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Bei Kuhle ging es in dieser Nacht hoch her. Alles, was in dieser von Verbrechern bevorzugten Gegend nicht hinter Schloß und Riegel saß, war mit seinem Mädchen versammelt. Jeder kannte sich hier, wenn auch nur dem Vornamen und dem Gewerbe nach. Einbrecher, Hehler, Dirnen, Kuppler und Boosten saßen wie eine große Familie beieinander. Immer auf der Hut, wie das vom Jäger verfolgte Wild, und ständig in dem Gefühl der Notwehr gegen das Gesetz. Das war für sie nichts anderes als ein Wall, hinter dem sich die Gesellschaft mit ihrer Beute verschanzte, einer Beute, die nur mit anderen, vom Staate konzessionierten Mitteln erworben war. In ihren Augen waren diese Mittel um nichts besser als ihre, bei denen sie Leben und Freiheit aufs Spiel setzten.
Um einen Tisch herum in der Nähe des Büfetts, von dem aus eine Tapetentür auf einen schmutzigen Hof führte, saßen die Brüder Franz und Emil Bretz mit ein paar Kerlen und Weibern und hörten gespannt auf Grete Gerson, die ihnen bald flüsternd, bald in laut erregtem Ton erzählte, was sie auf dem Präsidium und später des Nachts in ihrer Wohnung erlebt hatte.
»Mensch, sei doch nur nich so dämlich!« sagte Franz. »Von wejen Baronin – des is 'ne janz Ausjekochte.«
»Was soll sie denn sein?« fragte Grete.
»'ne Agentin, Mensch! Du bist doch sonst nich so dof.«
»Ich laß mich hängen, wenn das 'ne Agentin ist.«
»Denn können wir ja immer 'n Sarg bestellen.«
»Sie will dem Willy helfen.«
»Beim Aufknüpfen vielleicht.«
»Ich hab' doch auch meine Augen.«
»Was mit Willyn zusammenhängt, das siehst de verkehrt.«
»Wenn ich euch doch aber sage, daß sie in der Villa wohnt.«
»Mensch, quatsch doch nich! Willy hat doch von irgend so'n Weib, das hinter ihm her war, de Annonce jehabt – 'n Plan sogar mit alle Zimmer.« – Er zeichnete etwas auf den Tisch. – »Hier war der Flur, da ging's rin – hier schlief ener und da – des heißt, in die Nacht war keener da …«
»Wer hat uns denn nu verpfiffen?« fragte Emil.
»Ich mein' auch,« rief ein Kerl, »des is viel wichtiger, als ob da 'n Frauenzimmer mang is oder nicht.«
»Das weiß die Baronin.«
»Na und?«
»Sie will es wohl nicht verraten.«
Alle lachten laut auf, und Franz sagte:
»Nee, Grete, du bist doch en Dussel!«
»Wenn bei euch mal 'n Ding anders aussieht wie alle Tage, denn geht es nicht rein in euren Schädel. Ihr seid in eurer Art genau so dämlich wie die Kriminal.«
»Und wenn das Frauenzimmer nu wirklich reinjehört in die Villa,« sagte Franz, »meinst de, se wird Willy'n 'ne Altersrente zahlen, weil er bei sie einjebrochen is?« – Alle lachten, und Franz fuhr fort: »Sie is Agentin und hat 'n hochgehen lassen, verlaß dir drauf. Jetzt wird se sich an uns ranmachen – aber da hat se keen Glück – wir sind nich so dof wie Willy; bei uns, da stinkt se ab.«
»Ich könnte euch das ja erklären,« erwiderte Grete, »wie ich glaube, daß es is, aber ihr versteht es ja doch nich.«
»Sind wir so dämlich?« fragte Franz.
»In manchem ja.«
»Du kommst dir wohl sehr schlau vor?«
»Säß' ich dann bei euch?«
»Du, werd' nich frech!«
»Ach so, wo Willy alle geworden is, da glaubt ihr, ihr könnt was riskieren? Mit euch, da werd' ich schon fertig! Wer hat denn Willy'n aufm Gewissen? Wer hat 'n denn rausjeholt nachts?«
»Da hat se recht,« erwiderte Emil, der ganz manierlich aussah und den man in einer anderen Umgebung für einen besseren Kaufmann halten konnte.
»Mal reißt ihr's Maul auf,« sagte Franz, »wenn man 'n Ding dreht und euch nicht inläd't – und wenn einer hochgeht, denn schmeißt ihr's ein'm vor. Von wem war 'n die Annonce? Wat? Wahrscheinlich war das Weib, mit das er den Abend über jehurt hat …«
Grete lachte verächtlich und sagte:
»Willy hurt nicht.«
»Was macht er 'n mit dir?«
Grete schlug ihn ins Gesicht und schimpfte:
»Du Dreck!«
Die Andern lachten.
