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Einleitung

Paul de Lagarde stammt in männlicher Linie aus einer Familie Boetticher, die weitverzweigt im Braunschweig-Lüneburgischen, in Preußisch-Sachsen und in der Mark saß. Seine näheren Vorfahren wirkten fast hundertfünfzig Jahre hindurch als Pfarrer an den Grenzen der Altmark und des Herzogtums Braunschweig. Sein Großvater soll freilich nur wider seinen Willen Geistlicher gewesen sein. Er wird als heftig und leidenschaftlich, ja zornsüchtig geschildert, zugleich voll Energie und Trägheit. Seine Ehe war unglücklich; eine Disziplinaruntersuchung führte dazu, daß er aus seinem Amt entfernt wurde. Gewisse krankhafte Züge an Lagarde gehen wohl auf diesen Ahnen zurück.

Sein Vater Johann Friedrich Wilhelm Boetticher (1798 bis 1850) verband mit der Theologie humanistische Wissenschaft (klassische Philologie). Er wirkte als Lehrer am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium zu Berlin Das Programm dieser Anstalt für 1850 enthält einen eingehenden Nachruf auf ihn, verfaßt von dem Direktor der Anstalt Ranke.. In ihm sollen sich schon die Grundzüge von Lagardes Wesen gezeigt haben: unbestechliche Charakterfestigkeit, opfermutige Hingabe an Wahrheit und Leben, heißblütige Frömmigkeit, strengste Gewissenhaftigkeit, unbändiger Fleiß, ausgebreitete Gelehrsamkeit, vor allem aber eine glühende Vaterlandsliebe. Im Jahre 1825 hatte er sich mit Luise Klebe verheiratet, der Tochter des Ökonomiekommissars Klebe in Berlin, deren Familie (nach Lagarde) wohl aus Cleve eingewandert war; ihr Name Klebe leitet sich von Cleve ab. Mütterlicherseits entstammte Luise Klebe der Familie de Lagarde.

Diese waren ursprünglich in Metz ansässig. Sie betrieben die Gerberei, waren angesehen und wohlhabend, aber nicht adlig; ihr Name stammt wohl von einer in Metz an der Mosel hin führenden Wallstraße ( rue de la garde). wie die meisten Angehörigen der sog. »französischen Kolonie« in Berlin waren die Lagarde um ihres protestantischen Glaubens willen 1634 aus Frankreich vertrieben worden, von einem der Lagarde soll Friedrich der Große gesagt haben: »Mein Nachbar Lagarde und ich sind die fleißigsten Menschen in Preußen.«

Luise Klebe hatte aus ihrer Ehe mit Wilhelm Boetticher zwei Kinder: ein Töchterchen Marie, das 1826 geboren wurde, aber schon in demselben Jahre starb, und Paul, geboren am Allerseelentage 1827 in Berlin im Hause Kochstr. 13. Schon am 14. November starb seine Mutter, kaum neunzehnjährig. Sie soll von lieblichem Wesen und reichem Gemütsleben gewesen sein. Des mutterlosen Knaben nahmen sich in den ersten Jahren zwei Tanten seiner Mutter an: Eleonore Klebe und Ernestine de Lagarde. Von dieser, die ihn später adoptierte, übernahm er auch den Namen. Von der ersteren erzählt Lagarde: »Sie pflegte nach dem Tode ihrer Nichte Luise bis zur Wiederverheiratung des Witwers deren Sohn, dem sie auch später von ihrer Armut zuliebe tat, was sie vermochte. Das erste Material für seine persischen Studien hat sie ihm geliefert. Sie starb am 18. Juni 1861 zu Berlin (geb. 1778), noch auf dem Sterbebett in ihrer tiefsten Armut mit ihren 83jährigen langen weißen Haaren, der großen Hakennase und den kleinen scharfblickenden blauen Augen eine Erscheinung, die an das alte deutsche Heidentum erinnerte, von dem ihr Großneffe ein gutes Stück in sich trägt.«

Im Jahre 1831 verheiratete sich Lagardes Vater, Wilhelm Boetticher, wieder, und zwar mit Pauline Segert, der Tochter eines angesehenen Berliner Arztes. Ein Töchterchen aus dieser Ehe war für Paul eine zärtlich geliebte Gespielin; es starb freilich schon im dritten Lebensjahr. Auch zwei Knaben gingen aus dieser Ehe hervor; mit dem jüngeren der beiden Halbbrüder war Paul in inniger Freundschaft verbunden bis zu dessen Tode im Jahre 1885. Von seiner Stiefmutter hat er später bezeugt, daß sie ihm »eine sorgsame Mutter gewesen, und daß ihre milde Reinheit, die Schlechtes gar nie für möglich hielt, in ihren letzten Lebensjahren, nachdem ein schwerer Druck von ihr genommen worden, wieder in ihrer ganzen Liebenswürdigkeit hervorgetreten sei«.

Dieser »schwere Druck« ging von der religiösen Entwicklung des Vaters aus. Er war – wie Lagardes Frau in ihren »Erinnerungen« erzählt – ursprünglich nicht nur »eine grundtüchtige, aufs Ewige gerichtete, sondern auch eine frische, allem Schönen und Edlen zugängliche Natur« gewesen. Er hatte sich zunächst der frei-geistigen Auffassung des Christentums, wie sie Schleiermacher vertreten hatte, angeschlossen, er hatte als junger Lehrer am Pädagogium in Halle mit Begeisterung Musik getrieben, hatte Goethe und Shakespeare geschätzt. Mehr und mehr hat sich nun seine Religiosität in der Richtung einer engherzigen, äußere Kirchlichkeit überschätzenden Orthodoxie entwickelt. »Der Sohn hat vom Vater neben der Unbestechlichkeit des Charakters den Sinn für Religion mitbekommen, aber dieser bei beiden die Grundlage fürs Leben bildende Sinn für Religion hat sich bei beiden in gerade entgegengesetzter Weise ausgebildet: traurig, krankhaft, alles um sich herum verkümmernd bei dem Vater, kräftig, gesund und Frucht tragend bei dem Sohne.«

»Jene stetig zunehmende ungesunde Religiosität verdunkelte das Haus mehr und mehr: dem Hausherrn ging allmählich der Zusammenhang mit dem praktischen Leben völlig verloren, und auf die ganze Familie legte sich ein Druck, der jede freie Bewegung hemmte, jede unbefangene frohe Regung erstickte. In solcher Atmosphäre gedeiht kein Mensch: Lagarde bezeichnet sich selbst als einen in ihr krumm gewachsenen Baum, an dem keine Freude zu haben sei.«

