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All leben sie noch, die Heroenmütter, die Inseln,« aber der des Aeakos, zu der ich noch ein besonderes persönliches Verhältnis habe, gilt unser erster Besuch.
Ein strahlender Ostermontag ist angebrochen. Ganz frühe fahren wir nach dem Piraeus, wo uns der nach Aegina bestimmte Vergnügungsdampfer erwartet. Wir sind eine kleine Anzahl Reisender aus aller Herren Ländern, die der Zufall zusammengeweht hat und die jetzt durch den Gjolmanschen Agenten gemeinsam eingebootet werden; lauter gute Gesellschaft, denn der gewöhnliche Reisepöbel verirrt sich zum Glück noch nicht nach Griechenland. Indessen hat man wenig Zeit, sich miteinander zu beschäftigen; kaum vermag das Auge allen den wechselnden Bildern der Küste zu folgen.
Neben dem Leuchtturm auf der »Akte«, Salamis gegenüber, wird die Stelle gezeigt, wo nach den Versen des Komikers Platon die aus der Verbannung zurückgeholten Reste des Themistokles ruhen sollen: 58
Schön ragt am Ufer dir das Grab empor,
Dass es des Seglers ersten Gruss von fern
Empfange, der mit Waren heimwärts zieht,
Was aus- und einfährt schaue, und wenn wettend
Die Schiffe kämpfen, Zeuge sei des Spiels.
Schon ist der Aegaleos mit Hymettos und Pentelikon zurückgeblieben, die rauhen Höhen von Salamis mit dem Mavro Wuno zeichnen sich im Morgenlicht scharf an den Himmel, während links die lange buchtenreiche Küste von Attika sich bis zum Kap Sunion hinunterzieht, das in blauem Duft verdämmert. Wie Aegina näherrückt, tauchen immer neue Bergzüge über den vorderen auf, und die runde Schneekuppe, die sich in fernster Ferne über alle erhebt, ist nichts anderes als das Haupt des erhabenen Parnassos.
Ein so wolkenloser Tag wie dieser ist in Attika eine Seltenheit. Man atmet Aether. Die See ist völlig glatt, und die kleinen Wellchen, die unser Dampfer aufwirft, sind so fein gerippt, dass sie das Ansehen flüssiger Muscheln haben. Wo wir in Sicht von Aegina halten, um ausgebootet zu werden, ist das tiefe stille Wasser durchsichtig bis zum Grund, dass man durch blauen Kristall zu blicken glaubt, und gegen das Ufer lichtgrün wie der schönste Edelstein. Was ist das für ein Gedränge buntgekleideter Menschen dort auf dem Klippenstrand um eine Schar gesattelter Vierfüssler her? Wird dort ein Volksfest gefeiert? Sobald wir landen, löst sich die Gruppe auf, und eine Woge jugendlicher Aegineten, Jünglinge und Mägdlein, ergiesst sich über die Ankömmlinge, fasst sie, zieht sie, schleppt sie, 59 dass sie nicht wissen, wie ihnen geschieht. Von allen Seiten tönt es mir mit Schmeichelstimmen in die Ohren: Kyría! Kyría! Und: Gaïdhuri! (Esel) Kaló! Kaló! (Gut, gut).
Ein brauner Bursch hatte zuerst meine Hand gefasst, um mich zu seinem Grautier zu führen. Aber ein flinkes kleines Mädchen stösst ihn zurück, mit runder Patschhand umklammert sie meine Rechte und entreisst mich gewaltsam dem Andrang, indem sie mir aufs wärmste die Vorzüge ihres hochbeinigen, weissgrauen Esels anpreist. Auf seinem Rücken liegt ein breites Holzgestell ohne Decke, das sich einen Sattel nennt. Steigbügel gibt es keine, statt ihrer dient ein Strick, der um beide Flanken des Tieres gespannt ist. An diesem ersteige ich den harten Sattel, die Führerin ergreift den zweiten Strick, womit das Tier gezäumt ist, und rasch geht es die steilen Felsenstufen hinan.