Franz hielt ihre Hände fest und rief:
»So'n Aas! Wenn ich es auf dir nich so gut zu stehen hätte – da wärst de jetzt Mus.«
»Hurt Willy?« fragte Grete und sah ihn gehässig an.
»Ne doch! ne!« erwiderte er und hielt noch immer ihre Hände.
»Was meinste, Grete, du und ich, wo Willy doch alle is, das wär 'n Paar.«
»Ich kann mich beherrschen,« erwiderte Grete, und Franzens Braut, die mit am Tische saß, fing an, zu flennen.
»Ich hab' mir das schon lange jedacht,« fuhr Franz fort, und Grete fragte:
»Was?«
»Du und ich.«
»Da müßtest de anders aussehen.«
»Auf de Fassade kommt's dir an? – schön dämlich.«
»Aufs Ganze!«
»Und das Geschäft? – Was? – Geldverdienen – is das vielleicht Nebensache?«
»Ihr schmeißt ja doch das Beste andern in den Rachen.« – Dabei wies sie auf einen der Nebentische, an dem ein paar vollgefressene Hehler saßen.
»Das mein' ich ja,« erwiderte Franz. – »Du mit deinem Kopp! Was die können, kannst du auch.«
»Dazu gehört nich viel.«
»Also! – Denk mal jetzt, wo der Sommer vor die Tür steht und das reiche Jesindel verreist. Entweder stehen die Wohnungen leer oder de Fenster offen – frag' mal Emil'n, wie ich Fassaden klettre – was, Emil? jestern nacht in die Bleibtreustraße?«
»Ich fürchte, du wirst den Sommer über nicht viel Zeit dazu haben.«
Franz fuhr auf:
»Du, wenn der Willy mir verrät …«
»Was is'n denn?« fragte Grete, und Franz erwiderte:
»Denn schlag ich dir tot.«
Ein dicker, untersetzter, glattrasierter Herr mit Ulster, steifem Hut und roten Glacéhandschuhen trat hinter dem Büfett hervor. Er mußte durch den Geheimgang über den Hof gekommen sein. An allen Tischen merkte man auf. Er blieb in der Nähe des Büfetts stehen, sah sich in dem engen Raum um, überzeugte sich, daß kein Fremder da war, faßte an den Rand seiner Mütze, sagte:
»Guten 'n Abend!« was durch laute Zurufe erwidert wurde, holte ein Notizbuch heraus und sagte:
»Also ich brauche einen Sumak, etwa dreieinhalb zu viereinhalb, einen Buchara, einen deutschen Teppich, etwa fünf zu sieben, elf Perser Brücken, chinesisches Porzellan, ferner für einen Ausländer ein paar alte Gobelins – und zwar sofort.«
Hier und da sprang jemand auf und meldete sich. Die Perser Brücken waren sofort lieferbar, auch der Sumak und der deutsche Teppich. Den Buchara versprachen zwei Kerle, die eifrig miteinander flüsterten, bis morgen zu beschaffen. Sie wußten eine Stelle, wo er zu »holen« war. Nur das chinesische Porzellan und die Gobelins machten Schwierigkeiten.
Ein Kerl verschwand hinter dem Büfett und holte da aus einer Kiste, in der Eier lagen, eine chinesische Porzellankanne und sechs Tassen.
»Da klebt Blut dran!« sagte er. Der »Herr« besah sie, drehte sie um und erwiderte:
»Leider auch das Jagdhorn von Chantilly.«
»Was ist das?«
»Die französische Fabrikmarke! Immerhin: das Porzellan stammt aus der Zeit Ludwigs XVI. und hat seinen Wert.«
Für ein lächerliches Geld erwarb er es.
Der Herr war kaum draußen, da kam Frau Bretz in das Lokal gestürzt. Obschon sie hier nicht verkehrte, wußte man doch, wer sie war. Sie ging auf den Tisch, an dem ihr Mann, Franz, Grete und die Andern saßen, zu und sagte in erregtem Ton:
»Macht, daß ihr hier rauskommt! Sonst geht ihr hoch!« und während Franz und Emil aufstanden, fuhr sie ihren Mann an: »Lump du! Wo ich dein Wort habe, daß du dich von Franz nich mehr verschleppen läßt.«
Grete blieb sitzen, während Franzens Braut mit hinausging.
»Scher' dich rin!« fuhr Franz sie an.
»Ich möchte bei dir bleiben,« bettelte sie.
»Quatsch! Wenn jemand fragt: du hast mir nich gesehen. Ich wollte weg machen – wohin weißt du nich.«
»Wann seh' ich dich?«
»Komm morgen zu Emil!«
»Weder du, noch Emil, noch … die da betritt meine Wohnung.«
»Dir haben se wohl mit de Muffe jeschmissen?« sagte Franz.