In ihm lebte ursprünglich ein tiefes Bedürfnis, geliebt zu werden – so trauerte er zeitlebens der so früh verstorbenen Mutter nach –; und selbst zu lieben und zu verehren war geradezu Lebensbedingung für ihn. Dem entsprach in keiner Weise der vom Vater beherrschte Geist des Hauses. Nur wiederholte Besuche bei Brüdern des Vaters, die auf dem Lande lebten, waren Lichtpunkte in Pauls verdüsterter Jugend. In der Schule war er allen voran, aber auch hierfür hörte er vom Vater nie ein Wort der Anerkennung. Außerordentlich knapp hielt dieser ihn auch während der Studienzeit. Durch Lesen von Korrekturen verdiente sich Paul etwas Geld; manche notwendigen Bücher schrieb er sich ab, um sie nicht kaufen zu müssen, und zwar – wie seine Frau erzählt –, »um Papier zu sparen, auf so engen Linien und mit so winzigen Buchstaben, daß es mich schmerzte, die Blätter nur anzusehen, zumal bei dem Gedanken, daß dies alles mit den armen Augen hatte geschehen müssen, deren Schwäche z. B. den Militärdienst ausschloß«.

»Unterstützungen und Stipendien, die als Anerkennung und zur Aufmunterung seines Fleißes dem Jünglinge zufielen, nahm ohne weiteres der Vater an sich, um sie diesem oder jenem frommen Hause oder Menschen zuzuwenden.« Die einzige Erholung während und nach der Studienzeit war für Paul, täglich in einer Abendstunde, während der Vater ausgegangen war, auf dem Klavier zu spielen, das – um der Hausandachten willen – vorhanden war. Seine Neigung für Musik wie auch seine Begabung dafür war groß. (Für seine Frau gab es später »nichts Ergreifenderes und zugleich Beruhigenderes, als ihn phantasieren zu hören«.)

Je mehr Paul auch wissenschaftlich heranreifte, um so mehr vertiefte sich der Gegensatz zum Vater. Dieser war »ein tüchtiger Kenner des Griechischen und Lateinischen, ein angesehener Lehrer beider Sprachen in den oberen Gymnasialklassen; aber er war nicht zu bewegen, wo es sich um Feststellung einer falschen Übersetzung bei Luther oder sonst um einen Streitpunkt über biblische Bücher handelte, die Vergleichung mit dem griechischen Texte auch nur zu versuchen. Das begriff der Sohn nicht; zu einer solchen Beschränktheit des Blickes hatte in seinen Augen der Vater mit seinem Wissen und Können kein Recht: während umgekehrt der Vater im Sohne nur ein ungehöriges Pochen auf sein Wissen und Können, einen gänzlichen Mangel an Ehrerbietung und Demut sah«.

Jahre hindurch ward an den Sonntagabenden offenes Haus gehalten. Der Vater sah mit Befriedigung auf die sich um ihn versammelnden frommen Seelen: während nicht nur der älteste (Paul), sondern sogar schon der noch recht jugendliche und harmlose jüngste Sohn zu bemerken glaubten, vielen dieser Andächtigen säße die Seele im Magen, und an den – bewußten und unbewußten – Heuchlern Anstoß nahmen. Der Vater durchschaute in seiner eigenen Reinheit solche Heuchelei und Liebedienerei nicht, sie mochte noch so augenfällig sein; jeder Hinweis auf dergleichen reizte ihn und bewies ihm von neuem den Hochmut des Sohnes, zu dem auch der Jüngste mit verführt werden sollte.

Vertieft wurde endlich noch der Konflikt durch die politischen Ereignisse des Jahres 1848. Im Gegensatz zu dem starren reaktionären Konservatismus des Vaters bildete sich Paul damals die Anschauungen, die er 1853 in einem Vortrag und 1884 in seinem »Programm für die Konservative Partei Preußens« dargelegt hat.

Am 6. April 1850 starb der Vater im 53. Lebensjahre nach langem, schwerem Leiden. Der Sohn stand an dem Sterbebette, gequält von dem Gefühl, über diesen Tod nicht trauern zu können. Lange hat er sich – bei seinem weichen Gemüt – darüber Selbstvorwürfe gemacht.

Seit Ostern 1844 hatte Lagarde an der Universität Berlin Theologie und orientalische Sprachen studiert. Von seinen theologischen Lehrern hat keiner tieferen Einfluß auf ihn geübt; in zunehmendem innerem Gegensatz fühlte er sich zu Hengstenberg (1802-1809), dem damaligen Hauptführer der orthodoxen Lutheraner, der 1828 als deren Organ die »Evangelische Kirchenzeitung« begründet hatte. Übrigens hat Lagarde das Wort, das ihm Hengstenberg ins Stammbuch schrieb, selber als Grabspruch gewählt: Via crucis est via salutis (Der Weg des Kreuzes ist der Weg des Heils). Die reichste und nachhaltigste geistige Förderung verdankte Lagarde dem Schöpfer der deutschen Sprach- und Altertumswissenschaft Jakob Grimm (1785-1863) und dem Dichter Friedrich Rückert (1788-1866), der von 1841 bis 1849 als Professor der orientalischen Sprachen in Berlin wirkte.

Schon auf dem Gymnasium hatte Lagarde bereits mit solcher Begeisterung und solchem Eifer Grimms »Deutsche Mythologie« studiert, daß er sie fast auswendig kannte. Er hat sie später genannt: »ein Buch, das zu den epochemachendsten gehört, die je gedruckt worden sind; geschrieben mit der vollen Empfindung deutschen Wesens und deutscher Poesie.« Später hat er dann auch die anderen Werke Grimms studiert, so daß er zeitlebens völlig in ihnen heimisch war. In Grimm fand Lagarde deutsches Wesen in seinem sinnigen Ernst wie in seinem Zug zum Erhabenen in ehrfurchtgebietender Verkörperung. So versteht man auch, daß er einmal bekennt: »Mit Grimm bin ich persönlich nicht viel in Berührung getreten: er ist in ganz anderem Sinne, als man es von manchem gesagt, ein Vater des Vaterlandes gewesen; mir kam, ihn auch nur eine Minute zu kosten, als ein Diebstahl am Ganzen vor. So habe ich in derselben Stadt mit ihm gelebt und ihn eigentlich nur selten gesehen und gesprochen.«

Viel persönlicher gestaltete sich sein Verhältnis zu Rückert. Lagarde, der selbst neben seiner musikalischen Begabung eine ausgesprochene dichterische besaß und davon auch Proben gegeben hat, hatte bereits als Gymnasiast Rückerts Dichtung liebgewonnen. Nun hörte er bei ihm Persisch und Arabisch, und da er vielfach sein einziger Hörer war, gestaltete sich allmählich das Verhältnis des Schülers zu dem eines Sohnes. Rückerts Briefe an Lagarde zeigen, daß er stets liebevollen Anteil an dessen geistiger Entwicklung genommen hat; auch war er bemüht, ihn in seiner akademischen Laufbahn zu fördern.

