Isolde Kurz
Wandertage in Hellas
Isolde Kurz

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Nach Olympia

Das Doppelhaupt des Parnassos ist untergetaucht und noch vor ihm die Phädriaden, die vom Meere aus unseren letzten Gruss empfingen. Den geistlichen Mittelpunkt von Hellas haben wir nun gesehen, den geheimnisvollen pythischen Apollon, der das Gewissen der Einzelnen und der Staaten lenkte, jetzt suchen wir einen anderen Herd des Griechentums, der eine vaterländische Bedeutung hatte: Olympia.

Die Sonne ist heute nicht zu sehen, weisse Dunstschleier ziehen über den blassen Himmel, und in alle Bergmulden von Lokris hat sich Gewölke eingebettet; keine lastenden Wolkenmassen, sondern ein graues wolliges Gespinst, stellenweise rosig durchleuchtet, als ob sich eine Gottheit dahinter verberge.

Nach einer wundervollen Fahrt durch die schmale Wasserstrasse von Rhion laufen wir bei Nacht im Hafen von Patras ein, in dessen magischer Lichterkrone die roten Leuchtfeuer wie Karfunkel flammen. Und hier erfahren wir, was Europa schon seit vielen Tagen weiss, was uns aber auf unseren einsamen 176 Wanderungen noch nicht zu Ohren gekommen ist: dass die Dardanellen gesperrt sind und infolgedessen alle Gasthöfe überfüllt, weil die Reisenden vergeblich auf die aus Konstantinopel fälligen Dampfer warten. Aber die Gjolmansche Agentur hält uns von Athen aus an sicherem Fäden, und binnen kurzem finden wir uns in einer nagelneuen Herberge, deren erste Gäste wir zu sein scheinen, überraschend gut und sauber untergebracht.

Mitten auf einem belebten Platz in der Nähe des Meeres geht in der Frühe der Bahnzug mit seinen komisch kleinen Wagen nach Olympia ab. Ich sehe die ätolischen Berge wieder, die mich schon einmal in solcher Morgenfrühe entzückten. An ihrem letzten Ausläufer der Insel Kephallenia gegenüber, schiebt sich das Kap Mesolongion ins Meer heraus. Missolunghi glorreichen Andenkens! Dort ruhen an der Seite der griechischen Freiheitskämpfer die tapferen Philhellenen deutschen Stamms. Einem von ihnen, dessen Name mit meinen frühsten Kindheitserinnerungen verwebt ist, hätte ich besondere Grüsse aus der Heimat zu bringen, wenn meine Zeit es erlaubte. Und das Landschaftsbild, das jetzt vor mir liegt, ist auch das letzte, das Lord Byrons Augen sahen. Glücklichster aller Sterblichen, für wen haben Natur und Schicksal mehr getan? Als es schien, dass der Ruhm ihm nichts mehr zu geben habe, flog die Nike von Olympia herüber und legte ihm den schönsten Siegerkranz um die Stirn: für die Freiheit von Hellas sterben zu dürfen.

Eine sechsstündige, unvergleichlich schöne 177 Bahnfahrt längs der elischen Küste, mit dem Doppelblick auf die sonndurchglühten Schneehäupter Achajas und auf die jonischen Zauberinseln, bringt uns in das Tal von Olympia, das der vielgewundene Alpheios mit breitem Silberbande durchströmt. Diese hügelige Landschaft, zu der die hohen arkadischen Berge niederblicken, ist anmutig, ohne bedeutend zu sein, und sieht in ihrer schlichten Herzlichkeit einem deutschen Flusstal ähnlich. Ist der lieblich wallende Strom zwischen den schönen Wiesenborden wirklich der Alpheios, von dem die Dichter singen, dass er aus gewaltiger Liebe zur schönen Arethusa das ganze jonische Meer durchschwimme und mit seiner gesamten Wassermasse auf der sizilischen Küste wieder hervorbreche, um die Flüchtige dort noch zu ereilen? Für griechische Verhältnisse ist es ein stattlicher Fluss, ungefähr wie mein heimischer Neckar, an den auch seine Ufer erinnern. Wie konnte man aber dem freundlichen Gewässer solch ein angehaltenes titanisches Rasen zuschreiben? Diese Sache und was dem ähnlich von den Göttern erzählt wird, zeichne ich auf, ohne es zu glauben, ich zeichne es aber nichtsdestoweniger auf, sagt der alte Pausanias bei ähnlichen Gelegenheiten in seinem komischen Rationalismus, und heute muss ich seinem Beispiel folgen. Immer aufs neue wundert man sich in Griechenland, was diese kleinen Flüsse für grosse Götter waren. Mit grossen Strömen unbekannt, verehrten die Griechen in jedem fliessenden Wasser eine erhabene Urgewalt, und da sie sahen, dass manche ihrer Flüsse geheimnisvoll in Gesteinsspalten verschwinden, trauten sie ihnen ohne weiteres jede beliebige 178 Ortsveränderung zu. Doch kann freilich der Alpheios auch in Wahrheit wild werden und sein Bett verlassen, denn er war es, der gemeinsam mit seinem kleineren Zufluss, dem Kladeos, Olympia unter sechs Meter tiefem Schlamm und Sand begraben hat, nachdem zuvor schon die herrlichen Bauwerke durch ihren bösen Bundesgenossen, den Seismos, gestürzt waren.