Der Kyrios ist unterdessen gleichfalls von weichen Händen erfasst und in den Sattel befördert worden; der Gewichtige hat eins der allerkleinsten Eselchen erwischt, und seine Füsse streifen im Reiten fast die Erde, während ich in steiler Höhe throne. Eine kleine schwarzäugige Schönheit, die den holden Namen Kalliópe führt und höchstens dreizehn Jahre alt sein kann, leitet sein Tier am Strick, und schon hört man beide sich laut und eifrig unterhalten. Eine unbeschreibliche Silhouette zeichnet sich da vor mir in die blaue Luft wie ein phantastisches Naturspiel: der grosse, weit ausladende Mann, unter dessen gewaltigem Oberkörper vier winzige dünne Beinchen hintrippeln, während 60 der Rumpf des Tieres unter seinen Rockschössen verschwindet.
Ein Teil der Gesellschaft zerstreut sich, um im Walde zu lagern, andere, gleichfalls beritten, traben vorauf oder hinter uns her, je nach dem Feuer, das ihre Gaidhuris beseelt. Der meinige knickt zuweilen auf seinen viel zu langen und darum schwachen Vorderbeinen ein; dann reisst ihn die Führerin am Strick in die Höhe, drückt mir liebreich den Fuss, weil sie bis zur Hand nicht hinaufreicht, und ermuntert mich mit schmeichelnder Stimme: Mì phobâs! Mì phobâs! (fürchte dich nicht, fürchte dich nicht!). Denn sie sagt mir du, nach antikem Brauch, der noch jetzt beim Landvolk im Schwange ist.
Schön wie ihre Gefährtin Kalliope ist meine Führerin nicht. Sie hat eine untersetzte Gestalt und ein breites Slawengesicht; aber eine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit lächelt aus ihrem lebhaften Mienenspiel und aus den glänzenden Augen, und sie heisst Eléne, ein Name, der, von griechischen Lippen gesprochen, seine Trägerin mit einem Schimmer von dem göttlichen Liebreiz der Ledatochter umgiesst. Keine fremde Zunge wird es vollkommen nachsprechen können, das schmeichelnde griechische l in dem Namen Elene.
Ein treuherzigeres Geschöpf habe ich nie gesehen, als dieses Aeginetenkind. Sie glüht vor Diensteifer und kann sich in Aufmerksamkeiten nicht genug tun, augenscheinlich nicht des Lohnes wegen, sondern aus jenem starken Gefühl der Verpflichtung, das alle Griechen gegen die fremden Reisenden beseelt. Jeden Augenblick lässt sie den Strick des Gaidhuri fahren und 61 springt ins Feld, um mir eine der wundervollen wilden Blumen zu pflücken, deren Namen sie mich nachsprechen lehrt. Jetzt kommt eine Rebenpflanzung in Sicht; mit einem Sprung ist sie drinnen, reisst einen Schössling ab und reicht ihn mir herauf, um mir begreiflich zu machen, was man aus der Frucht dieses Gewächses für einen Trank bereitet, wie sie mich auch zuvor schon über den Nutzen der Kornähre aufgeklärt hat.
Málista (ganz recht), krasí, krasí (Wein), ist meine Antwort, und sie drückt mir ihre Freude über meine Fassungskraft aufs lebhafteste aus, indem sie meinen Fuss streichelt und mir strahlend zunickt wie einem hoffnungsvollen Kinde.