Im Frühjahr 1850 nach dem Tode seines Vaters wurde Lagarde Privatdozent für orientalische Sprachen an der Universität Halle. Die Mittel dazu bot ihm ein Stipendium, das ihm die Stadt Berlin für zwei Jahre verliehen hatte. Im Herbst desselben Jahres machte er in Begleitung seiner Tante Lagarde seine erste größere Reise – nach dem Rhein und in die Schweiz. »Unendlich weit tat sich ihm das Herz auf. Den Domen in Köln und Freiburg jubelt er zu, und der deutsche Patriot erwacht zu vollem Bewußtsein am Grabe Schenkendorfs und im Kuß und Handschlag des alten Arndt, der ihn über die sechs Jahrzehnte Altersunterschied hinweg so warm und jugendfroh wie ein Genosse grüßt.«

Erfolgreich hat dann Lagarde in Halle gelehrt. Einfluß übte auf ihn dort sein älterer Kollege, der Geschichtsprofessor Leo, der damals seine »Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Volkes und Reiches« (erschienen 1854) zur Veröffentlichung vorbereitete.

Ein königlich preußisches Stipendium, das ihm im Sommer 1852 verliehen wurde, ermöglichte ihm einen längeren Aufenthalt in London und Paris zu wissenschaftlichen Studien an den dortigen Bibliotheken. Das Jahr, das er in London zubrachte, wurde sehr bedeutsam für die Entwicklung seiner politischen Anschauungen. Im Spätsommer 1853 verfaßte er in London seine erste politische Schrift »Konservativ?«. Im Gegensatz zu der geistigen Enge und Kümmerlichkeit der damaligen Reaktionsperiode in Preußen, machte ihm das englische Staatsleben den Eindruck der Großzügigkeit; zugleich bewunderte er den organisch gesunden Aufbau der englischen Gesellschaft und die führende Rolle des Adels. Welche Folgerungen aus diesen Eindrücken er für Deutschland zog, zeigte ein Vortrag, den er einige Monate später nach seiner Rückkehr in Halle hielt: »Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik«.

Von hohen Ideen und weitausschauenden Plänen war der 26jährige Lagarde damals bewegt. In einem Briefe schreibt er: »Ich hatte die Zinnen der ewigen Stadt früh und fern gesehen und wollte mir den Weg hinauf schon erfechten, als meine Altersgenossen noch auf Steckenpferden ritten ... Mir liegen die blauen Berge im Sinne, die ewigen Alpen der Geisterwelt, von denen Freiheit niederweht. Jede Wolke kann sie unseren Blicken verhüllen, aber kein Gott kann sie niederreißen. Ach, und sie mitten aus dem Moraste sehen zu müssen, wie weh tut das!« Glühende Sehnsucht mit dem Höchsten lodert in ihm. Wie Nietzsche hätte er von sich sagen können: »Flamme bin ich sicherlich.« »Unsere Herzen zehren sich auf«, so schreibt er einmal. »Besser aber eine lodernde Fackel, hinausleuchtend in die Nacht und schnell gefressen vom Feuer, als ein langsames Talglicht am Krankenbett der Menschheit. Rasch leben und rasch sterben ist mein Wahlspruch. Sorgen, daß alles dabei und danach gut stehe, ist meine Pflicht.« Weiter heißt es in einem Brief: »Ich grüße jetzt schon in Gedanken alle die Völker und Helden, mit denen ich in den nächsten Jahren vertraulich umgehen werde. Alle meine Studien sind nur Vorarbeiten zu meiner Geschichte des römischen Kaiserreichs von Cäsar bis auf Konstantin, in der ich die Religionen kämpfend zeigen und den Ursachen des Verfalls einer jeden nachspüren will. Wir leben ja in einem ähnlichen Herbste jetzt: wir müssen die Gesetze des Vergehens studieren und den Keim frischen Lebens schon sehen, wenn er noch unter der Erde schwillt und nur erst der Boden über ihm sich hebt und birst. So, hoffe ich, soll diese Arbeit eine weltbefreiende, weltgeschichtliche sein. Doch ist viel vorher zu lernen und durchzuarbeiten nötig, und ich muß mir mindestens zehn Jahre bedingen.« Man erkennt, wie seine wissenschaftlichen Pläne in engster Beziehung standen zu seinem Streben, dem deutschen Volke den Weg zu öffnen zu einer Wiedererhebung aus der damaligen politischen und religiös-theologischen Erstarrung.

Freilich zur Verwirklichung seiner weitausschauenden Entwürfe blieben ihm die Mittel versagt. Gerade daß dieser hochbegabte und hochstrebende Mensch nicht brav die gebahnten Wege ging, wurde ihm Verdacht. Ältere Fachgenossen, Durchschnittsmenschen, übten an seinen wissenschaftlichen Erstlingsschriften übelwollende Kritik, die sogar von Verunglimpfung seines Charakters sich nicht zurückhielt Alles, was sich auf diese und spätere Fehden bezieht, hat Lagarde später veröffentlicht. (»Aus dem deutschen Gelehrtenleben. Aktenstücke und Glossen.« Göttingen 1880.). So zerschlug sich seine Hoffnung auf eine Universitätsprofessur, und er mußte – bei seiner Mittellosigkeit – zufrieden sein, als ihm (nach Ablegung eines Probejahres an einer höheren Schule) durch Vermittlung Alexanders von Humboldt eine Stelle an der Luisenstädtischen Realschule zu Berlin mit 400 Talern Gehalt zuteil wurde. Man mag zugeben, daß Lagarde durch Weltunklugheit, naive Bekundung seines Selbstbewußtseins, Unbeugsamkeit sein hartes Geschick mitverursacht hat, aber dabei bleibt doch wahr, daß es unverdient und ungerecht war. Der feinsinnige katholische Theologe Franz Xaver Kraus hat später darüber geurteilt: »Elf Jahre lang hat einer der größten Gelehrten Europas, um nicht zu verhungern, die Last von etwa 40 öffentlichen und Privatstunden (wöchentlich) sich aufbinden müssen, mitten in der Hauptstadt der Intelligenz, weil der Staat für ihn keine Verwendung im akademischen Lehrfach hatte und die Einsicht des Kultusministeriums nicht über die Leidenschaften der Koterien hinausreichte.« Und in der »protestantischen Kirchenzeitung« 1896, Nr. 15, hat C. Siegfried hart geurteilt über die »Blödsichtigkeit und Gleichgültigkeit der Bürokratie allem gegenüber, was geistig hervorragend und bedeutend genannt zu werden verdient«: »Einen Mann, bei dem jede Stunde mit Gold aufgewogen zu werden verdiente, läßt man zwölf Jahre lang sich damit abquälen, deutsche Aufsätze in Quinta u. dgl. zu korrigieren, und nötigt ihn durch das karge Gehalt, Privatstunden und Unterricht noch an verschiedenen Mädchenschulen zu übernehmen. Der erste Semitist des Jahrhunderts konnte es von der damaligen Berliner Schulverwaltung niemals erlangen, den hebräischen Unterricht zugewiesen zu bekommen. Die Geschichte der vergeblichen Anläufe, um in Kiel, Gießen, Halle eine Professur zu erlangen, muß man lesen. Man möchte mit Fäusten dreinschlagen.«