Die Ausgrabungen, bekanntlich ein Werk des Deutschen Reiches, liegen in einer flachen Ebene, die im Norden von dem sogenannten Kronion oder Kronoshügel, südlich von dem vielfach geteilten Bette des Alpheios und westlich von dem ihm zufliessenden Kladeos eingeschlossen ist. Eine grössere Ansiedelung hat es hier nie gegeben. Der heilige Bezirk des olympischen Zeus mit seinen Tempeln, Altären und Weihgeschenken und der Schauplatz der Spiele: Stadion und Hippodrom, sowie einige wenige Profanbauten, das war alles, was unter dem Namen Olympia begriffen wird.

Man erreicht das Trümmerfeld von Westen her über die Kladeosbrücke. Tief unten zwischen völlig senkrecht eingeschnittenen Wänden zieht der Kladeos mit unbeschreiblich wohllautendem Geriesel, das an die Flöte Pans erinnert, vorüber. Er führt nur mässig Wasser, aber ihm glaubt man nach der Gestalt der Ufer seine Wildheit ohne weiteres. Zu seiner Linken, durch einen schmalen Weg von der ummauerten Altis getrennt – so heisst dort der heilige Bezirk nach der altelischen Bezeichnung für Hain, – liegen die Reste des Gymnasions und der Palästra, die den zehnmonatlichen Uebungen der Wettkämpfer dienten; am Boden der 179 Palästra sieht man noch die tönernen Rillen, an denen die Ringer sich stemmten. Da ist ferner eine Badeanlage, die Priesterwohnungen, ein schmaler Bau, der für die Werkstätte des Phidias gehalten wird, und das sogenannte Leonidaeon, ein grosses Prachtgebäude für vornehme Festgäste, alles von Säulenhallen umgeben, deren Stümpfe aus dem Grase blicken.

Durch eine der Toröffnungen in der Mauer, die an zwei Seiten noch einen Meter hoch erhalten ist, betritt man den heiligen Bezirk. Der erste Anblick ist niederschmetternd wie bei den meisten dieser Trümmerstätten: eine Steinwüste, aus der riesige Marmorbrocken in die Luft wachsen, zerschlagene Gebeine einer Wunderwelt, über die man am liebsten wieder die grüne schützende Decke gebreitet sähe. Man kann hier ohne Führer lange umherirren, ehe man eine Anschauung gewinnt. Der Kyrios hat sich in den Baedeker vertieft, dessen Plan von Olympia tückischerweise zerrissen ist. Mich sucht unser freundlicher argentinischer Fahrtgenosse, der sich mittlerweile auch in Olympia eingefunden hat, aus seinem vortrefflichen französischen Reisehandbuch zu belehren. Allein er ist Archäologe, schwärmt für vormykenische Mauern, deren er bereits eine entdeckt und photographiert hat, und auf das eigentliche Hellenentum hält er nicht viel, daher wir uns nicht verstehen können. Auch die Aegypter sind da und eilen mit verblüffender Schnelligkeit von einem Trümmerhaufen zum andern. Blauäugige Herrin Athene, hast du mich heute ganz verlassen? – Die Göttin spricht nur durch inneres Licht zu uns. Sie gibt mir ein, mich am Fuss des waldigen Kronion auf der langen 180 gemauerten Terrasse aufzustellen, und jetzt werde ich mit einem Male sehend. Auf dieser Terrasse, der lange Stufenreihen vorgelagert sind, standen einst die berühmten Schatzhäuser der griechischen Staaten, die die kostbarsten und witterungsempfindlichsten der heiligen Kleinodien bargen. Nichts als die Unterbauten sind von ihnen erhalten, ihre Mauer- und Säulenreste liegen am Boden verstreut. Aber für einen kurzen Augenblick baut sie die Göttin aus luftigerem Stoffe wieder auf. Das Halbrund zur Rechten, das sich westlich an die Schatzhäuser schliesst, ist die sogenannte Exedra des Herodes Attikos. Bist du auch wieder da, lauter Wohltäter? Es war ein prunkvoller Quellpalast, der Abschluss einer langen Wasserleitung, womit jener Krösus der griechischen Spätzeit das wasserarme Olympia beschenkte. So hat er doch hier wenigstens etwas Gemeinnütziges gestiftet. Dass er dabei sich und die Seinigen nicht vergass, beweist der hier gefundene Skulpturenschmuck, der in dem kleinen Museum jenseits des Kladeos geborgen ist – Bildnisstatuen der römischen Kaiser und seiner eigenen Angehörigen.

