Hermann Kurz
Der Weihnachtsfund
Hermann Kurz

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Er überwand die Bangigkeit, die in seinem Herzen aufsteigen wollte, denn der felsenfeste Glaube an den inneren Wert des Mädchens, das er unter seinen Augen hatte aufwachsen sehen, besiegte jedes Bedenken. »Justine,« sagte er, »ich würde vergeblich herumraten, aber das weiß ich gewiß, daß du nichts getan haben kannst, was dir nicht zu verzeihen wär'. Der Mensch kommt selten grad' und eben durch die Welt, aber wie viel ihm dabei anzurechnen ist, das hängt von den Umständen ab. Was es auch sein mag, mein Wort hab' ich dir gegeben, und dabei bleib' ich. Versteh mich wohl, ich sage: was es auch sein mag!«

Sie richtete sich auf und verbarg das Gesicht an seiner Brust. »Noch einen Augenblick,« sagte sie, »laß mich hier liegen, und dann will ich von dir gehen, denn du hast leichtsinnig in den Tag hinein versprochen.«

»Du machst das Ding so arg, daß man Angst bekommen könnte,« erwiderte er. »Wohl, so will ich eins ausnehmen, obwohl es zum Lachen ist, bei dir an dergleichen zudenken, aber eben darum verschlägt 's ja nichts. Den Fall einer Mordtat will ich ausnehmen, und zwar bloß um dessentwillen, weil du mit einer solchen Last auf dem Herzen weder in dir noch bei mir Ruhe hättest, bis sie abgebüßt wäre, und dann wären wir ja doch getrennt. Denn der Mensch kommt über vieles weg, aber so etwas überwindet er nicht, und auf meinen Reisen hab' ich sogar einmal erlebt, daß eine sonst rohe und verwahrloste Landstreicherin, die ihr Kind ausgesetzt hatte, sich selbst beim Richter angab, weil sie die Gewissenspein nicht ertragen konnte. Aber, wie gesagt, es ist zum Lachen –«

Er wollte weiter reden, als Justine in seinen Armen zusammenzuckend sich gewaltsam losriß, die Hände vor das Gesicht schlug und mit einem dumpfen Schrei in den Stuhl fiel, Erhard erschrak, wie wenn er vom Blitze getroffen wäre, denn dieses auffallende Gebaren unmittelbar auf die Anführung eines solchen Beispiels hin, schien ein furchtbares Geständnis einzuschließen.

»Justine!« rief er angstvoll, »es ist nicht möglich! sag nein!«

»Ja! ja!« rief sie unter den bedeckenden Händen hervor.

»Barmherziger Gott!« rief er, »Du – ein Kind ausgesetzt?«

Sie gab keine Antwort, aber ihre Atemzüge folgten sich so rasch, daß er fürchten mußte, sie werde ersticken.

Ein langes, beklemmendes Stillschweigen trat zwischen beiden ein. Als Justine endlich die Hände sinken ließ, hatte sie ein totenähnliches, vergeistertes Aussehen, Auch Erhard war blaß geworden und starrte, den Kopf bis auf die Brust gesenkt, zu Boden.

Justine stand zitternd auf, um das Gemach zu verlassen.

»Das hätt' ich dir nicht zugetraut,« sagte er tonlos, bei dem Geräusch aus seiner Betäubung erwachend. »Ein Kind umbringen und auf solche Art! Nein,« rief er lebhafter, »es ist nicht wahr, so was hast du nicht tun können.« Sie sah ihn verwundert an, und die Empfindung einer unverdienten Anklage schien sie etwas zu beleben, »Wer sagt denn das?« erwiderte sie. »Mein Kind lebt.«

Er atmete auf, »Sagst du nicht selber,« fragte er, »du habest es gemacht wie jene Landstreicherin, die ihr Kind im öden Feld verschmachten ließ?«

Sie verneinte durch ein stummes Zeichen.

»Aber ausgesetzt hast du es, wie du sagst?«

»Leider Gottes, ja, aber keinen Augenblick verlassen.«

»Das ist mir ein Rätsel, doch kann ich's jetzt wenigstens eher glauben als vorhin. Gib dir selbst die Schuld, daß ich dir viel zu viel getan habe.«

»O lang' nicht genug!« entgegnete sie. »Meine Schuld spricht noch viel lauter zu mir, obgleich sie vor aller Welt verborgen ist.«

Erhard schwieg eine Weile, und eine geraume Weile, denn es war nicht mehr noch weniger als menschlich, daß eine Enthüllung der unerwartetsten Art, wie diese, ihm gewaltig zu schaffen machte. Aber die Liebe so vieler Jahre wurzelte zu fest in seinem Herzen, um sich von dem härtesten Schlage brechen zu lassen, und als Justine demütig und ohne aufzusehen sich wandte, um, wie sie gesagt hatte, von ihm zu gehen, rief er: »Nein, Justine, geh nicht fort. Laß mir nur ein wenig Zeit, meine Gedanken zu sammeln. Sieh, ich glaub' immer noch das Beste von dir. Es ist gewiß mehr dein Unglück als deine Schuld gewesen. Du magst gefehlt haben, aber etwas Schlechtes hast du gewiß nicht getan. Mein Wort –«

»Du wirst doch nicht glauben, ich nehm' dich beim Wort!« unterbrach sie ihn.

»Nein,« erwiderte er, »aber eben das ist mir der beste Beweis, daß ich recht von dir denke. Vertrau du auch mir, Justine, es kann noch alles zwischen uns gut werden.«

Sie schwieg und sah hoffnungslos zu Boden. Er aber ließ nicht nach, bis er ihren Widerstand erschöpft und sie dahin gebracht hatte, ihm ihr schon halb enthülltes Geheimnis vollends ganz anzuvertrauen. Sie holte tief Atem, indem sie sich dazu anschickte, und sah ihn mit einem unbeschreiblich zärtlichen und zugleich vorwurfsvollen Blicke an. »O Erhard« begann sie, »in diesem Augenblick, wo ich den Mund gegen dich auftue, bist du mir der nächste Mensch in der Welt, und doch weiß ich, daß du mir den Augenblick nachher der fernste und fremdeste sein wirst, denn wenn du alles weißt, so ist ein Berg zwischen uns geschoben. Dazu zwingst du mich!«

»Halt!« rief er, »ich will's lieber nicht wissen! Mein Glaube an dich –«

»Nein,« unterbrach sie ihn, auf einmal ihren Entschluß ändernd, »jetzt muß ich's sagen. Du hast selbst gesagt, ich sei es dir und mir schuldig, und du hast recht gehabt. Ich mag dich nicht gehen lassen, ohne daß du weißt, warum, damit dein Herz nicht mehr mit mir hadert. Und deinen Glauben kann ich nicht annehmen, so lang' er blind ist.«

»So laß mich's hören,« versetzte er. »Ich kann mir's aber selbst zusammensetzen. Du hast nicht geglaubt, daß ich je wiederkommen würde, und da –«

»Du bist im Irrtum,« unterbrach sie ihn. »Meinst du denn, ich hätte vor sieben Jahren nein zu dir gesagt, wenn nicht damals schon das Hindernis zwischen uns gewesen wär'?«

»Höll' und Teufel!« rief er auffahrend, während ihm plötzlich ein grelles Licht aufging. »Also der Alex!«

»Ich hätt' den Namen nicht über die Lippen gebracht,« versetzte sie mit dem kalten Tone der völligen Entsagung. »Jetzt weißt du vollends ganz, warum du nichts von mir wollen kannst, zweimal nichts!«

Erhard ging mit wilden Schritten in dem Gemache auf und ab, und wiederum trat ein langes Stillschweigen ein, bis Justine mit leisen Schritten und gesenkten Augen, wie eine Verurteilte, sich nach der Tür wandte. Es kochte in ihm, und doch sah er nicht, wie er sein Herz, so sehr es ihr jetzt grollte, von ihr abziehen könne. »Justine!« rief er in zornigem Schmerz, »wie hast du mir das tun können, dich an den elenden Menschen wegzuwerfen?«

Sie blieb stehen, »Damals,« entgegnete sie sanft, »ist er dir nicht so vorkommen, und den anderen auch nicht. Ich habs zuerst unter allen herausgebracht, wie schlecht er ist, leider auf meine Unkosten.«

»So früh schon also!« rief er, und seine Stimme verriet den Riß, der ihm durch das Herz gegangen war. »Aber es ist wahr,« fuhr er, nach einer Weile einlenkend, fort, »ich hab' anfangs auch was auf ihn gehalten, sein einschmeichelndes Wesen hat mich verblendet, und die Verblendung hätte vielleicht noch länger gedauert, wenn nicht –. Aber,« unterbrach er sich, »wie ist mir denn? Wo hab' ich meine Augen gehabt? Oder tapp' ich jetzt erst recht im Dunkeln? Das Rätsel verwirrt sich immer mehr. Jene kurze, flüchtige Tändelei, die mir den Burschen zuerst verhaßt machte, die aber wie ein Schattenspiel vorüberging –«

»Ist ein förmliches, rechtes Verlöbnis gewesen, mit Eid und Ring,« fiel Justine ein.

