Friedo Lampe
Von Tür zu Tür
Friedo Lampe

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Die Alexanderschlacht

»Guck dir das Mädchen da mal an«, sagte der Onkel, »sieht sie nicht entzückend aus?« Albrecht sagte brummig: »Och, find' ich nicht, sie hat doch 'ne Stupsnase.« – »Ein reizendes Kind«, sagte der Onkel, »der alte Herr, der neben ihr geht, ist ihr Vater, Bankdirektor Kölsen, eine glänzende Partie also, Junge, da solltest du dich ranmachen . . . komm, ich will sie doch gleich mal begrüßen.« – »Laß doch, Onkel Otto«, rief Albrecht. Aber schon stand Onkel Otto vor Bankdirektor Kölsen, verbeugte sich mit einem zierlichen Kratzfuß und schwang prostend sein Brunnenglas: »Ist das nicht ein erquickender Morgentrunk?« – »Pfui Deibel, das faulige Moorwasser – wenn man nicht wüßte, daß es einem gut täte . . .«, sagte Bankdirektor Kölsen. »Mein Neffe Albrecht«; sagte der Onkel, »Student, ist von Marburg herübergekommen, um mich zu besuchen, ein hochgelehrtes Haus, kann ich Ihnen sagen, weiß besser bei den alten Griechen Bescheid als bei uns – steht auf du und du mit Alexander dem Großen, ja, ja, wahrhaftig.« – »Nun laß doch, Onkel Otto«, sagte Albrecht. Schnell hatte Onkel Otto Bankdirektor Kölsen in ein Gespräch verwickelt, die beiden Herren gingen voraus, und Albrecht folgte mit dem Mädchen. Sie trieben mit im Strom der Promenierenden. Die Kurkapelle in 112 dem kleinen, offenen, hellen Pavillon spielte ein Potpourri aus der Fledermaus. »Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie«, sang Fräulein Kölsen leise, und dann nippte sie zwischendurch an ihrem Brunnenglas. »Sie trinken auch Brunnen?« fragte sie. »Ach, nur meinem Onkel zuliebe, er wollte es ja absolut.« Fräulein Kölsen wiegte sich im Walzertakt: »Tanzen Sie auch gern?« – »Nein«, sagte Albrecht. Nachmittags saß Albrecht mit dem Onkel, Bankdirektor Kölsen und seiner Tochter auf der Kurhausterrasse unter der rotweißgestreiften Markise beim Kaffee. Die Kurkapelle spielte Verdi, und die Leute lustwandelten auf den weißen Sandwegen, auf den Beeten leuchteten die Geranien in der warmen Sonne, die Kinder fütterten die Karpfen und Schwäne im Teich. »Holde Aida« summte Fräulein Kölsen. »Kinder, ich rate euch, eßt die Nußtorte«, sagte Onkel Otto, »die ist exzellent«, und Fräulein Kölsen sagte zu Albrecht: »Ihr Onkel hat mir erzählt, Sie sitzen an Ihrer Doktorarbeit, mein Gott, das muß schwer sein. Worüber schreiben Sie denn?« – »Och«, sagte Albrecht, »das interessiert Sie doch nicht.« – »Denken Sie sich, über Alexander den Großen«, sagte der Onkel, »über die strategische Bedeutung der Schlachten Alexanders des Großen. Läuft Ihnen da nicht ein Schauer über den Rücken? Brrr – Und dabei hätte der Junge so schön in meine Tabakfirma eintreten können.« – »Alexander der Große«, 113 sagte Fräulein Kölsen, »wie sind Sie nur darauf gekommen?« – »Hatte der nicht so'n Pferd?« sagte Bankdirektor Kölsen. »Bukephalos«, sagte Albrecht leise. Und dann rief der Onkel: »Himmel, fast hätt' ich's ja vergessen, ich habe die Karten für uns bekommen, Logenplätze, heute abend gehen wir ins Kurtheater: Baron und Bauer.« – »O fein«, rief Fräulein Kölsen. »Ich kann aber nicht«, sagte Albrecht, »ich muß arbeiten.« – »Das gibt es ja gar nicht«, rief der Onkel, »du gehst mit, Junge, sei doch mal vergnügt, genieß doch mal dein Leben.«