»Dabei bleibt's!« wiederholte Frau Bretz, und Emil sagte:
»Laß man, Franz, das wird schon seine Gründe haben.«
»Wo sollen wir denn hin?« fragte Franz.
»Später,« erwiderte Frau Bretz. »Erst schicke das Mädchen weg.«
»Geh!« befahl Franz.
»Erst sag' mir, wo ich dich sehen kann.«
»Kommt schon!« drängte Frau Bretz und ging mit Emil voraus. Als Franz folgen wollte, hing sich das Mädchen an ihn. Er riß sich los und stieß sie so roh von sich, daß sie lang auf den Damm fiel und laut aufschrie. – Frau Bretz wandte sich um und rief:
»Seid ihr verrückt?«
Franz versetzte dem Mädchen einen Tritt und sagte:
»Noch ein Ton, und du siehst dir nich mehr um.«
Dann eilte er den beiden nach, während das Mädchen in sich hineinheulte, sich mühsam hochquälte und den beiden nachlief.
Die drei bogen in eine Querstraße ein, schoben eine Haustür auf, die angelehnt stand, und gingen über einen dunklen Hof in ein schmutziges Nachtcafé, in dem ein paar Dirnen mit ihren Zuhältern abrechneten. Das Mädchen verfolgte sie, wagte sich aber nicht hinein und setzte sich auf einen naßkalten Stein, der auf dem Hof vor einem Brunnen lag. – Drin erzählte Frau Bretz inzwischen, daß sie sich soeben im Vertrauen auf die Beziehungen und Tüchtigkeit von Franz und Emil mit zwei vornehmen Herren, deren Namen sie zunächst noch verschwieg, unter der Firma Wida etabliert habe. Franz und Emil fanden die Kombination äußerst glücklich, äußerten aber Bedenken moralischer Art. Da Frau Bretz ihnen aber auseinandersetzte, daß der Verdienst der Einbrecher durch die Tätigkeit der Wida nicht um einen Pfennig geschmälert würde, so ließen sie sich schnell überzeugen, gaben aber ihrer Befürchtung Ausdruck, daß der Geschäftsgang der Firma unter ihrer Verhaftung und Bestrafung leiden würde. Auch hinsichtlich dieses Punktes glaubte Frau Bretz sie beruhigen zu können, da ihr Associé weitreichende Beziehungen unterhielt und in Aussicht gestellt habe, sich für ihre Immunität an zuständiger Stelle einzusetzen. Da sichtbare Erfolge der Wida diese Aussicht sehr erhöhen würden, so wäre es wünschenswert, daß noch in dieser Nacht ein paar Hehlernester ausgehoben und damit der Beweis für die Unabkömmlichkeit von Franz und Emil erbracht würde.
Die Gebrüder Bretz, die sofort verstanden, was gemeint war, waren von dem Plan ganz entzückt, träumten sich bereits in eine bürgerliche Existenz hinein und rückten im Vorgefühl dieses neuen Lebens innerlich von den Ganoven ab.
»Lieber heute als morgen beginne ich dies neue Leben,« sagte Franz, aber seine Schwägerin dämpfte sein Hochgefühl und erwiderte:
»Von einem neuen Leben kann gar keine Rede sein! Im Gegenteil! Du mußt deinen Beruf weit ernster nehmen als bisher. Du darfst nicht wochenlang auf der faulen Haut liegen, du mußt Nacht für Nacht auf dem Kien sein.«
»Wenn man weiß, man wird nicht geneppt, macht man's schon.«
»Es gibt auch Verstockte,« meinte Emil, »aus denen man nichts herausholt – und zu die, meine ich, brauchten wir eine kluge Frau.«
»Die Grete!« erwiderte Franz.
»Das war' aber auch die Einz'ge.«
»Hol' sie!« befahl Frau Bretz, und Franz stand auf und ging zu dem Lokal zurück.
Sein Mädchen, müde und frierend, folgte ihm, ohne daß er es merkte, über den Hof, die Straße entlang. Als er in der Nähe des Lokals war, rief sie:
»Franz!« – Der drehte sich um. – »Sie suchen dich! Geh' nicht rein!«
»Bist du schon wieder hinter mir her? Klette!« – Sie stand jetzt neben ihm, sah zu ihm auf und sagte:
»Laß mich erst sehen, ob die Luft rein ist.«
»Geh', hol' die Grete!« befahl er. Das Mädchen stutzte und sagte:
»Grete? – nee!«
»Geh'! sag' ich oder …« – Er versetzte ihr einen Stoß, und das Mädchen wankte zur Tür, in der sie noch einmal stehenblieb und sich umsah. Das verschminkte Gesicht schien vergrämt.
