Hermann Kurz
Der Weihnachtsfund
Hermann Kurz

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2.

Es waren sieben Jahre vergangen, und im Roten Löwen wurde längst nicht mehr von dem auf die Wanderschaft gegangenen Knechte gesprochen, dessen Andenken durch Erlebnisse, Kriegsdrangsale und Schicksalswechsel nur in einem Herzen nicht zum Schatten geworden war. Wiederum war der Tag vor Weihnachten gekommen. Ein trüber Regenhimmel, unter dessen Einfluß der Schnee schmolz, ließ ihn vorgerückter erscheinen als er in Wirklichkeit war, und schon am frühen Nachmittage zogen die Schatten des Abends herein. Gleichwohl waren in der großen Stube, die vor sieben Jahren den Schauplatz einer fröhlichen Weihnachtsfeier gebildet hatte, keine Anstalten getroffen, welche das Herannahen des heiligen Abends verkündigten, den man doch zu begehen pflegt, sobald die Tageszeit das Anzünden der Lichter am Baum gestattet. Der Löwenwirt, gealtert und abgemagert, saß allein in der leeren Stube am Tische und hatte eine alte Postille vor sich liegen; seine Aufmerksamkeit war jedoch nicht auf das Buch gerichtet, denn er saß zurückgelehnt und hing, vor sich hinblickend, freudlosen Gedanken und traurigen Erinnerungen nach.

Ein Hufschlag ließ sich auf der Landstraße mit jenen hellen Zwischenlauten vernehmen, welchen man anhören konnte, daß schon die Steine aus der Schneelage hervorstachen. Der Löwenwirt horchte, als der rasche Trab sich näherte, gewohnheitsmäßig auf, obgleich er seit geraumer Zeit nur gewohnt war, die Gäste an seinem Hause vorüberziehen zu sehen. Diesmal aber schien es wirklich auf den vergessenen Roten Löwen abgesehen zu sein, denn die Hufschläge wurden kürzer, bogen gegen das Haus ein, und gleich darauf hörte er das Pferd in der Einfahrt unter dem Fenster ungeduldig, als ob es Einlaß begehre, scharren. Er lauschte noch einen Augenblick, ob der halberwachsene Knecht, der jetzt an der Stelle des zahlreichen Gesindes zur Besorgung von Stall und Feld ausreichte, in die Einfahrt gelaufen komme; dieser aber war so wenig als sein Herr daran gewöhnt, Gästen entgegenzueilen, und da er ihn nicht hörte, so ging er selbst hinab, um das Pferd in Empfang zu nehmen. Der Reiter war inzwischen abgestiegen, eine kräftige Gestalt in knapper rheinischer Tracht; der geübte Blick des Wirtes erkannte den Fremden an seiner resoluten Haltung und an dem goldenen Uhrgehänge für einen Mann, der in der Welt herumgekommen sein und etwas vor sich gebracht haben müsse. Derselbe fragte kurz, ob er hier ein Nachtquartier finden könne. Der Löwenwirt bejahte die Frage und ergriff das Pferd, einen stattlichen Falben, am Zügel, um es in den Stall zu führen. Der Fremde ließ dies jedoch nicht zu, sondern brachte sein Tier selbst nach dem Stalle, den er ohne Befragen zu finden wußte, und gab dem Wirt inzwischen seinen Mantelsack zu tragen, dessen Gewicht demselben die Richtigkeit seiner Beobachtungen zu bestätigen schien. Ohne eine Hilfe zu gestatten, nahm der Gast dem Pferde Zaum und Sattel ab, befestigte es leicht an der Krippe und schüttete ihm das Futter vor, das der herbeigerufene junge Knecht in Eile brachte; alle diese Verrichtungen geschahen mit flinker Hand, als ob er fachmäßig in ihnen bewandert wäre, dann ging er mit dem Wirt in die Stube hinauf und sah ihn unterwegs zuweilen lächelnd an, ohne ein Wort zu reden. In der Stube legte er die Mütze auf eine Bank, zog den Überrock aus, trat vor den Wirt hin und fragte, unter seinem Schnurrbart freundlich hervorlächelnd: »Nun, wie steht's im Roten Löwen?«

»Nicht besonders,« antwortete der Wirt. »Ist der Herr hier bekannt?«

»Ich sollt's wohl denken,« erwiderte der Gast. »Bin freilich lang' nicht dagewesen. Eure Kinder werden fast großgewachsen sein.«

