Rede aus den Inhalt der Predigt kam und sie gestehen mußte, daß sie die Kirche versäumt habe, da wurde sie, zum erstenmal seit langer Zeit, von der Löwenwirtin ernstlich ausgescholten. Da diese jedoch sah, daß Justine fast keinen Bissen aß, so bereute sie den Verweis im stillen und dachte, das Mädchen, ohnehin zur Traurigkeit aufgelegt, habe sich denselben gar zu sehr zu Herzen genommen.

Von den beschimpfenden Folgen, welche das Erscheinen des Findelkindes für die Braut des Alex gehabt, hatte Justine nichts erzählt, aber die Neuigkeit wurde im Hause noch denselben Tag durch Gäste, die aus der Stadt kamen, verbreitet, und lachend und staunend erkannte die Bewohnerschaft ihren schwarzen Gockel als Propheten an. Doch war es dem Löwenwirt nicht gar wohl dabei, denn er besorgte, Alex möchte gegen ihn, von dessen Hause der unbegründete Bezicht ausgegangen war, klagbar werden, und die Urheberin desselben erhielt in den nächsten Tagen manches unwirsche Wort von ihm. Allein Tag um Tag verging, ohne daß Alex den gefürchteten Schritt getan hätte, und man vernahm nichts weiter von ihm, als daß er schleunige Anstalten zu seiner Hochzeit treffe. Er schien der Meinung zu sein, Heiraten und Stillschweigen seien die geeignetsten Mittel, um Gras über die unangenehme Begebenheit wachsen zu lassen.

Bald jedoch wurde die Aufmerksamkeit und Teilnahme des Hauses durch eine weit nähere Angelegenheit in Anspruch genommen, indem Justine, die seit dem Weihnachtabend sich mühsam auf den Beinen erhalten hatte, in eine gefährliche Krankheit verfiel. Die Herrschaft versäumte nichts und berief sogleich den Arzt aus dem Städtchen, einen guten alten Mann, der das herkömmliche Orakel der Umgegend war. Er zeigte sich sehr besorgt und erklärte das Übel für ein hitziges Gliederweh, das wahrscheinlich durch eine Erkältung verursacht sei und, wenn nicht ein trauriger Ausgang zu befürchten stehe, jedenfalls nicht unter ein paar Monaten zu kurieren sein werde. Das Fieber nahm überhand, und als er am folgenden Abend kam, erklärte er, die Kranke werde jetzt in ein heftiges Phantasieren verfallen und viel Unsinn schwatzen; namentlich werde sie unablässig zu trinken begehren, worin man ihr durchaus nicht zu Willen sein dürfe, wenn man ihr nicht ein sicheres Grab bereiten wolle. Der erste Teil der Prophezeiung traf nicht ein, denn Justine fieberte zwar, daß sie mitsamt der Decke geschüttelt wurde, aber sie verlor die Besinnung keinen Augenblick, sondern lag mit zusammengepreßten Lippen und glühend nach oben starrenden Augen da; desto richtiger ging jedoch der zweite Teil in Erfüllung, und der schwache, lechzende Ruf: »Wasser! Wasser!« den sie fort und fort durch die übereinander gebissenen Zähne ausstieß, belud ihre Umgebung, die ihr das Labsal versagen sollte, mit wahrer Seelenqual. Die Löwenwirtin ertrug dieses fortwährende Seufzen nach Erquickung nicht länger und beriet sich mit dem alten Philipp, der ein Mal über das andere heraufkam, um nach der Kranken zu fragen. Die Dokter sind im Hirn verrückt, erklärte der alte Praktikus; wenn mir ein Stück Vieh an Hitz' leid't und natürlich Durst hat, so geb' ich ihm zu trinken, aber, versteht sich, abgeschreckt. Die Löwenwirtin ließ sich dies gesagt sein und beauftragte die kleine wuselige Magd, die sich Justinens in ihrer Krankheit mit besonderer Liebe annahm, von den Schlüsselblumen, die den Sommer über für den Hausbrauch gesammelt und getrocknet wurden, einen Tee für sie zu kochen, von welchem sie, obwohl zitternd und zagend vor dem Arzt, der Kranken hie und da einen Löffel voll zu geben verordnete. Die kleine Magd aber, die sich ein Vergnügen daraus machte, hinter dem Rücken des Arztes sowohl als der Herrschaft eigenmächtig zu Verfahren, gehorchte den flehentlichen Bitten der Kranken und goß ihr statt der paar Tropfen, die allein schon gegen die ärztliche Vorschrift verstießen, unglaubliche Massen des halb abgekühlten Trankes ein, Der Erfolg dieses Wagstücks war, daß der Arzt am nächsten Abend zu seiner äußersten Verwunderung das Fieber schon gebrochen und die Kranke in Schweiß gebadet fand. Sie hatte sich fest in ihre Decke gewickelt, erklärte, schlafen zu können, und bat, man möge sie ja' nicht aufwecken, bis sie von selbst erwache. Der Doktor konnte nichts anderes tun als dieses vernünftige Verlangen unterstützen. Justine lag die Nacht und den ganzen folgenden Tag, unbeweglich in ihre Decke eingewickelt, in einem todähnlichen Schlafe, der die Löwenwirtin das ärgste fürchten machte, und bei Anbruch der zweiten Nacht schlief sie immer noch. Wie erstaunte aber die Löwenwirtin den andern Morgen, da sie aufgestanden war und ihr auf dem Gange – wer sonst als ihre Justine entgegenkam? Sie meinte ein Gespenst zu sehen, allein Justine versicherte sie, sie fühle sich wieder ganz gesund; auch hatte ihr Gesicht die Farbe der Krankheit verloren und seine natürliche, frische Blässe wieder angenommen. Der Doktor, der in aller Frühe kam, um sich nach dem Verlaufe der Krisis zu erkundigen, war außer sich, als er seine Patientin vom Bett aufgestanden sah, aber was für Augen machte er erst, als ihm verschwatzt wurde, daß und von wem und wie ihm ins Handwerk gepfuscht worden war! Ein gutmütiger Polterer, wollte er der Patientin, die nach den Gesetzen seiner Kunst den Tod so sehr verdient hatte, kaum das Leben gönnen, hielt der Löwenwirtin und der kleinen Pfuscherin, die aber, von Erfolg strahlend, den Kopf vor ihm aufrecht trug, eine gewaltige Strafpredigt und Motz damit, die Patientin alsbald wieder ins Bett zu jagen, da, wie er behauptete, die Folgen eines so unsinnigen Experiments selbst für eine Bärennatur unausbleiblich sein müßten. Da die Natur, so glücklich über die Kunst gesiegt hatte, so war es nicht mehr als billig, daß sie sich nun, ferneren guten Einvernehmens wegen, dem Gebote der letzteren fügte, und so mußte sich's Justine gefallen lassen, noch einige Tage das Bett zu hüten, obgleich sie sich für völlig genesen erklärt«. Unter denen, die ihr in dieser Zeit Teilnahme bewiesen, war auch ihre neue Freundin, die Schustersfrau aus dem Städtchen, welche, Gott weiß wie, einen Augenblick gefunden hatte, von ihren zehn Kindern abzukommen und die Kranke zu besuchen. Als sie mit der Löwenwirtin von ihrem Bette ging, bemerkte diese, es sei ihr unbegreiflich, daß eine Gemütsbewegung so heftige körperliche Nachwehen erzeugen könne, denn sie lasse sich's nicht ausreden, daß der Schmerz um Erhard, den Justine nicht nehmen und nicht lassen gekonnt, den Grund zu dieser Krankheit gelegt habe. Der Schusterin, die erst jetzt erfuhr, daß Erhard um ihre Freundin geworben habe und aus Bedenklichkeit wegen des künftigen Fortkommens von ihr abgewiesen worden sei, entfuhr die Äußerung, das sehe doch der Justine gar nicht gleich; sie brach aber, als ob sie über das unwillkürlich hingeworfene Wort mit sich unzufrieden wäre, sogleich von dem Gegenstände ab, lenkte das Gespräch auf andere Dinge und beeilte sich dann, wieder zu ihrem unruhigen Hauswesen heimzukommen.