»Hast mich über?«
»Ja!«
»Ich tue doch alles, Franz – alles, was du willst.«
»Scher' dich rein!«
»Willst du, daß ich meine Stube und Küche verkaufe?«
»Die Klamotten laß man ruhig stehn.«
»Ich hab' auch noch Geld.«
»Was?«
»Von dem du nichts weißt.«
»Du Hund!« rief Franz und ging auf sie zu, umfaßte ihre Knöchel und sagte: »Her damit!«
»Es ist zu Haus!«
»Hol's!«
»Komm mit!«
»In die Kletterbude? Nie mehr!
»Ich kann ja wo anders hinziehen.«
»Des kannst de. – Jetzt aber holst de die Grete und denn holst de das Geld! – Los!« – Er stieß sie in das Lokal.
»Wenn du dich nur vorsiehst, Franz!« bettelte das Mädchen, ging hinein und sagte zu Grete:
»Franz steht draußen.«
»Was geht mich das an?«
»Er wartet auf dich.«
»Soll er.«
»Er muß dich sprechen.«
»Ich ihn nicht.«
»So geh' schon.«
»Fällt mir nicht ein.«
»Er schlägt mich sonst.«
»Laß dich nicht schlagen.«
»Du kennst ihn nicht. – Nachher, da liege ich wieder vier Wochen im Krankenhaus – schöner wird man auch nicht davon.«
»Zeig' ihn an.«
»Den Franz? – Ne!«
»Hast du Angst, daß er dich totschlägt?«
»Mag er! Das wär' nicht schlimm. – Manchmal, da wünsch' ich's mir.«
»Er ist ein Schwein.«
»Er is, wie er is. – Jeder is, wie er is. – Wir sind auch nich besser.«
»Da hast du recht.«
»Also so geh' schon – mir zuliebe.«
»Du willst, daß ich gehe? – Wo du ihn liebst, und er mir nachstellt?''
»Ich tue, was er will.«
»Aber ich nicht.«
In diesem Augenblick fuhr draußen ein Auto vor. Alles sprang auf, lief aber nicht zur Tür, vielmehr dem Ausgang zu, der neben dem Büfett lag. Nur Grete blieb sitzen; vor ihr stand noch immer das Mädchen. – Jemand schlug an die Tür. Der Wirt sprang hinzu und fragte:
»Wer ist da?«
Eine Frauenstimme rief:
»Ist Frau Gerson bei Ihnen?«
»Soll ich öffnen?« fragte der Wirt. Grete erwiderte:
»Ja!«
Durch die Tür trat Frida. Der Rauch schnitt ihr ins Gesicht. Sie schloß die Augen und sagte:
»Das ist ja furchtbar!«
»Gewohnheit,« erwiderte Grete. »Wer sind Sie und was wollen Sie?«
Frida überreichte einen Brief, den Grete hastig öffnete und las:
Werte Frau Gerson!
Im Interesse von W. bitte ich, der Ueberbringerin zu folgen. Ergebenst
Baronin v. L.
»Ich komme!« sagte Grete und steckte den Brief in die Tasche.
Franz, der hinter Frida unauffällig in das Lokal geschlüpft war und sich hinter einem Kleiderständer verborgen hielt, trat, als er sah, daß die Situation für ihn ungefährlich war, hervor.
»Du kommst mit mir!« befahl er Grete.
»Hast du mir zu befehlen?«
»Wo willst du hin?«
»Was kümmert's dich?«
Er griff nach ihr. Aber Grete stand im selben Augenblick hinter dem Tisch, griff nach einer leeren Flasche und sagte drohend:
»Wag' es ja nicht!«
»Tolles Luder!« rief er und versperrte ihr den Weg.
»Laß mich durch!«
»Stell' die Flasche hin!«
Sie flog ihm an den Kopf. Er schrie auf, klatschte dreimal in die Hände. Durch die Tür hinter dem Büfett kehrten neugierig und bedächtig die Gäste ins Lokal zurück.
Franz, mit einer Wunde an der Stirn, stand vor der Tür, die auf die Straße führte. Er wies auf Grete und sagte:
»Das Aas ist widerspenstig und hält nich dicht!«
»Er lügt!« rief Grete. »Er stellt mir nach und will verhindern, daß ich Willy helfe.«
Lärm für und wider setzte ein. Grete nahm die verblüffte Frida bei der Hand, sagte leise: »Komm!«, zog einen Revolver aus der Tasche, setzte ihn auf Franz an, rief:
»Platz!«
gab einen Schuß in die Luft ab und stürzte mit Frida hinaus.
Sie sprangen in das Auto. Das Auto raste davon. Wüster Lärm tobte hinter ihnen her.