»Jetzt begreif' ich alles! Und er hat seinen Schwur gebrochen?«

»Wie ein Gauner, der nichts von Ehr' und Treu' und Glauben weiß.«

»Und doch ist mir's wieder unbegreiflich! Wenn ich zurückdenke, wie er damals den ganzen Sommer und Herbst, ja bis Weihnachten, neben dir gelebt hat – er hat doch deine Hilflosigkeit, deine verzweiflungsvolle Lage kennen müssen, und hat so ganz gleichgültig dagegen sein können?«

»Gleichgültig, wie ein Klotz, der keine menschliche Regung kennt.«

»Jetzt weiß ich erst, wie recht ich hatte, ihn so tief zu hassen und zu verachten!« rief Erhard aus. »Mit diesen wenigen Worten weiß ich nun deine ganze Geschichte. Du armes Kind, gegen dich soll niemand einen Stein aufheben. In deiner unerfahrenen Jugend hast du nicht gewußt, wie schlecht ein Mensch sein kann, und keine Mutter, kein Bruder ist dir zur Seite gestanden.«

Sie sah ihn selbstvergessen mit dem vollen Blick der Liebe an.

»Und ich,« fuhr er fort, »ich, der dich hätte bewahren sollen!«

– Er schlug sich plötzlich vor den Kopf: »Justine!« rief er, »jetzt wird mir's auf einmal klar! Ich selber bin an deinem Unglück schuld gewesen. Durch mein dummes Betragen hab' ich dich dem – dem anderen in die Arme getrieben! Sag' nur: ›so ist's!‹ und gib mir die ganze Schuld.«

»Ich hab' damals durchaus nicht verstehen können, was du wider mich gehabt hast,« erwiderte sie ausweichend.

»Nichts!« rief er, »so wenig als du wider mich! Es war gar nichts, als die unreife Herbigkeit des Buben, der ein Mann werden soll und den Weg nicht finden kann. Wir haben einander doch von Anfang an lieb gehabt und sind wie füreinander bestimmt gewesen; wie aber nun die Zeit kam, daß wir uns hätten verstehen sollen, da war ich dir so borstig und trutzig, daß ich mich jetzt noch nicht mehr begreifen kann. Ich brauche dir nicht davon zu erzählen, dir wird's noch hinlänglich im Andenken sein. Es wollte mir eben gar nicht in den Kopf, daß ein bloßes Kind mir so zu schaffen machen sollte, und wiederum, so oft ich dich vor den Kopf stieß, hätt' ich mir hinterher alle Haare dafür ausraufen mögen. Das hätt' ich, jetzt vollends doppelt nötig, nun ich erst recht sehe, was du davon gehabt hast, daß du mich lieb hattest!«

»Ich bin mir's nicht recht klar bewußt gewesen,« sagte sie, »sonst wär's nie so weit kommen, sonst hätt' ich eher verstanden, was in dir vorgeht, und alles war' zwischen uns anders gangen. Du weißt, ich hab' an dir hinaufgesehen wie an einem älteren Bruder, und da hält's schwer und dauert lang', bis eine eigentliche Liebschaft draus wird. Es ist freilich eine Zeit kommen, wo ich mich selber besser verstanden hab', aber da ist's eben viel zu spät gewesen und alles verloren! Da hab ich mich dann als die schlechteste und verworfenste Kreatur auf Erden ansehen müssen!«

»Das bist du nicht!« rief er lebhaft. »Wer will dich verdammen, daß du dem Eidschwur eines Schurken Glauben geschenkt hast?«

»Daraus hätt' ich mir auch keinen so schweren Vorwurf gemacht,« erwiderte sie. »Aber daß ich an dir und nur einen Mord begangen hab', das hab' ich mir nie verzeihen können, und nie werd' ich mir's verzeihen.«

»Aber ich verzeih' dir's und nehm' den Mord auf mich!« rief er, indem er sie von neuem in die Arme schloß und ihren Mund mit Küssen bedeckte. Sie duldete sie, ohne sie zu erwidern.

»Ach Erhard!« sagte sie wehmütig, indem sie sich ihm entwand, »ich hab' mir nicht vorgestellt, daß ich dich je in diesem Leben wiedersehen sollt'.«

»Ich hab' keinen Tag eher kommen können,« erwiderte er und erzählte ihr in der Kürze seine Schicksale. »Nicht als ein reicher Mann,« setzte er hinzu, »aber doch wenigstens als ein gemachter Mann hab' ich wiederkehren wollen, und das hat nicht sein können in dem furchtbaren Strudel von Glückswechseln, wo mich jeder Tag zum Bettler machen konnte. Mit dem ersten Augenblick, der mich frei machte und mich meinen Besitz überschauen ließ, bin ich hierher geeilt.«

»Du wirst doch nicht glauben, ich hab' dir einen Vorwurf machen wollen,« sagte sie dazwischen.

»Und mit welchem Herzklopfen!« fuhr er fort. »Kaum hatte ich dir das Lebewohl gesagt, das auf Nimmerwiedersehen gelten sollte, so war mir's, als könnte es gar nicht so gemeint gewesen sein, und auch deine letzten Worte klangen mir im Ohr, als ob du eigentlich hättest ›Ja‹ sagen wollen, und ich hätte dich nur mißverstanden. Ich redete mir vor, du habest mir zu verstehen geben wollen, mein störrisches Wesen biete keine sichere Aussicht für unser Fortkommen; denn wahr ist's, wer arm ist, muß sich in vieles fügen, wozu ich vielleicht zu stolz gewesen wär'. Dieser Stolz ist auch meiner Liebe oft in den Weg getreten, oft hab' ich mit dir getrutzt und hab' manchen Versuch gemacht, dich zu vergessen; denn da draußen in der Welt hat's nicht an Gelegenheiten dazu gefehlt, und wenn ich zurückdenke, so hab' ich just keine Ursache, dir ein strenger Richter zu sein; aber der bittere Nachgeschmack, den ich von solchen Versuchen hatte, führte mich nur um so stärker zu dir zurück, und ich konnte so wenig von dir lassen, daß ich mir endlich fest einbildete, du habest mich bloß auf einige Zeit in die Fremde schicken wollen, damit ich entweder geschlachter werde oder so viel erwerbe, um meinen Kopf aufrecht tragen zu können, und du wartest getreulich, bis ich wiederkomme. Freilich, je länger diese Zeit sich ausdehnte, desto schwerer wurde es mir, und als ich mich endlich auf den Weg machte, sank mir mit jedem Schritte, den ich näher kam, das Herz immer mehr; ich spottete mich aus und wollte wieder umkehren; aber es zog mich mit Gewalt; ich wollte dich wenigstens noch einmal sehen, auch wenn ein anderer ich heimgeführt hätte.«

»Dafür ist gesorgt gewesen,« versetzte sie schmerzlich lächelnd. »Weder du noch ein anderer.«

»Justine!« rief er.

»Bedenk' doch nur,« sagte sie, »daß einer zwischen uns steht, der ganz in der Nähe lebt. Für den Augenblick hörst du bloß auf deinen Edelmut, aber auf die Länge kannst du nicht über den Balken wegkommen, den du jetzt nicht sehen willst.«

»Ei was, wir gehen in die weite Welt!« rief er, »Anderswo ist auch gut leben. Aber halt! du sagst ja, dein Kind sei am Leben. Wo ist es denn? Und alles ist vor der Welt verborgen geblieben, sagst du? Freilich, ich hab' ja selber nichts davon gemerkt. Aber wie ist das möglich gewesen? Es ist mir doch noch vieles unklar. Warum bist du denn so unvorsichtig gewesen, das Verlöbnis geheim zu halten? Warum hast du deine Rechte nicht geltend gemacht? Mit dem Ring allein hättest du ihn ja geschlagen.«

»Es ist eben alles Lug und Trug gewesen,« erwiderte sie, »Er hat mir vorgespiegelt, er habe Verwandte, die er einmal erben werde und denen man die Sache langsam beibringen müsse, weil sie beim Heiraten aufs Geld sehen. Und der Ring dann, der ist so falsch gewesen wie sein Herz und sein Eid.«

»Da hast du freilich recht wie ein Kind gehandelt,« bemerkte er.