Albrecht war verzweifelt, er lief in die Pension Quisisana und schrieb einen Brief an seinen Freund Sebald nach, Göttingen: »Du mußt kommen, bitte, pack deinen Rucksack und komm so schnell wie möglich. Der Onkel geht mir mit seinem Humor auf die Nerven, wäre ich doch nie seiner Einladung gefolgt. Weil ich sein Erbe bin, glaubt er, alles von mir verlangen zu können, ich pfeife aber auf sein Geld. Keinen Augenblick läßt er mich von seiner Seite, ich muß mit ihm Brunnen trinken, im Kurpark promenieren, in der Sonne auf der Bank sitzen, und essen, essen, essen. Und dann dies Sichbegrüßen, Nicken, Sichverbeugen, Freundlichtun, fade Gespräche führen: ›Wie ist Ihnen heute Ihr Solbad bekommen?‹ Ich halte das nicht mehr aus. Und was steckt hinter all diesem Nichtstun und Ferienmachen? Die pure Langeweile. Jetzt will mich 114 mein Onkel noch zu allem mit einem reichen Mädchen verkuppeln, einer dummen Gans mit einer Stupsnase, heute abend muß ich mit ihr ins Kurtheater. Sebald, unterbrich deine Altdorfer-Arbeit, komm, wir wollen eine große Wanderung machen ins Gebirge – nur weg. An meinem Alexander hab' ich auch nicht eine Zeile schreiben können. Augenblicklich bin ich bei der Schlacht von Issos. Ich glaube, ich habe da einige entscheidende Entdeckungen gemacht.«

»Unser Kurtheater ist doch ein kleines Schmuckkästchen«, sagte am Abend der Onkel, und seine munteren Augen glitten genießerisch über all den roten Plüsch, die goldenen Stuckornamente und Leisten, die duftende Damenwelt im Parkett. Sie saßen in einer Loge dicht neben der Bühne, gerade überm Orchester, die Musiker stimmten schon die Instrumente, und der bunte Vorhang, auf dem Venus zu sehen war, wie sie, schwelgerisch in einen Muschelwagen zurückgelehnt, von Delphinen gezogen übers blaue Meer fuhr, schwankte leicht im Luftzug. »Mögen Sie eine Praline?« fragte Fräulein Kölsen. »Danke«, sagte Albrecht. »Das versteh' ich nicht«, sagte Fräulein Kölsen, »es gibt doch nichts Gemütlicheres als im Theater zu sitzen und eine Praline zu lutschen!« Und dann wurde es dunkel, und die Musik spielte einen lustigen Ländler, und dann hob sich der Venusmuschelwagen-Vorhang, und Baron und Bauer, eine alte Posse mit Gesang 115 und Tanz, begann. Das Stück spielte in dem beliebten Älpler-Milieu mit Krachledernen, Mieder, Gamsbarthüten, Jodlern, Alphorn und Sennhütte, und die Handlung war von der einfachsten Art: ein intriganter, verführerischer Baron, der die Großstadt satt haben mochte, wußte das Herz einer schlichten Sennerin zu betören und ihrem braven Xaverl abspenstig zu machen. Das gab allerlei Verwicklungen und Hin und Her, bis schließlich die Freundin des Barons aus der Stadt kam und ihm ordentlich den Kopf wusch und der Xaverl ihn obendrein in einer Rauferei zurechtstauchte. »Ob Xaverl sein Gretl wiederbekommt, was meinen Sie?« fragte Fräulein Kölsen im zweiten Akt. »Wenn Sie das nicht mal merken«, sagte Albrecht, »man weiß doch vom ersten Augenblick an, wie die Sache läuft« Und dann hörten die Gretl und der Baron plötzlich auf zu sprechen und sahen sich bedeutungsvoll an und faßten sich an die Herzen und traten an die Rampe und sangen ein schmelzendes Couplet. Die Musik hatte so eine einlullende, einwiegende Wirkung, und Albrecht gab sich ganz seinen Träumereien hin, hörte überhaupt nicht mehr auf das, was sie da auf der Bühne sangen und sagten, der zweite Akt verging, und der dritte begann, und Albrecht war ganz in sich versunken, Menschen und Lichter verschwammen ihm zu einem goldenen Dunst, und er dachte an die Schlacht von Issos. Ja, die Bedeutung der 116 Phalanx muß ich richtig herausarbeiten, wie muß der Boden gedröhnt haben unter ihrem schweren Eisentritt. Und er voran, rauschend, durch den Pinaros, tief kann der Fluß nicht gewesen sein, na, vielleicht bis zum Bauch des Bukephalos das Wasser . . . Und dann wurde ihm der Kopf allmählich schwerer und schwerer und sank ihm auf die Brust.