Daß Lagarde in diesen schweren Jahren durchhalten konnte, ohne innerlich verbittert und stumpf zu werden, dazu trug viel bei, daß er die rechte Frau gefunden hatte. Er hatte Anna Berger, die einer Offiziersfamilie entstammte, schon in seiner ersten Hallenser Zeit kennengelernt. Ende März 1854 heiratete er sie, nachdem kurz vorher seine von ihm geliebte und verehrte Stiefmutter gestorben war. In einzelnen seiner Gedichte und besonders in der Dichtung und Wahrheit verbindenden Novelle in Versen »Am Strande« hat Lagarde seinem Liebesglück und seiner Dankbarkeit dafür Ausdruck verliehen. Persönlich schlicht und anspruchslos, von edelster Herzensgüte, ist diese Frau in der fast 38jährigen (kinderlosen) Ehe in aufopfernder, treuer Fürsorge und innigstem Verstehen mit ihm verbunden gewesen. Sie hat sich ihm freilich völlig angeschmiegt und war sozusagen seine geistige Schöpfung.

Vor seiner Verheiratung hatte Lagarde die von seiner Tante gewünschte Adoption und damit den Namenswechsel in rechtlicher Form vollziehen lassen. Seine Frau schreibt darüber: »Jene Adoption ist von früh an, und mit Wissen seines Vaters, ins Auge gefaßt worden, so daß der ganze Plan schon mit dem Knaben verwachsen gewesen, ihm nichts so Absonderliches gewesen ist. Später verschärften die so peinlichen wie schmerzlichen Gegensätze zwischen Vater und Sohn letzterem jedenfalls aufs eindringlichste den Wunsch einer gewissen Losreißung von den ganzen quälenden Verhältnissen.« Daß Lagarde die volle Tüchtigkeit der Boettichers anerkannt und wertgehalten, ergibt sich aus der von ihm geschriebenen »Familiengeschichte«. Und daß alle jene französischen émigrés mit Stolz und Liebe ihrer Vorfahren gedenken, die um der Religion willen alles im Stiche ließen, ist doch bekannt und jedem empfindenden Herzen verständlich. Auch verständlich, daß jeder einzelne gern den Zusammenhang mit jenen aufrechterhält und betont. Neben dem Wunsch, den Namen Lagarde vor dem Aussterben zu bewahren, mag auch ein Stück Romantik hier mitgespielt haben: Lagarde fühlte sich dadurch wohl Dichtern wie Chamisso und Fouqué angenähert. Die Lagardes hatten sich übrigens schon längst als Deutsche gefühlt. Paul de Lagarde selbst aber ist ein Beweis dafür, daß Blutmischung (bei nicht zu großer Rassenverschiedenheit) zum Segen gereichen, überragende, ja geniale Begabung begünstigen kann. –

An drei Berliner Anstalten hat Lagarde als Lehrer gewirkt: an der Luisenstädtischen Realschule 1855, am Kölnischen Realgymnasium 1855-58, am Werderschen Gymnasium ) 1858-66. Obwohl er das Lehramt nur »der Not gehorchend« übernommen hatte, so hat er es doch nicht etwa als bloße Last ohne innere Teilnahme ausgeübt, vielmehr war er ein gewissenhafter, sich hingebender Lehrer, der die Schätzung der Eltern und die Liebe seiner Schüler in reichem Maße sich erwarb. Freilich war er – der doch von der wissenschaftlichen Arbeit nicht lassen konnte und wollte – außerordentlich überlastet, zumal er noch Lehrposten an Mädchenschulen und in den ersten Jahren auch zahlreiche Privatstunden (die Stunde zu 1½ Mark!) angenommen hatte. Zudem war er der Überzeugung, daß seine Arbeit bei der Schule »hundert andere ebenso gut oder besser tun könnten«, während für seine gelehrte Arbeit »kaum ein anderer da sei«. Allein die Aussicht, an eine Universität berufen zu werden, die sich ihm wiederholt eröffnete, verwirklichte sich immer wieder nicht. Endlich wandte er sich durch Vermittlung eines ihm bekannten Generals an den König Friedrich Wilhelm IV. Dieser gewährte ihm, damit er sich ganz der wissenschaftlichen Arbeit widmen könne, Fortzahlung seines bisherigen Gehaltes aus der Staatskasse, bis eine akademische Professur für ihn frei werde. So schied er Ostern 1866 aus dem Schuldienst. Es war auch höchste Zeit; er war unter dem Übermaß seiner Arbeit dem Zusammenbrechen nahe. Er zog sich nun in das kleine Landstädtchen Schleußingen in Preußisch-Thüringen zurück, um sich zunächst zu erholen und dann mit neuer Kraft sich seinen Studien und Forschungen völlig ungestört hinzugeben. Damals schrieb er in der »Vorrede« zu seinen »Gesammelten Abhandlungen«: »Nachdem die aufreibende Hast von mir genommen, in welcher ich die zwölf letzten Jahre gelebt und gearbeitet, überkommt mich täglich neu das Gefühl, was ich auch in dieser jetzt hinter mir liegenden Zeit an Gutem gehabt und was ich nun erst recht habe. Schon damals das Wohlwollen vieler, die Freundschaft einiger bedeutender Männer, die zutrauliche Liebe meiner Schüler, denen ich nun nicht mehr vorzuwerfen brauche, daß sie hinter meinen Anforderungen zurückbleiben, jetzt das beispiellose Glück, eine Arbeit in aller Muße betreiben zu können, an welche ich schon als Seminarist [d. h. während seines ›Probejahres‹] im Winter 1843 ernstlich, aber damals fast verzweifelnd Hand gelegt – alles das tritt mir vor die Seele und läßt mich als so Gesegneten jedes harte Wort bedauern, das ich je und das ich auch noch in diesem, mitten in dem unruhigsten, aufregendsten Treiben geschriebenen Buche gesagt habe.«