»Jawohl,« sagte sie, »aber gerade dadurch, daß er mich nicht wie ein Kind behandelt hat, hat er mich überlistet. Gleich vom ersten Augenblick an hat er eine Art gegen mich angenommen wie gegen eine Erwachsene, und wie wenn ich mehr war' als er; dann hat er bei jeder Gelegenheit davon geredet, wie er ein großes Geschäft einrichten wolle, wozu er eine gescheite Frau brauche, und dergleichen. Sieh, Erhard, ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Sein Betragen hat mir eben geschmeichelt, denn der Mensch will etwas gelten; und noch mehr hat mir's geschmeichelt, daß ich aus einer armen Magd eine angesehene Frau im Städtle werden soll, und hab' immer dran denken müssen, wie du aufgucken werdest, wenn du sehest, daß ich doch noch zu etwas zu brauchen sei. Ich hab' gemeint, ich sei dir zu schlecht, denn du bist immer kalter und herber gegen mich worden.«

»Aus Eifersucht,« versetzte er. »Fürwahr, ich hätt's nicht besser einrichten können, um dem Schurken Gewalt über dich einzuräumen«

»Seine Mutter hat die Hauptschuld gehabt,« sagte Justine.

»Wie?« rief er, »seine Mutter hat um das Verlöbnis gewußt?«

»Ich bin bei ihr in der Visit' gewesen,« erwiderte sie.

»Du warst als Braut bei ihr?« rief er.

»Ich war Braut und war's nicht,« erwiderte sie, sich nach und nach seine gewandtere Redeweise aneignend, »Das heißt, es war schon zu einem stillen Einverständnis zwischen uns gekommen; aber mit Worten war die Brautschaft noch nicht ausgesprochen. Da – erinnerst du dich noch des Eierlesens an selbigem Ostermontag? Der Frühling war so schön und alles so vergnügt, ich hab' nie so viel Menschen auf dem Schießplatz gesehen.«

»Jawohl,« antwortete er. »Wir drei wurden ausgewählt, als Leser, Leserin und Läufer. Man wollte mich zum Leser machen, aber ich übernahm lieber den Lauf und überließ das Lesen und die Leserin schnöderweise meinem Nebenbuhler.«

»Ich weiß noch recht gut, wie weh mir das getan hat,« versetzte sie, »denn ich hab's trotz deiner Ausrede als eine öffentliche Verschmähung ansehen müssen.«

»Ich hab' mich eben nicht zwischen euch eindrängen wollen,« entgegnete er. »Auch hoffte ich in meiner Bosheit, er werde als Leser eher den kürzeren ziehen.«

»Da hast du dich aber verrechnet,« sagte sie. »In solcherlei Dingen hat's ihm nicht an Geschicklichkeit gefehlt. Auch warf er mir die Eier der Reihe nach auf seine zehn Schritt weit, ohne zu fehlen, in den Spreuerkorb, den ich ihm nachzutragen hatte. Dennoch hatte jedermann darauf gewettet, ein flinker Bursch' wie du müsse Sieger bleiben, und alles war verwundert, daß der Läufer, der doch ein wenig im Vorteil ist, diesmal zu spät kam.«

»Das ging mit ganz natürlichen Dingen zu,« erwiderte Erhard. »Wie ich durch den Wald nach dem Heidenschlößchen hinlief, um ein Ei an das verfallene Tor zu schleudern, zum Zeichen, daß ich dagewesen sei, blieb ich unterwegs in Gedanken stehen; denn jedesmal, wenn ich nicht bei dir war, mußte ich an dich denken, zum Ersatz für das, woran ich's in deiner Gegenwart fehlen ließ. Darüber verspätete ich mich, und bis ich zurückkam, waren die Eier alle vom Boden in den Korb gelesen, und den Preisrichtern war die Mühe erspart, an meinem Ziele nachzusehen.«

»Ach Gott!« rief sie, »wie sich doch der Mensch einen Wahn vorspiegeln kann. Ich nahm diesen Ausgang als ein Zeichen, daß ich dem Sieger angehören solle!«

»Und ich,« sagte er, »wurde wacker ausgelacht, und das mit Recht, denn ich hatte ja wie geflissentlich meinem Gegner in die Hände gearbeitet. Damals hab' ich das letzte Glas Wein mit ihm getrunken, ungern zwar, aber ich durfte keinen Verdruß blicken lassen.«

»Nach diesem Spiel,« fuhr Justine in ihrer Erzählung fort, »brachte er mich zu seiner Mutter. Wir hatten die Eier ins Wirtshaus zu tragen, um sie für das junge Volk sieden zu lassen, und das benutzte er schlau, denn der Gang hatte auf diese Art nichts Auffallendes, und wir konnten unbeachtet in sein Haus kommen, weil alles nach dem Eierlesen beim Schießen blieb. Er stellte uns als Sieger und Siegerin vor, was halb und halb wie Braut und Bräutigam klang. Nachdem er eine kleine Weile mit mir dagewesen war, sagte er, er müsse jetzt wieder auf den Festplatz zurück; aber seine Mutter würde es freuen, mich näher kennen zu lernen; ich solle nur nicht zu lang ausbleiben. So kam er ohne mich auf den Platz zurück, und auch nachher beim Tanz wußte er's so anzugreifen, daß eine undurchsichtige Decke über unserem Verhältnis blieb.«

»Und das hat dir keinen Verdacht eingeflößt?« fragte er.

»Nein,« antwortete sie, »es war mir vielmehr selber lieb, denn ich hatte eine Bangigkeit vor dem Kundwerden, vor dem Gerede der Leute über meinen Stand, und besonders vor den Verwandten, über die er nur von weitem her allerlei zu verstehen gegeben hatte. Zudem ließ der Empfang, den ich bei seiner Mutter fand, keinen Zweifel in mir aufkommen; denn sie behandelte mich, wie wenn ich schon ihre Schwiegertochter gewesen war', machte mir einen Kaffee, denk' dir, die reiche Frau einer Magd, redete davon, wie ich künftig meine Haushaltung einrichten sollte, und ließ dazwischen Neckereien einfließen, aber alles das ganz im allgemeinen, verstehst du, sodaß kein Wort vorkam, bei dem man sie nachher hätte fassen können. Eben so ging es bei den folgenden Besuchen, denn ich war noch mehrmals bei ihr, aber wie durch Zufall traf sich's immer so, daß ich allein zu ihr kam und daß sie in ihrem Haus allein war, und immer blieb's bei allgemeinen Redensarten ohne Handhabe. Ich bin eben kindisch dumm gewesen und viel zu bescheiden, sonst hätt' ich das Spiel bald durchschauen müssen. Aber diese alte Frau hat am meisten zu meinem Unglück beigetragen, denn sie hat mich zutraulich gemacht. Auch ist mir's wahrscheinlich, daß sie ihrem Sohn bloß darum zu Willen gewesen ist, um ihn nachher desto leichter davon abzubringen. Ich glaub' nämlich, daß ihm's anfangs Ernst gewesen ist und daß er nicht die Absicht gehabt hat, mich zu betrügen. Erst nach und nach, wie er in seiner Probezeit allmählich einsah, daß er nicht der Mann sei, durch Fleiß und Verstand sein Vermögen zu vergrößern, erst da ist er schlecht geworden, hat auf eine wohlfeilere Weise nach Geld getrachtet, um das Leben nach seiner Art zu genießen, und dann hat ihm die Alte, wo nicht zu seiner nachherigen Heirat, doch ganz gewiß zum Meineid gegen mich zugeredet.«

»Nimm mir nur den schlechten Kerl nicht noch in Schutz!« rief Erhard mit einiger Bitterkeit.