Der Heretempel in Olympia

Wo der Kronion seinen Fuss in die Altis hineinschiebt, da liegt der altertümliche Heratempel auf niedrigem Unterbau mit dicken gedrungenen Säulenstümpfen. Ihn findet man auf den ersten Blick, denn zwei der dorischen Säulen sind mit ihrem Gebälke zur ganzen Höhe wieder aufgerichtet, und zwei stehende Säulen nebst dem wohlerhaltenen unteren Teil der Cellawand genügen völlig, dass der Tempel für das Auge da sei. Die Pinien vom Kronion sind zu diesem ehrwürdigsten Heiligtum herabgestiegen und hüllen es in 181 durchsichtige Schatten und balsamischen Wohlgeruch. Das Heräon ist uralt, es stammt aus der Zeit, wo die dorische Säule noch aus Holz geschnitzt wurde, denn noch im zweiten Jahrhundert nach Christus sah man hier eine übrige hölzerne Säule, nachdem die anderen längst durch steinerne ersetzt waren. In der Cella wurde der berühmte Hermes mit dem Dionysosknaben von Praxiteles gefunden, der für das Juwel der olympischen Sammlung angesehen wird. Man kann darüber auch anderer Meinung sein. Zwar eine solche Behandlung des Marmors gibt es vielleicht in der ganzen griechischen Kunst nicht wieder. Aber die weichliche Anmut und träumerische Süsse der Gestalt sind der erste Schritt zu dem, was noch unsere Klassiker für das Wesen des Griechentums hielten, und was in Wahrheit nur sein beginnendes Altern war, als der griechische Genius die strengen Fesseln der tragischen Notwendigkeit abstreifte, um an der Freude leichtem Gängelband einherzugehen.

Der flache, blumenbewachsene Schutthügel südlich vom Heräon trug einst das Grabmal und den heiligen Hain des Pelops, dem die Griechen in Olympia die höchsten Heroenehren erwiesen, weil an seinen Wagensieg sich die Stiftung der Olympischen Spiele knüpfte. Und ganz im Westen an der Altismauer der kleine säulenumschlossene Rundbau über den Marmorstufen, wie nennt sich der? Das Philippeion, der Dank des Mazedoniers für Chäronea! Für Chäronea, wo die letzten freien Griechen von Griechenhand erschlagen wurden mit der rasenden Wut, deren Spuren man noch jetzt an den durchbohrten Hirnschalen und 182 zerschmetterten Kinnladen der Gefallenen erkennt! Nie werde ich diese Totenschädel im athenischen Museum vergessen, die noch den Ausdruck der grässlichsten Verzweiflung zu tragen scheinen. Und auch dieses Weihgeschenk nahm der grosse Olympier gelassen an! Ihr unbegreiflichen Götter, die ihr es zuliesst, dass euer geliebtestes Volk sich im Wechselmord ausrottete, hattet ihr denn keine Macht oder keinen Willen, es zu hindern? Ich war in Delphi und habe den pythischen Gott gefragt, er wollte mir keine Antwort geben, sag' es mir du, blauäugige Weisheit. Auf den Trümmern von Delphi und Olympia kann man die Gottheit nichts anderes fragen.

Auch Pallas schweigt, nur ihre blauen Augen blicken fürchterlich; schrecklich blicket ein Gott da, wo Sterbliche weinen.