Freilich diese friedfertige Stimmung gegen seine Fachgenossen hielt nicht vor, zumal diese meist auch weiterhin den einsamen Gelehrten ignorierten oder übelwollend behandelten. So entwickelte sich in ihm allmählich eine Neigung zu Bärbeißigkeit und Draufgängertum, auch ein – gelegentlich krankhaft sich steigernder – Hang zum Mißtrauen. Er klagt später einmal, er habe seit seiner Jugend immer gegen den Strom schwimmen müssen und, »statt Anerkennung für einen unverdrossenen, selbstlosen, unter den schwierigsten Lebenslagen nicht rastenden, mit bitteren Opfern bezahlten Fleiß zu finden, auf seinem Wege fast nichts als absichtliche Hinderung getroffen«. In grimmigem Unmut entfährt ihm einmal der Satz: »Mich schüttelt der Ekel vor meinen Gegnern, der Gram über die Unzulänglichkeit unseres geistigen Lebens so, daß ich die Feder nicht niederlege, sondern wegwerfe.« Wehmütig endlich klingt das resignierte Bekenntnis: »Das Leben dingt von der Ausführung unserer Pläne sein redlich Teil ab. Man hat ein Haus bauen wollen und muß sich schließlich bescheiden, ein paar Steine in das Fundament gerückt zu haben.«

Endlich sollte Lagarde auch eine Universitätsprofessur zuteil werden. In Göttingen hatte der alte Professor der orientalischen Sprache und der Bibelforschung, Heinrich Ewald, in Treue gegen die bis dahin in Hannover regierenden Welfen, nach der Annexion im Jahre 1866 dem König von Preußen den Huldigungseid verweigert. Man hatte ihn daraufhin – freilich mit vollem Gehalt – aus dem Staatsdienst entlassen. Als er aber literarisch seinen Standpunkt weiter vertrat, entzog man ihm im Oktober 1868 das Recht, Vorlesungen zu halten. Diese Professur wurde im März 1869 Lagarde übertragen.

Die Universität zu Göttingen, 1733 als »moderne« Universität begründet, war im 18. Jahrhundert »Universität für Europa«, wenn man will, für noch mehr als Europa gewesen. Hier hatte die neu aufblühende deutsche Dichtung wie der junge »Neuhumanismus« eine Stätte gefunden – man denke an den »Hainbund«. Auch die durch die welfische Dynastie bedingte nähere Verbindung mit England wirkte dahin, daß in Göttingen ein freierer Geist herrschte. Der berüchtigte Verfassungsbruch des Königs Ernst August im Jahre 1837 und die Vertreibung der »Göttinger Sieben«, d. h. jener Professoren, die der Verfassung die Treue hielten, hatte freilich der Hochschule einen Schlag versetzt, von dem sie sich nie wieder völlig erholte.

Für Lagarde bot in Göttingen vor allem die großartige Bibliothek viel, sodann sein Verhältnis zu der dortigen »Gesellschaft der Wissenschaften«. Aber so recht heimisch hat er sich dort doch nicht gefühlt. Einige briefliche Äußerungen mögen als Zeugnis dafür angeführt werden: »In Göttingen ist der Artikel Mensch sehr selten, ein Umgang außer mit ein paar Privatdozenten unmöglich.« »Über die Studenten könnte ich ein langes Klagelied singen.« »Der Himmel ist grau wie mein Herz; alles hier fade und giftig.« »Es ist entsetzlich hier und wird es so lange bleiben, bis eine Kolonie netter Fremdlinge sich angesiedelt hat, und vor allem bis kräftige politische Zugluft die welfischen Miasmen verjagt hat.« »Ich habe nirgends, auch im Vaterlande nicht, eine Heimat. Denn während Sie mit Auge und Herz den neuen Dingen zugewandt sind« – geschrieben ist der Brief im August 1872 –, »lebe ich mit jedem Atemzug in einer Vergangenheit, die nie war, und welche die einzige Zukunft ist, die ich ersehne. Ich bin allerorten fremd.«

Daß Lagarde auch in Göttingen ein Einsamer blieb, erklärt sich teilweise aus materiellen Momenten; er, dessen Einkünfte auch jetzt noch mäßige blieben und der für wissenschaftliche Reisen, Bücheranschaffungen und Drucklegung eigener Bücher viel brauchte, hielt sich dem geselligen Verkehr in den berühmten »Hofratskreisen« mit seinen üppigen Gastereien fern. Noch mehr kam in Betracht, daß das herbe Lebensschicksal Lagardes dahin gewirkt hatte, die wahren Grundzüge seines Wesens: Gerechtigkeit, Lauterkeit, Menschenliebe, gütige Hilfsbereitschaft, in den Hintergrund zu drängen; daß ihn vielfach eine Außenhülle von Mißtrauen und Unmut umgab, die oft auch Gutmeinende von ihm fernhielt. So erklärt es sich auch, daß man ihn nie zum Rektor wählte.

Sein Wunsch, das Alte Testament als Gebiet seines Lehrauftrags zu erhalten, blieb unerfüllt – obwohl eine kritische Ausgabe der »Septuaginta«, d. h. der ältesten, schon vor Christi Geburt angefertigten griechischen Übersetzung des Alten Testaments, stets das Hauptziel seiner Arbeit bildete –: so mußte er sich im wesentlichen auf das Hebräische, Syrische und Arabische beschränken. Damit war es schon gegeben, daß der Kreis seiner Schüler nur klein sein konnte. Solche, die bei ihren Studien nur an den Nutzen für Prüfung und künftige Stellung dachten, waren ihm dabei nur eine Last; denen dagegen, die von wirklich wissenschaftlichem Streben beseelt waren, brachte er jedes Opfer, ihnen gegenüber schloß er sich auch auf, für sie war er nicht nur der strenge Fachgelehrte, sondern auch der geistvolle Schöpfer der »Deutschen Schriften«. Eine Reihe hervorragender Orientalisten und Theologen sind aus seiner Schule im Laufe der Jahre hervorgegangen; sie haben stets in Liebe und Dankbarkeit seiner gedacht.