Nach wenigen Tagen verließ Justine ihr Lager und kehrte zu ihren Obliegenheiten zurück. Sie war nicht nur gänzlich hergestellt, sondern jedermann beglückwünschte sie, daß sie in ihrer Krankheit um ein merkliches schöner geworden sei, wiewohl niemand sagen konnte, worin die an ihr vorgegangene Veränderung bestand. Über ihr gefaßtes, gelassenes Wesen blieb stets eine sanfte Traurigkeit verbreitet, die sie aber nicht hinderte, mit liebevollem Gemüt an dem Leben um sie her teilzunehmen, und die vielmehr das stille Mädchen zu einer anziehenden, wohltuenden Erscheinung für alle im Hause machte. Den Schustersleuten hielt sie Wort und ging ihnen bei der Pflege ihres natürlichen und übernommenen Kindersegens fleißig an die Hand. Die Löwenwirtin aber erlaubte ihr diese Besuche sehr gerne; der Wandel des jungen Mädchens, das, statt der Eitelkeit nachzugehen, sich an eine ehrbare arme Familie anschloß und ihr beschwerliche Dienstleistungen widmete, gefiel ihr ausnehmend wohl, und sie hielt sie ihren übrigen Mägden so wie den jungen Mädchen der Umgegend bei jeder Gelegenheit als nachahmenswertes Beispiel vor.

Der Christtagsfindling gedieh unter den Händen seiner beiden Mütter, wie sie der Schuster scherzend nannte, so vortrefflich, daß der lustige Pechdrahtzieher oft sagte, man sehe wohl, daß er ein Unkräutlein sei, das nicht verderben werde. Die Frage nach seiner Herkunft schlief allmählich ein, nachdem die ersten Nachforschungen fruchtlos gewesen waren; auch die Obrigkeit beruhigte sich dabei, daß er ein warmes Nest gefunden, und hatte keine Lust, eine für sie selbst so spöttliche Untersuchung, wie die angestellte, gegen irgendwen zu wiederholen.

Im Roten Löwen ging gleichfalls alles seinen gewohnten Gang, Nur brummte der Löwenwirt manchmal über den abwesenden Erhard, »Der Bursch',« sagte er, »hält nicht Wort, er läßt nichts von sich hören noch sehen.«

Der alte Philipp erwiderte jedesmal, wenn er zugegen war: »Er wird eben die bratenen Tauben noch nicht gefunden haben. Der läßt nichts von sich hören, bis er sein Glück gemacht hat. Aber wenn's ihm schlecht geht, so geschieht ihm recht: warum ist er nicht da blieben!«


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