»Ich kann's eben nicht für möglich halten,« erwiderte sie, »daß ein Mensch in seiner Jugend, wo doch das Herz offen ist, schon von Anfang an so im Kern schlecht sein kann. Das mag aber sein, wie es will, die Schlechtigkeit, zu der er sich nachher verstiegen hat, ist so grenzenlos, daß du selber, sein geschworner Feind, meiner Erzählung kaum Glauben schenken wirst. Etliche Tage nach dem ersten Besuch bei seiner Mutter wurde ich in die Stadt geschickt, um dies und das zu besorgen. Zufällig war's am ersten April. Vor meinem Weggehen fand er Gelegenheit, mir im stillen einen Auftrag an seine Mutter zu geben und mich zu bitten, ich mochte den Rückweg durchs Forchenholz machen, wo er mir zum Steinkreuz entgegen kommen wolle, um mit mir zu reden. Seine Mutter empfing mich aufs liebreichste und ließ sich durch keine Einwendung abhalten, mir gleich wieder einen Kaffee zu machen, der mir zwar im Mund nicht besonders schmeckte, aber desto wohler im Herzen tat. Sie redete immer von ihrem Sohn, konnte ihn nicht genug loben und ließ dabei ein Wort davon fallen, daß sie ihn bei der Wahl seiner Frau in keinerlei Weise entgegentreten und weder auf Stand noch Reichtum ein Gewicht legen werde. Beim Abschied gab mir die alte Kupplerin einen zärtlichen Kuß und sagte lachend, den könne ich ihrem lieben Sohn bringen. Ich war wie berauscht, als ich auf dem Heimweg den Waldsteig einschlug. Das junge Laub drang schon mit seinem hellen Grün aus den Buchen und Birken, das finstere Nadelholz trieb frische lichte Spitzen, und ins Walddunkel jubelte vom nahen Feld der lustige Lerchenschlag herein. Sonst aber war's im Wald so still wie in einer Kirche. Er wartete meiner am steinernen Kreuz, Sein erstes war, daß er mir einen Ring an den Finger steckte, was ich stillschweigend geschehen ließ; dann bot er mir Herz und Hand und fragte mich, ob ich seine Frau werden wolle. Er gab den Grund an, warum das Verlöbnis vorläufig noch nicht öffentlich gemacht werden dürfe, sagte aber, seine Mutter sei mit uns einverstanden, obgleich sie aus Rücksicht auf die Verwandtschaft für jetzt noch ein wenig zurückhalten müsse. Diese Versicherung konnte ich nicht bezweifeln, denn die Alte hatte, freilich in verblümter Weise, eigentlich das nämliche gesagt. Er war mir dem Äußeren nach nicht mißfällig, und sein Inneres mußte ich für gut halten, weil er eine arme Waise nicht verachtete; ich meinte, es sei eine himmlische Fügung, der ich nicht widerstreben dürfe. So kam es, daß ich ihm mein Jawort gab. Ich hatte ihn damals lieb, ich meinte wenigstens, ihn lieb zu haben.« »Ich hab's nicht anders verdient,« sagte Erhard düster, als Justine schmerzlich inne hielt. Sie rang eine Weile nach Worten, dann nahm sie die Bibel, die nach alter Sitte auf dem Schranke lag, falls ein Gast darin zu lesen begehren würde, schlug sie auf und deutete mit dem Finger auf eine Stelle. Erhard las. Es war die Stelle, wo Sara, Raguels Tochter, ihre Seele vor Gott rechtfertigt, daß sie in seiner Furcht und nicht aus Vorwitz einen Mann zu nehmen gewilligt habe.

»Ich kenne dich ja,« erwiderte er. »Vor Gott und meinen Augen bist du wie eine, die ihr Mann nach der Hochzeit verraten und verlassen hat. Was du bist, das bist du mit Leib und See!', und wem du traust, dem vertraust du dich nicht bloß halb. Dein Vertrauen allein hat dich gestürzt.«

Sie sah ihn mit einem freudigen und dankbaren Blicke an, welcher ihm sagte, daß er sie verstanden habe, »Und doch,« erwiderte sie, »hat mich eine innere Stimme gewarnt; aber er brachte sie zum Schweigen mit den Worten, wo kein Vertrauen sei, da sei auch keine Liebe.«

»Die Worte sind wahr!« rief Erhard, »und wenn sein Herz noch so schnöd gelogen hat, sein Mund hat die Wahrheit gesprochen.«

»Und doch,« erwiderte sie, »wie ich mit ihm vom Steinkreuz heimging, hatte ich ihn nicht mehr so lieb, wie zuvor, statt daß ich ihn doch jetzt noch hatte viel lieber haben sollen. Es überkam mich ein Gefühl von Fremdheit, das mir wie ein kalter Schauer durchs Herz fuhr, und von Stund an erwachte eine Abneigung in mir, die mir erst nach und nach recht klar wurde. Freilich fand sich gleich ein Anlaß dazu. Ich hatte mit meinem vollen Herzen nicht daran gedacht, daß einmal am Steinkreuz ein Mord verübt worden sein sollte; er aber hatte daran gedacht, und im Heimgehen, wo wir eine Strecke weit zusammengingen, spottete er darüber, wobei ein kalter, frecher Zug in seinem Gesicht zum Vorschein kam, den ich sonst nie gesehen hatte und der mir das Herz zuschnürte. Aber es war zu spät. Ich bekämpfte diese Abneigung mit aller Kraft, aber es ist leicht zu denken, daß mein Widerwille nicht vermindert wurde, wie sich's um die Zeit, wo die Arbeiten zunehmen, immer deutlicher zeigte, daß es außer dem Herzen auch noch am Kopf, an den Händen und Füßen fehlte. Ich hatte mich nun schon ganz an den Gedanken gewöhnt, daß mir das Los beschieden sei, das so viele Frauen haben: mit einem Manne leben zu müssen, den man nicht mag. Aber so kam es nicht. Ich wurde allmählich gewahr, daß ich noch durch etwas ganz anderes als durch Eid und Ring an ihn gebunden sei, und sagte ihm dies bei einer Gelegenheit, wo ich unbemerkt mit ihm reden konnte. Er hatte damals, wie es sich später herausstellte, seine Augen bereits auf seine jetzige Frau geworfen. Anfangs wollte er mich nicht verstehen, dann brauchte er jämmerliche Ausflüchte; als ich mich aber auf das Geschwätz gar nicht einließ, sondern geradeaus ging und ihm sein Gelöbnis vorhielt, da – o Erhard, du würdest 's keinem Menschen, du würdest's dem Teufel kaum zutrauen – aber der Teufel hat ihm auch in jener Stunde leibhaftig aus den Augen gesehen – da faßte er auf einmal seinen Entschluß, stieß ein höhnisches Gelächter aus und sagte, ob ich denn nicht wisse, daß, was man am ersten April verspreche, nichts gelte, ich hätte mir's den andern Tag noch einmal versprechen lassen sollen.«

Erhard prallte sprachlos zurück. Die freche Niederträchtigkeit, die sich in dieser Art und Weise eines Wortbruchs aussprach, und dazu an einem von ihm so geliebten Wesen verübt, machte ihn so bestürzt, daß er keines Wortes fähig war. Er ballte beide Hände, die Ader an der Stirn schwoll ihm an, und mit weit offenen Augen suchte er nach einem Gegenstande, den er, wenn er dagewesen wäre, zermalmt haben würde.

»O Erhard, Erhard!« rief Justine, »nicht wahr, dazu war ich doch zu gut, um so unter die Füße getreten zu werden? So feile Ware ist mein Herz doch nicht gewesen, um – in den April geschickt zu werden?«

»Sei ruhig,« sagte er, sich nach und nach von der Erregung erholend. »Wenn man das Gold auch über und über mit Kot besudelt, es bleibt doch Gold, aber gefallen hättest du dir's nicht lassen sollen.«

»Hätt' ich ein Messer bei der Hand gehabt,« erwiderte sie, »wer weiß, was geschehen wär'! Ich kehrte ihm den Rücken und ging in der ersten freien Stunde zu seiner Mutter. Da war ich vom Teufel zu seiner Großmutter gekommen. Sie stellte sich sehr erstaunt und voll Unwillens. Sie hätte nie geglaubt, sagte sie, daß ich ein solches Ärgernis geben würde, sie habe mich für eine ganz andere Person gehalten; aber noch empörender sei es, daß ich ihren Sohn beschuldige; ihr Sohn habe immer gesittet und eingezogen gelebt; ich solle mich wohl 'in acht nehmen, es werde ihm ein leichtes sein, wider mich zu schwören, und niemand werde meine Aussage Hellers wert achten. Ich zeigte ihr den Ring. Sie besah ihn und lachte mich aus: ich solle nur den Goldschmied fragen, was er von einem Treuring solcher Art halte, dessen Erlös nicht zu einem Stück Brot hinreiche. Wenn es je wahr sei, was sie nicht einmal glaube, daß ihr Sohn nur diesen Ring geschenkt habe, so sei das der beste Beweis, wie sehr er von seiner anfänglichen guten Meinung zurückgekommen und wie wenig ich ihm wert gewesen sei. Nach seinen Reden über mich zu schließen, habe ich das durch meine Aufführung verschuldet. Ihr Sohn habe nämlich schon seit einiger Zeit Verdacht auf mich, und dieser Verdacht sei ihr auch anderswoher bestätigt worden, daß ich mich sehr stark mit einem andern eingelassen habe. Und jetzt – sie hätte es nicht meisterhafter machen können, mich stumm zu Boden zu schlagen – jetzt nannte sie – wen meinst du?«

»Mich.«

»Ja dich. Die schreckliche Bestürzung, in die mich diese grausame Gegenbeschuldigung versetzte, gab ihr leichtes Spiel, und während ich den Mund nicht aufzutun vermochte, redete sie in mich hinein, ich solle nicht glauben, daß mit einer solchen abgekarteten Geschichte gegen ihren Sohn so leicht durchzudringen sein werde; freilich wär's bequem, einen Fehltritt mit dem Mantel einer honetten Familie zu bedecken, aber es gäbe einen Gott im Himmel und einen Richter aus Erden, und die Welt sei so eingerichtet, daß man eine honette Familie nicht so leicht im Stich lassen werde. Endlich, als sie mich ganz vernichtet und darniedergeschmettert sah, wurde sie wieder ein wenig freundlicher, hieß mich ein unerfahrenes junges Ding und sprach mir gütlich zu. Aber ich bin nicht imstand, ihre Worte zu wiederholen, denn ich hörte sie nur halb, obgleich ich sie wohl verstand. Beweisen kann ich ihr nichts, aber ich hab' gar keinen Zweifel, daß sie mich in versteckter Art zu einem Verbrechen hat anreizen wollen, denn sie hat mich fortwährend mit verdächtigen Redensarten ihrer völligen Verschwiegenheit versichert. Nachher wenigstens hab' ich's so ansetzen müssen. Damals freilich bin ich ohne ein Wort zu ihrer Tür' hinausgeschwankt und bin keines Gedankens mächtig gewesen.«

»Das sind Teufel!« rief er.