Auch der Kyrios, der vor mir herreitet, hat bereits einen gewaltigen Strauss von Pinienzweigen und Blumen im Arm, die Kalliope ihm mit glühenden Wangen zusammenträgt. Ich vergehe fast vor Neid, da ich höre, wie zwischen den beiden das Gespräch keinen Augenblick stockt, während mein Wortschatz noch so arm ist, dass ich der guten Elene meine Zufriedenheit nur von Zeit zu Zeit durch das Wörtchen kaló (schön) kundgeben kann. Doch gelangen auch die zwei vor uns trotz ihres eifrigen Austauschs nicht zur völligen gegenseitigen Durchdringung ihrer Gedankenwelt. Die kleine Kalliope staunt zu seinem grossen erhobenen Zeigefinger hinauf, während er ihr mit eindringlicher Langsamkeit von den Osterfeierlichkeiten in Athen erzählt und so einem Wanderprediger gleicht, der das Wort verkündet. Was sie aus seinen Reden für Erkenntnisse gesogen hat, wird sich erst später offenbaren. Aber sie ihrerseits verursacht ihm auch kein 62 kleines Kopfzerbrechen, denn es strömen von ihren reizenden Lippen zuweilen ganz rätselhafte Wortgebilde, an denen sein philologischer Schlüssel versagt. Ab und zu teilt er mir seine Zweifel mit, ich enthalte mich aber aus guten Gründen jeder Meinung.
So reiten wir von glühender Sonne bestrahlt, aber zugleich vom Seewind umschmeichelt, den harzduftenden Gebirgskamm hinauf nach dem Aphaiatempel, der schon vom Meere sichtbar war. Zur Rechten und zur Linken schimmert die tiefblaue Flut durch die schwärzlichen Pinienzweige, denn in Attika ist die Pinie schwärzlich und dürr wie verbrannt; auch steht sie an Höhe des Wuchses und schön stilisierter Form hinter ihrer italienischen Schwester weit zurück, aber sie hat in ihrer edlen Armut eine ergreifende Würde.
Plötzlich rollt ein Donnerschlag über unsere Häupter. Ich erhebe erstaunt die Augen zu dem dunkelblauen, völlig wolkenlosen Himmel. Aber Elene drückt mit Inbrunst meinen Fuss: Mì phobâs! Es ist kein Gewitter, es sind die Kanonen von Athen – und sie weist mit dem Finger in die Richtung der Hauptstadt.
Nun springt sie wieder nach einer Blume über den Wegrand. Diese Gelegenheit benutzt mein Gaidhuri, um stehen zu bleiben. Ich bearbeite ihn mit Fersen und Händen in Ermangelung einer Gerte, umsonst, er geht nicht weiter, bis ein fürwitziger Junge, um sein eigenes Grautier schneller vorbeizubringen, ihm von hinten einen derben Stockschlag versetzt, dass er hoch auffährt und sich mit mir in die Büsche schlägt. Die Zweige zerkratzen mir das Gesicht und verhaken sich in meinen Hut und Schleier, ich will mich befreien, 63 verliere dabei noch die prähistorischen Steigbügel, und indem mein Weisser sich gleichmütig weiter durchs Gestrüpp reisst, wird meine Lage bedenklich. Unmöglich, mich in meiner Not verständlich zu machen, ich fühle mich hilflos wie ein lallendes Kind und vermag nur durchdringend zu rufen: Óchi kaló, Eléne, óchi kaló! (Nicht schön, Elene! nicht schön!).
Da ist sie auch schon zur Stelle, sie zieht den Esel aus dem Gebüsch, befestigt den Strick wieder an meinem Fuss oder meinen Fuss am Strick und beschwichtigt mich mit Schmeicheltönen: Kaló, kaló! – Ja, Elene, wo du bist, da ist das Dasein wieder kaló und die Welt vollkommen.
Jetzt schimmert es weiss durch die Zweige, wir haben die Anhöhe erreicht, auf der der Aphaiatempel steht.