Sie geht mir nach der Mitte des Trümmerfelds voran, wo auf hocherhabenem Unterbau der gewaltigste Tempel gethront hat. Eine steile Rampe führt von Osten hinauf, die Vorhalle ist noch zum Teil mit prachtvollem buntem Marmor, der Eingang mit einem reizenden Kieselmosaik gepflastert. Nicht eine Säule steht; zur Rechten und zur Linken des Tempels liegen sie in ihrer ganzen Länge hingestreckt, wie das Erdbeben sie geworfen hat, Trommel an Trommel auseinandergebrochen und die ungeheuren dorischen Kapitelle vornübergerollt wie abgeschlagene Riesenhäupter. Ich brauche nicht zu fragen, wem dieser Tempel gehört hat, seine herrschende Höhe und Grösse sagt es mir: ich bin im Hause des olympischen Zeus.

Zwei wundervolle Giebelfelder, die jetzt im Museum 183 von Olympia stehen, haben einst sein Dach geschmückt. Man mag sie noch so gut aus Güssen und Abbildungen kennen, man weiss doch nichts von ihnen, bis man sie auf dem Boden sieht, für den sie geschaffen wurden. Es sind Werke einer noch nicht völlig ausgewachsenen Kunst, aber in ihrem herben Adel und durch den Bezug auf eine lebendige Gegenwart so unmittelbar ergreifend wie wenig andere.

Der Flussgott Kladeos vom Ostgiebel des Zeustempels in Olympia

Bekanntlich ging von Olympia die schicksalsvolle Wettfahrt des Pelops mit dem König Oenomaos von Elis aus, durch die dem Fremdling, dem Tantaliden, mit der Hand der schönen Königstochter auch ihr väterliches Reich zufiel, und von ihm erhielt der Peloponnes den Namen. Der Gegenstand war es also wert, am östlichen, dem Eingangsgiebel des Zeustempels dargestellt zu werden. Zwischen den zwei Kämpen, deren Rosse man eben anschirrt, steht der Götterkönig in so überwältigender Grösse, dass er nicht als persönlich anwesend, sondern nur als waltende Macht erscheint. Zur Rechten des Pelops, den sein reicher Goldschmuck als Asiaten kennzeichnet – die vielen Bohrlöcher im Stein zeigen noch die Stellen, wo das Metall befestigt war – steht Hippodameia in ihrer tragischen Schönheit, um die schon dreizehn Freier geblutet haben, denn nur mit Einsatz des Lebens durfte um sie geworben werden. Diesmal wartet sie ruhig, die Arme auf die Brust gelegt, den Ausgang ab, den sie schon kennt. Den Platz neben Oenomaos nimmt etwas allzu symmetrisch seine Gattin Sterope, eine der Plejaden, ein, an Schönheit der Tochter ähnlich. Dann kommen die Gespanne und ihre Lenker, von denen der 184 kniende Myrtilos eine Prachtgestalt ist. Endlich an den Giebelenden die beiden Flussgötter von Olympia. Genau so wie sie in der Natur den heiligen Bezirk umfasst halten, so lagern sie hier oben im Stein, ein jeder der Seite entsprechend, wo sein Bette liegt. Wie herrlich ist das Wesen beider ausgedrückt: der Alpheios in jugendlicher Mannesschönheit majestätisch hingestreckt, mit dem Kopf auf gestütztem Arme ruhend, spricht mit der geliebten Nymphe Arethusa, der Kladeos am andern Ende, ein Bürschlein so recht in den Flegeljahren, reckt sich bäuchlings heran und sieht mit spitzbübischer Neugier dem spitzbübischen Streiche zu, der sich da vorbereitet. Er weiss, und dieses Wissen spiegelt sich köstlich in seinen Mienen, dass sie sich alle gegenseitig belisten. Oenomaos wird dem Pelops die Tochter mit auf den Wagen geben, damit ihn, wie alle seine Vorgänger, die Nähe der Schönheit verwirre und für die tödliche Lanze reif mache. Pelops aber hat den Myrtilos, des Königs Wagenlenker, gewonnen, dass er seine eisernen Radpflöcke heimlich durch wächserne ersetze und den Wagen zu Fall bringe. Dafür hat er dem von Leidenschaft betörten Myrtilos versprochen, was kein Mann versprechen kann, eine Nacht in den Armen der herrlichen Braut, und da er dieses Versprechen nicht halten will, wird er dich häuptlings ins Meer stürzen, törichter Myrtilos, das von dir den Namen des myrtoischen erhalten wird, wenn das ein Trost ist, armer Narr, denkt lächelnd der Kladeos. Und dieser erste Frevel wird Fluch auf Fluch im Hause des Pelops gebären, auf Atreus und Thyestes werden Agamemnon und Aegisthos folgen, und 185 in der Burg von Mykene werden dereinst um die racheatmende Elektra her die Dienerinnen wegklagen: O unglückseliger Rossewettlauf des Pelops! – Das alles denkt der Kladeos, und es macht ihm Spass, denn Stromgötter haben kein Herz für die Menschen.