»Und vorher sind sie gewesen wie die Engel des Lichts. Ja, ich Hab' wohl in meiner zarten Jugend schon lernen müssen, daß man die Menschen nicht nach ihren Worten und Gebärden, sondern nach ihren Handlungen schätzen soll.« »Und in dieser fürchterlichen Lage hast du keinen einzigen menschlichen Berater gehabt? Ach, hättest du dich doch mir anvertraut!«

»Dir?« rief sie leidenschaftlich, »an dem ich gesündigt hatte, dir, den man in meine Schande mit hineinzuziehen drohte, wenn sie nicht verschwiegen blieb? Dir unter allen Menschen zuletzt! O, hättest du's ahnen können, als du in deiner Arglosigkeit mir wieder näher tratst und so lieb gegen mich wurdest, mir immer deine Hand antragen wolltest – hättest du's ahnen können, welche Folterqual das für mich war und wie ich Tag und Nacht in mich hineinschrie: Zu spät, zu spät!'«

»Arme Justine,« sagte er, »hättest du mir nur vertraut, du wärst nicht fehlgegangen.«

»Ich hätte dich doch auf eine harte Probe gestellt,« erwiderte sie, »wenn ich dir an unserem letzten Morgen, wo du mir so bös wurdest – morgen früh sind's sieben Jahr' – wenn ich dir da auf deine Werbung geantwortet hätte: ›Ja, aber du darfst dich nicht daran stoßen, daß ich heut nacht ein Kind geboren habe, das einen andern zum Vater hat‹.«

»In jener Nacht?« rief Erhard. »Sind wir denn alle mit Blindheit geschlagen gewesen? Wie war dir's möglich, uns so die Augen zu verkleben?«

»Auch mir,« versetzte sie, »ist's oft gewesen, als war' eine Wolke zwischen mir und den andern Menschen, aber ich hab' nichts dazu getan. Was ich von der Welt zu erwarten hatte, wenn sich mein Geheimnis nicht mehr verbergen ließ, das wußte ich nur allzu gut, und selten möcht' ich einer raten, in solchem Unglück auf menschliche Hilfe und Milde zu bauen. Ich verzichtete darauf, hielt mich an den Vater im Himmel und sagte zu ihm: ›in deine Hände geb' ich mich ganz, dir stell' ich's anheim, wie du's mit mir hinausführen willst; hast du Erbarmen mit mir, so zeige mir einen Weg aus der Not, willst du mich aber noch tiefer hinunterstoßen, so möge es geschehen.‹ Wie die Rettung beschaffen sein sollte, davon konnte ich mir freilich kein klares Bild machen, und mit eiskaltem Herzen, an Gott und Menschen verzagend, sah ich die Zeit immer näher rücken, wo das Blendwerk, das sich die Leute über mich machten, plötzlich vor ihren – und vor deinen Augen, Erhard! –»zerreißen und ihr Abscheu gegen mich um so größer werden mußte, je größer vorher ihre Meinung von mir gewesen war. So brach die letzte Nacht an und ich fühlte, wie meine Stunde kam, aber Gott half mir und ließ sie verziehen, bis ich allein im Haus und alles zum Nachtgottesdienst ausgezogen war. Niemand sah, was mit mir vorging, und doch hatte ich unter den Lustbarkeiten, in die ich hineingezogen wurde, schon den schweren Kampf zu kämpfen begonnen, worin auch das ärmste Weib nicht leicht ohne Trost und Beistand gelassen wird; mit Mühe stieg ich noch die Treppe hinab, um euch beim Fortgehen zu leuchten; mit Aufbietung aller meiner Lebensgeister kroch ich wieder herauf und sah nach den schlafenden Kindern, um keine Pflicht zu versäumen; dann schleppte ich mich auf mein Kämmerlein, und ihr wäret noch nicht bei der Kirche angekommen, so hielt ich schon, wie eine zweite Genoveva, meinen Schmerzenreich in den Armen.«

»Guter Gott!« rief Erhard, »so hab' ich doch damals richtig geahnt, daß etwas Ungewöhnliches vergehe, denn ich hatte beständig ein dunkles Gefühl davon und wollte dich fragen, ob dir etwas zugestoßen sei.«

»Es ist besser, daß du unwissend geblieben bist,« versetzte sie. »In jener Nacht erfuhr ich, daß dem Menschen eine Kraft gegeben ist, die er selbst nicht kennt, und daß sie mit der Not und mit dem Leiden wächst. In meiner nagenden Angst und tiefen Verzweiflung hatte ich doch schon seit Monaten nicht vergessen, die Zurüstungen zu machen, die für alle Fälle dem Ankömmling nötig waren, und wie ich ihn nun mit meinen hilflosen Händen warm eingehüllt an meine Brust drückte, da hab' ich mich in all meinem Elend freuen und mir sagen müssen, ich sei doch keine ganz schlechte Mutter, und es sei schad um mich, daß ich meinem Beruf nicht besser nachkommen dürfe. Aber es war keine Zeit zum Weinen. Ich ruhte ein wenig und sammelte meine Kräfte für den Rest der Nacht. Mein armes Kind schlief bald beschwichtigt ein, als ob es wüßte, was es mir schuldig sei und wie es sich betragen müsse, um mich und sich vor Schmach zu bewahren. Wie es Zeit wurde, daß ich euch aus der Kirche erwarten mußte, stand ich auf, was mich wahrlich sauer ankam, und sah zuerst nach den Kindern. Sie vergalten mir die Treue, die ich ihnen, zum Teil von ihrer ersten Lebensstunde an, bewiesen hatte und schliefen ganz ruhig. Nun hörte ich euch kommen und ging euch mit dem Licht entgegen. An meinem Auftreten hing nicht weniger als Leben oder Tod – das wußte ich, aber ich nahm mich auch so zusammen, daß niemand einen Argwohn schöpfte.« »Mein Gott, mein Gott!« rief Erhard, »also hab' ich mich doch nicht ganz geirrt – aber wie weit war ich von der Wahrheit entfernt!«

»Und jetzt kam erst noch das Schwerste!« fuhr Justine fort. »Ich wartete in meinem Bett, bis alles eingeschlafen war, dann stand ich abermals auf, raffte alles mögliche zusammen, um mein schlafendes Kind recht gut zu verwahren, und nachdem ich vorher überall umhergelauscht hatte, stahl ich mich mit ihm aus dem Haus. Die Straße mußte ich vermeiden, weil mir da zu jeder Stunde Menschen aufstoßen konnten. Daher schlug ich hinten hinaus übers Feld – ach, mit bittrem Widerstreben! – den Weg nach dem Steinkreuz ein. Der Waldpfad ist nur wenig betreten, da sogar bei Tag nur selten jemand von den Höfen über den dicht verwachsenen Kreuzweg kommt. Die Kälte war mäßig, und im Wald lag der Schnee nicht tief. Ich hielt mein Kind hoch herauf an die Brust und deckte es so viel als möglich mit dem Gesicht, so daß es meinen warmen Atem hatte. Aber die Anstrengung war übermenschlich, und mehr als hundertmal gab ich die Hoffnung auf, einen Schritt weiter zu kommen. Ach, damals hab' ich Mitleid mit mir selbst gehabt. Dazu kam eine entsetzliche Angst, wie ich sie noch nie gekannt hatte, vor den Gespenstern der Nacht. Es klang mir nur wie entferntes Läuten im Ohr, daß kurz vorher von dem Jäger ohne Kopf, von dem wilden Heer auf dem Kreuzweg und von einem feurigen Hund am Steinkreuz die Rede gewesen war. Aber ich überwand mich, obgleich ich's beständig vor mir und hinter mir rauschen zu hören meinte. Das Feld war vom Schnee erhellt gewesen, aber unter den Föhren wurde es immer dunkler, und es war mir grauenhaft zu Mut, als ich endlich am Steinkreuz ankam. Ich verdoppelte meine Schritte, um dort, wo es am finstersten war, eilig hindurchzukommen – da fällt mir neben dem Kreuz eine Gestalt in die Augen! Ich sinke schier zu Boden, all mein Blut stockt, und es rieselt mir wie ein Eisstrom durch die Glieder. Aber in dem Augenblick steigt der Mond hell wie eine Fackel über die Föhren herauf, ich erkenne Fleisch und Blut, und auf den ersten Blick seh' ich, wen ich vor mir habe, und wer noch weit ärger erschrocken ist, als ich. Es war mein Mörder. Ich wußte nicht, was er da tat –«