Im Dezember 1872 wurde Lagarde zum Mitglied der hochangesehenen Göttinger »Gesellschaft der Wissenschaften« gewählt. Er beteiligte sich an ihren Beratungen regelmäßig und eifrig. Fast in jeder Sitzung hatte er etwas vorzutragen, und zwar durchaus nicht immer aus seinem eigentlichen Fachgebiet. Hier zeigte sich der Reichtum und die Lebendigkeit seines Geistes am glänzendsten. Eine ganze Fülle von Abhandlungen und kleineren Aufsätzen veröffentlichte er in den folgenden Jahren in den »Abhandlungen« und »Nachrichten« der Gesellschaft und in den »Göttinger Gelehrten Anzeigen«.

Der Krieg von 1870/71 hatte ihn natürlich aufs tiefste aufgewühlt; der darin sich offenbarende Heldensinn hatte ihn begeistert und ihn mit der Hoffnung erfüllt, daß der äußeren Neugestaltung Deutschlands eine innere Erneuerung folgen werde. Die tatsächliche Entwicklung deutschen Lebens aber bereitete ihm (wie z. B. auch Nietzsche) die schwerste Enttäuschung und trieb ihn an, in politischen, religiös-theologischen und pädagogischen Schriften als Mahner und Warner seines Volkes aufzutreten. Daraus ist 1886 die Gesamtausgabe der » Deutschen Schriften« erwachsen, der – nachdem sie vergriffen war – 1891 eine Volksausgabe folgte.

In den Ferien ist Lagarde gern und oft gereist, teils zu Studienzwecken, teils zu seiner Erholung. Unter seinen Reisebekanntschaften war die wertvollste die mit dem »Reformkatholiken« Franz Xaver Kraus, der in wesentlichen Zügen ein katholisches Gegenbild von ihm darstellte Er lebte von 1840-1901 und wirkte als Professor der Kirchengeschichte in Straßburg und Freiburg. Erwähnt seien hier seine Essays, 2 Bde., 1896/1901. Biographien von ihm verfaßten Braig 1902, Sauviller 1904, Schrörs (in der Badischen Biographie Bd. V) 1904.. Er schrieb über Lagarde: »Er selbst nannte sich mir gegenüber oft einen Erzketzer, und doch war dieser Ketzer sicher eine der gottesfürchtigsten Naturen, denen ich auf dieser Erde begegnet bin. Der Widerschein ewigen Lichtes lag in der Tat auf der Stirn dieses Fremdlings in dieser Welt. Mit ihm trat er einst, im August 1872, in mein bescheidenes Zimmer in Davos: drei Wochen haben wir dann, an dem stillen Davoser See lustwandelnd, uns von Gott und der Welt, von Religion und Politik, von Bibel und Kirchengeschichte unterhalten. Ich bewunderte an ihm die unglaubliche Gelehrsamkeit, aber auch den Mangel an jener ›Weltklugheit, die erst abwägt, wie weit zu gehen, an jener Einsicht, daß nicht überall ohne weiteres das Herz auf der Zunge zu tragen sei, und die ihm gänzlich fehlte‹. Die Worte sind nicht von mir, sondern von der treuen Witwe geschrieben. Ich darf sie also wiederholen, ohne den Respekt zu verletzen, aber ich erlaube mir hinzuzufügen, wie unendlich glücklich ich war, einer so weltflüchtigen und weltunklugen Gelehrtenseele zu begegnen.«

Von seiner letzten Reise – im Herbst 1891 nach Rom – kam er als ein Veränderter zurück. Er magerte zusehends ab; litt in steigendem Maße an Müdigkeit und Appetitlosigkeit. Ende November erkannte man sein Leiden als Darmkrebs. Eine Operation, die scheinbar erfolgreich verlief, überlebte er nur wenige Tage. Am 22. Dezember 1891 ist er gestorben.

Seine Grabrede hielt der berühmte Vertreter der Altertumswissenschaft Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. Er rühmte am Leben Lagardes vor allem »das stille Heldentum der Arbeit, das schwerer ist, als mit lautem Hurra gegen die feindliche Schanze zu stürmen«; auch dessen gedachte er, daß in diesem Leben »der Same leitender Gedanken und Gefühle ausgestreut worden, der in tausend Herzen aufgegangen sei«.

 

Ein urwüchsiger, markiger Mensch – dieser Paul de Lagarde! Wie eine knorrige deutsche Eiche steht er vor uns!

Aber diese ausgeprägte Eigenart und kraftvolle Geschlossenheit darf uns nicht den Blick verschließen für den ungewöhnlichen inneren Reichtum, ja die Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit seines persönlichen Wesens. Sein Kern ist tiefe Religiosität, aber diese verbindet sich in ihm mit dem freiesten Denken; er ist der gewissenhafteste, kenntnisreichste Gelehrte, dabei aber schöpferischer Künstler und ahnungsvoller Prophet. Dieser Herrennatur von hohem Selbstgefühl und echtem Stolz bleiben doch auch Anwandlungen von Minderwertigkeitsgefühl und Eitelkeit nicht fremd. Er zeigt in persönlichem Verkehr oft Zartheit, Güte, liebevolle Sorge, dabei ist er aber eine ausgeprägte Kämpfernatur, der alle Duldsamkeit als Halbheit verhaßt ist. Psychologisch erklärt sich das daraus, daß das Gefühls- und Triebmäßige in ihm, der eine Mischung melancholischen und cholerischen Temperaments besaß, überwog. So haftet ihm etwas Impulsiv-Unbeherrschtes an; er bleibt reizbar, empfindlich, mit schärferem Blick für das Schlechte und Minderwertige als für das Positive. Seine Bewertungen von Persönlichkeiten sind vielfach außerordentlich subjektiv. Ausgeprägte Antipathie hat er gegen Luther; Schiller und Humboldt lehnt er entschieden ab (sie sind ihm wohl zu kosmopolitisch), aber auch Hegel und Richard Wagner schätzt er nicht. Auch seine Schriften tragen so oft das Gepräge des Rhapsodischen und Unfertigen.