Ein grüner Hain umschliesst das Heiligtum, dessen majestätische Reste sich auf hohen Stufen luftig gegen den Himmel heben. Ein Teil der Säulen liegt, Dach und Wände fehlen, dass der tiefe Aether in die gestürzte Cella hereinblickt und das blaue Meer noch blauer zwischen den Säulen durchscheint. Das Gebälk liegt ringsum am Boden verstreut, und Gras wächst zwischen Gesimsen und Architraven. Waldesschatten ringsum, der würzige, wundervolle Wohlgerüche aushaucht, und Blumen, Blumen, wohin das Auge fällt. Nicht nur den Wiesengrund färben sie mit ihrer dunklen Glut, auch zwischen den geborstenen Steinen des Pronaos dringen sie hervor, vor allem der rote Mohn und in Büschen, aber schon verblühend, der Asphodelos mit dem scharfen Geruch und den breiten 64 schilfähnlichen Blättern. Vor dem Tempel hat sich schon wieder ein Haufe Kinder gesammelt, die vorausgerannt sind, um Sträusse zu überreichen. Aber des Kyrios wartet noch eine besondere Ueberraschung: ein paar Frauen sind herbeigeeilt, knien vor ihm nieder und küssen ehrfurchtsvoll seine Hand. Die kleine Kalliope hatte aus seinen Worten über die Osterfeier geschlossen, dass ein erwarteter geistlicher Würdenträger, den sie Patéras Júlu (Vater Julu) nennt, in seiner Person erschienen sei, und hat von diesem Glück sogleich die Umstehenden verständigt, die sich auch den Irrtum nicht mehr nehmen lassen und eifrig bestrebt sind, Patéras Júlu zu ehren. Ein Glas frischgemolkener Ziegenmilch, womit der Aufgelöste von der Familie des Wächters erquickt wird, dürfte gleichfalls auf Rechnung dieses Missverständnisses kommen. Unterdessen sind die Wallfahrer abgestiegen, die Tiere und ihre Treiber gruppieren sich am Waldsaum, und die Fremdlinge erklimmen die Stufen, die zum Pronaos führen. Heute bringen dir die neuen Völker ihre Huldigung; von germanischen, britischen, gallischen Zungen ertönt dein Name, Aphaia!
Aber Elene und Kalliope sind noch nicht zufrieden, sie haben uns noch etwas Besonderes mitzuteilen. Patéras Júlu ist schon an Kalliopes Hand verschwunden, die meine ergreift Elene und zieht mich noch über den Felshang hinunter, um mir an heimlicher Stelle einen unterirdischen Brunnenschacht zu zeigen. Zu dem wenigen schwärzlichen Wasser, das darin steht, beugt sie sich hinab und schlürft es andächtig aus der hohlen Hand. Man versteht erst in dem wasserarmen Lande, 65 wie es kam, dass den Alten jeder Fluss ein Gott und jede Quelle heilig war.
Auf Säulentrommeln ausserhalb des Tempels lassen wir uns nieder, wo eine Piniengruppe im Halbrund zusammentritt; ein dorisches Kapitell dient als Tisch, auf dem wir unsere Vorräte ausbreiten. Ich horche noch mit einem Ohr auf die Vögel, die unsichtbar in den Zweigen singen, mit dem andern auf das Gespräch eines jungen Parisers von griechischer Abkunft, der sich mit seinem kleinen Eseltreiber über den neuen Landesheros, den vergötterten Venizelos unterhält, aber nun kommt der Augenblick, wo Vogelgesang und Ministerpräsident in Vergessenheit sinken vor den roten Ostereiern, den Hühnerschenkelchen, den köstlichen, saftreichen portokalia (Orangen) und einer kleinen Flasche weissen Landweins.
Der Nymphe Aphaia, der Herrin des Heiligtums, werde der erste Weihetrunk gesprengt. Im Leben hiess sie Britomartis und war eine Lieblingsgespielin der Artemis, von der Kreterin Karme dem Zeus geboren. Da der König Minos sie mit seiner Liebe verfolgte, entfloh sie vor ihm und kam durch ausgestellte Fischernetze, in die sie sich verwickelte, ums Leben. Artemis verlieh ihr die Unsterblichkeit, und sie wurde nicht nur auf Kreta, sondern auch bei den Aegineten, denen sie auf ihrer Insel jagend zu erscheinen pflegte, als Göttin verehrt; auch hat ihr Pindar einen Hymnus gedichtet. So erzählt uns der alte Pausanias in seinem Buche über Korinth. Danach aber denken wir dessen, der zuerst in der Neuzeit die Rechte der Aphaia auf diesen Tempel dartat. Es war der deutsche Dichter 66 Hermann Kurz, der aus einem Schreibfehler im Herodot mit glücklicher Eingebung ihren Namen herauslas, aber bei der Wissenschaft keinen Glauben fand, weil er ja kein Fachmann, sondern nur ein Dichter war. Seinen Manen gelte die zweite Trankspende, von der Hand seiner Tochter dargebracht. Mehr als dreissig Jahre nach seinem Tode bestätigte der kundigste Forscher seinen Fund und gab dem ersten Entdecker die gebührende Ehre. Sei darum auch seiner dankbar hier gedacht: dem Andenken Adolf Furtwenglers gelte der dritte Weiheguss!