»Einen Schatz wollte er heben!« unterbrach sie Erhard. »Ei sieh! So feig man ihn glaubte, so war er doch draußen, und seine Habgier schauderte nicht vor dem Ort zurück, der ihm so laut seinen Meineid predigte!«

»Nachher,« sagte Justine, »Hab' ich alles zusammensetzen und begreifen können, damals aber wußte ich noch nicht, was ihn hinausgeführt hatte, denn während der Vormittnacht, wo sich mir der Kopf beständig drehte und ich nur auf Augenblicke meiner Sinne mächtig war, hatte ich auf eure Reden noch viel weniger geachtet, als ihr auf mich, und hatte bloß von allerlei unheimlichem Wesen, aber nichts von der Schatzgräberei gehört. Wie ich seiner ansichtig wurde, hatte ich eine verworrene Vorstellung, er wolle Holz stehlen, oder irgend etwas dergleichen, was mir nur in dem verrückten Zustand meines Kopfes einfallen konnte. Soviel aber sah ich deutlich und mit guter Vernunft, daß er kein Geist war, wohl aber, daß er mich für einen hielt, und bei meinem Aussehen hatte das vielleicht auch einem Beherzteren geschehen können. Es war mir gleich ganz klar: er meinte, ich habe zu dieser Stunde mir und meinem Kinde ein Leid angetan und erscheine ihm nun nach meinem Tod, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen; denn er war in die Kniee gestürzt und streckte die Hände wie abwehrend und um Gnade flehend gegen mich aus. Wie ich das sah, ging ich, als ob etwas meinen Fuß vom Boden aufhübe, stracks an ihm vorüber und warf einen Blick auf ihn herab, nur einen einzigen Blick! Kaum war ich vorbei, so hörte ich, wie er hinter mir vom Boden aufsprang und in verzweiflungsvoller Angst seitwärts ohne Weg und Steg in den Wald entrannt«.«

»Das also war der Geist, den er in jener Nacht gesehen hat!« rief Erhard.

»Von Stund an war meine Schwäche von mir genommen,« erzählte Justine weiter, »es war mir, als ob ich die Angst auf den abgeladen hätte, dem sie gebührte, alle meine Lebenskraft hatte ich wieder und kam mit großen, leichten Schritten vorwärts. Der Wald wurde lichter, das entblätterte Laubholz ließ den Mondschein eher durch, und bald war ich im freien Feld, wo nur gar zu viel Licht war, denn hell wie am Tag lag die Stadt vor mir.«

»Dahin also bist du gegangen?« fragte Erhard. »Wie kamst du aber in der Nacht hinein?«

»Das hab' ich niemand als dir verdankt,« erwiderte sie. »Du wurdest einmal bei Nacht hineingeschickt zu einer Verrichtung in der Pfaffenmühle und erzähltest nachher, du habest dem Torwächter das Aufstehen erspart und ein Seitenpförtlein benutzt, das immer offen sei. Deine Beschreibung war an mir hängen blieben, wie man oft zufällig etwas auffaßt, das man für gleichgültig hält und nachher fehl gut brauchen kann. Ich fand das kleine Gatter, griff hinein, zog den Schieber zurück, und drin war ich. Aber nun begann erst die rechte Not. Bis dahin hatte ich gar keinen anderen Gedanken gehabt, als das Kind, wenn alles gut ginge, seinem unnatürlichen Vater und dessen Mutter vors Haus zu legen; denn so lang es noch nicht auf der Welt war, hatte ich kein rechtes Herz für es und dachte, die müssen's haben, die's angeht. Aber von dem Augenblick an, wo ich's als ein lebendes Wesen an meine Brust gedrückt hatte, war mein Gemüt verwandelt. Zwar wirkte der alte Entschluß noch in den Gliedern fort, so daß ich gleichsam mechanisch in die Stadt und vor das Haus kam, aber wie ich mich nun von meinem Herzblatt trennen sollte, da fiel mir's wie Schuppen von den Augen, und die Mutterliebe entbrannte in mir, wie wenn mich ein feuriger Pfeil durchfahren hatte. ›Was!‹ – sagte ich zu mir, ›diesen herzlosen Menschen willst du dein Kind anvertrauen? Umbringen werden sie's freilich nicht, aus Furcht vor der Strafe, aber sie werden's liegen lassen, oder wenn du dafür sorgst, daß sie sich nicht taub stellen können, so werden sie es auf jede Art von sich abzuwälzen suchen, es wird im Abstreich beim Wenigstnehmenden untergebracht werden und wird vor deinen Augen verkommen. Sein Vater kann zwar keinen Zweifel haben, wo es herkommt, aber wird er dem Kinde mehr Treue beweisen als der Mutter, die er ins Elend gebracht und im Elend nicht einmal angesehen hat?‹ – Nun fiel mir ein, daß er vielleicht noch draußen umherschweife und jeden Augenblick nach Haus kommen könne. Wenn er mich hier antraf und mein Vorhaben entdeckte, so war's ihm zuzutrauen, daß er gleich Lärm machte und die alten Beschuldigungen wider mich erneuerte. Ich floh von dem Hause weg, wie wenn mir die Hölle auf den Fersen wäre, und schleppte mein Kind in den taghellen Straßen hin und her. Der schwärzeste Waldgrund mit allen seinen Schrecknissen wäre mir jetzt eine Wohltat gewesen, denn jeden Augenblick konnte ich dem Wächter in die Hände fallen oder von einem Fenster aus bemerkt werden. Aber weil die Leute erst nach Mitternacht ins Bett gekommen waren, so schlief alles fest und sorglos in den Christmorgen hinein, und man hätte selbige Nacht die ganze Stadt forttragen können. Ich suchte und suchte, wem ich mein Kind anvertrauen könnte, aber niemand war mir barmherzig genug dazu; ich irrte wie ein Geist von Haus zu Haus, aber an keinem fand ich das Zeichen angeschrieben, das meinem Findling Aufnahme verhieß. Ich war an Leib und Seel' ermattet, der Tod saß mir im Herzen, und schon gedachte ich mich in den Schatten der Kirche zu legen und dort mit meinem Kind zu sterben, da führte mich der Zufall, der sicher mehr als ein Zufall war, vor das rechte Haus. Du kennst's: am scharfen Eck, dem Pfleghof gegenüber, das kleine Haus mit dem halben Giebel –«

»Wie?« rief Erhard, »das Schustershäuslein, das überhängende, von Alter schwarzbraune? Es ist freilich wahr, die Leute sind kreuzbrav aber –« Er schüttelte den Kopf und sah sie ungewiß an.

»Ich weiß, was du sagen willst,« erwiderte sie, »Bei gewöhnlichem Nachdenken hätt' ich wohl auch anders gehandelt, aber es war wie eine Eingebung über mich gekommen, Zeit zum Überlegen hatte ich ohnehin keine mehr, und so legte ich meine Bürde sacht auf die Hausstaffel, zog an der Schnur, die dort herabhängt, und sprang hinter einen Mauerpfeiler, der mich mit seinem Schatten deckte. Auf das Klingeln erschien der Hausherr bald am Fenster und rief: ›Wer ist da?‹ Wie er aber niemand bemerkte, schlug er mit einem Brummen das Fenster zu, und im Hause blieb es still. Ich war in Verzweiflung, die Morgenkälte schauerte mir durch die Glieder und ergriff auch das Kind, das bis dahin ruhig geschlafen hatte. Es begann zu schreien, und seine klägliche Stimme drang mir durch Mark und Bein. Ich wagte mich auf jede Gefahr hin hervor, hauchte es an, um ihm ein wenig Warme zu geben, riß an der Klingel, als ob ich Sturm läuten müßte, und flüchtete mich wieder in mein Versteck. Gleich fuhr er wieder heraus und fluchte greulich, denn das ist eine Kunst, worin er seinen Meister sucht, der Meister Christoph. Nachdem er seinen Fluch ausgestoßen hatte, fiel das Kind ein und antwortete ihm mit einer Stimme, die mir bei aller Angst das Herz im Leib erfreute, denn sie klang gar nicht schwächlich, sondern kerngesund. Wie er hörte, daß ein Kind auf seiner Staffel schrie, fluchte er noch viel ärger und rief nach seiner Frau. Es dauerte nicht lang, so kamen sie beide mit Licht herunter. Ich drückte mich hinter meinen Pfeiler und hörte mit an, wie sie sich miteinander über ihren Fund besprachen. Ich konnte ihnen nicht zumuten, daß sie eine übermäßige Freude daran haben sollten, und es fielen Reden, die mich in Angst setzten, aber das Ende war doch, daß sie das Kind mit sich ins Haus nahmen und daß ich allein auf der Gasse blieb. Als es nach und nach still wurde, wagte ich mich hervor, lief die Mauer entlang und kam aus der Stadt hinaus, ich weiß nicht wie, denn ich war vor Freude außer mir und hätte mitten im Winter auffliegen und jauchzen mögen wie eine Lerche, daß mir das Rechte eingegeben worden war. Meine Eingebung aber, Erhard, war die: die Leute sind freilich arm, aber sie sind reicher als ich, denn sie sind Vater und Mutter vor Gott und den Menschen, sie haben freilich neun Kinder, aber sie haben auch ein Herz für ihre Kinder, und diesen Leuten will ich mein Kind anvertrauen, da wächst's im Segen der Armut auf, und wenn je etwas von seines Vaters Herzlosigkeit in ihm ist, so wird das in dieser Schule erstickt. Dieser Gedanke war schneller gefaßt und ausgeführt, als ich mit Worten ausdrücken kann, aber ich hab' ihn bis zu dieser Stunde nie zu bereuen gehabt.«