»Abbi, Abbi«, hörte er da ein flüsterndes Rufen. Das war doch Sebalds Stimme? Er hob den Kopf. Er saß allein in der Loge, leer und dunkel der Zuschauerraum, leer das Orchester, der Vorhang war noch hoch, und die waldige Gebirgslandschaft mit der Sennhütte zwischen den Tannenstämmen lag verlassen da. Kein Schauspieler war zu sehen, kein Licht brannte, nur von oben her fiel geisterhafter Schein wie vom Mond auf das Dach der Hütte und die dicken Stämme. »Abbi, Abbi«, rief es da wieder, und da stieg ja eine Gestalt den Abhang hinunter und lief vor an die Rampe, es war Sebald in einem schwarzen Wanderkleid, und er winkte: »Abbi, nun komm doch schnell, ehe sie dich hier entdecken, dein Onkel und Kölsens sind doch in der Sennhütte, um Milch zu trinken, gleich kommen sie wieder heraus, und wir müssen uns ja auch so beeilen, wenn wir nicht zu spät kommen wollen, schnell, schnell.« – »Ich hab' doch gar keine Rüstung«, sagte Albrecht, »wo ist denn meine Rüstung hin?« – »Das findet sich alles, komm doch.« 117 Da stieg Albrecht über die Logenbrüstung und sprang über das Orchester auf die Bühne, dabei berührte sein Fuß leicht die große Harfe, die dort unten einsam stand, und sie gab einen silbrig klirrenden Ton. »Verdammt«, rief Sebald, »nun wird's aber höchste Eisenbahn, daß wir verduften.« Sie stiegen hastig zwischen den Tannenstämmen den steilen Abhang hinan, sich an Wurzeln und Zweigen klammernd, die metallisch im Mondschein aufglänzten. »Morgens bei Sonnenaufgang soll es losgehen«, sagte Sebald, »heute abend ist er unter seine Offiziere getreten und hat eine fabelhafte Ansprache gehalten. Warum warst du denn nicht dabei?« – »Ich mußte doch ins Theater«, sagte Albrecht, »was hat er denn gesagt?« – »Soldaten, hat er gesagt, wißt ihr, worum es in diesem Kampfe geht? Eine alte verfallene Welt steht gegen eine junge, freie Männer gegen ein Sklavenheer, die besten Krieger Europas gegen die Weichlinge Asiens, die längst der Waffen entwöhnt sind. Der Sieg ist unser und der Preis das Perserreich. Ich kann dir sagen, das war ein Jubel, Trompetengeschmetter und Schildgeklirr.« – »Ist er ein Mensch«, sagte Albrecht, »aber er wird es schaffen, ich weiß es ja.« Sie sprangen über große Steinblöcke, zwischen denen ein Gebirgsbach niederrauschte, und kamen zu einer Ruine, es war eine alte Burg, nur noch wenige Mauern und Türme standen, und durch die leeren Fenster schien der runde, 118 blanke Mond. »Laß uns einen Augenblick verpusten«, sagte Albrecht. Sie setzten sich auf eine bröcklige Mauerkante und sahen hinunter ins Tal. Da lag der Kurort im hellen Mondenschein. Die Dächer und Kanten des Kurhauses, des Kurtheaters, der Villen und Hotels glänzten scharf, und aus dem feuchten, alten Kurpark stieg ein weicher, milchiger Dunst. Da lag der Onkel nun in seinem Bett und schlief. Und Bankdirektor Kölsen und Fräulein Kölsen, alle schliefen. »Versink im Nebel, du alte Welt«, sagte Albrecht. »Komm weiter, fort«, drängte Sebald. Und sie stiegen höher und höher, weglos durch dick verwucherte Tannenwälder, in fliegender Hast, stolpernd und rutschend, und der Mond verblaßte, und die Luft wurde fahl, und dann begann es grau zwischen den Stämmen zu dämmern, und dann erreichten sie endlich den Kamm des Gebirges, und die Bäume lichteten sich, Morgenrot brannte durch die Zweige, und sie traten aus dem Wald, und vor ihnen, zu ihren Füßen, breitete sich eine gewaltige Aussicht.