Der Wirt schüttelte traurig den Kopf. »Das große Sterben,« sagte er, »hat ihnen fürs Wachsen getan, einem nach dem andern; wir haben ein österreichisch Lazarett in der Gegend gehabt.« »Alle tot?« rief der Fremde wehmütig. »Die blühenden Kinder! Wie lang' hab' ich mich auf diesen Besuch gefreut und muß jetzt so traurige Neuigkeiten vernehmen!«

Der Löwenwirt sah ihn wiederholt aufmerksam an, konnte sich jedoch in dem unbekannten Gesichte nicht zurechtfinden.

»Aber Eure Frau ist doch noch am Leben?« hob jener wieder zu fragen an.

»Sie lebt, aber seit der Zeit ist sie kränklich.«

»Und der alte Philipp?«

»Der hat den Krieg nicht mehr erlebt. Er ist schwach worden und ist ausgelöscht wie ein Licht. Ich hab' ihm selber die Augen zugedrückt.«

Der Fremde fragte Namen für Namen nach den anderen Knechten und Mägden. Sie waren nicht mehr im Hause. Der Wirt verwunderte sich höchlich über die Vertrautheit des Gastes mit den Verhältnissen des Hauses und zerbrach sich vergebens den Kopf, wer er sein möge.

Der Fremde schwieg eine Zeitlang, und eben wollte der Wirt fragen, was dem Herrn gefällig sei, als dieser wieder anhob. »Und die Justine?« fragte er mit etwas befangener Stimme: »die ist wohl schon lang' verheiratet.«

Dieser befangene gepreßte Ton klang dem Wirt bekannt. Er faßte den Gast schärfer ins Auge, und ein Freudenstrahl flog über sein abgehärmtes Gesicht, »Der Erhard!« rief er, ihm die Hand entgegenstreckend. »Du loser Schelm, dein Schnurrbart ist schuld, daß ich dich nicht gleich erkannt hab'. Warum bist denn so lang' fortgewesen und hast gar nichts von dir hören lassen? Erzähl' mir nur gleich, wie dir' ergangen ist und wie du lebst und was du treibst. Aber ich werd' nicht mehr du zu dir sagen dürfen, denn Ihr seid ja ein vornehmer Herr worden.«

»Mit dem Du wollen wir's beim alten lassen, Meister,« erwiderte Erhard, indem er ihm herzlich beide Hände schüttelte. »Erzählen will ich Euch auch, so viel Ihr wollt, nur sagt mir zuvor, wo die Justine ist und wie's ihr geht.«

»Es scheint, alte Liebe rostet nicht,« bemerkte der Löwenwirt lächelnd. »Die Justine ist nicht weit, sie ist immer noch bei uns, ist immer noch zu haben, und du wirst sehen, daß sie sich in der langen Zeit gar nicht verändert hat.« »Und meint Ihr,« sagte Erhard, »sie habe auch ihren Sinn nicht geändert? Denn wenn sie noch so denkt, wie vor sieben Jahren, so kann ich wieder abziehen, wie ich damals abgezogen bin.«

»Ist's denn wahr?« rief der Löwenwirt. »Ich kann's schier nicht glauben. Das heiß' ich eine standhafte Treue, die muß ihr doch das Herz weich machen. Zwar hab' ich ihr nicht hineingesehen, aber es gibt kein besseres in der Welt. Damals ist sie eben noch zu jung gewesen. Jetzt wird sie's eher schätzen können, was ein treues Gemüt wert ist, und da sie Verstand hat, so wird sie auch das Zeitliche anschlagen und wird ihr Glück nicht zum zweitenmal von sich stoßen. Was mein Weib Augen machen wird, daß es mit dem Mädle so hoch hinaus soll! Aber ich bin überzeugt, sie schickt sich in jeden Stand. Wie ist denn nur mein Erhard zu dem Reichtum kommen?«