»Du magst Recht gehabt haben,« sagte Erhard, der ihre Geschichte mit inniger Teilnahme angehört und hie und da durch einen Ausruf der Bewegung unterbrochen hatte. »Aber obgleich es lang her ist und ich dich gesund vor mir sehe, bin ich doch nicht eher ruhig, als bis ich dich in deiner Erzählung zu Haus und im Bette weiß.«

»Das war bald geschehen,« versetzte sie. »Ich war auf die Straße geraten und flog dahin, wie wenn ich vom Tanze käme. Keine Sorge schreckte mich mehr, nur den Waldweg am Steinkreuz vorbei hätt' ich um keinen Preis mehr einschlagen können. Es war leichtsinnig oder vielmehr im Taumel gehandelt: doch begegnete mir keine Seele, obschon es stark gegen den Morgen ging. Alles schlief noch bei meiner Heimkunft. Ich umschlich das Haus, kam herein, wie ich hinaus gekommen war, und war im nu auf meiner Kammer und im Bett. Kaum hatte ich mich niedergelegt, so hörte ich von der Stadt her die Frühglocke, mit der der Christtagsmorgen eingeläutet wird. Du weißt, man heißt's: das Kindle wiegen. Bei diesem Ton löste sich die unnatürliche Aufregung und Spannung, in der ich mich befand, und ich brach in einen Strom von Tränen aus. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, denn es ist ja bei unserer Religion nicht bräuchlich, aber ich flehte zur schmerzensreichen Mutter, daß sie beim ewigen Vater für mich bitte, er möge mein Kind in seine Arme nehmen an meiner Statt, weil ich nur noch wenige Tage zu leben habe in meiner großen Schwäche, und möge es im niedrigen Stande rechtschaffen aufwachsen lassen; sollte ich aber je das Leben davontragen, so möge er mich noch in den Stand setzen, seinen Pflegeeltern die Last wieder abzunehmen und ihnen zu vergelten, was ich an ihnen verschuldet habe. Nachdem ich mir auf diese Weise das Herz erleichtert hatte, legte ich mich auf die Seite; schlafen konnte ich nicht, aber wenigstens ruhen und erwärmen. Eine einzige Sorge quälte mich noch, daß man meine Fußstapfen durch Feld und Wald bis zur Stadt hin entdecken konnte, und in meinem krankhaften Eifer fiel es mir sogar ein, ich solle noch einmal hinaus, um sie mit dem Kehrbesen zu ebnen, aber ich wäre zu schwach gewesen zu dem Torenwerk, und der anbrechende Morgen machte auch diese Sorge überflüssig, denn er ließ reichlichen Schnee herabrieseln, der in solchen Flocken an meinem Kammerfenster vorbeizog, daß meine Fußstapfen in einer halben Stunde völlig verwischt sein mußten. Du kannst mich auslachen, aber wie ich alles so überdachte, so konnte ich nicht anders glauben, als daß ein Engel auf allen meinen Wegen mit mir gewesen sei, der mich wunderbar behütet habe. Und diese Überzeugung gab mir die Kraft, dem stillen Kampf mit den Menschen entgegen zu gehen, von dem ich wußte, daß er mir in der kurzen Spanne Zeit, die ich mir noch eingeräumt glaubte, beschieden sei. Es war freilich ein stiller Kampf, aber ein schwerer, und er dauerte länger, als ich damals in meinen Todesgedanken meinte.«

»Und auch ich,« sagte Erhard, »hab' mein Mögliches getan, dich zu peinigen. Ich will jetzt nicht untersuchen, ob ich damals fähig gewesen wäre, die Wahrheit zu ertragen, aber das ist mir jedenfalls klar, daß ich meine Anträge sehr zur Unzeit angebracht und dir dadurch nur bittere Stunden bereitet habe.«

»Der Kampf mit dir, Erhard,« erwiderte sie, »war zwar auf der einen Seite freilich der schwerste, aber auf der anderen doch auch wieder der leichteste von allen Kämpfen, die ich zu bestehen hatte; denn er war mit Weinen und Schluchzen und zerreißendem Herzweh abgemacht. O hättest du sehen können, welche Tränen es mich kostete, als ich dich vor sieben Jahren von mir ziehen lassen mußte, den einzigen, dem ich in dieser Welt noch vertrauen konnte und dem ich mich doch nicht anvertrauen durfte! wie ich dir trotz meiner Körperschwäche nachsah, als du unter dem Peitschenknallen deiner Kameraden auf die Wanderschaft gingst, und wie ich mich freute, daß du so in Ehre und Achtung bei ihnen standest! Es war wohl traurig, aber es war auch schön, dagegen der Kampf mit der Welt war nicht schön, und es wäre kein Wunder, wenn er mich aufgerieben hätte, denn Verstellung ist nicht von Haus aus mein Element. Darum war es auch ein Glück, daß du noch zu rechter Zeit fortkamst, denn vor dir hätt' ich mich, wie du ja jetzt gesehen hast, nicht auf die Länge verstellen können, und du selbst, wenn du vor deinem Fortgehen noch von dem Fund erfahren hättest, der dem Meister Christoph am Weihnachtmorgen beschert wurde, du wärest mit dem Scharfsinn, den das Herz gibt, der Wahrheit bald auf die Spur gekommen, während die andern alle blind blieben.«

»Es ist wahr,« sagte Erhard, »wenn ich die Umstände zusammenhalte, so lag die Entdeckung nah genug. Bei meinem Fortgehen war freilich von dem Findling noch nichts bekannt, aber wohl ist mir damals ein Umstand aufgefallen, der dich schnell bei mir verraten haben würde. Wie ich nämlich an jenem Morgen zu dir kam, um ein letztes Wort mit dir zu reden, da sah ich den Menschen bei dir stehen, den wir beide nicht mehr mit Namen nennen, und aus deinem Munde erfuhr ich nachher, daß er dir von seiner verunglückten Schatzgräberei erzählt habe. Den andern mag es nicht sehr verwunderlich vorgekommen sein, wenn sie es bemerkt haben, daß er in der Verwirrung dir so gut wie dem Roßbuben seine Geschichte beichtete; auch ich achtete damals in der Aufregung des Abschiedes nicht allzu hoch darauf, aber unterwegs schon, wie ich mich im Wandern an dieses und jenes erinnerte, war ich von dem, was ich zuletzt gesehen hatte, einigermaßen befremdet und konnte mir nach deinem Betragen gegen ihn nicht erklären, was ihm den Mut zu seiner Vertraulichkeit gegen dich gegeben haben könne. Da ich nicht wußte, was für Geister in jener Nacht tätig gewesen waren, so schlief dieses Befremden über dem Andenken an dich selbst wieder ein. Hätte ich aber damals alle Fäden in der Hand gehabt, so würde ich der Sache, die mir freilich jetzt klar ist, vielleicht auch ohne Nachhilfe auf den Grund gekommen sein.«

»Gewiß!« versetzte sie, »und das wär' mein Tod gewesen. Jetzt weißt du, was ihn zu mir trieb, oder vielmehr, du weißt es nicht. Es war nicht Teilnahme, nicht Reue oder irgend etwas der Art, nein, es war bloß die gemeine Angst und Sorge, wen man wohl für die Ursache meines jämmerlichen Todes halte, und ob er nicht imstande sei, einen etwaigen Verdacht von sich abzuwälzen. Wie er mich aber am Leben sah und erfuhr, daß ich kein Gespenst gewesen sei, da mußt du nicht glauben, daß er eine Spur von Freude bezeugt und sein Herz von einer Blutschuld erledigt gefühlt habe; im Gegenteil, er war außer sich vor Zorn und machte mir die größten Vorwürfe, daß ich ihn mit meinem dummen Geläuf, wie er's betitelte, in seinem Glück gestört und beinahe ums Leben gebracht habe; denn der Schreck, gestand er mir, habe ihn ganz sinnlos gemacht, er sei blindlings durch Dick und Dünn gebrochen, habe keinen Weg mehr gefunden, und wenig hätte gefehlt, so hätte er den Hals gebrochen.«