Die Hauptquelle seines schriftstellerischen Schaffens strömte aus dem, was auch die tiefste Schicht seines Wesens bildete, aus dem Religiösen. Daraus ergab sich einerseits die gelehrte Beschäftigung mit dem Theologischen und der daran grenzenden orientalischen Philologie, anderseits das reformatorische Streben nach Reinigung, Wahrung und Emporbildung deutschen Wesens. Sein Dienst am deutschen Wesen war ihm Gottesdienst, und er gab sich ihm hin mit der ganzen Wucht, dem ganzen Grimm seiner Kämpfernatur.

Gar kein inneres Verhältnis hatte er zur Philosophie. Das Theoretisch-Beschauliche, das Ruhig-Abgeklärte lag seiner aktivistischen Natur durchaus nicht; sowenig wie ein liebevolles Sichversenken in andersartige, ja ihm wesensfremde Personen und Richtungen. Die theoretische Betätigung beschränkte sich bei ihm auf das Fachliche, und selbst als Fachgelehrter ist er gern Kämpfer gewesen, so daß er sich immer wieder in oft unerquickliche Fehden mit anderen Gelehrten verwickelte. In lichteren Höhen konnte sich die Kraft und Aktivität seines Wesens auswirken in dem Ringen um das Deutschtum der Zukunft, dem die glühende Sehnsucht seiner religiösen Seele galt.

Für seine politischen Anschauungen ist die innige Verschmelzung religiösen und vaterländischen Gefühls von grundlegender Bedeutung. Seine echt deutsche Schätzung individuell-ausgeprägten, persönlichen Lebens führt ihn zu einer Geringschätzung des Staates, dessen unpersönlich-schematischer Art er nur den Rang eines Notbehelfs, einer dienenden Maschine zuerkennt. So ist er im tiefsten Grunde und edelsten Sinne selbst »liberal«, obwohl er oft und scharf gegen die sich »Liberale« nennenden Parteimänner ankämpft. Von der Demokratie fürchtet er die Gefährdung individueller Freiheit, und Hegels Hochwertung des Staates als des »präsenten Gottes auf Erden« vermag er durchaus nicht zu teilen. Seiner Herrennatur ist Monarchie, Adel, Aristokratie sympathisch, alles dagegen, was nach Liberalismus, Demokratismus und Parlamentarismus aussieht, widerwärtig; das allgemeine Stimmrecht, so meint er, öffnet der Unsittlichkeit und den anspruchsvollen Instinkten der »Masse« Tür und Tor. »Konservativ« ist er, sofern ihn die Sorge beherrscht, daß nichts Wertvolles, das in der deutschen Geschichte ins Dasein getreten, verlorengehe, nicht dagegen ist er »konservativ« im Parteisinne, wie er überhaupt stets hoch über dem Parteigetriebe stand. Jegliche »Frauenemanzipation« weist er ab; für die wachsende Bedeutung der sozialen Frage und des Proletariats hat er wenig Verständnis; voll Abneigung, ja Haß steht er dem Judentum gegenüber. Er, der unermüdliche Erforscher des alttestamentlichen Judentumes, wußte um den unversöhnlichen Gegensatz zwischen jüdischer und deutscher Art, semitischer und germanischer Seele. In der von Juden beherrschten Presse sah er einen Apparat zugunsten der Judenherrschaft in Deutschland und in der wirtschaftlichen Betätigung der Juden ein für unser Volk gefährliches Schmarotzertum. Ebenso war er sich klar über den überstaatlichen Machtanspruch des Judentums, wenn er etwa urteilt: »Die Alliance Israélite ist nichts als eine dem Freimaurertum ähnliche internationale Verschwörung zum Besten der jüdischen Weltherrschaft, auf semitischem Gebiete dasselbe, was der Jesuitenorden auf katholischem ist.« Doch in erster Linie auf eine geistig-sittliche Auseinandersetzung bedacht und rassischbiologischen Erörterungen weniger zugänglich, mochte er noch an die Möglichkeit glauben, daß die Juden »von ihrem Judentum geheilt« und zu deutschem Denken und Empfinden erzogen werden könnten, wenn er auch weiß, daß eine grundsätzliche Trennung vorzuziehen ist, und selbst gelegentlich eine Verpflanzung der Juden aus Europa nach Palästina für wünschenswert hält.

In der Außenpolitik ist Lagarde ein glühender Vorkämpfer der Idee Großdeutschland: Darum ist er auch ein Gegner Bismarcks Seine Gegnerschaft gegen Bismarck hat auch noch andere Gründe. Er findet bei ihm zu wenig Ethos, zu wenig Fühlung mit dem Volksgemüt; seine Politik ist ihm zu machiavellistisch; er begünstigt die sittliche Korruption der Reptilienpresse, er hat dem Parteiliberalismus und der jüdischen Geldwirtschaft zu viel Zugeständnisse gemacht, er führt den Kampf gegen die Sozialdemokratie und die katholische Kirche wesentlich mit Gewaltmitteln.. In dem von ihm geschaffenen »kleindeutschen« Reich sieht er im besten Fall nur eine Vorstufe zu dem Mitteleuropa, ja noch mehr umfassenden größeren Deutschland der Zukunft. Vor allem muß Österreich rücksichtslos germanisiert werden. Das soll durch planmäßige innere Kolonisation geschehen, die zugleich die Bedeutung hat, gegenüber der verhängnisvollen industriellen Entwicklung das deutsche Bauerntum mächtig zu stärken. Planmäßig – auch unter strategischen Gesichtspunkten – soll die deutsche Auswanderung von Amerika (wo nur die Deutschen verlorengehen) abgebogen und nach Istrien, nach slowakischen und madjarischen Teilen Ungarns, nach Böhmen und Galizien, nach den polnischen Strichen Schlesiens und nach Posen gerichtet werden. Bei diesem Plan, den er schon im November 1853 darlegte, setzt er ohne weiteres voraus, daß der deutsche Mensch der bessere Mensch sei und darum berechtigt, über jene anderen Stämme zu herrschen. Diesen Gedanken eines durch gewaltige Kolonisation nach Südosten hin zu schaffenden Großdeutschland hat Lagarde stets festgehalten. »Nur die Germanisierung der im Osten an uns angrenzenden Länder« – schreibt er 1881 – »ist eine Tat der Nation, die jetzt tatenlos dahinlebt und sich mit Rauchen und Lesen über ihre Nichtigkeit tröstet.« Einige Jahre später äußert er: »Möge Rußland die Gewogenheit haben, freiwillig einige fünfzig Meilen nach Mittelasien hinüberzurücken, wo Platz die Hülle und Fülle ist. Möge es uns so viel Küste am Schwarzen Meere geben, daß wir von da aus unsere Bettler und Bauern in Kleinasien ansiedeln können. Wir brauchen Land vor unserer Türe, im Bereich des Groschenportos. Will Rußland nicht, so zwingt es uns zu einem Enteignungsverfahren, das heißt zum Kriege ... Diese Politik ist etwas assyrisch, aber es gibt keine andere mehr als sie. Die Deutschen sind ein friedfertiges Volk, aber sie sind überzeugt von dem Rechte, selbst, und zwar als Deutsche, zu leben, und überzeugt davon, daß sie für alle Nationen der Erde eine Mission haben« (a. a. O. S. 248).