Der Wächter des Tempels tritt hinzu und füllt unsre Gläser mit seinem roten Retsinato nach, einem schauderhaften Harzwein, der schmeckt wie verdünnter Terpentin. Es bedarf all unsrer Ehrfurcht vor dem Gott mit dem Weinlaub und dem Pinienapfel und unseres ganzen Durstes, um dieses Getränk geniessbar zu finden. Aber mag es schmecken wie es will, sicher hat ein wohltätiger Gott ihm von dem Wundersafte beigemischt, mit dem die Sparterin Helena ihren Gästen die Erinnerung jedes Leides tilgte, und hat es uns verliehen, an diesem Tage so schicksallos, so von ambrosischer Jugend durchdrungen einherzugehen, wie die Himmlischen selber.
Wie die Waldung duftet! Wie der blaue saronische Busen heraufleuchtet, von zerklüfteten Inseln und kühnen Vorgebirgen eingeengt. Da ist ein kleines Felseneiland, das so unwahrscheinlich bildhaft, so überirdisch auf den Wassern schwimmt, als hätte es der Traumgott hingedichtet. Ich nehme all mein Griechisch 67 zusammen, um den Kustoden nach dem Namen des Inselchens zu fragen.
Ajos Jöijos (Hagios Georgios) kommt es mit den wundersam zerschmelzenden griechischen Konsonanten von seinen Lippen.
Ich versuche so schmelzend ich irgend kann ihm nachzusprechen: Ajos Jöijos.
Ein langgezogenes Nä ist seine Antwort, der er nochmals hinzufügt: Ajos Jöijos. Da ich glaubte, ihm nicht genug getan zu haben, artikulierte ich noch zerfliessender: Ajos Jöijos.
Aber zu meinem Erstaunen vernahm ich abermals: Nä! – Ajos Jöijos! und so ging das noch eine ganze Weile mit immer dem gleichen Erfolge fort, bis ich in den höflich lächelnden Mienen einen Ausdruck von Verwunderung wahrzunehmen glaubte, und es mir plötzlich einfiel, dass nä im neugriechischen Ja bedeutet. Ich hatte also den Guten ohne alle Not mit meiner Liebesmühe aufgehalten, weil mir bisher als Bejahung nur das Wort malista vorgekommen war, aus dem das Ohr noch etwas Verbindliches heraushört, das etwa unserem »Sehr wohl« entspricht. Von jetzt an werde ich mir auch das einfachere nä zu eigen machen. Solch ein neues Wort ist jedesmal ein köstlicher Schatz, der mit habsüchtiger Freude den anderen Schätzen hinzugefügt wird.
Noch einen Rundgang durch die gestürzte Pracht des Tempels. Die Phantasie versucht es gar nicht, sich diese Säulen und Gebälke aufzurichten und den Giebeln die kämpfenden Krieger mit dem rätselhaften Todeslächeln wieder einzufügen; ihr sinken die Flügel 68 vor der gegenwärtigen Schönheit. Aber allmählich halten es auch die Sinne nicht mehr aus, man müsste sein wie die seligen Götter, um solchen Ueberschwang auf die Länge zu ertragen. Gerade rechtzeitig mahnt der Führer, den Gjolman uns mitgegeben hat, zum Aufbruch, damit wir unsern Dampfer nicht verfehlen.
Die Esel werden wieder bestiegen. Nur der Kyrios, der immer noch Patéras Júlu heisst, verzichtet auf den seinigen, er hat von dem griechischen Sattel genug und versichert, dass das Tier noch besser daran gewesen sei als der Reiter, worüber man freilich auch die Meinung des anderen Beteiligten einholen müsste. Statt seiner schwingt sich die leichte Kalliope in den Sattel und reitet lustig mit baumelnden Beinchen bergab.