»O Gott, o Gott«, rief Albrecht. »Das ist ja Altdorfer«, rief Sebald, »das ist ja sein Bild.« Ein großer Meerbusen öffnete sich vor ihnen, eingeschlossen von den Bergen mit den dunklen Wäldern, und dort unten in der Ebene vorm Meer standen sich die beiden Heere gegenüber, das griechische und das persische, und der Fluß Pinaros floß trennend zwischen ihnen dahin. Das 119 war ein Gewimmel von Kriegern, von Reitern, Kriegswagen, Fußtruppen, dicht gedrängt, ein Funkeln von Waffen, Schmettern von Trompeten, Trommelgeknatter, Helmbüsche flatterten, grüne, rote, gelbe Fahnen und Wimpel und Wappen und Mäntel leuchteten und bauschten sich im frischen Morgenwind, spitz stachen die kleinen Zelte, eine unzählbare Menge, in den blauen Himmel, und auf fernen Bergen ragten weiße Schlösser mit schlanken Türmen auf kreidigen Felsspitzen, und dahinter hoben sich blaue Alpenketten mit Schneegipfeln, angeleuchtet von der Sonne, die aus dem Meer gestiegen war und blitzende Brände über seine zackigen Felsinseln, seine kreuzenden Flotten, über die beiden feindlichen Heere hinschoß. »Da ist Ilissos«, rief Albrecht, leise schluchzend vor Glück und verhaltenem Jubel, wie einer, der nach langer Abwesenheit die Heimatstadt wiedersieht. Ja, da lag sie, die Stadt, dicht am Meer, Türme, Tempel, Mauern aus weißem Marmor, rosig erschimmernd im Morgenlicht. »Und da ist Darius«, rief Sebald, »siehst du ihn im Kern seines Heeres auf dem goldenen Wagen mit dem roten Mantel und dem schwarzen Haar? Wie bleich sieht er aus!« – »Und da – da ist er!« rief Albrecht in höchster Begeisterung. Er hatte ihn erkannt, ganz vorne ritt er seinen Reitern voran auf den Pinaros zu, golden die Rüstung und das Haar frei im Winde wehend. Und dann hielt 120 Alexander an, und es wurde still in den beiden Heeren, einen Augenblick lang wurde es totenstill, und die Tausende schienen den Atem anzuhalten, es war ein Moment nervenzerreißender Spannung, und dann hob Alexander das Schwert: »Los«, und in Galopp ritt er in den Pinaros hinein, und die Reiter ihm nach, platschend, spritzend warfen sich die Pferde in den Fluß, rauschend durchbrausten sie das Wasser, waren schon am jenseitigen Ufer, und sie prallten mit den persischen Reitern zusammen, verknäulten sich mit ihnen in Kampfgetümmel und Wut. Brücken wurden in rasender Schnelle über den Fluß geworfen, und die leichten Fußtruppen marschierten hinüber; schwer dahinschreitend in langsamem, gleichmäßigem, unerbittlichem Schritt folgten ihnen in breiter Front die Phalangen, eine eiserne Mauer, in Stahl vom Kopf bis zur Sohle, und die Lanzenspitze hatte jeder Soldat auf die Schulter des Vordermannes gelegt. Aber ehe die Truppen in genügender Zahl über den Fluß gelangt waren, hatte Alexander sich schon in flammendem Keil mit seinen Reitern in das persische Heer hineingebrannt und kämpfte weit da vorne, und hinter ihm schloß sich das Perserheer wieder zusammen, und Alexander war von seinem Heere abgeschnitten, aber das schien er gar nicht zu merken im Kampfesrausch, denn immer näher kam er dem goldenen Wagen des Darius. Und das war sein Ziel.