»Der Reichtum ist zu zählen,« bemerkte Erhard, »doch darf ich zufrieden sein. Die Sache ist bald erzählt. Draußen wird einem das Leben in manchen Dingen leichter als bei uns. Im Anfang zwar hat es nicht den Anschein gehabt, daß ich's weit bringen sollte; ich bin von einem Dienst in den anderen geraten, und nirgends hat mir's gefallen wollen. Erst mit dem Krieg, wie der ausgebrochen ist, hat mir das Glück geblüht. Da wandr' ich eines Tags auf der Straße, ledig und herrenlos, aber nicht sorgenlos, in Staub und Sonnenhitze und hab' großes Heimweh nach dem Roten Löwen gehabt. Auf einmal kommt eine Kalesche hinter mir her, nicht besonders schön von Aussehen, aber zwei tüchtige Braunen davor und eine schmächtige Figur darin, mit scharfem, spitzigem Gesicht. Der fragt, woher des Weges, und dies und das, besinnt sich eine Weile und heißt mich dann einsteigen. Ich hab' mich gleich nützlich zu erweisen gesucht und hab' ihm die Zügel abgenommen: wie er sah, daß ich das Handwerk verstehe, ließ er sichs gefallen. Im Fahren gab dann ein Wort das andere, und ich merkte bald, daß er mir auf den Zahn fühlte. Zuletzt machte er mir den Vorschlag, in seinen Dienst zu treten, und ich tat's. Er war Lieferant und machte große Geschäfte. Er sah bald, daß er mir vertrauen konnte, und ließ mich immer höher steigen, während er sich von den Mühseligkeiten zurückzog, denn er war sehr gebrechlich, ein rastloser Geist in einem elenden Körper. Zuletzt gab er nur noch den Kopf her, ich die Hände und Füße und was man sonst von den fünf Sinnen zu Unternehmungen braucht. Die Geschäfte gingen aufs beste, und es wurde unermeßliches Geld verdient. Es ist nicht zu sagen, was bei solchen Unternehmungen, wenn sie einmal ins Große gehen, und vollends in Kriegsläuften, herauskommt, ohne daß man der Ehrlichkeit den Rücken zu wenden braucht. Denn das hat mir an meinem Herrn besonders gefallen: er hielt streng auf Treu und Glauben, war zu stolz für gewisse Kniffe und setzte seinen Ehrgeiz darein, lauter solide Ware zu liefern. Wo er einmal bekannt war, da zahlte man ihn, ohne zu markten, und gönnte ihm seinen Teil Gewinn. Eines Tages, ich kam eben von einem glücklichen Handel zurück und berechnete ihm den Ertrag, da stellte er mir vor, er wisse nicht, wie lange er noch leben werde, Kinder oder sonst Verwandte habe er nicht, mir könne er nicht zumuten, daß ich meine Kräfte in der Art, wie ich sie für ihn verwende, in einem fremden Interesse zusetzen solle, und er halte es deshalb für das beste zwischen uns, mich zu seinem künftigen Erben zu erwählen und gleich jetzt als Teilhaber in sein Geschäft aufzunehmen; er habe sich immer einen solchen Gehilfen gewünscht und habe schon damals solche Gedanken gehabt, wie er mich von der Straße aufgelesen habe. Ihr könnt Euch denken, daß ich nicht nein sagte. Aber ich hab' heiße Tage mit ihm verleben müssen. Er hatte etwas von der Natur eines Spielers: nicht aus Habsucht, sondern lediglich aus Lust an großartigem Spekulieren trieb er seine Spekulationen so hoch, daß es mir schwindelte, und dieser fieberhafte Drang seines ewig unruhigen Geistes wurde mit der Zeit immer stärker. Ich machte ihm Vorstellungen, aber vergebens, denn er war heftig und gewalttätig, auch konnte ich wohl merken, daß seine Leidenschaft eigentlich aus seiner Krankheit entsprang, denn wenn er ein Unternehmen verfolgte, so sagte eine fliegende Hitze nach der anderen über fein Gesicht. Ich betrachtete ihn als meinen Vater und sagte mir: Du gehst mit ihm durch Dick und Dünn; wenn's bricht, so bist du wieder, was du gewesen bist. Wir erlitten schwere Schlappen, und da er immer eigensinniger wurde, so ließ sich der Ausgang vorhersagen; aber eine galoppierende Schwindsucht bewahrte ihn vor dem Unglück, seine Entwürfe und seine gewagten Pläne zunichte gemacht zu sehen. Ich begrub ihn als meinen Wohltäter und konnte eben noch die Trümmer eines ungeheuren Vermögens retten, die für mich ausreichen, um nach einem unruhigen Leben, voll Anstrengungen und Gefahren aller Art, in der Heimat ein friedliches Haus, etwas größer als eine Hütte, aufzuschlagen und meine Tage in einer Tätigkeit hinzubringen, die mich frisch erhält, aber auch zu Atem kommen läßt. Leider scheint es mir bei Euch nach allem, was ich in den paar Minuten beobachtet habe, nicht so zu stehen, wie ein alter Freund dem anderen wünschen mag.«