Ich folge dem Beispiel der Kleinen und setze mich diesmal gleichfalls seitlich mit hängenden Füssen, wie es in Griechenland von Weiblein und Männlein gehalten wird, und entdecke so das bessere Geheimnis des Eselritts.
Als wir uns dem Strande näherten, stelzte unser langbeiniger Führer wie ein Storch durch das Feld und pflückte für jede Kyría noch ein würziges Kräutlein, das er mit einer stummen Verbeugung überreichte. Das war der Abschiedsgruss von Aegina.
Elene und Kalliope erhalten für ihre Blumen und ihr holdes Lachen noch einen besonderen Dank, dann geht es in Eile zum Strand und durch die Wasserlachen der Klippenbank, auf der ein Fischer soeben einen mächtigen Polypen bearbeitet, in unser Boot, das uns rasch zum Dampfer trägt.
69 Lebwohl, Insel des Aeakos, dich möchte ich nicht zum zweiten Male sehen. Du könntest ja doch nicht wieder glänzen, wie du heute geglänzt hast. Denn schwerlich würde ich Elene und Kalliope mit ihren Gaidhuris wieder am Strande finden, und fände ich sie, so weiss ich nicht, ob das Bild, das ich von ihnen bewahre, die Sonne eines zweiten Tages ertragen würde.
Ein starker Wind hat sich erhoben. Breit und schwarzblau rollt die aufgestürmte Welle unter uns hin, dass auf Deck Menschen und Stühle, Schirme und Reisebücher durcheinanderkugeln. Wohin geht jetzt die Fahrt?
Eine Zeitlang schien es, als hielten wir auf Athen, und ich begann schon unruhig zu werden, denn anderes hat uns Gjolman verheissen. Aber siehe, unbemerkt haben wir nach links gedreht, und unserem Kiele öffnet sich der Sund von Salamis, wo menschlicher Ruhm den Ruhm der Heroen überstrahlt. Vergib mir, Schatten des Telamoniers Ajas, der du vor Troja der Tapferste warst nach dem Sohne der Thetis, wenn ich angesichts deiner Heimatinsel deiner nicht zuerst gedenke. Gewiss hast du ja selber für einen Tag deinen Groll und Gram vergessen und schlugst unsichtbar mit, als hier um die Freiheit von Hellas gerungen wurde, dass das flutende Schlachtfeld nicht mehr zu sehen war vor Schiffstrümmern und Feindesleichen.
Es gibt Orte, die für immer den Geistern eines Tages gehören. Wie die nachgeborenen Griechen in spätester Spätzeit des Nachts auf dem Felde von Marathon Rosseschnauben und Lanzenklirren vernahmen, so dauert 70 auch in den Gewässern von Salamis die Geisterschlacht fort; welche Tat in Dichtung und Geschichte wäre imstande sie zu verdrängen! Noch immer sitzt Xerxes unter seinem goldenen Baldachin dort drüben am verwüsteten attischen Ufer, umgeben von den Schreibern, die seine Siege verzeichnen sollen, und folgt mit den Augen jeder Bewegung seiner Schiffe, während der Rauch der Akropolis zum Himmel steigt und am salaminischen Strande alles was nicht Waffen trägt von der athenischen Bevölkerung mit angstvoller Seele dem Entscheidungskampf zusieht. Wie wird das alles lebendig, wenn man das eingesperrte Becken überblickt, in dem Themistokles durch List die gewaltige Perserflotte festhielt, um mit seinen kleinen, leicht beweglichen Schiffen ihre unbehilflichen Kolosse zu vernichten.