Kopf der Kolossalstatue des Apollon vom Westgiebel des Zeustempels in Olympia

Am Westgiebel sah man den Kampf der Kentauren und Lapithen, eine wildbewegte Gruppe, die freilich im einzelnen zum Teil kindisch formlos ist, wie z. B. das von dem Kentauren umschlungene Weib, das gar keinen Körper hat und den Angreifer statt des Beines ein Stück der Gewandung fassen lässt. Aber im ganzen welch ein hinreissendes Leben! In der Mitte des Getümmels steht riesengross ein Apollon von unerhörter Schönheit, die erhabene Verkörperung des ruhigen Zorns. Mit solcher Gebärde muss er auf der Mauer Trojas gestanden haben, der furchtbar lächelnde Jünglingsgott, als Patroklos in der Wehr des Peliden anstürmte, so traf er ihn unsichtbar mit der ausgestreckten Hand in den Rücken. Wie genau sie doch einen jeden ihrer Götter kannten, diese wunderbaren Griechenkünstler. Den Apollon des Alkamenes wird niemand vergessen, der ihn in Olympia gesehen hat.

Herakles, der Athene die erlegten stymphalischen Vögel überbringend. Metope vom Zeustempel in Olympia

Die Cellawand trug auf Vorder- und Rückseite zwei Friese mit den Taten des Herakles, herrlich strenge Reliefs, die sich jetzt gleichfalls im Museum befinden. Ganz unwiderstehlich liebenswürdig ist die Gruppe, wie der Heros seiner göttlichen Freundin Athene die erlegten stymphalischen Vögel überbringt. Denn auch Herakles wurde in Olympia verehrt. als Ordner und Neubegründer der Spiele, deren Satzungen er regelte, und er war es auch, der den wilden Oelbaum nahe der 186 Rückseite des Zeustempels pflanzte, aus dessen Laub die Kränze der Sieger gewunden wurden.

An einem Haufen schwarzer Kalksteine, die einst der Statue als Basis dienten, erkennt man tief im Innern des Tempels die Stelle, wo der riesige goldelfenbeinerne Zeus des Phidias gethront hat, für den der Gott selber dem Künstler sein Wohlgefallen durch einen Blitzstrahl aussprach. Wer ihn sehen könnte hinter dem schweren assyrischen Purpurvorhang in seiner milden Majestät, mit dem goldenen Oelkranz um die Stirn und der geflügelten Nike auf der Rechten, die Lehne des Thrones von Siegesgöttinnen und Chariten umtanzt! Von dem grössten Bildwerk des Altertums, einem der Sieben Weltwunder, ist keine Spur auf uns gekommen; es stand noch 393 n. C. an seiner Stelle, als die olympischen Spiele, die schon verkommen waren, zum letztenmal stattfanden. Dann wurde es nach Byzanz verschleppt und ging dort bei einem Palastbrand zugrunde. War es so überwältigend schön, wie die begeisterten Augenzeugen versichern? Die winzigen Nachbildungen auf altelischen Kupfermünzen geben keine lebendige Vorstellung. Auch von dem Wald von Weihgeschenken, den Porträtstatuen der Olympiasieger und anderen Marmorbildern, die, schön von Platanen und Zypressen beschattet, den Tempel umstanden, ist fast nichts gerettet ausser der wundervollen Nike des Päonios, deren reissendes und doch so leichtes Niederschweben im Beschauer das entzückte Gefühl eigenen Fliegens erweckt.