121 »Sie trennen ihn ja von seinen Truppen«, rief Sebald, »das geht doch nicht.« – »Wir müssen hinunter, ihm helfen«, rief Albrecht, »komm doch, schnell hinunter, sonst ist alles verloren.« Und sie kletterten in fieberhafter Eile den Abhang hinunter, über Felsblöcke, durch Bäume und Büsche, schnell, schnell, liefen über steile Wiesenböschungen, und während sie dahinjagten, wuchsen ihnen Rüstungen an den Leib, der Helmbusch wehte über ihren Häuptern, und in der einen Hand hielten sie den Schild und in der anderen schwangen sie das kurze griechische Schwert. Als sie am Fuß des Berges ankamen, sahen sie, verdeckt hinter Felsen und Büschen, makedonische Soldaten auf der Lauer. »Auf, es ist Zeit«, rief Albrecht, er sah auf einmal, daß es ja seine Truppe war, »die Perser haben ihn umzingelt, wir müssen ihn heraushauen, wir müssen die Front von der Seite aufrollen, auf, marsch.« Die Soldaten sprangen auf, Albrechts Befehl pflanzte sich fort von Gruppe zu Gruppe, überall schossen die Soldaten aus dem Versteck, und Albrecht an der Spitze seiner Truppen und neben ihm Sebald rannten vor und warfen sich den Persern entgegen. Da knallten die Waffen aufeinander, prallten die Schilde krachend zusammen, das war ein Stechen, Ringen, Übereinanderstürzen, Wolken von Perserpfeilen flogen wie Insektenschwärme in ihre Reihen, Muskeln spannten sich zum Zerspringen, schwarze Perseraugen rollten 122 wütend, Sterbende schrien, Pferdeleiber bäumten sich und schlugen auf den Boden, schrill aufwiehernd, und dazwischen grelle Fanfaren und Flöten und Trommelgehämmer – und durch, durch, hin zu ihm, da ritt er ja, da kämpfte er ja, da stach er ja, da wirbelte er das Schwert und lachte, scharf geschnitten das wetterharte, braune Gesicht, und das goldene Haar flog im Wind, und die Rüstung gleißte im Sonnenlicht, und Bukephalos warf den Kopf kühn nach hinten, daß die gewaltige Mähne aufflatterte, seine kugligen Augen sprühten Feuer, und seine prallen Flanken zuckten. Da war Alexander ja ganz dicht an Darius herangekommen, und Albrecht sah den Perserkönig, er stand in seinem Wagen, vor ihm der Wagenlenker in bläulich schimmerndem Kettenpanzer und hinter ihm ein kleiner Bogenschütze, und Darius' Antlitz war bleich, aschfahl, ängstlich sahen seine großen, dunklen, weichen Augen aus dem runden, aufgeschwemmten Gesicht, um das die Haare und der Bart, ebenholzschwarz, in Zöpfen geflochten wie Schlangen hingen, und den großen purpurnen Samtmantel, der mit silbernen Sternen und Monden und Tieren bestickt war, hielten seine Hände wie zum Schutze auf der Brust zusammengerafft. Und da stand ihm Alexander gegenüber, war ganz nahe bei ihm, einen Augenblick lang sahen sich die beiden Könige in die Augen, aber Darius konnte diesen blitzenden, klaren, harten Blick wohl nicht 123 ertragen, und er schrie seinen Leuten einen Befehl zu, das Perserheer wendete sich, wollte sich zurückziehen, wollte fliehen, aber das ging nicht so schnell, der Wagen des Darius stand festgerannt, eingeklemmt, konnte nicht vor und zurück, und Darius schrie, schrie, und Alexander drang mit seinen Leuten auf ihn ein, die Perser warfen sich verzweifelt und todestrunken vor ihren König, und es begann ein letztes schauerliches Gemetzel, und Albrecht stürzte mit seinen Leuten vor, bis ganz nahe heran an den Wagen des Darius. Schon stand er vor ihm, schwang sich auf das Trittbrett, Darius hob entsetzt die Arme, die schwarzen Zopfschlangen umzüngelten wild sein Haupt, da hob der kleine Bogenschütze des Darius seinen Bogen und schoß – risch – einen kleinen, scharfen, stählernen Pfeil Albrecht zwischen Schulter und Hals. Albrecht brüllte auf, fiel zurück, Sebald, der hinter ihm stand, zog blitzschnell den Pfeil aus der Wunde, den Augenblick aber nützte Darius, der Wagenlenker riß die Pferde herum, die Bahn war frei, der Wagen stob davon, die Perser wandten sich in rasender, besinnungsloser Flucht . . .