»Nein,« antwortete der Wirt. »Was den einen reich macht, das macht den andern arm. Mir hat der Krieg so viel genommen, daß ich in diesem Augenblick nicht weiß, ob ich mit meiner Frau in unserem Eigentum sterben werde. Die Truppendurchmärsche von Freund und Feind, das eine Mal hin und das andere Mal wieder zurück, was haben die nicht alles verschlungen? Dann sind Bürgschaftsschulden dazu kommen, die einem gemeiniglich den Hals brechen. Drangsaliert und ausgezogen, haben die Schuldner nicht mehr zahlen können, ich kann ihnen nicht einmal Feind drum sein, und da hab' eben ich als Bürg' Haar lassen müssen. So ist ein Gut ums andere in fremde Hand' gewandert, bis fast alles verkauft gewesen ist. An der Wirtschaft hab' ich mich nicht erholen können, denn der Krieg hat allen Verkehr auf andere Bahnen getrieben und selten kehrt ein Gast mehr im Roten Löwen ein. Mag sein, daß mir auch in dem Sturm die Kraft ausgangen ist, um in meinen alten Tagen noch etwas Neues anzufangen. Natürlich ist das Gesind' in dem leeren Haus überflüssig worden und hat sich eins ums andere einen besseren Dienst gesucht. Nur die Justine hat ausgehalten; sie nimmt schier keinen Lohn, pflegt meine Frau und hat sich an uns einen Stuhl im Himmel verdient. Ja, Erhard, so geht's; der Menschen Schicksal ist verschieden. Auf eine Art bin ich eigentlich auch Lieferant gewesen: zuerst meine Kinder und dann mein Vermögen hab' ich dem großen Kriegsdrachen liefern und herausgeben müssen, und so bin ich jetzt ein gelieferter Mann.«

»Könnt ich Euch nur die Kinder wiedergeben,« sagte Erhard, »um das andere war' mir's nicht leid. Ihr habt mir einmal Euren Arm angeboten, und das Anerbieten ist mir heut noch so viel wert, wie wenn ich Gebrauch davon gemacht hätte; jetzt ist's an mir, daß ich Euch den meinigen biete. Was ich habe, ist nach hiesigem Maßstab für uns beide genug. Ich bin, wie Ihr Euch denken könnt, noch nicht fest entschlossen, wo ich mich niederlassen soll. Aber auf jeden Fall kann ich Euch entweder so viel vorstrecken, daß Ihr Eure Güter wieder erwerben könnt, oder wenn Ihr Euch lieber zur Ruhe setzen mögt, kauf' ich Euch den Löwen ab, natürlich mit dem Beding, daß Ihr drin wohnen bleibt, gebe die Wirtschaft auf und kaufe das umliegende Feld. Über das alles reden wir gemächlich und richten' ein, wie's Euch am liebsten und bequemsten ist. Aber jetzt tut mir den Gefallen, rufet mir die Justine und lasset mich mit ihr allein. Saget ihr bloß, sie solle einem Gast einen Schoppen Wein bringen.«

»Ich will derweil zu meiner Frau gehen,« sagte der Löwenwirt. »Sie hat sich ein wenig niedergelegt und wird jetzt wieder wach sein.«

Er führte ihn in das größte und schönste seiner Gastzimmer und bat ihn, sich's bequem zu machen. Die beiden Männer drückten einander noch einmal die Hände, und der Wirt verließ den Gast, der aufgeregt in der Stube auf und ab ging. Nach einer Weile hörte er leise Schritte und zog sich in die dunkelnde Ecke zu dem Tische zurück, auf welchem er in seinen Dienstjahren manchmal ein Essen oder einen Trunk für Fremde aufgetragen hatte.