Langsam fährt unser Dampfer zuerst an der ganzen Länge der Kynosura hin, der von Salamis abzweigenden langen und schmalen Felsenzunge, die nicht wie ein Naturgebilde, sondern wie ein künstlicher Steindamm aussieht. Ganz anders versteht man an Ort und Stelle den Bericht Herodots, denn es ist alles nahe wie zum Greifen. Zwischen hier und dem Festland staute sich die Perserflotte, als der regelmässige Seewind sich wie heute erhob, und bot ihre Flanken dem jauchzenden Anprall der flinken Hellenenschiffe, die so hoffnungskühn und todesfreudig anstürmten, weil ihre heimischen Götter mit ihnen kämpften. Denn von der eleusinischen Ebene drüben hatte sich's erhoben wie eine mächtige Staubwolke, mit Getöse des mystischen Jakchos, wie ein Aufgebot von dreissigtausend Mann. Das waren die Heroen und die Seelen geweihter Athener, 71 die Demeter zu Hilfe schickte, und gleichzeitig sah man von Aegina her die Aeakiden ihre Arme zum Schutz über die Griechenflotte ausstrecken. Unter solchen Götterzeichen verbohrt sich Schiff in Schiff mit ehernem Schnabel, die Perser, in der Enge eingekeilt, zerstossen sich gegenseitig, Freund und Feind wird ihnen gleich verderblich, ein Koloss um den andern zerkracht, Trümmer und Leichen stauen sich im Meer und bedecken alle Ufer, die Griechen aber »wie wohl beim Thunfischfang und sonstiger Treibjagd zur See, so schlagen, stossen, schmettern sie mit Ruderstücken und Schiffstrümmern drein, dass rings vor Ach und Weh und Jammerschrei die See erscholl, bis alles in den Schoss der schwarzen Nacht versank.«
Jetzt richten wir, immer vom Wind umsaust, unsere Spitze auf das Festland, damit wir auch da drüben überm Wasser auf dem Vorsprung des Aegaleos den König der Könige sehen können, wie er aufspringt vom goldfüssigen Thronsessel und stöhnend sein Kleid zerreisst, während um ihn das tausendstimmige Jammergeheul erschallt wie in den »Persern« des Aeschylos: Wehe, König, alle deine stolzen Schiffe, deine besten Krieger, die ganze Hoffnung Persiens! Wehe, wehe!
Langsam dreht unser Dampfer nach Süden und schwimmt an der Innenseite der steilen steinigen Psyttaleia hin, wo der verblendete König die Blüte seines Landheers aufgestellt hatte, damit sie der Flotte beim Vernichtungskampf die Hand reiche. Und hier kommen wir gerade zum letzten Akt des grossen Völkerdramas: wie Aristides mit seinen Freiwilligen die beinahe senkrechten Felsenwände erklimmt und wie 72 die von ihrer Flotte verlassenen Perser nach verzweifelter Gegenwehr der hellenischen Uebermacht erliegen. – Das war kein Siegestag wie irgendein anderer mit kurzwährendem Freudenfeuer; an dem wundervollen Leben, das daraus hervorging, haben auch wir Heutigen noch unseren Teil. Sicher hatte ein Gott, der die Hellenen liebte, den Xerxes ins Land geführt, denn erst aus den Ruinen, die der Barbarenkönig zurückliess, konnte die Stadt des Perikles sich erheben. – Ob wohl, wenn diese Wasser auf einmal durchsichtig würden, noch Ueberreste der medischen Hoffahrt, vergoldete Schiffsschnäbel oder Geschmeide der königlichen Anführer zum Vorschein kämen? Die Wellen mögen es wissen, die mit ihnen Fangball spielten, ehe sie sie verschluckten.
Auch uns haben sie nun gehörig herumgeworfen; fast taumelnd setzen wir im Piraeus den Fuss aufs feste Land.
Ein von englischen Mitreisenden freundlich aufgedrungener und im Piraeus vergessener Rucksack, der die botanische Ausbeute enthielt, hätte beinahe den schönen Tag mit einer Dissonanz beschlossen, doch der vermisste stellte sich am Ende wieder ein, und all's well that ends well. Die Blumen von Aegina, mit denen wir am Abend unsere an Blumen schon überreichen Zimmer im Mégas Aléxandros schmückten, erinnerten uns noch viele Tage an die holden Nymphen Elene und Kalliope.