»Sieg, Sieg«, hörte Albrecht von allen Seiten rufen, als er aus seiner Ohnmacht erwachte, »heil Alexander, heil Alexander, Sieg!« Und eine Trompete schallte mit einem scharfen, hellen, lang anhaltenden Ton über das Schlachtfeld hin. Albrecht lag auf der Erde, und Sebald hatte 124 seinen Kopf in seinem Schoß. »Er geht herum, Abbi, und spricht mit den Verwundeten und dankt ihnen, gleich kommt er zu dir, du sollst mal sehen«, sagte Sebald leise. »Nicht vorher sterben«, sagte Albrecht »bitte, nicht vorher sterben.« – »Nein, da ist er ja schon.« Albrecht sah, wie Alexander von seinem Pferd stieg und ihm entgegenschritt, groß waren seine klaren, blauen Augen auf ihn gerichtet, und um seinen harten, jungen, kühnen Mund schwebte ein zartes, kleines, leises Lächeln. Und dann beugte er sich rüber zu Albrecht, seine goldenen Haare hingen dicht über Albrechts Gesicht, und er drückte ihm fest die Hand: »Dank, Albrecht.« Da richtete sich Albrecht mit letzter Kraft ein wenig auf, und er rief, während Blut aus seinem Munde quoll, schluchzend, glücklich: »O Alexander, Alexander, Sieg!«

»Junge, bist du verrückt geworden, was schreist du denn so«, sagte der Onkel flüsternd und rüttelte Albrecht am Arm, »weißt du, das finde ich wirklich peinlich, mitten im Theater schläfst du ein, ich habe dich wohl leise schnarchen hören, und dann fängst du auch noch so an zu schreien. Nee, nee, mein Lieber, das geht zu weit. Du hast mir die ganze Laune verdorben. Gut, daß wenigstens die Musik und der Gesang dein Schreien ein bißchen übertönt hat.« – »Was ist denn los?« fragte Bankdirektor Kölsen, »finden Sie die Stimme der Gretl auch so schlecht? Das ist 125 vielleicht 'ne Schauspielerin, aber doch keine Sängerin.« – »Aber der Xaverl war doch nett«, flüsterte Fräulein Kölsen, »etwas dick ist er ja allerdings.« – »Na ja, Kurtheater«, sagte Bankdirektor Kölsen. Auf der Bühne sangen sie den Schlußgesang, alle waren da, Gretl, Xaverl, der Baron, seine Freundin aus der Stadt, der Chor der Älpler, und alle, die sich gestritten und verfeindet, hatten sich versöhnt und schaukelten sich, eingehakt, im Walzertakt. Und hinter ihnen stand in hellem Licht die Sennhütte und der Tannenwald. Der Venusmuschelwagen-Vorhang fiel, man klatschte und erhob sich.