Die Nike des Päonios zu Olympia

Alle diese Gaben waren Siegesmale, durch Schweiss oder Blut erstritten. Das ganze Dasein der Griechen 187 war ja auf Wettstreit gestellt: Wettstreit im Stadion, Wettstreit auf der Rednerbühne, Wettstreit im Theater, denn selbst der Kranz des Dichters konnte nicht ohne die Niederlage der Mitstrebenden errungen werden. Kein Volk hat einem so köstlichen Trunk so herben Wermut beigemischt, keins hat sich das Leben so schwer gemacht wie die Griechen. Und so war Olympia, wo der Wettstreit am heissesten brannte, der glühendste Brennpunkt des griechischen Lebens. Die wütende Ruhmgier, die sonst die Stämme zum Wechselmord getrieben hat, hier tobte sie sich zum Gewinn der Gesamtheit aus. Einmal alle vier Jahre am ersten Vollmond nach der Sommersonnenwende waren die Hellenen ein einiges Volk. Gottesfriede durch ganz Griechenland. Die Waffen ruhen. Von Elis her tost es in unübersehlichem Zug nach dem Festtor der Altismauer: die Gesandtschaften mit den Weihgeschenken, die Priester mit den Opfertieren, die Athleten, die Kampfrichter, die Menge der Zuschauer. Der Messenier geht versöhnt neben dem Spartaner, Attika reicht dem Peloponnes die Hand. Von allen Küsten und Inseln des Mittelmeers haben die griechischen Pflanzstädte ihre Söhne, reines Griechenblut, nach Olympia in die grosse Heldenschule geschickt, wo das Volk sich durch ein Jahrtausend jedesmal neue Jugend und Begeisterung holte. Olympia erzog ja den sittlichen Menschen ebensogut wie den physischen, denn Mut und Geistesgegenwart, Schnelligkeit und Ausdauer sind nicht allein körperliche Eigenschaften. Olympia lehrte die Griechen, niemals mit sich selbst zu sparen, bei jeder Anspannung das Aeusserste zu tun. Ein jeder 188 wollte der erste sein und trieb damit die Kräfte des Ganzen höher. Auch in dem Feuerträger von Platää, der an einem Tage nach Delphi hin- und zurückrannte, um mit reiner Glut vom Altar des Gottes die durch den Feind entweihten heimischen Herde wieder zu entzünden, und der, sobald er den heiligen Funken überreicht hatte, tot zur Erde sank, wirkte der Geist von Olympia. Nicht umsonst hiessen die Kampfrichter bei den olympischen Spielen Griechenrichter, »Hellanodiken«, denn sie wogen das Herz des Griechenvolks. Und der Preis, für den hier jeder Nerv zum Zerreissen gespannt wurde? Nichts als ein schlichter Zweig vom wilden Oelbaum des Herakles, des ersten aller Griechenrichter, der seinem Volk zuerst die grosse Lehre von der Ueberwindung durch Selbstzucht gegeben hat. Dafür stand der Sieger wie ein Halbgott unter seinen Zeitgenossen, und mit seinem Namen nannte sich die Olympiade.

Erst auf dem Boden von Olympia versteht man das Wesen der Griechen ganz. Wettstreit bildete sie, Wettstreit zerriss sie, und ewig währt die Trauer um sie – das ist die stumme Antwort der Göttin auf meine Frage.

Und nun zum Stadion, damit ich die Stelle sehe, wo das Herz von Hellas am höchsten schlug. Ganz im Nordost der Altis, zwischen dem Kronion und der langen »Echohalle« geht ein schmaler überwölbter Gang nach dem Stadion. Vor dem Eingang stehen in langer Reihe die Basen der sogenannten Zanes, eherner Zeusbilder, zu deren Errichtung diejenigen verurteilt wurden, die sich gegen die Kampfregeln vergingen, den Gegner bestachen oder sich gar vor dem Tag der 189 Entscheidung aus dem Staube machten. Man sieht, an Unwürdigen hat es nicht gefehlt, doch war in all den Jahrhunderten nur einer darunter, der wegen Feigheit bestraft wurde.

Seltsam war es, dass man die verheirateten Frauen bei Todesstrafe vom Zuschauen ausschloss, die Mädchen aber zuliess. Fürchteten die Griechen beim Anblick der schönen Jünglingsleiber für die eheliche Treue? Doch kam das grimme Gesetz niemals in Anwendung, denn nur einmal übertrat eine Frau verkleidet das Verbot, um ihren Sohn als Sieger zu sehen. Sie wurde ertappt, aber die Griechen verziehen der glühenden Mutterliebe; Römer hätten sie hingerichtet und ihr dann ein Denkmal gesetzt.