Ähnlich weit gespannt wie die außenpolitischen Pläne Lagardes ist seine Idee einer deutschen Religion der Zukunft und einer die verschiedenen Konfessionen umspannenden großdeutschen Nationalkirche.

Noch fruchtbarer, weil wirklichkeitsnäher, sind seine pädagogischen Reformgedanken.

Jedenfalls ist – trotz so vielem, was Bedenken erregen und Kritik herausfordern muß – in seiner Person und seinem Schrifttum in reichster Fülle solches geboten, was uns helfen und stärken kann bei der Arbeit an der gemeinsamen großen Aufgabe, auf die Nietzsches Wort hindeutet: »Das deutsche Wesen ist noch gar nicht da, es muß erst werden.«

Lagarde gehört eben, wie Nietzsche und wie der »Rembrandt-Deutsche« Julius Langbehn (1851-1907), zu den zukunftsweisenden charaktervollen Persönlichkeiten, deren tiefste Sehnsucht das 1871 geschaffene Deutsche Kaiserreich nicht erfüllt hatte. Was nach der herrschenden Meinung als eine Periode des Glanzes, der Blüte, des stürmischen Fortschritts galt, das durchschauten und entlarvten diese Einsamen, diese echten »Führer« als eine Zeit geistig-seelischer Verarmung und religiös-sittlichen Verfalls.

So ist Lagarde von tiefem Widerstreben gepackt gegen den alles auflösenden und gleichmachenden Geist eines falsch verstandenen Liberalismus und Demokratismus. Er leidet seelisch darunter, daß es überall an großen, charaktervollen Persönlichkeiten und an echtem, deutscher Art entsprechendem, aus dem Innersten quellenden Kulturleben gebricht.

Die Religion ist vielfach veräußerlicht und durch das Hineinzerren in politische Händel getrübt und vergewaltigt. Die Zugehörigkeit zur Kirche gilt mehr als standesgemäßes Erfordernis bürgerlicher Wohlanständigkeit, als daß sie aus wahrer Herzensfrömmigkeit sich zwingend ergäbe.

In Kunst und Kunstgewerbe fehlt es an wirklich deutschem schöpferischem Leben; man probiert in Stilen aller möglichen Zeiten und Völker herum, aber nichts wirklich Großes, die Volksseele Ergreifendes kommt zustande.

Die Sittlichkeit ist mehr Sache des guten Tons und des glatten Fortkommens und Karrieremachens als Erfordernis innerster Gewissenhaftigkeit.

Die Wissenschaft verfällt immer einseitiger einem engen und lebensfernen Spezialistentum; die Philosophie wird ersetzt durch Popularisierung naturwissenschaftlicher Ergebnisse und schnell fertige Machwerke von dilettantischen Philosophastern.

Die Bildung ist vorwiegend rückwärts gewendet; sie erzieht vielfach »Brillenträger« – im äußerlichen und innerlichen Sinne.

Je mehr es einem Volke politisch und wirtschaftlich »gut« geht, um so mehr ist seine Seele bedroht dadurch, daß allenthalben selbstzufriedene Durchschnittsmenschen obenauf kommen, den Ton angeben und die Maßstäbe der Bewertung bestimmen.

Die Vielzuwenigen, die – wie ein Lagarde – da nicht mittun und sich unmutig auf sich zurückziehen, gelten da als Querköpfe, als Nörgler, als Verneinende.

Und doch schwoll in ihm nicht nur heran ein grimmiger Abscheu gegen all den Mißwachs, der sich als Kulturblüte gab, gegen all die Verbildeten, die stolz waren auf »Bildung und Besitz«, nein, es glühte in ihm auch eine positive Sehnsucht nach tieferem, edlerem, echterem Menschentum und Deutschtum. Und nicht nur das: er schaute in prophetischem Geiste den deutschen Menschen der Zukunft und das kommende Reich, und er fühlte und betätigte sich schon selbst als dessen Bürger ...

In der deutschen » Jugendbewegung«, die wenig Jahre nach Lagardes Tode einsetzte, lebte – noch dumpf gärend und verworren, aber allmählich sich klärend und formend – viel von derselben Sehnsucht und Zukunftsahnung.

Und was hier vorerst in kleinen Gruppen sich regte, das erstarkte und breitete sich aus und wurde zum mächtigen Aufbruch durch die Nöte, Heimsuchungen und Katastrophen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Immer mehr läuterte sich heraus aus einem von Verneinung, Haß und Zerstörungssucht getrübten inneren Chaos ein positiver Aufbauwille, beseelt von zuversichtlichem Glauben an bessere deutsche Zukunft. Diese Jungmannschaft aber, die sich da in Bewegung setzt, braucht in ihrer inneren Bereitschaft, zu folgen, sich hinzugeben, sich zu opfern: echte Führer.

Ein solcher echter Führer, dem besten Selbst unserer bewegten deutschen Jugend wesensverwandt, artverwandt, ist Paul de Lagarde.

Keine größere und ungerechtere Unbill könnte ihm widerfahren, als wenn er parteimäßig abgestempelt würde, wenn bestimmte Richtungen ihn für sich allein beanspruchen wollten, andere ihn als Gegner meinten bekämpfen oder totschweigen zu müssen. Jeder, der nur ein wenig von Lagardes Geist verspürt hat, weiß, daß er sich zu ihm bekennen darf, ohne auf alle seine Gedanken, Werturteile und Zukunftspläne schwören zu müssen. Er weiß zugleich, wie tief er – genau wie unsere beste Jugend – hinausstrebte über allen Klassen- und Parteienhaß. »Alles Parteiwesen ist giftig«, so urteilt er einmal, »weil es die Fähigkeit, wahr und gewissenhaft zu sein, ertötet.«

Im Angesicht der Führergestalt Lagardes soll also der Parteihader schweigen; aus allen deutschen Gauen, Lagern und Bünden soll seine Gefolgschaft kommen:

»das ganze Deutschland soll es sein!«


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