»Wohin gehen wir nun?« sagte Bankdirektor Kölsen, als sie aus dem Kurtheater traten, der Mond stand überm Kurpark und spiegelte sich in seinen Teichen und stehenden Gewässern. »Schon alles arrangiert«, sagte der Onkel, »ich habe mir erlaubt, in der Goldenen Traube einen Tisch für uns zu reservieren und ein paar Flaschen guten alten Burgunder bereitzuhalten, es gibt Austern, Forellen, Rehbraten mit Pilzen und für die Damen Fürst-Pückler-Eis.« – »Au, schick, Sie sind goldig«, rief Fräulein Kölsen und hüpfte vor Freude, »Papa, was sagst du dazu?« – »Na«, sagte Bankdirektor Kölsen und strich sich, genießerisch seufzend, den Schnurrbart, »wenn's denn sein muß . . .« – »Und Sie alter Brummbär«, sagte Fräulein Kölsen und hakte sich in Albrechts Arm, »sind Sie nun zufrieden, gefällt Ihnen das 126 besser als Xaverl und Gretl? Ich glaube fast, Sie sind doch mehr für das Materielle, als Sie zugeben – was haben Sie für einen guten Onkel.« – »Entschuldigt«, sagte Albrecht und löste sich sanft aus Fräulein Kölsens Arm, »ich möchte nicht mit, ich kann jetzt nicht.« – »Das ist denn doch . . .«, rief der Onkel, »erst schläft er im Theater ein, und dann will er noch nicht mal mit. Warum kannst du denn nicht mit?« – »Ich möchte nicht mit«, sagte Albrecht. »Du gehst mit«, rief der Onkel, »das wäre ja noch schöner, immer eine Extrawurst.« – »Nein, ich möchte nicht«, sagte Albrecht, »entschuldigt mich, ich kann nicht, das ist doch nicht so schlimm, von mir haben Sie doch nichts – gute Nacht, Herr Kölsen, gute Nacht, Fräulein Kölsen, Onkel laß mich doch . . .« Albrecht zog den Hut und verschwand schnell im Kurparkdunkel. Die drei standen fassungslos. Bankdirektor Kölsen räusperte sich und murmelte: »Tja, tja, tja, die Jugend von heute.« – »Das ist aber gar nicht nett«, sagte Fräulein Kölsen weinerlich. »So ein Flegel«, sagte der Onkel, »viel zu sehr verwöhnt hat man dich, das kommt dabei raus, warte, Bürschchen, du wirst dich noch sehr umsehen müssen, wenn du in unserer Welt zurechtkommen willst.«

Albrecht wanderte durch die Nacht. Spät kam er bei der Ruine an, dem Rabenstein, es war eine alte Burg, nur noch wenige Mauern und Türme standen, und durch die leeren Fenster schien 127 der runde, blanke Mond. Er setzte sich auf eine bröcklige Mauerkante und sah hinunter ins Tal. Da lag der Kurort im hellen Mondenschein, die Dächer und Kanten des Kurhauses, des Kurtheaters, der Villen und Hotels glänzten scharf, und aus dem feuchten, alten Kurpark stieg ein weicher, milchiger Dunst. Versink im Nebel, du alte Welt – Alexander, Alexander – 128

 


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