Der schmale überwölbte Gang, durch den die Kämpfer mit den Kampfrichtern das Stadion betraten, führt auf einen engen, vertieften Wiesengrund mit wenigen Mauerresten. Grüne Erdwälle von allen Seiten. Steigt man hinauf, so sieht man nichts als leicht geneigtes Wiesenland, Aecker mit Ruinen und weit dahinter das schlängelnde Silberband des Alpheios. Wo sind die Stufenreihen, die einst vom Jubelgeschrei und Händeklatschen aller Griechenstämme widerhallten, als der Sieger von Salamis auf seinem Platze erschien? Das Licht, das mich bis hierher führte, hat mich plötzlich verlassen, und ich suche vergeblich die Felder auf und ab, bis sich die Reisegenossen wieder zusammenfinden, und nun entdecken wir erst, dass von dem Stadion nur Anfang und Ende freigelegt sind. Die ganze Strecke der Bahn steckt noch im Boden. Noch weiter südlich dem Alpheios zu lag der 190 Hippodrom, wo Alkibiades mit seinen Luxusgespannen den doppelten Oelzweig gewann; den hat zusamt dem ehernen Standbild der Hippodameia, die mit der Binde in der Hand den Sieger erwartet, der Alpheios weggerissen. – Am Stadion haben die Grabungen haltgemacht, weil die Mittel ausgingen. Wird sich niemand finden, der sie weiterführt? Und wenn man schon ins Wünschen gerät, so sei noch eins hinzugewünscht: dass ebenso wie am Heräon eine grossmütige Seele auch dem olympischen Zeus ein paar Säulen wieder aufrichte – die ganze Altis würde auf einmal lebendig werden, die heute einem zerrütteten Friedhof gleicht.

Ob wohl die antiken Festgäste so gut versorgt waren wie wir in unserem Gasthof auf dem stillen einsamen Hügel? Ich glaube schwerlich. Die Vornehmen brachten ihre Zelte mit, die Aermeren werden sich unter freiem Himmel oder in zerstreuten Gehöften bei Schmutz und Ungeziefer beholfen haben. Wir aber können behaglich unter sauberem Obdach dem Rauschen des niedergehenden Regens zuhören, der sich mit dem Blöken der eingepferchten Schafherde mischt. Das schönste aber ist, am andern Morgen die nun schon bekannte heilige Stätte mühelos noch einmal zu durchstreifen und unbeschwert von den tausendjährigen Erinnerungen zwischen dem Trümmersturz Blumen zu pflücken – luludja, wie die neue Sprache sie lieblich stammelnd nennt, – oder gelegentlich bei einem Inschriftsteine stehenzubleiben. Einen fanden wir, der war der Agathae Tychae (dem guten Glück) geweiht; wir nahmen ihn zur freundlichen Vorbedeutung. Hätte der Regen nicht aufs neue eingesetzt, 191 so wären wir auch noch über die Hügel an das »Grab der Freier« gepilgert, wo der schlimme Oenomaos alle Dreizehn nebeneinander verscharrt hat.

Soll ich jetzt noch erzählen, welch tückischen Streich mir der böse Junge, der Kladeos, spielte, als ich ihn bat, mich zum Alpheios zu führen? Wie er mich mit dem Zauberklang seiner Flöte die Wiese entlang lockte und jedesmal sein unübersteigliches Bett dazwischenschob, wenn ich glaubte, den andern erreicht zu haben? Oder von der tränenweichen dunklen Nacht an seinem Ufer, wo der Himmel leise tropfte, und durch die tausendfachen Insektenstimmen hindurch der Ruf des Käuzchens von den Ruinen her erscholl, und die melodische, immer gleiche Klage des »Kiuh« in ihrer rhythmischen unausbleiblichen Wiederkehr melancholisch den Schritt der Zeit begleitete? Oder gar von jener tauigen Morgenfrühe, wo wir quer durch feuchte Haine und Wiesen doch noch das Alpheiosufer fanden, aber fast den Rückweg verloren hätten, und wie der Lustros (Stiefelputzer) des Hotels uns entsetzt mit dem Schabemesser entgegenkam, um die schwere Ackerscholle von unseren Sohlen zu kratzen, bevor der Bahnzug uns aufnahm und nach Arkadien entführte?

 


 


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