Justine trat herein und grüßte, ohne dem Fremden mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken, während Erhard mit Herzklopfen seinen Augen das Wiedersehen in vollen Zügen gönnte. Der Löwenwirt hatte die Wahrheit gesagt: die sieben Jahre waren spurlos an ihr vorübergegangen, und das gereifte, verständige Aussehen, durch das sie sich schon in früher Jugend von anderen Mädchen unterschieden hatte, ließ sie jetzt kaum älter erscheinen, als sie damals schon erschienen war, denn das bräunlich blasse Gesicht hatte die Frische der Jugend behalten; ja, sie kam dem ausgebildeteren Blicke des Beschauers schöner vor, weil sie um die Hüften etwas Manier geworden war, so daß die überkräftige Fülle der Gestalt durch die Schute des Lebens gemodelt aussah, was zu den dunkler gewordenen Haaren und der ergebungsvollen Ruhe der blauen Augen in gutem Einklänge stand. Erhard fragte sich, ob sie wohl in dieser langen Zeit an ihn gedacht, ob sie sich nicht nach ihm gesehnt, ob sie nie das Wort, das ihn fortgetrieben, bereut habe. Sie hatte sich ihm inzwischen genähert und stellte den Wein auf den Tisch. Er kleidete die Erregung des Augenblicks in einen Scherz und erlaubte sich, den Arm um ihren Leib zu schlingen, wie mancher Gast in keckem Mute bei einer Kellerschönen zu tun pflegt. Sie entschlüpfte ihm behend mit einer gleichmütigen Miene, die ihm zu sagen schien, die Vertraulichkeit möge wohl nach seinem Geschmacke sein, aber nicht nach dem ihrigen. »So spröd, Jungfer?« sagte er.

Ob nun der bebende Tun, der schlecht zu dem Scherze paßte, besonders geeignet war, an die Stimme zu erinnern, die in jenen Abschiedstagen so befangen und gedrückt geklungen hatte, oder ob sie seine Stimme unter allen Umständen erkannt haben würde, sie fuhr zusammen, sah ihn mit weit offenen Augen an, und ihr Gesicht bedeckte eine dunkle Glut, die sich bis in die Stirne und den Hals verbreitete.

»Kennst du mich nicht mehr, Justine?« setzte er hinzu.

»Hätt' ich dich angesehen, so hätt' ich dich gleich erkannt,« sagte sie. »Du bist's, Erhard?«

»Ich bin's!«

Zaghaft ergriff sie die dargebotene Hand, aber in dem Drucke, den sie ihm erwidernd gab, glaubte er ein volles Herz zu empfinden.

»Ich darf aber nicht mehr du sagen,« setzte sie hinzu, indem sie einen schwachen Versuch machte, die Hand zurückzuziehen.

»Warum nicht?« fragte er, ihre Hand festhaltend.

»Zu einem verheirateten Mann schickt sich's nicht,« erwiderte sie.

»Ich bin nicht verheiratet,« sagte er.

Sie schrak zusammen, und die Ahnung dessen, was nun kommen würde, drückte sich, während sie zurücktrat, in ihren ängstlich verworrenen Zügen aus.

»Im Gegenteil,« fuhr er fort, »alle Bekanntschaften und Erfahrungen mit den Weibern in diesen sieben Jahren haben bloß dazu gedient, mich zu überzeugen, daß es nur eine gibt, mit der ich leben kann. Ich will gleich Trumpf ausspielen, denn Herz ist Trumpf. So hart du mir's gemacht hast, Justine, so hab' ich dich doch seit unserem Abschied beständig im Herzen getragen, und da bin ich jetzt und will dich fragen, ob du mich abermals gehen heißen kannst.«

Ein Zittern hatte sich während dieser Worte Justinens bemächtigt; es überflog ihren ganzen Körper, und sie bebte zuletzt so heftig, daß sie sich setzen mußte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen.

»Du gibst mir keine Antwort?« fragte er.

Sie schwieg und schluchzte lauter.