»Ich muß lachen!« sagte Erhard. »Es war doch sonst keiner von den dümmsten. Aber so kann der Mensch durch die Faulheit in die Habsucht und in den Aberglauben stürzen. Dann gehen alle andere Schlechtigkeiten von selbst mit in den Kauf.«

»Er ist so giftig gegen mich gewesen,« fuhr Justine fort, »daß, er mir gedroht hat, er wolle mich als Kindesmörderin bei der Obrigkeit angeben; denn jetzt hat er gleichfalls gemeint, ich habe mein Kind im Wald ausgesetzt, um es dort umkommen zu lassen.«

»Das ist der Gipfel der Schändlichkeit!« rief Erhard. »Aber hierin liegt auch für mich selbst eine scharfe Züchtigung, denn wenn ich dich auch nicht verraten hätte, so hab' ich doch das nämliche von dir denken können und bin ihm also wenigstens in einem Punkte gleich.«

»O nein,« erwiderte Justine, »du hast den Verdacht aus meinen Worten geschöpft, er aber aus seinem Herzen, und du hast's nicht glauben wollen, er aber hat's geglaubt. Das ist ein Unterschied wie Himmel und Hölle. Ich hab' ihm darauf mit wenigen Worten gesagt, mein Kind sei wohl aufgehoben bei guten Leuten, und er solle sich nur, wenn er wolle, bei der Obrigkeit melden, um seine Schuldigkeit zu tun; wo nicht, so stehe es ihm von mir aus frei, in seinem Reichtum von den Almosen eines armen Schuhmachers zu leben. Da kamst du dazwischen, und er zog ab. Aber ich hatte ihn richtig beurteilt und an der rechten Seite gefaßt: er weiß natürlich ganz gut, wer und wo das Kind ist, aber er hat sich noch mit keinem Auge darnach umgesehen und bis auf diesen Tag hat er's geschehen lassen, daß seine Pflicht mit dem Almosen des Schuhmachers zugedeckt wird. Freilich muß ich zu seiner Entschuldigung sagen, daß er nicht sein eigener Herr ist, denn sein Weib führt ein Regiment über ihn, daß man buchstäblich sagen kann, er habe die Hölle auf Erden, und wenn sie ihm vollends über ein Geheimnis käme, das Geld kostet, so wäre es aus mit ihm!«

»Das ist noch nicht Strafe genug!« rief Erhard mit einem flammenden Blick der Rache.

»Ganz ungestraft ist er doch nicht durchgekommen,« versetzte sie und erzählte ihm die gerichtliche Untersuchung gegen das verhaßte Paar, welche zwar den einen Teil desselben mit vollem Rechte, den andern aber, wenigstens in dem angeschuldigten Punkte, mit um so größerem Unrecht betroffen hatte. Erhard, so aufgebracht er war, mußte doch hell auflachen und fand besonders das dabei ergötzlich, daß der schuldige Teil so ritterlich geschwiegen habe, um die Ehre eines armen Mädchens auf Kosten der Ehre seiner eigenen, freilich reichen Braut zu retten! Aber bald legte sich sein Gesicht wieder in ernste Falten, und es war ihm wohl anzusehen, daß er über einem Plan gegen den Verräter brütete, wobei er freilich als besonnener Mann zu bedenken hatte, daß, wenn das Opfer des Verrates glücklich, wie bisher, aus dem Spiele bleiben sollte, die Strafe nicht übereilt, sondern mit großer Überlegung vorbereitet werden müsse.

»So hart ist die Entdeckung an mir vorbeigestreift,« fuhr Justine fort, indem sie ihre Erzählung beschloß. »Jenes eine Mal, da ich mir sagen lassen mußte, daß eine andere statt meiner habe büßen müssen, hab' ich mich um ein Haar verraten, aber sonst war ich auf alles gefaßt. Ja, wenn ein Gelehrter seine Bücher so studiert, wie ich jedes mögliche Ereignis, jedes zufällige Wort, das die Menschen sprechen, voraus studiert habe, dann kann er's zu etwas bringen! Ich hab' mir gesagt: du darfst nicht rot werden, darfst keinen Augenblick betreten sein, sonst ist alles am Tag. Nächte hindurch hab' ich, unter beständigem Weinen, alle erdenklichen Schimpfreden bei mir so lang wiederholt, bis ich dagegen abgestumpft gewesen bin; denn nicht das kleinste Wörtlein durfte mir unerwartet kommen, wenn nicht alle meine Mühe vergebens sein sollte. Dadurch hab' ich mich in den Stand gesetzt, mit eiserner Stirne alles anzuhören, was den Tag über unbekannterweise von mir geredet wurde. Diese Anstrengung war noch schrecklicher als die körperliche, und meine Natur wollte ihr unterliegen. Aber auch die Krankheit brachte mir eine neue Angst und nötigte mich, meine Kraft noch höher zu spannen, denn im Fieber hätt' ich ja leicht mein Geheimnis ausgeschwatzt. Ich biß die Zähne übereinander und zwang das Fieber ab, soweit wenigstens, daß ich die Besinnung nicht verlor. Ich hab' es stets als ein Wunder angesehen, daß ich meinem Kind erhalten wurde. Und welche Überwindung kostete es mich, beim ersten Besuch, den ich ihm machte, die Mutter zu verleugnen und mich als eine Fremde zu stellen, die, wie alle die anderen Besuche, von der Neugier hergeführt wurde! Du wirst mich eine Heuchlerin nennen –«

»Nein!« unterbrach sie Erhard.

»Das Heucheln ist mir verhaßt, aber ich bin es mir und noch mehr meinem Kind schuldig gewesen, die Wahrheit vor den Menschen zu verheimlichen. Die Menschen richten ihresgleichen strenger als sich selbst, auch die Besten machen selten eine Ausnahme davon. Aber wenn ich mich auch ihrem Gericht übergeben hätte, so wäre ja mein Kind mit mir verloren gewesen. Als ein namenloser Findling konnte es weit eher auf Barmherzigkeit rechnen, aber wenn bekannt geworden wäre, daß ich seine Mutter sei, ich, die man als das Muster der Tugend ansah, weil es der Löwenwirtin beliebte, mich zu meiner Strafe immer so zu heißen – dann hatten gerade die Besten und Edelsten sich zuerst von ihm abgewendet und meine Schmach auf das unschuldige Kind übertragen.«

»Du hast recht!« fiel Erhard ein. »So sind die Menschen.«

»Sieben Jahre lang hab' ich nun diesen beständingen heimlichen Kampf mit ihnen gekämpft. Selten ist ein Tag vergangen, wo mir nicht Stich auf Stich durchs Herz fuhr. Aber das gröbste Schimpfwort hat mir nicht so weh getan, wie die Rede, die ich immer und immer wieder hören mußte, daß ich eine schlechte Mutter sei. So oft mir das angetan wurde, war ich zum Lügen gezwungen, weil ich jedesmal einen Vorwand für meine Tränen brauchte. Ich soll meinem Kind keine rechte Mutter sein? Hab' ich mich doch bei seinen Pflegeeltern eingenistet, daß ich jetzt gleichsam zu ihrer Familie gehöre! Bin ich doch bei allem Unglück des Hauses in diesem Dienst geblieben, um mein Kind immer in der Nähe zu haben. Tut eine schlechte Mutter das? Ich habe seinen Versorgern bei seiner Pflege und Erziehung geholfen, so viel mir's nur möglich war. Hab' ihm und ihnen zugetragen, was ich mir am Mund absparen konnte, und hab' ihnen jede Vergeltung geleistet, die in meinen Kräften stand. Es drückt mir freilich das Herz ab, daß sie mich als ihre Wohltäterin ansehen, aber ich kann ja keinen offeneren Weg finden, um ihnen etwas von meiner schweren Schuld abzuzahlen! So macht mir auch die Löwenwirtin eine unerträgliche Tugend daraus, daß ich ihre unverdiente gute Meinung bei ihr abverdiene. Und doch begehre ich kein anderes Lob, als das einzige, das mir versagt wird, nämlich daß ich keine schlechte Mutter bin. Nicht einmal mein Sohn kennt mich als seine Mutter, aber die Freude, die er an mir hat, ist mir doch eine Art von Anerkennung. Ich komme mir oft wie ein Geist vor, wenn ich um ihn bin; doch kann ich ihm etwas sein und mein Herz an seinem blühenden Wachstum laben. Auch unter den Menschen bin ich diese sieben Jahre wie ein Geist umgegangen; darum ist mir's jetzt, wie wenn ich erlöst war', nachdem ich endlich einem habe mein Herz ausschütten können, der mich da nicht mit Lobreden beschämt, wo mich die andern loben, und mich da nicht schilt, wo mich die andern mit Schimpf und Schmach überhäufen.«


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