Auch er schwieg eine Weile und sah dem rätselhaften Benehmen zu, dann rückte er sich einen Stuhl zu dem ihrigen, setzte sich zu ihr und hob an: »Justine, vor sieben Jahren bin ich ein Kind gewesen und bin von dir fortgelaufen wie ein Narr, statt dich vernünftig zu fragen, was dir im Kopf stecke. Heut bin ich kein Kind mehr, die Welt hat mich erzogen und gebildet, heut' wirst du mich nicht so leicht mehr los. Justine, ich will dir was sagen« – er zog ihr sanft die Hände von dem in Tränen gebadeten Gesicht – »du hast nichts gegen mich gehabt, wie ich damals in meiner Einfalt gemeint hab', im Gegenteil, du hast mich lieb gehabt und hast mich heut noch lieb, ich hab's lang' gewußt, und jetzt, seit diesem Wiedersehen, weiß ich's ganz gewiß. Komm und leugne mir's einmal. Sag nein.«

Sie schwieg und suchte ihr Gesicht wieder zu bedecken, aber er ließ ihre Hände nicht los, und ihre Augen suchten vergebens eine Zuflucht, wo sie sich verbergen könnten.

»Keine Antwort ist auch eine Antwort,« fuhr er fort. »Was hast du also nun für einen Grund, daß du nicht einwilligen willst, mein Weib zu werden? Es muß was besonderes sein. Du bist es mir und dir schuldig, zu sagen, was zwischen uns steht, und ich weiche nicht von dannen, bis ich's weiß. Sieh mich an und sag mir, was du hast.«

Sie starrte mit den geröteten Augen vor sich hin. »O Gott!« rief sie endlich, »wie schwer bin ich gestraft, daß ich diese Pein zum zweitenmal durchmachen muß!«

»Wie kann dir das eine Pein sein!« rief er beinahe zornig und ließ nicht ab, in sie zu dringen, bis sie endlich ausrief: »Auf meinen Knien bitt' ich dich« – und wirklich Miene machte, sich vor ihm auf den Boden zu werfen und ihn um die Zurücknahme seiner Werbung anzuflehen. Er faßte sie bei den Armen, um sie daran zu verhindern, und nun entstand ein leidenschaftliches Ringen, welches damit endigte, daß er sie fest in seine Arme schloß. Ermattet ruhte sie an seiner Brust, aber sie hielt das Angesicht abgewendet, und er vermochte keinen Blick von ihr zu gewinnen.

»Dein Herz hat sich auf den ersten Blick verraten, schließ mir's nicht wieder zu!« bat er.

Sie gab keine Antwort.

»Justine, hast du mich denn nicht lieb?« rief er schmerzlich.

»Eben weil ich dich lieb hab'« – antwortete sie leise, ohne den Satz zu vollenden.

»Weil du mich lieb hast, schickst du mich von dir fort?« sagte er kopfschüttelnd. »Die Nuß kann ich nicht aufknacken.« Da sie abermals in ihrem Schweigen verharrte, so fuhr er fort: »Du begehst eine Schlechtigkeit an dir und mir, wenn du mir dein Herz nicht öffnest.«

»Nein,« antwortete sie, »eine Schlechtigkeit wär's, wollt' ich dir angehören, so wie ich bin.«

»Ich lass dich nicht!« rief er.

»Es kann nicht sein!« stammelte sie mit einer Stimme, welcher der Atem auszugehen drohte.

»Warum nicht?« rief er.

»Weil ich deiner nicht wert bin!« antwortete sie mit dem Tone der Verzweiflung, indem sie sich loszureißen suchte.

Er lachte überlaut und hielt sie in seinen Armen fest. »Das ist mir eine neue Sitte!« sagte er. »Sich selbst taxieren, gilt nirgends im Handel und Wandel. Was du wert bist, hab' ich zu bestimmen. So ist der Brauch! Ein anderes wär's, wenn du mir mit der Redensart hättest zu verstehen geben wollen, du scheuest dich vor dem armseligen Mammon, den ich dir mitbringe; aber das glaub' ich nicht von dir.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wie kannst du auf den Einfall kommen, du seiest meiner nicht wert?« hob er wieder an, fort und fort in ihre Verschlossenheit hineinstürmend. »Was sind das für Weiberflausen? Wer dich hört, sollte wahrhaftig meinen, du habest wunder was auf dem Gewissen.«

»Du hast's getroffen,« sagte sie leise, und ihr Kopf sank tiefer hinab.

Er trat bestürzt zurück, aber ohne sie loszulassen. »Ist's dein Ernst?« fragte er, durch ihr Benehmen ein wenig in Verwirrung gebracht. »Es kann nicht sein!«

Statt der Antwort suchte sie sich von ihm zu befreien; aber er ließ sie nicht. Ihr Kopf sank noch tiefer über seine Schultern, und er hatte Mühe, sie zu halten, so schwer lag sie in seinem starken Arm.


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